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Kampf ums Kind Wie unser Nachwuchs auf Konsum getrimmt wird Heilsames Kriegsspiel im Vorgarten: Timon schiesst sich frei

Herr Nimani darf nicht scheitern: Ein Dokfilm zeigt den Sozialstaat in Nahaufnahme

Nr. 333 | 5. bis 18. September 2014 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Titelbild: WOMM

Was sehen Kinder, wenn sie durch die Welt der Regale im Supermarkt wandern? Unsere Autorin Seraina Kobler hat für unsere Titelgeschichte ihre beiden kleinen Söhne als Versuchskaninchen losgeschickt. Das Resultat des Streifzugs erstaunt wenig und sei hier darum vorweggenommen: Dass Schleckzeug, Schokoladenriegel und Pommes-Chips mit Überraschungsbeigabe auf Kinderaugenhöhe platziert werden, gehört längst zum Einsmaleins des Marketings. Und, seien wir ehrlich: Das ist auch nicht weiter schlimm. Die Erfahrung, etwas bei anderen – auf dem Pausenplatz oder in der TV-Werbung – zu sehen und dann auch zu wollen, gehört zum Aufwachsen. Genauso wie die Erfahrung, etwas, das man ganz dringend will, nicht zu bekommen. Das setzt voraus, dass die Eltern bereit sind zu stören, und zwar doppelt: die Har- AMIR ALI monie ihres Kindes mit seinen eigenen Wünschen – und mitunter auch die öffentli- REDAKTOR che Ruhe im Supermarkt (siehe den Kommentar auf Seite 7). Erziehen ist, wenn man stört: Was das heissen kann, erleben die Eltern von Timon im Extrem: Der 11-Jährige schleicht gerne durch die Vorgärten des kleinen Badeortes bei Rotterdam, in dem seine Familie wohnt. Und zwar in voller Soldatenmontur, die Sturmmaske über’s Gesicht gezogen, den Helm auf, das selbstgebastelte Gewehr im Anschlag. Und am liebsten ist es ihm, wenn alle mitspielen und er der General sein kann. Ein Kind, das sich dem Kriegsspiel derart leidenschaftlich und detailversessen hingibt, verängstigt viele Erwachsene. «Wir wissen, dass uns hier einige nicht verstehen», sagen Timons Eltern, die ihren Sohn gewähren lassen, ihn sogar unterstützen. Was da los ist, lesen Sie ab Seite 16. Störend im positiven Sinne ist auch der Dokumentarfilm «Assessment». Der junge Filmemacher Mischa Hedinger führt seine Kamera ganz nah an eine Realität, die von den meisten von uns ziemlich weit entfernt ist: ins Sitzungszimmer der interinstitutionellen Zusammenarbeit. Dort kümmern sich IV, RAV, Sozialdienst und andere im Verbund darum, ihren Klienten eine bessere Zukunft zu verschaffen – sprich: eine Arbeit. Hedinger nimmt sein Publikum dorthin mit, wo der Mensch auf den Sozialstaat trifft – und der Sozialstaat aus Menschen besteht. «Mein Film wirft mehr Fragen auf, als er Antworten liefert», sagt Hedinger im Gespräch (Seite 14). Der Film stört den Betrachter, nimmt ihm die Möglichkeit, sich auf vermeintlich sicheren Gewissheiten auszuruhen. Und leistet damit gesellschaftliche Bildungsarbeit. Ich hoffe, wir stören Sie mit diesem Heft ganz ordentlich Amir Ali

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 333/14

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BILD: WOMM

Editorial Erziehen ist, wenn man stört


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10 Konsum Wirtschaftsfaktor Kind Spiel, Spass, Spannung und Süsses: Für die MarketingAbteilungen der Industrie sind Kinder längst eine Zielgruppe mit Potenzial. Die Kinder von heute sind die Konsumenten von morgen – und werden entsprechend bearbeitet. Mittlerweile transportieren Konzerne und Interessengruppen ihre Botschaften über gesponserte Lehrmittel direkt bis ins Klassenzimmer – und sichern sich so subtilen Einfluss auf die Weltbilder, die in den Köpfen der Kinder erst am Entstehen sind.

BILD: WOMM

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Inhalt Editorial Das Kind und das Regal Basteln für eine bessere Welt Hello Apfel Aufgelesen Relative Gewinner Zugerichtet Alles, was Recht ist Kommentar Mit Tantalus im Supermarkt Starverkäuferin Cristina Choudhary Porträt Leben, allem zum Trotz Sri Lanka Leben mit dem Frieden Wörter von Pörtner Der grössere Stecken Kultur Antonionis Swinging Sixties Verkäuferporträt International Ohne Urteil Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP Surprise – Mehr als ein Magazin Wenn das Bargeld verschwindet

14 Sozialstaat Mensch trifft Bürokratie BILD: ZVG

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Assessment heisst eines der Zauberworte des modernen Sozialstaates: In der Sitzung suchen Vertreter verschiedener Institutionen wie der IV oder des Sozialdienstes mit den betroffenen Klienten nach Wegen zurück in den Arbeitsmarkt. «Assessment» heisst auch der Dokumentarfilm von Mischa Hedinger, ein 49minütiger Einblick in die intime Welt eines Sitzungszimmers. Dort fallen Entscheidungen, die Leben verändern – und nicht zuletzt Steuergelder sparen sollen.

16 Erziehung Kein Kinderspiel

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BILD: PETER DE KROM

Timon kämpft. Jeden Tag, sein Kindergesicht unter der Sturmmaske, in Flecktarn gekleidet und mit seinen präzise nachgebastelten Maschinengewehren und Schnellfeuerkarabinern im Anschlag. Ein Kind, das sich dem Kriegsspiel derart leidenschaftlich und detailversessen hingibt, verängstigt viele Erwachsene in der Nachbarschaft. Doch für Timons Eltern ist klar: Der Krieg im Vorgarten ist für ihren Sohn der einzige Weg aus der Isolation des Einzelgängers.

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ILLUSTRATION: RAHEL KOHLER | WOMM

1. Man nehme einen Apfel, eine Banane oder sonst etwas Gesundes.

2. Wickeln Sie die Frucht in Alu- oder eine andere glitzernde oder bunte Folie ein.

3. Bemalen Sie eine Klebe-Etikette mit einer Lillifee, einem Auto mit Augen («Cars»), einer Katze mit Schleifchen («Hello Kitty») oder Spiderman (für Vorlagen einfach den Begriff in Google – Bilder eingeben). Fertig ist die Wunderwaffe!

Basteln für eine bessere Welt Mit den Waffen der Industrie In unserer Titelgeschichte wird geklagt: Unsere Kleinen fliegen auf bunte Verpackungen mit lustigen Figürchen drauf. Und leider ist darin meist nichts Gutes zu finden, sondern etwas, das sie dick macht. Gegen die Methoden der Industrie scheint kein Kraut gewachsen. Oder? Wir empfehlen, den Feind mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Die lassen sich nämlich ganz einfach selber basteln. SURPRISE 333/14

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Immer nur Heimspiel Dortmund. Die Jugendvollzugsanstalt Iserlohn bei Dortmund hat eine eigene Fussballmannschaft mit Trainer. Unter dem Namen SG Iserlohn spielen die Jungs regulär in der Kreisliga C West des Deutschen Fussballbundes. Nur raus dürfen sie natürlich nicht – für sie gibt’s nur Heimspiele. In der nächsthöheren Liga liegt das aus Gründen der Fairness nicht drin, aufsteigen können die Knastkicker daher nicht. Obwohl sie 19 von 20 Spielen in dieser Saison gewonnen haben und die Tabelle anführen.

Wasser weg Freiburg. Seit dem Frühling wurde in der serbelnden Stadt Detroit im US-Bundesstaat Michigan tausenden Haushalten das Wasser abgestellt. Sie konnten die Rechnungen nicht mehr bezahlen. Der Wasserpreis ist in Detroit in den letzten zehn Jahren um 119 Prozent gestiegen. Heute zahlt ein Haushalt im Schnitt 75 Dollar dafür. 90 000 Kunden in der 700 000-Einwohner-Stadt sind mit den Zahlungen zwei Monate oder mehr im Rückstand. Die UNO kritisierte die Abschaltung als menschenrechtswidrig.

Symbolträchtig Wien. Jerry Johnson trägt Tracht. Österreichische Tracht, inklusive Feder am Filzhut. Er tut das manchmal in der Freizeit, aber immer, wenn er die Strassenzeitung Augustin verkauft – und fällt so als Nigerianer auf geschäftsfördernde Art und Weise auf. Sein Vater, sagt Johnson, habe ihm geraten: In einem fremden Land passt man sich an. Die Tracht zu finden sei übrigens nicht ganz einfach gewesen für ihn, ein Freund aus dem Tirol habe sie aber schliesslich für ihn aufgetrieben. Zum Dank kochte Johnson für ihn und seine Freundin afrikanisches Essen.

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Zugerichtet Was heisst hier fremd? Wussten Sie vielleicht nicht: Vom 15. Juli bis 15. August sind in der Schweiz Gerichtsferien. Weshalb sich Ihre werte Kolumnistin über den Sommer anderweitig Gedanken machte. Kürzlich zum Beispiel in der Bibliothek einer kleinen, auf wenige Rechtsbereiche spezialisierten Anwaltskanzlei. Da stehen Hunderttausende Seiten mit Millionen von Paragrafen. Nur schon ein ungefähres Inhaltsverzeichnis im Kopf zu haben, scheint unmöglich. Ganz demütig wird man da, selbst wenn einem die Materie nicht völlig fremd ist. Deshalb ist es ein guter Ort für eine kleine rechtshistorische Lektüre. Gerade geben ja die jüngsten SVP-Initiativpläne «zur Umsetzung von Volksentscheiden» viel zu reden, analysieren und kommentieren. Und zu denken. Konkret heisst das Anliegen: «Schweizer Recht geht fremdem Recht vor». Mit dem Satz «Die Bundesverfassung ist die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft» sollen die «fremden Richter» gebodigt werden. Will man sich das genauer überlegen, muss man in Erinnerung rufen, worin sich die historische Aufgeladenheit des Begriffs «fremde Richter» eigentlich begründet. Die Volkspartei beruft sich dabei auf den Bundesbrief von 1291, der nur Richter anerkennt, der «unser Einwohner oder Landsmann ist». Dahinter wiederum steckten verschiedene Überlegungen. Einerseits sollte die Sicherstellung einer eigenen Gerichtshoheit die eigene Souveränität begründen. Andererseits festigte die Ablehnung fremder Richter aber auch die Macht der hiesigen Eliten über ihre Untertanen. Gewaltentrennung mit unab-

hängigen Rechtsprofis gab es damals nämlich noch nicht. Recht war, was dem Landamman als solches erschien. Für die Untergebenen war es im Resultat Hans was Heiri: Heimische Willkür ist ja nicht besser als fremde. Doch inzwischen hat sich die rechtliche Landschaft völlig verändert, und der Bundesbrief ist seit der Einführung der Gewaltentrennung von 1798 in dieser Hinsicht passé. Im geschichtlichen Kontext erkennt man auch, wie sehr sich das, was man als fremd empfindet, über die Zeit verschiebt. Es ist erst noch keine 200 Jahre her, seit sich die Kantone bekriegten, um ihre Rechtssouveränität gegen die Bundesverfassung zu verteidigen. Und noch viel weniger Zeit ist vergangen, seit sich die einzelnen Kantone noch so fremd waren, dass man sich untereinander Rechtshilfegesuche stellte wie heute Staaten, bevor man juristisch zusammenarbeitete. In der frühen Schweiz fremdelte man vor dem Bundesgericht in Lausanne noch mehr als heute vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, auf den die SVP mit ihrer Initiative hauptsächlich abzielt. Das Gericht wacht über die Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die die Schweiz mit der Ratifizierung 1974 zum eigenen Recht erklärt hat. Es geht also nicht einmal um fremdes Recht. Nun sind sowohl Geschichte als auch Recht immer auch Auslegungssache. Wenn man die Schweiz als das Resultat einer Reihe hart ausgefochtener, aber letztlich erfolgreicher Kooperationsvereinbarungen begreift, kann man im Strassburger Gericht die Fortsetzung genau dieses Ansatzes sehen. Und den Kampf dagegen als unschweizerisch. YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 333/14


Kommentar Zarte Versuchung Klar macht sich die Werbung die Beeinflussbarkeit der Kinder zunutze. Logisch platzieren die Grossverteiler Süssigkeiten gerne in Griffnähe der Kinder. Aber da geben wir uns doch nicht einfach geschlagen, oder?

Nein, es gibt in der Migros nicht jedes Mal Gummibärli. Weil ungesund, und überhaupt: Mit Quengeln gibt’s gar nichts. So weit, so humorlos. Deshalb probiert man als erziehungsberechtigte und kleinkinderfahrene Person immer wieder gerne aus, was stärker ist: die Kraft der eigenen Beeinflussungsgabe oder die der bunten Verpackungen und der beigelegten Überraschungen. Zuerst einmal lohnt es sich, möglichst lange dafür zu sorgen, dass Snickers und Smarties unbekannte Grössen bleiben. Twix? Haribo? Nie gehört. Rätsel der Regale. Diese Strategie braucht allerdings einiges an Selbstbeherrschung, weil sie voraussetzt, dass man sich selber nie mit Smarties im Mund erwischen lässt. Ausserdem hilft es, keinen Fernseher zu haben, dessen Werbeprogramm das Geheimnis um den Inhalt der goldglänzenden Verpackung lüften könnte. Kurz: Die Methode wirkt ansatzweise, ist aber ein bisschen weltfremd. Das Nichtwissen um die Smarties wird man nicht bis ins Primarschulalter aufrechterhalten können. Wenn die Kinder merken, dass Süssigkeiten glücklich machen, verlangt das nach einer Neuausrichtung der Strategien. Man kann zum Beispiel beginnen, Wünsche jeweils mit einem «Ja klar!» zu parieren. «Unbedingt! Smarties, Snickers! Und schau mal, die roten Gummischnüre! Und die Schaumpilze! Marshmallows! Das will ich auch! Das kaufen wir! Am nächsten Geburtstag!» Und weil meistens recht viel Zeit vergeht bis zum nächsten Geburtstag, kann sich dadurch ein schönes Ritual entwickeln, jedes Mal beim Einkaufen vor dem Regal zu stehen, alles zu bewundern und sich auf den Tag zu freuen, an dem alles gekauft wird. Es ist ein Ritual der Vorfreude, das glücklich macht. Man darf einfach nicht vergessen, die Versprechen am Geburtstag auch einzulösen.

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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Man kann die Spiele natürlich auch lassen. Einfach Nein sagen, Selbstbeherrschung einüben und die Geschichte von Tantalus erzählen. Vielleicht wird der Kleine dann mal ein Zen-Buddhist, ein Mann des weisen Abwägens oder mindestens ein gebildeter Zeitgenosse. Bis die Selbstbeherrschung eingeübt ist, vergehen allerdings viele Jahre, und es kann sein, dass sich in dieser Zeit das Kind auch mal brüllend auf dem Boden wälzt. Dann könnte man das Kind brüllen lassen. Könnte. Wenn nicht die anderen Kunden da wären, die dann böse Blicke werfen würden, weil ein tobendes Kind ein störendes Kind ist. Vielleicht sind also nicht nur glänzende Verpackungen, die Grossverteiler und die Eltern schuld, wenn das Schoggistängeli dem Kind doch noch den Mund stopft. Sondern nicht zuletzt Leute, die sich umdrehen und die Mutter vorwurfsvoll ansehen. Was lernen wir daraus? Erziehen heisst, Mut zum Stören zu beweisen. Und Süssigkeiten nicht zur Beruhigung des Umfeldes einzusetzen. Wenn die Gummibärchen also das nächste Mal flüstern: «Nimm mich!», könnte man sie im Regal hängen und vor Kindergebrüll erzittern lassen. Und es still ertragen, wenn einen die Leute für eine herzlose Rabenmutter halten. ■ Zum Thema: «Kauf, mein Kind, kauf!», S. 10

BILD: ZVG

VON DIANA FREI

Starverkäuferin Cristina Choudhary Surprise-Leser Dusan Neatnica aus Wesel, Deutschland, schreibt: «Ich nominiere Cristina Choudhary als Starverkäuferin: Sie schickt mir alle paar Monate 10 bis 15 alte Surprise-Hefte, ganz umsonst. Ausserdem schickt sie mir Medikamente und ab und zu auch Pralinen (Femina). Ich habe eine schwere chronische Bronchitis und bin trotz Sauerstoffzufuhr fast unbeweglich. Cristina ruft mich alle paar Tage an und erkundigt sich nach meiner Gesundheit. Vor einigen Jahren hat sie mich besucht und fein gekocht und gebacken für mich. Danke, Cristina.»

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Porträt Es ist einfach immer wieder was Die Bernerin Anita Zysset hat fast so viel Zeit in Spitälern verbracht wie zuhause. In ihrem Leben wurde sie über hundert Mal operiert, manchmal mag sie nicht mehr. Und doch sagt sie: «Ich lebe gern.» VON TIMO KOLLBRUNNER (TEXT) UND ANNETTE BOUTELLIER (BILD)

Wichtig ist ihr, dass sie trotz all ihrer Unfälle und Krankheiten immer gearbeitet hat, wenn es irgendwie ging. 25 Jahre lang war sie Floristin in der Migros – nach der Postlehre hatte sie sich zur Floristin ausbilden lassen und erfüllte sich so den Wunsch nach einem kreativeren Beruf. Sie mochte ihre Arbeit, genoss den Austausch mit den Kunden. Doch vor zehn Jahren habe ein Chirurg bei einer Operation derart gepfuscht, dass ihr Bauch nun ständig schmerze und sie nicht mehr arbeiten könne. «Er hat mir das Leben kaputt gemacht», sagt sie. Es gebe Momente, in denen sie einfach nicht mehr möge und sich frage: «Warum immer ich?» Vielleicht sei sie «auserwählt worden, damit man sieht, wie viel ein Mensch ertragen kann». Und wer hat sie ausgewählt? «Gott vielleicht.» Falls es Gott gibt, hat er zumindest dafür gesorgt, dass sie noch lebt. Selbstverständlich ist das nicht. 21 Jahre war sie alt, als ihre Blutwerte schlecht wurden. Die Diagnose: Gebärmutterhalskrebs. Ihr, die davon geträumt hatte, vier Kinder zu bekommen – weil sie zwei Schwestern hat und immer eine von ihnen alleine war, wenn die anderen beiden zu-

«Eigentlich», sagt Anita Zysset, «wären es erst hundertzwei.» Aber dann stiess ihr die Krankenschwester diesen Frühling mit dem Wägelchen, auf dem sie das Essen ins Zimmer brachte, gegen die Hüfte. «Sie konnte einfach nicht warten.» Das Hüftgelenk, das Anita Zysset am Tag zuvor eingesetzt worden war, nahm Schaden. Sie musste noch einmal operiert werden. Zum 103. Mal in ihrem Leben. Zum ersten Mal im Spital war die Bernerin vor 55 Jahren. Vier Jahre alt war sie damals und lebte mit ihrer Familie im Berner Quartier Breitenrain, nur eine Strasse entfernt von der Wohnung, in der sie heute wohnt und in deren Küche sie ihre erstaunliche Geschichte erzählt, bei einem Glas ungekühltem Rivella, weil kalte Getränke ihrem Magen schaden. Vor Jahren ist sie wieder hierher gezogen, «in die alte Heimat», wo es ruhig ist und die Nachbarn nett sind. Hier im Quartier lief die kleine Anita vor 55 Jahren auf die Strasse – und wurde von einem Sportwagen erfasst. Ihr Oberschenkel war sechsfach Ihre Mutter habe stets gesagt: «Wenn 1000 Leute unter einem Baum stehen gebrochen, siebeneinhalb Monate lag sie im Spital. Als sie nach Hause durfte, trug die Mutwürden und ein Ast fiele herunter, er würde dich treffen.» ter sie dort die Treppe hinauf und stellte sie vor der Türe ab. Doch sie stellte sie zu nahe an den Absatz, und Anita fiel sammen spielten – mussten die Gebärmutter, die Eierstöcke und die Eikopfvoran die Treppe hinunter. Sie kam mit einem Schock davon, aber leiter entfernt werden. Bei dieser Operation verlor sie so viel Blut, dass man ist geneigt, die Episode als Omen für ihr Leben zu lesen: Es ist einsie beinahe starb. Die Ärzte kämpften um ihr Überleben – und Anita fach immer wieder was. Zysset sah zu. Sie schwebte über dem Operationstisch, sah hinunter «Richtig gesund war ich eigentlich nie», sagt sie. Als Mädchen hatte und hörte den Chefarzt sagen: «Wir verlieren sie.» Sie entfernte sich, sie oft Bauchschmerzen und ihr linker Fuss, ein Klumpfuss, machte ihr weg vom Operationstisch und hin zu einem eisernen Torbogen, der umzu schaffen. In die Schule ging sie gerne, «aber ich hab halt auch andewachsen war mit Tulpen, ihren Lieblingsblumen. Dahinter lag ein Feld res erlebt». Noch bevor sie in die Schule kam, machte sich einmal ein voller Sonnenblumen, sie sah einen Regenbogen und hörte die Stimme alter Mann an sie ran, und später, mit 14, wurde sie in der Nacht vor ihihrer Grossmutter. «Komm noch nicht», sagte die, «du bist noch viel zu rer Haustüre von einem fremden Mann, der ihr nachgestellt hatte, missjung.» Als Anita Zysset den Regenbogen berühren wollte, kam sie wiebraucht. Der Vater habe gesagt: «Das muss niemand wissen.» Dreissig der zu sich, auf dem Operationstisch, und erfuhr, dass sie klinisch tot Jahre lang habe sie nie mehr darüber gesprochen. gewesen sei. Seit diesem Nahtoderlebnis habe sie keine Angst mehr vor Nach der Schule machte sie eine Lehre bei der Post, obwohl sie hätdem Sterben. «Dort drüben», sagt sie, «ist es schön.» te Kindergärtnerin werden wollen, «aber für meinen Vater war das kein Und hier, im Diesseits, was ist hier das Schöne? Was ist das, was ihr richtiger Beruf». Eines Tages fiel sie bewusstlos vom Bürostuhl. Ihr Dasein lebenswert macht, trotz der Schmerzen, wegen der sie täglich Blinddarm war geplatzt, sie wurde notoperiert. «Da fingen die ganzen Morphium nehmen muss? «Meine Gottenkinder», sagt sie als Erstes. Operationen an.» Bis heute musste sie über 100 Eingriffe unter VollnarNeun sind es an der Zahl. Mutter habe sie nicht werden können, «nun kose über sich ergehen lassen. Über 30 alleine am Bauch; weil der Darm schenke ich halt ihnen meine Liebe». Wenn sie zu Besuch kämen und immer wieder an der Bauchwand anwächst und weil sie immer wieder sich von ihr verwöhnen liessen, dann sei sie «einfach zufrieden». Auch Gallensteine hat. Sie hat ausgerechnet, dass sie alleine am linken Fuss Tiere mag sie sehr, wahrscheinlich hätte sie Katzen, wenn sie nur nicht insgesamt 77 Stunden operiert worden ist. Sie hatte Brust- und Hautallergisch wäre auf deren Haare. So verbindet sie ihre Tierliebe halt mit krebs. Und Schilddrüsenkrebs, der mit einer Chemotherapie behandelt einer weiteren Leidenschaft: dem Malen. Sie malt Aquarelle von Tieren, werden musste. Die Aufzählung ist längst nicht vollständig. Und ihr gevon Blumen auch – mit Freude präsentiert sie die grossformatige Malerei schehen auch immer wieder Missgeschicke. Mal fällt ihr ein Messer aus eines Blumenstrausses, die ihr Wohnzimmer schmückt. Sie kreiert Weihnden Händen und nagelt ihren Fuss am Boden fest, mal fallen ihr Eisenachts- oder Tischdekorationen für Altersheime. Sie geht morgens schwimstangen auf die Füsse und machen die Zehen zu Matsch. Ihre Mutter hamen, wenn es die Gesundheit zulässt, und regelmässig löst sie Rätsel, be stets gesagt: «Wenn 1000 Leute unter einem Baum stehen würden um ihren Kopf trotz all der Vollnarkosen fit zu halten. Und sie habe eiund ein Ast fiele herunter, er würde dich treffen.» nen grossen, tollen Freundeskreis. «Doch», sagt sie, «ich lebe gern.» ■ SURPRISE 333/14

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Konsum Kauf, mein Kind, kauf! Von der Wiege bis zur Schulbank: Kinder und Jugendliche sind für Unternehmen der Markt der Zukunft. Dabei geht es um mehr als Schokoriegel und Chips. Der lange Arm der Grosskonzerne und Interessengruppen reicht längst bis ins Klassenzimmer.

VON SERAINA KOBLER

Der Zustand einer Gesellschaft lässt sich daran ablesen, wie sie mit ihren Kindern umgeht. In Afrika oder Mexiko werden derzeit so viele Kinder wie nie zuvor alleine auf die Flucht geschickt vor Krieg und Armut. Ihre Familien sind so verzweifelt, dass sie das schwächste Mitglied auf die gefährliche Reise schicken – in der Hoffnung, dass es in einem Land aufgenommen wird, in dem es eine Zukunft haben könnte. 18 Millionen Flüchtlingskinder wurden im letzten Juni weltweit gezählt. Unsere Kinder hingegen sind ein Wirtschaftsfaktor: Schweizer Eltern geben im Jahr allein für Spielwaren über 400 Millionen Franken aus. Nicht enthalten sind in dieser Zahl Bedarfsgüter wie Kleider, Artikel zur Babypflege oder Lebensmittel. Marketing für die Kleinsten ist eine Investition, und zwar eine mit Potenzial: Kinder werden irgendwann zu kaufkräftigen Erwachsenen, die eigenständige Kaufentscheidungen treffen. Kinder früh an eine Marke zu binden oder an ein Konsumverhalten zu gewöhnen, ist für Unternehmen eine nachhaltige Marketing-Strategie. Kein Wunder also, buhlt die Wirtschaft um den Nachwuchs. Das Experiment Zum Beispiel beim täglichen Einkauf im Quartier-Supermarkt. Was sehen Kinder beim Streifzug durch die prall gefüllte Welt der Regale? Um das herauszufinden, schicke ich meine Söhne Juri (7) und Yann (4) mit einer Fotokamera alleine los. Die Aufgabe: Fotografiert alles, was ihr gerSURPRISE 333/14

ne kaufen würdet. Zum Schluss dürfen sie sich zwei Artikel aussuchen. Auf den rund zwei Dutzend Schnappschüssen finden sich unter anderem Schildkröten aus Süssteig, gesalzene Popcorn, Gummibärchen, süsse Frühstücksflocken, Marshmallows, Paprika-Chips, feuchtes Toilettenpapier mit Fruchtduft, Fruchtsäfte und Coca-Cola. All das ist in den Regalen auf unter einem Meter Höhe platziert, also in Sicht- und Griffweite der Kinder. Die Verpackung eines Produktes spielt im Marketing eine wichtige Rolle. Rund 95 Prozent der Produkte, die wir kaufen, sind verpackt. Dosen, Tetrapacks, Folien und Karton: Sie nerven manchmal beim Öffnen oder spätestens, wenn der Karton gebündelt werden muss. Ansonsten aber beachten wir die äusseren Werte eines Produktes nicht bewusst. Verpackungen dienen aber nicht nur dem Schutz der Waren, sondern sie verführen zum Kauf. «Nimm mich», flüstern die bunten Bärchen, die gezeichneten Früchte und die Comic-Figuren. Süsse Sicherheit Die Beeinflussung der kindlichen Geschmackserinnerung beginnt schon früh. Das Essverhalten wird bereits im Säuglingsalter programmiert. Die Erinnerung an Vanille etwa bleibt. Ein Forscherteam um Berthold Koletzko, Spezialist für Ernährungsmedizin am Haunerschen Kinderspital der Universität München, bot Probanden Ketchup mit und ohne Vanillearoma an. Personen, die ausschliesslich mit Flaschenmilch aufgezogen worden waren, bevorzugten allesamt die Variante mit Vanille. Die Milch, die man vor Jahrzehnten Babys verabreichte, war mit

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Kinder zu vermarkten. Während die Hersteller mit Obst und Gemüse Vanillearoma versetzt, um sie bei den Müttern beliebt zu machen. SüsMargen von weniger als fünf Prozent erzielen, betragen die Umsatzrenses hat zudem die Natur auf seiner Seite: Dass die meisten Menschen – diten bei Süsswaren, Softdrinks und Snacks 15 Prozent und mehr. Kinder wie Erwachsene – Süsses mögen, erklärt man sich in der WisDoch auch wenn es noch so gesund anmutend verpackt ist: Zu viel senschaft damit, dass es in der Natur keinen Giftstoff gibt, der süss Salz, Zucker und Fett führen bei vielen Kindern zu einer Fehlernährung. schmeckt. Für unser Gehirn ist «süss» gleichbedeutend mit «sicher». Dabei sind die Aromen in den meisten Fällen künstlich. «Was versteckt sich auf Ihrem Turnschuhe und Schokoladenriegel anpreisen – schön und gut. In Teller?», fragte vor über zwölf Jahren die Ausden Köpfen der Kinder aber, wo Einstellungen erst am Entstehen stellung «Manna» an der Expo 02 auf der Artesind, lassen sich ganze Weltbilder verkaufen. plage in Neuchâtel. Süsser Vanilleduft entströmte da einem Pudding von 48 Metern Übergewicht, Diabetes, Entwicklungsstörungen oder orthopädische ProDurchmesser und 15 Metern Höhe, gebildet aus 21 aufblasbaren Plastikbleme wie Hüftgelenksveränderungen sind nur einige der möglichen Löffelbiskuits und gesponsert von Coop. «Das riecht gut!», riefen in alFolgen. In den Industrieländern werden sie immer häufiger. len Sprachen Kinder, die ins Innere des künstlichen Desserts gelockt Für Eltern wird es durch die permanente Bewerbung der Kleinen, gewurden. Die Ausstellung wollte die manipulierten Konsumgewohnheirade in Städten, immer schwieriger, ihre Aufsichtsfunktion wahrzunehten hinterfragen. Leider wird dies gerade bei Kindern zu wenig gemacht. men (siehe den Kommentar auf Seite 7). Wer möchte nach einem langen Arbeitstag noch mit dem Vierjährigen diskutieren, der sich weinend Obst bringt keinen Profit auf dem Boden vor der Kasse wälzt? Die Hersteller perfektionieren ihre Marketing-Strategien so, dass sie die Kinder direkt ansprechen, sagt Christopher Link von Foodwatch, eiKrieg der Sterne im Kinderzimmer ner europäischen Konsumentenschutz-NGO mit Sitzen in Berlin und Wie die Lebensmittel werden auch Kleider und Spielzeug zunehAmsterdam. In der Regel drehe sich alles um auffällige und neugierig mend mit Film- und Musikstars oder bekannten Comic-Figuren vermachende Verpackungen, Spielzeugbeigaben, Stars, Gewinnspiele und marktet. Kurz nachdem «Star Wars»-Schöpfer George Lucas die Rechte andere Aktionen. So versuchten die Hersteller Kinder insbesondere für an seiner Science-Fiction-Trilogie an den Medien- und UnterhaltungsSüssigkeiten, Snacks und Süssgetränke zu begeistern. Im Supermarkt, konzern Disney – Jahresumsatz 45 Milliarden Dollar – verkauft hatte, am Fernsehen, im Internet, aber auch in der Schule und in Sportvereiwurden Kinderserien mit Luke Skywalker, Darth Vader, dem goldenen nen. Der Grund für das aggressive Marketing: Obst und Gemüse werfen Roboter C-3PO und seinem Kumpel R2-D2 produziert. Auch die däninur wenig Profit ab. Junkfood und Softdrinks seien wesentlich lukratische Lego Group – Jahresumsatz 4,7 Milliarden Dollar – kaufte sich ver, sagt Link. Es lohne sich ganz einfach nicht, gesunde Produkte an

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vernünftige und selbstbewusste Umgang mit Werbung und Konsum will Lizenz-Rechte. Statt wie früher mit den Bausteinen Häuser und Bauerngelernt sein – und muss gelehrt werden. höfe zu bauen, wird jetzt in den Kinderzimmern der WohlstandsgesellWas findet sich dazu in den 170 Lehrmittel-Angeboten von Kiknet? schaften Krieg der Sterne gespielt. Bald zog die schwedische KleiderZum Thema «Werbung» werden je eine Unterrichtseinheit für die Oberkette H&M – Jahresumsatz 18,3 Milliarden Dollar – nach und bot und die Sekundarstufe angeboten. Die Schüler sollen «ein Fach- und MeT-Shirts und Kapuzenpullover mit den Weltraumhelden an. Längst aber hat die Industrie begriffen, dass es um mehr geht. Die Kinder von heute sind nicht nur die Es lohnt sich nicht, gesunde Produkte zu vermarkten. Obst und Käufer von morgen – sondern auch die StimmGemüse erzielen Margen unter fünf Prozent, bei Süsswaren, Softbürger, Entscheidungsträger und Meinungsdrinks und Snacks ist es dreimal so viel. macher. Turnschuhe und Schokoladenriegel anpreisen – schön und gut. In den Köpfen der thodenverständnis für die Mechanismen von Marketing und KommuniKinder aber, wo Einstellungen erst am Entstehen sind, lassen sich gankation» entwickeln, heisst es da. Sie sollen in der Lage sein, «diese ze Weltbilder verkaufen. Und wo liesse sich das besser bewerkstelligen Mechanismen kritisch und analytisch zu hinterfragen», all dies «anhand als im Klassenzimmer? eines praktischen, realitätsnahen Beispiels». Die Lerneinheit ist gesponsert von Wander, und das praktische Beispiel natürlich: Ovomaltine. Die Industrie im Klassenzimmer Zurück zum Experiment im heimischen Supermarkt. Die beiden JunAus Zeitdruck und Budgetmangel greifen immer mehr Lehrer zu fixgen im Vorschulalter erklären, warum sie genau diese Produkte fotografertigen Unterrichtslektionen, die von Unternehmen und Interessenfiert haben: «Schön farbig!» Oder: «Da hat es noch eine Überraschung gruppen finanziert werden. Die gesponserten Lehrmittel können im dabei!» Schliesslich entscheiden sie sich für eine Cola und eine Packung Internet gratis bezogen werden. Der wohl grösste private Anbieter in der Pommes-Chips in Minigrösse, der ein Plastik-Ritter beiliegt. Der Ritter Schweiz ist die Internetplattform Kiknet. Auf der Website liegen rund liegt, kaum sind die Chips alle, unbeachtet in einer Ecke. Aus Sicht der 170 Lektionen zum Gratis-Download bereit – «konzipiert ausschliesslich Hersteller hat er seinen Zweck erfüllt. von ausgebildeten Lehrern», die Kiknet zumeist als Freelancer beschäf■ tigt. Rund 23 000 Lehrerinnen und Lehrer sind registriert, das entspricht einem Fünftel aller Lehrkräfte auf Stufe Primar und Sekundar 1 und 2 schweizweit. Seit 2008 hat sich ihre Zahl verdoppelt. Wie viele Lehrpersonen das angebotene Material dann auch tatsächlich im Unterricht verwenden, sei schwierig abzuschätzen, sagt Kiknet-CEO Meinrad Vieli am Telefon. Fakt ist: Derzeit werden monatlich zwischen 30 000 und 40 000 Downloads von Unterrichtseinheiten getätigt. 2008 waren es noch 15 300 pro Monat. Anzeige: Die «Kompetenzpartner», wie die Geldgeber genannt werden, unterstützen deren Erarbeitung «durch ihr Fachwissen zur jeweiligen Thematik», wie es auf der Website heisst. Über 100 Partnerfirmen und -organisationen sind auf der Website als Partner aufgeführt. Ein klassisches Beispiel ist etwa die Unterrichtseinheit «Von der Kakaobohne zur Schokolade», die von Cailler finanziert ist. Angst vor versteckten Werbebotschaften müsse man nicht haben, sagt Vieli: «Der Kompetenzpartner darf auf den Unterlagen, die den Schülern ausgehändigt werden, nicht erkennbar in Erscheinung treten.» Das klingt gut, doch der Grat ist schmal: Die Lektion «Was ist Erdöl?» etwa verweist auf der Anleitung für die Lehrperson für zusätzliche Informationen auf die Website des Verbands der Schweizer Erdölwirtschaft. «Als wir vor zwölf Jahren angefangen haben, arbeiteten wir ausschliesslich mit Unternehmen aus der Privatwirtschaft zusammen», sagt CEO Vieli. Heute sind es – neben Dutzenden Firmen – auch Bundesämter, Branchenverbände und NGO, die Lehrmittel finanzieren: Das Bundesamt für Migration («Muslime in der Schweiz»), das UNHCR («Flüchtlinge schützen»), der Baumeisterverband («Bauen früher – heute»). Mit der Armee entwickelt Kiknet derzeit gerade eine Unterrichtseinheit zum Thema: «Was ist Sicherheitspolitik?» Bezahlt würden die Projekte aus den PR- und Kommunikationsetats der Unternehmen und Organisationen, so CEO Vieli – auch wenn der «direkte Verkaufseffekt natürlich sehr klein» sei. Es gehe seinen Partnern nicht um eine kurzfristige Wirkung, sondern darum, Kinder und Jugendliche früh mit ihren jeweiligen Themenfeldern in Berührung zu bringen – und zu beeinflussen, in welcher Art das geschehe. Eltern als Moderatoren Kinder sind von Geburt an ein Markt. Ein Potenzial, das zu entwickeln sich unternehmerisch lohnt. Die Frage, was davon zu halten ist, wird jeder und jede anders beantworten. Klar ist: Je stärker der Druck auf die Kinder steigt, umso besser müssen sie sensibilisiert werden. Der SURPRISE 333/14

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Sozialstaat «Hier wird über Schicksale entschieden» Herr Strässle, Herr Nimani und Frau Speck bekommen Geld vom Staat. Im Sitzungszimmer treffen sie auf die IV, das RAV und den Sozialdienst. Der Dokumentarfilm «Assessment» ist dort entstanden, wo der Verwaltungsapparat ein Gesicht bekommt. Regisseur Mischa Hedinger erzählt, was er in dieser Welt erlebt hat. INTERVIEW VON AMIR ALI

Herr Strässle, der mit dem Motorrad in eine Wand gefahren ist. Frau Speck, die an einem Hirntumor erkrankte und von ihrem Ehemann verlassen wurde. Herr Nimani, der seit dem Jugoslawienkrieg an Depressionen leidet. Alle bekommen Geld vom Staat. Ihre Situation wird in einem Assessment von Vertretern der Sozialversicherungen und des Sozialdienstes beurteilt. In der einstündigen Sitzung wird ein Plan aufgestellt, um die Betroffenen wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Das ist die Bühne, auf der sich die Handlung von «Assessment» abspielt, der ersten längeren Arbeit des Dokumentarfilmers Mischa Hedinger. Das interinstitutionelle Assessment ist in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff im Sozialbetrieb geworden. Beteiligt sind Vertreter von «Institutionen der sozialen Sicherung, der Bildung und der Arbeitsmarktintegration. Wichtige Akteure sind die Arbeitslosenversicherung, die Invalidenversicherung, die Sozialhilfe, die Berufsbildung und die Berufsberatung», heisst es im Dokument «Wichtigste Grundsätze der interinstitutionellen Zusammenarbeit IIZ» aus dem Departement des Inneren. Wichtigster Partner der IIZ aber sei die Wirtschaft, ohne die «das Ziel der Arbeitsmarktintegration nicht zu erreichen» sei. Das strenge Film-Setting von «Assessment» – die Kamera verlässt das Sitzungszimmer kaum – schafft Raum und Stille. Und macht so kleine Regungen und feine zwischenmenschliche Vorgänge sichtbar. Nicht nur die betroffenen Klienten, auch die Expertinnen und Experten der Institutionen erhalten in dieser filmischen Zeichnung ein menschliches Gesicht. Herr Hedinger, Sie sind für «Assessment» mit der Kamera in ein sehr intimes Umfeld eingedrungen. Wie kamen Sie da rein? Ich habe den Kontakt zu den Behörden langsam ausgebaut. Schon vor Drehbeginn konnte ich bei einigen Assessments dabei sein, habe zugehört und mir Notizen gemacht. Irgendwann habe ich dann vom Leiter des Amts für Wirtschaft und Arbeit Zug die Erlaubnis zum Filmen bekommen. Man dachte wohl: Von uns aus ist es schon in Ordnung, wenn der filmt – es wird ja sicher kein Klient mitmachen. Zu meiner grossen Überraschung – und auch zur Überraschung der Behörden – haben fast alle, die ich angefragt habe, eingewilligt. Was war Ihre Motivation für dieses Projekt? Als ich mit dem Recherchieren anfing, waren Begriffe wie Scheininvalide und Sozialschmarotzer sehr präsent, man sprach nur von Sozialhilfeempfängern mit dicken BMWs. Dazu kam meine persönliche Situation: Ich kam frisch von der Filmschule, und meine finanzielle Situation war prekär. Einige meiner Studienkollegen mussten sich dann tatsächlich auch beim RAV anmelden. Das hat mich dazu geführt, den Sozialstaat genauer zu untersuchen: Was geschieht da genau? Was wird behandelt, verhandelt und von wem? Mich interessierte vor allem das In-

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dividuum im System: Ein Mensch, eine Biografie, ein Leben treffen auf die hochkomplexen Mechanismen des Sozialstaats. Der ganze Film spielt in jenem einen Sitzungszimmer, in dem die Assessments stattfinden. Keine Ortswechsel, wenig Bewegung: Was hat Sie daran gereizt? Das ist nicht nur filmisch ein interessantes Setup. In dieser einen Sitzung, die mit Vor- und Nachgespräch etwa zweieinhalb Stunden dauert, zeigen sich die verschiedensten sozialen Probleme. Mir ging es nicht um Mitleid, mein Interesse liegt auf der Beziehung der Betroffenen zu den Institutionen. Aber natürlich wollte ich den Betroffenen ein Gesicht geben und zeigen, womit sie sich herumschlagen müssen. Gleichzeitig zeigt diese Assessment-Situation viel über die Institutionen des Sozialstaates: Sie sitzen zusammen am Tisch, aber sie haben nicht immer die gleiche Meinung. Und obwohl eigentlich alle etwas Gutes wollen, kommt nicht immer etwas Gutes heraus. Es kommt nichts Gutes heraus? Das System trifft auf persönliche Schicksale. Da kommt nicht immer Gutes dabei heraus. Ihr Film vermittelt den Eindruck, dass die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Gesellschaft, die durch die Assessoren verkörpert wird, und der Realität der Betroffenen sehr gross ist. Das soll jetzt keine Kritik sein an den einzelnen Akteuren im Film, sie stehen ja alle unter dem Druck der Politik: Aber ja, es ist eine grosse Hilflosigkeit zu spüren. Man sieht, dass es zum Teil schlicht nicht möglich ist, die Leute in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Der Arbeitsmarkt stellt sehr hohe Anforderungen. Es gibt nicht genug Arbeitsplätze, für Menschen mit einem Handicap sowieso nicht. Demgegenüber steht das Schlagwort der Integration und die Forderung der Politik, möglichst viele wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Eine unlösbare Aufgabe? Im Film sieht man die extremen Bemühungen, die Menschen wieder zu integrieren – und die Hilflosigkeit einer Arbeitswelt gegenüber, deren Strukturen von der Wirtschaft diktiert werden. Das wirft Fragen auf: Gibt es überhaupt Arbeit für alle? Wie ist es, keine Arbeit zu haben? Und was gibt es einem, wenn man Arbeit hat? Mein Film stellt mehr Fragen, als dass er Antworten liefert. In den Assessments geht es darum, Ziele zu vereinbaren. Ist das Problem dieser Menschen, dass sie kein Ziel haben im Leben? Sie haben sicher ein Ziel. Die Erreichbarkeit dieses Zieles ist ihr Problem. Alle wollen wieder zu einem Job kommen. Aber es klappt halt nicht. Diesem Druck standzuhalten, ist nicht einfach. SURPRISE 333/14


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Manchmal kommen die Sozialarbeiterinnen nicht weiter …

Die Arbeit der Institutionen erscheint im Film wie ein ewiger Kampf gegen das Scheitern. Das scheint mir tatsächlich ein Dogma zu sein, dass sich in der Sozialen Arbeit irgendwann etabliert hat: Resignation ist das Schlimmste. Alle müssen immer motiviert sein: Man ist flexibel, willig, engagiert und happy. Genau wie es der erste Arbeitsmarkt verlangt. Dabei kann Resignation meiner Meinung nach dabei helfen, neue Ideen zu entwickeln, eine neue Strategie. Klarheit ist wichtig: Wenn ein Ziel nicht zu erreichen ist, muss man das irgendwann formulieren können.

Schafft es der technokratische Apparat überhaupt, adäquate Antworten auf Einzelschicksale zu finden? Im Grossen und Ganzen: nein. Hinter den Einzelschicksalen stehen grössere Probleme, die mit einem Assessment nicht zu lösen sind. Zum Beispiel? Die Verteilung des Geldes in der Schweiz, das Gefälle zwischen Arm und Reich. Der Film ist im Resultat 49 Minuten lang, aber Sie haben Wochen, Monate in Sitzungen mit Behörden und Betroffenen verbracht. Was für eine Schweiz haben Sie in diesem Sitzungszimmer gesehen? Keine Berge, keine Kühe, keine Schokolade. Dafür: Tabellen, Zahlen, Statistiken. Und eben Menschen. Hier wird über einzelne Schicksale entschieden, und darum sind diese Entscheidungen relevant für die Schweiz als Ganzes. Welche Reaktionen hat Ihr Film bei den Beteiligten ausgelöst? Die haben ihn sehr positiv aufgenommen. Für die Assessoren haben wir eine Spezialvorführung organisiert mit 80 Sozialarbeitenden. Da hatte ich etwas Schiss, wie der Film wohl aufgenommen werden würde. Aber auch dort war das Echo positiv – der Film stelle ihre Arbeit einigermassen realistisch dar. Auch interessant: In Deutschland, wo der Film mehrmals gezeigt wurde, fand man, dass wir hier in der Schweiz sehr konsensorientiert seien und gerne um den heissen Brei herumreden würden. Man will zwar helfen, aber irgendwo harzt es trotzdem immer. SURPRISE 333/14

… zum Beispiel im Fall von Herrn Strässle (links), der sich wehrt.

Sie sagen, der Film werfe mehr Fragen auf, als er Antworten liefere. Eine davon ist: Was sieht man nicht im Film? Im Rohmaterial war noch viel mehr Technokratisches drin: wann welches Arbeitsprogramm aktiviert werden kann, zu wie viel Prozent jemand IV-berechtigt ist und so weiter. Alles Daten. Aber im Film wollte ich lebendige und persönliche Momente zeigen. Und natürlich zeigt der Film nur eine Seite der Protagonisten. Sie haben alle Hobbys, eine Familie, ein Zuhause. Ein Leben halt. Was geschieht nach dem Assessment, wenn die Sitzung vorbei ist? Die Assessoren haben eine Nachbesprechung. Und die Klienten werden aus der Sitzung entlassen. Sie gehen aus dieser technokratischen Welt, treten auf die Strasse hinaus und werden wieder einer von acht Millionen Schweizerinnen und Schweizern. ■

BILD: ZVG

Das passiert aber nicht. Zum Teil haben die Assessoren einen Zweckoptimismus, der seltsame Züge annimmt. Alles scheint möglich. Manchmal habe ich gedacht, dass es für deren Psyche wohl besser wäre, sie würden etwas klarer kommunizieren: einmal zugeben, dass es sehr schwierig ist, dass auch ihre Möglichkeiten beschränkt sind und die Situation verfahren ist. Weil das nicht passiert, bekommt die ganze Veranstaltung phasenweise etwas Theatrales.

Mischa Hedinger, Jahrgang 1984, ist freischaffender Filmemacher und Editor in Zürich. Er unterrichtet an der Schule für Gestaltung Bern-Biel. «Assessment» (2013, 49 Minuten) wurde an der Duisburger Filmwoche mit dem «Carte Blanche»-Nachwuchspreis ausgezeichnet. Der Film wird am 19. November um 00.10 Uhr auf SRF 1 ausgestrahlt und ist seit Kurzem auch auf DVD erhältlich. www.assessment-film.ch

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Bild S. 16 oben: Das findet die Kindergärtnerin gar nicht lustig – Timon spielt vor der Grundschule. Bild S. 16 unten: Schwester Lidianne muss, wenn General Timon mal wieder zu streng war, vom Papa getröstet werden.

Erziehung Unbedingt abwehrbereit In einem kleinen Badeort bei Rotterdam jagt Tag für Tag eine Gestalt in voller Soldatenmontur durch die Strassen. Es ist ein Junge. Elf Jahre alt. Was ist da los? Und was sagen seine Eltern dazu? VON LORENZ WAGNER (TEXT) UND PETER DE KROM (BILDER)

Da schleicht er, dieser Timon. Die Kindergärtnerin linst durch’s Fenster, ihre Augen folgen ihm. Der Junge ist das Gerede der ganzen Gegend. Wie er schon aussieht! Soldatenjacke, ein Tuch vorm Gesicht, in der Hand ein Gewehr. Was soll das? Er ist hier nicht in Kabul, er ist in Hoek van Holland, einem friedlichen Badeort vor Rotterdam, es gibt eine Apotheke, einen Streichel-Bauernhof, und die grösste Aufregung ist die Fähre, die am Morgen und Abend aus England anlegt. Näher und näher kommt der Junge, gibt nach hinten Handzeichen: Rückendeckung! Die Kleinen im Kindergarten plätten an der Scheibe die Nasen. Wie lustig! Das findet die Kindergärtnerin gar nicht. Sie rennt raus. Doch da ist dieser Junge schon weg, verschwunden in den Hecken: Timon, elf Jahre alt. Was ist das für ein Kind? Was hat es nur für Eltern? Dass Timon anders ist, merkten seine Eltern, als er knapp drei Jahre alt war. Sie fuhren mit dem Auto durch Rotterdam, Timon sass auf der Rückbank, schaute aus dem Fenster, quasselte vor sich hin. An einer Ampel fiel das Wort «vloerbedekking». Die Eltern horchten auf. Teppich? Sie wussten nicht, was sie denken sollten. Bis sie das Schild über dem Laden sahen. Der Kleine hatte nicht gequasselt, er hatte gelesen. Nun hätten sich viele Eltern darüber gefreut: Ihr Sohn ist etwas Besonderes! Doch Petra und Peter Persoon wurden still. Sie wussten, was das bedeutet. Auch Timons Onkel, der Bruder der Mutter, konnte so früh lesen. «Und sein Leben», sagt sie, «war ein einziger Kampf.» Hochbegabt, diagnostizierten die Ärzte. Und Timon begann schon bald, sich fremd zu fühlen in dieser Welt. Zu sehr unterschied er sich von den anderen Kindern. Spielen? Er verbrachte seine Zeit lieber mit Zählen und Lesen. Bilder malen? Er zerriss sie, bevor sie fertig waren: Haus, Baum und Mama sahen nicht aus wie in Wirklichkeit. Und Witze oder Neckereien? Verstand er nicht. Als Papa sagte: Das Auto ist kaputt, dafür kaufe ich einen Panzer, glaubte er es. Welch Enttäuschung, als es doch ein Opel wurde. SURPRISE 333/14

In meinem Kopf ist so viel drin, sagte er zu seinen Eltern, so viele Schubladen, ich weiss gar nicht, in welche ich greifen soll. Und er versuchte, da oben Ordnung zu halten. Alles musste er planen, niemals konnten die Eltern sagen: «Oh, die Sonne scheint, lass uns schnell an den Strand gehen!» Darüber packte ihn die Wut, nein, das war nicht ausgemacht. Und wehe, im Auto sass nicht jeder an seinem Platz! Oder beim Versteckspiel zählte ein Kind bis 18 statt bis 20. Tränen und Geschrei. Die anderen Kinder fingen an, Timon doof zu finden. Und die Lehrer wussten nicht, was sie tun sollten mit einem, der sich meldete, bevor die Frage zu Ende gestellt war. Der in Panik geriet, wenn sie eine Turnstunde gegen eine Schwimmstunde tauschten. Sie überliessen Timon seiner Langeweile. Nahmen ihn nicht mehr an die Reihe. Straften ihn. Und das Kind, das sich anfangs nur fremd fühlte, war nun einsam. Oft kam es vor, dass die Eltern am Morgen aus dem Fenster schauten und ihr Timon alleine im Garten sass, weggelaufen aus der Schule. Aber dann kam ein dicklicher Junge aus der Nachbarschaft. Älter als Timon. In einer Armeejacke. Willst du mitspielen? Vor zwei Jahren war das. Der Rückzug aus der Kindergarten-Kampfzone war ein Erfolg. Weder die Kindergärtnerin hat Timon erwischt noch der Feind: Mirco, zehn Jahre, im Mund ein Erdbeerkaugummi, unterm Arm einen SchnellfeuerKarabiner. Und Lidianne, sechs Jahre alt, Zöpfe, bewaffnet mit einem Stofftiger, der ein Armeetuch trägt. Harte Gegner, ob Timon und seine Verbündeten da nicht weitere Waffen holen sollen? Im Arsenal, also der Garage. Neben Rollerskates und Fritteuse lagern dort: ein Scharfschützengewehr, ein vollautomatischer Schnellfeuerkarabiner, ein Maschinengewehr, eine Browning, eine Thompson, insgesamt 26 Waffen, alles selbst gebastelt, dazu Panzerfaust, Handgranaten, Wüstenkleidung, Helme, Gasmasken, ein Defibrillator. Was man eben so braucht im Krieg. Der Auftrag heute: dem Feind die Flagge entreissen. Was haben sich Timons Eltern gefreut, als Timon diesen Kameraden gefunden hatte. Sicher, das Kriegsspiel fanden sie nicht so gut, Fussball

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wäre ihnen lieber gewesen. Sie kauften ihm auch keine Waffe. Wenn schon, sollte Timon sich die selbst bauen, aus Holz. Mit den Händen etwas tun, hatten die Psychologen gesagt, mache den Kopf frei. Der Vater zeigte Timon, wie er eine Säge führt, und Timon ging ins Netz, druckte Bilder von Waffen und sägte in einer Kunst Pistolen und Karabiner, die alle staunen liess. Und fortan kleidete er sich grün und stürzte sich in’s Kriegsspiel, es passte zu seinem leicht autistischen Zwang, Befehl und Gehorsam, feste Regeln, und er betrieb das Spiel in einer Perfektion, dass den Eltern ganz bang wurde. Die Mutter musste an das Massaker von Columbine denken, die vielen Schiessereien an Schulen. Und was sollten die Nachbarn denken? Hoek van Holland war im Zweiten Weltkrieg Teil des deutschen Atlantikwalls gewesen. Viele alte Menschen hier haben schlimme Erinnerungen. «Wir wollten doch keine Gefühle verletzen», sagt die Mutter. Aber es tat ihrem Timon so gut. Tag für Tag spielte er draussen. Seine Wangen nahmen Farbe an, er lachte und redete mehr, er schuf eine Holzwaffe nach der anderen, so viele, er konnte sie gar nicht alle tragen, und so, ein Wunder, liess er die Nachbarskinder damit spielen, die neugierig sein Treiben verfolgten, auf einmal hatte er Gefährten, das ganze Viertel mit seinen Gärtchen und Hecken wurde zum Kriegsgebiet. Timon ist dort der General. Und er bemüht sich mehr als früher, nett zu den Kindern zu sein, er braucht sie ja für sein Spiel, viel schöner ist es, zu fünft als allein zu spielen; nach jedem Niederschuss rettet er seine Spielfeinde mit dem Erste-Hilfe-Koffer. Und er verzeiht ihnen, wenn sie für ein Eclair den Schützengraben verlassen, wenn sie beim Zählen schummeln, oder – ganz grosser Fehler – mit einem Scharfschützengewehr peng, peng, peng rufen statt peng-tschack, peng-tschack, pengtschack: Eine solche Waffe muss man nachladen! Und so lassen die Eltern ihren Timon nicht nur gewähren, sie unterstützen ihn, kaufen echte Armeehosen und Helme und tun in ihrer Unterstützung das Richtige, sagt Michael Wolf, Psychologe am Hoch-BeSURPRISE 333/14

gabten-Zentrum in Köln. Er hat keine Angst, dass in Timon ein Attentäter heranwächst, obwohl es einen gruselt, wenn Timon die Sturmhaube über den Kopf zieht, über das Bubengesicht mit seinem kleinen Mund, kecken Augen und weichen Pausbacken, auf denen ein putziger Leberfleck prangt. Amokläufer, sagt Wolf, seien Einzelgänger, fast immer isoliert. Timon aber habe sich mit seinem Spiel aus der Isolierung gerettet. In der Schule geht es besser. Die Kinder hänseln Timon weniger, die Lehrer binden ihn besser ein: Er darf nach Antworten der anderen sagen, ob diese richtig waren. Beim Schultheater spielt er einen Soldaten. «Seit er draussen Krieg führt, haben wir drinnen Frieden», sagen die Eltern. Nur in zwei Dingen lassen sie nicht mit sich reden: keine Waffen im Haus! Und sie ersetzen den Opel nicht durch einen Jeep in Tarnfarbe. Hätte eh nur für Ärger gesorgt. «Wir wissen, dass uns hier einige nicht verstehen.» Aber was sollen sie tun? Sie haben andere Sorgen. Mal sehen, was Mirco und Lidianne bald so einfällt. Die beiden sind auch hochbegabt. ■ Erstmals erschienen im SZ-Magazin.

Bild S. 18 oben: Ein grosses Glück für die Jungs und den Fotografen war es, als in der Nachbarschaft Strassenbauarbeiten stattfanden. Bild S. 18 unten: Die Familie Persoon kurz vor der Bettruhe. Die Waffe muss dann in die Garage. Bild S. 19: Was man so braucht im Krieg – Ein Teil von Timons selbstgebasteltem Arsenal.

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Sri Lanka Wie der Tiger zum Coiffeur wurde Nach 26 Jahren Bürgerkrieg lernen die Menschen in Sri Lanka, mit dem Frieden zu leben. Tausende ehemalige Kämpfer der besiegten tamilischen Befreiungstiger müssen sich eine zivile Existenz aufbauen.

VON AMANTHA PERERA

Auch Patrickeil war im Gefängnis und durchlief ein Rehabilitationsprogramm mit Berufsausbildung bis zum Februar letzten Jahres. Wie Tausende andere frühere Kämpfer muss er sich nun im früheren Kriegsgebiet eine zivile Existenz aufbauen. «Diese Leute wollen ein besseres Leben, sie wollen ein Leben wie alle anderen Leute auch», sagt Murugesu Kayodaran, der in der Verwaltung des Distrikts Kilinochchi zuständig ist für die Rehabilitation früherer Kämpfer. Ein Ziel, das auf den ersten Blick einfacher erscheint, als es in Wirklichkeit ist. Denn, so Kayodaran: «Nach Jahren im Krieg und allgegenwärtiger Gewalt haben viele ehemalige Kämpfer keinen Sinn mehr für das, was man ein normales Leben nennt.» Die meisten der früheren und nun freigelassenen Tiger sind heute einfache Arbeiter im Norden des Landes, wie die Statistiken aus dem Büro des Generalkommissars für Resozialisierung ausweisen. Viele arbeiten auch als Fischer, in der Landwirtschaft oder für die Zivilschutzbehörde der Regierung. Die Arbeitslosenquote unter früheren LTTEKämpfern beträgt 11 Prozent, mehr als 2,5 Mal höher als die landesweite Quote. Offizielle Programme zur Unterstützung früherer Kämpfer gibt es kaum. Ein Regierungsprogramm bietet Kredite für Einzelpersonen von bis zu 25 000 Rupien (175 Franken) an. Bislang haben gerade einmal 1773 Personen, welche die Bedingungen erfüllen, Geld erhalten. Eine Initiative des IKRK bietet eine einmalige Förderung von 50 000 Rupien (350 Franken), die seit 2013 genau 523 Personen erhalten haben.

Die Kunden warten ein ganze Weile, um sich für ein paar Minuten in die Hände eines früheren Kriegers zu begeben. Aloysius Patrickeil, 32 Jahre alt, ist Coiffeur und Mitinhaber eines kleinen Geschäfts in der Nähe der Stadt Kilinochchi im Norden Sri Lankas, 320 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Colombo. Alte Männer hinter buschigen Schnäuzen sitzen neben Jugendlichen mit trendigen Frisuren im Stil der neuesten Tamil-Filme. Mütter schleppen ihre Kinder in die lange Schlange der Wartenden vor dem Salon. «Er ist der beste Coiffeur am Platz», meint Kalimian Mariyaday, ein junger Mann, der wartet, bis er an der Reihe ist. Vor nur ein paar Jahren war Patrickeil alles andere als eine bekannte Person. Und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, danach zu streben. Bis ins Jahr 2009 war er Mitglied der Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE), der bewaffneten Separatistengruppe, die 26 Jahre lang für die Unabhängigkeit der Minderheit der Tamilen und gegen die Armee der Regierung von Sri Lanka gekämpft hatte. Patrickeil, mittlerweile junger Vater eines anderthalb Jahre alten Kindes, gehörte zur Marine der LTTE, auch «Tiger des Meeres» genannt. Dann, 2009, beendete eine gross angelegte Offensive der Armee den Bürgerkrieg. Patrickeil erzählt ungern Details aus seinem früheren Leben: «Das bringt nichts – was passiert ist, ist passiert. Ich möchte die Vergangenheit ruhen lassen.» Er konzentriere sich nun darauf, sein Geschäft profitabel zu halten. «Die Leute werden immer einen Haarschnitt brauchen, also ist «Früher war Krieg, heute haben wir Frieden. Heute herrscht Armut, das eine sichere Berufswahl», sagt er mit eiaber in Zukunft wird es hoffentlich Wohlstand geben.» nem Lächeln, während er fachkundig den Kopf eines Kunden massiert. Patrickeil ist in der Ge«Wir versuchen, den am meisten Bedürftigen zu helfen, nachdem wir meinde ein respektierter Mann und spricht bereitwillig über sein Gejeden Fall gründlich geprüft haben», sagt MSM Kamil, Leiter der Abteischäft und seine Zukunftspläne, aber kaum über seine Vergangenheit in lung für Wirtschaftliche Sicherheit beim IKRK. Das Fehlen von weieinem Krieg, der gegen 100 000 Menschen auf beiden Seiten der Frontliterführenden Programmen jedoch bedeutet, dass Tausende trotz eines nien das Leben gekostet hat. anfänglichen Zustupfs ohne langfristig gesicherte Existenz dastehen. Das sieht auch Murugesu Kayodaran so, der für die Rehabilitierung zuKein Sinn für das normale Leben ständige Regierungsbeamte. Dauerhafte Unterstützung und langfristige Dem Sieg über die Befreiungstiger, den die Streitkräfte der Regierung Programme seien nötig, um die behutsame und erfolgreiche Integration im Mai 2009 erklärten, waren blutige letzte Kämpfe in den Rebellengeehemaliger Kämpfer zu gewährleisten. Viele ehemalige LTTE-Angehöribieten im Norden und Osten des Landes vorausgegangen. Fast 12 000 ge empfinden sich nach wie vor als von der Gesellschaft ausgeschlossen LTTE-Mitglieder gerieten laut der Regierung in Gefangenschaft oder erund stigmatisiert. «In erster Linie brauchen sie ein gesichertes Einkomgaben sich. Bis zum Juni dieses Jahres wurden 11 800 Gefangene wieder men, eine eigene finanzielle Existenz. Dann haben sie das Gefühl, am freigelassen, nachdem sie unterschiedlich lange Rehabilitationspronormalen gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können», erklärt Kaygramme durchlaufen hatten, 132 sind noch in Haft.

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odaran. Aber unter der Oberfläche liegen Probleme, denen mit Geld allein nicht beizukommen ist: «Viele leiden unter Depressionen und traumatischen Erfahrungen, auch fehlt die Familie und die Unterstützung durch Verwandte», so Kayodaran. Eine kluge Entscheidung Ein paar Meilen westlich von Patrickeils beliebtem Coiffeursalon arbeitet Selliah Bayanan, 37 Jahre alt, in seiner Reifen-Werkstatt in der Kleinstadt Mallavi. Auch er ist ein ehemaliger LTTE-Kämpfer, der nicht viel über sein vergangenes Leben erzählen möchte. Alles was er sagt ist: «Die Situation, wie sie damals war, machte es einfach notwendig, dass wir uns der Gruppe anschlossen.» Heute hat Bayanan immer ein Auge auf die Strasse, die das regionale Zentrum Kilinochchi mit den westlich gelegenen Teilen des Bezirks verbindet. «Meine Kunden sind vor allem die Führer grosser Fahrzeuge», erzählt er. Viele auf dieser Strasse transportieren Material – in den Gebieten, die bis 2009 unter der Kontrolle der Tiger waren, wird derzeit im grossen Stil gebaut. Als seine Förderung im Projekt des IKRK dieses Jahr bewilligt wurde, traf Bayanan eine kluge Entscheidung: Er investierte das Geld in Geräte und Werkzeuge. Seitdem verzeichnet sein Geschäft einen starken Kundenzuwachs. Während er einen grossen, platten Reifen repariert, rechnet er vor: «Ich verdiene zwischen 1500 und 3000 Rupien (zwischen 10.50 und 21 Franken) am Tag. Das ist gutes Geld.» Patrickeil bekam eine ähnliche Förderung und investierte das Geld in Spiegel, Scheren und weitere Einrichtung für den Laden, der einem Freund gehört. «Ich gebe die Hälfte meiner täglichen Einnahmen an den Besitzer ab», erklärt er. Auch Patrickeil verdient rund 3000 Rupien pro Tag in einer Gegend, wo die monatlichen Lebenshaltungskosten rund 25 000 bis 30 000 Rupien betragen. SURPRISE 333/14

Mit solch einem bescheidenen Einkommen zu leben, ist nicht leicht, zumal viele ehemalige Kämpfer aus der Gegend grosse Familien unterstützen müssen. Ein früherer LTTE-Kämpfer, der wie Zehntausende andere im Krieg verwundet wurde, erzählt, er müsse seine dreiköpfige Familie ernähren und für einen jüngeren Bruder und die greisen Eltern sorgen. Angehörige von Hilfsorganisationen wie Kamil vom Internationalen Roten Kreuz bestätigen, dass es für weibliche Ex-Kämpferinnen noch schwieriger ist, einen Job zu finden, als für die Männer. Psychologische Hilfsprojekte für Menschen, die nach Jahren des Krieges traumatisiert sind, laufen im einstigen Kriegsgebiet gerade erst an. Programme, die speziell an ehemalige aktive Kämpfer gerichtet sind, gibt es bisher noch gar nicht. Exakte Zahlen darüber, wie viele ehemalige LTTE-Kämpfer verwundet wurden, gibt es nicht. Statistiken der Regierungsbehörden legen nahe, dass mindestens 10 bis 20 Prozent der über eine Million Einwohner der Nordprovinz in dem Vierteljahrhundert Krieg Verletzungen erlitten haben, die meisten davon als aktive Kämpfer. Die beiden grössten Probleme für ehemalige Tiger-Kämpfer sind heute gesellschaftliche Akzeptanz und finanzielle Unabhängigkeit. Momentan sind die Aussichten nicht rosig, dennoch haben die Menschen Hoffnung, dass es besser wird. «Früher war Krieg, heute haben wir Frieden. Heute herrscht Armut, aber in Zukunft wird es hoffentlich Wohlstand geben», meint der junge Kalimian Mariyaday, der nun, nach langem Warten, endlich auf dem Sessel sitzt. Beim Coiffeur, der einst ein Meeres-Tiger war. ■

Übersetzung: Jan Seyfried www.street-papers.org/IPS

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Wie alles anfing Neulich schaute ich auf einem Rastplatz zwei Buben zu. Es waren Brüder, der eine etwa acht, der andere etwa fünf Jahre alt. Ihnen war langweilig, und so begannen sie, auf Anregung des Grösseren, zu kämpfen. Natürlich war dieser überlegen und so verleidete es dem Kleineren nach einer Weile. Um sich den Bruder, dem das Spiel deutlich grösseren Spass machte, vom Leib zu halten, hob er einen Stecken auf, den er drohend schwang, und tatsächlich wich der Stärkere zurück. Aber schon bald hob dieser einen grösseren Stecken auf und griff wieder an. Das Ganze verlief spielerisch, sie schlugen mit den Stecken nicht wirklich zu und lachten dabei. Ich schaute zu und dachte: So hat also das Wettrüsten angefangen. Ich bin überzeugt, dass Waffen von kleinen Brüdern erfunden wurden. Womit ich nicht behaupten will, dass Michail Timofejewitsch Kalaschni-

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kov oder die Herren Heckler und Koch zwingend grosse Brüder hatten, aber zu Urzeiten muss es ein kleiner Bruder gewesen sein, der die Keule erfunden hat. Er glaubte, damit die Gerätschaft gefunden zu haben, die ein friedfertiges Leben ermöglicht. Ähnlich muss es dem Menschen ergangen sein, der das erste Werkzeug erfand. Es muss sich um einen faulen Menschen gehandelt haben. Angenommen, die Nahrung bestand aus Nüssen, die mit den Zähnen aufgeknackt werden mussten. Eine mühselige Arbeit. Dieser Mensch hätte lieber am nahe gelegenen Bach in der Wiese gelegen und den Wolken zugeschaut. Da erinnerte er sich, dass ihm vor Kurzem ein Stein auf den Fuss gefallen war. Der Stein war hart gewesen. Die Nuss ist hart. Der Stein ist grösser. Was also, wenn man einen Stein auf eine Nuss fallen lässt? Bingo! Die Nüsse liessen sich nun viel schneller und schmerzloser knacken. Dieser Mensch hatte gleichzeitig den Nussknacker, die Halbtagsstelle und die ausgewogene Work-Life-Balance erfunden. Es hätte alles so schön sein können. Wenn da nicht der Fleissige gewesen wäre, der sich die Nussknackermethode aneignete und sie nutzte, um doppelt so viele Nüsse zu sammeln und zu knacken wie anhin. Dadurch hatte er mehr Nahrung, wurde stärker, seine Sippe wuchs und unterwarf jene des faulen Erfinders. Bald waren alle angehalten, wieder den ganzen Tag Nüsse zu knacken, und das Betrachten der

Wolken geriet in Verruf. So wurden die Starken stärker und die Fleissigen schwangen obenauf. Schlechte Zeiten für die Schwachen und Faulen brachen an. Was immer sie erfanden, um sich das Leben zu erleichtern, es wurde zweckentfremdet, um ihnen das Leben zu erschweren. Bis eines Nachts einer von ihnen in den Sternenhimmel schaute und eine Idee hatte: Was, wenn ich den Starken und Fleissigen erzähle, dass es da oben Wesen gibt, die tausendmal stärker sind als wir und tausendmal mehr zu leisten vermögen? Die unser Schicksal beeinflussen können und die wir wohlstimmen, in dem wir die Arbeit unterbrechen und ihnen unsere Zeit widmen? Was, wenn ich erzähle, dass diese mächtigen Wesen es gerne sehen, wenn wir nett zueinander sind, uns gegenseitig helfen und bescheiden leben, anstatt uns mit Keulen zu prügeln und immer grössere Nussvorräte anzulegen? Der Mensch unter dem Sternenhimmel lächelte und schlief bald selig ein. Er hatte die Lösung gefunden. Dachte er.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT (SAVVE@VTXMAIL.CH) SURPRISE 333/14


Ausstellung Aufgeblasener Mord BILD:TAZIO SECCHIAROLI, BFI STILLS BLOW-UP 1966 NEUE VISIONEN FILMVERLEIH GMBH/ TURNER ENTERTAINMENT CO.–A WARNER BROS ENTERTAINMENT COMPANY

Michelangelo Antonionis Filmklassiker «Blow-Up» gehört zum modernen Kulturgut. Jetzt eröffnet das Fotomuseum Winterthur einen neuen Blick auf das Werk und die Swinging Sixties in London.

Ein Modefotograf glaubt, mit Aufnahmen, die er heimlich in einem Londoner Park von einem Liebespaar macht, zufällig einen Mord dokumentiert zu haben. Doch die Bilder sind nicht eindeutig. Nicht einmal Vergrösserungen der Bilder – Blow-Ups – liefern den klaren Beweis. Die Ambivalenz des Bildes ist Ausgangs- und Angelpunkt des 1966 gedrehten Films und auch ein wichtiger Aspekt der Ausstellung in Winterthur. Thomas Seelig, Co-Direktor des Fotomuseums Winterthur, sagt: «Man darf dem Bild nicht 100 Prozent vertrauen, denn das Wesen eines Bildes beinhaltet dessen Interpretation.» Michelangelo Antonioni war ein Meister im Spiel mit der Mehrdeutigkeit. Der italienische Filmemacher und Autor stellte mit seinen Filmen das Konzept des narrativen Kinos, des Geschichtenerzählens an sich, auf den Kopf. Auch «Blow-Up» bleibt weiterhin rätselhaft. Die Szenen, die sich ohne rigiden Erzählstrang zu einem Ganzen zusammenfügen, wirken oft wie geträumt, das Geschehen wird angedeutet, die Aussage verschlüsselt. Das im Film behandelte fotografische Spektrum reicht von der Modefotografie über Street Photography zur Sozialreportage bis hin zu PopArt und purer Abstraktion. Derweil, so Thomas Seelig, «wird das Fotografische und das latente Bild auf mehreren Ebenen analysiert. Einmal ganz konkret in der Handlung, aber auch in Metaphern oder surrealistisch anmutenden Bildern.» Aus der Sicht von Thomas Seelig erklärt seine Mehrdeutigkeit die andauernde Relevanz des Films: «Mehrdeutigkeit eröffnet eine ständige Aktualisierung.» Blicke, Handlungen, Szenen und Geschwindigkeiten seien offen arrangiert, so Seelig, und könnten somit in mehrere Richtungen gedeutet und gelesen werden.» Gerade die Frage des Faktischen stelle sich heute akut. Seelig denkt etwa an verwackelte Nachrichtenvideos, die im Bürgerjournalismus entstehen: «Es heisst, die Quelle vorsichtig zu hinterfragen.» Heisst die Quelle Antonioni, muss man ihn auch als Künstler sehen. Als detailversessenen Akribiker, der seine Sets mit dem Eifer eines Malers gestaltete, der ein Stillleben inszeniert. So liess er etwa die Wiese im besagten Park färben, weil ihm der Grünton nicht ganz richtig erschien. Auch die Kostüme, Frisuren und Make-up bestimmte der Regisseur selbst, und seine Schauspieler wählte er vor allem nach Aussehen, weniger nach darstellerischem Können. Und natürlich war Antonioni auch ein besessener Rechercheur. Diesem Umstand ist zu verdanken, dass «Blow-Up» nicht einfach nur zeitlos ist. Der Film ist auch ein Zeitdokument der Swinging Sixties in London. «Mode, Fotografie, Kunst, Lifestyle, all das findet man in ‹BlowUp› », sagt Seelig. Für deren präzise Abbildung habe Antonioni keinen Aufwand gescheut. «Er hat Fragebogen an die bekanntesten Fotografen der Zeit verschickt und sie nach ihren Gewohnheiten, Themen, ihrer Gestik, aber auch ihrem Liebesleben befragt.» So gelangen Antonioni nicht nur Abbilder, sondern Sinnbilder einer Ära. All das ist eine attraktive Ausgangslage für die Fotoausstellung, die Winterthur von der Albertina in Wien übernimmt. Es gäbe, so Seelig, derzeit einige Ausstellungen zu Filmstil oder Filmkultur. «Neu ist aber, dass sich die enge Verbindung von Film und Fotografie anhand eines SURPRISE 333/14

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VON YVONNE KUNZ

Voller Körpereinsatz für die Fotokunst.

exemplarischen Films entspannt. Innovativ ist der Ansatz, sich aus der Perspektive der Fotografie dem Film zu nähern.» Dies erlaubt laut Seelig einen Blick, der ganz anders ist als der filmgeschichtliche. Diese andere Perspektive erschliesst sich in der Ausstellung aber nicht nur aus Filmstills. Sie wird erweitert durch Originalwerke, die Antonioni inspiriert hatten, teils gar Bestandteil des Films wurden, etwa Don McCullins Reportagefotos. Darüber hinaus werden Antonionis Aquarelle zu sehen sein, aus denen sich die fotografischen Abstraktionen ableiten lassen. Oder, erstmals in der Schweiz, die eingangs erwähnten Bilder aus dem Park. Wer weiss – vielleicht entdeckt jemand eine neue Spur. ■ «Blow-Up – Antonionis Filmklassiker und die Fotografie», Sa, 13. September bis So, 30. November, Fotomuseum Winterthur www.fotomuseum.ch Rahmenprogramm: «Der voyeuristische Blick», noch bis Di, 30. September, Filmfoyer Winterthur www.filmfoyer.ch »Blow-Up: Pop – Art – Fashion», Spezialprogramm an den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur, Di, 4. November bis So, 9. November www.kurzfilmtage.ch

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BILD: TRIGON-FILM

BILD: ZVG

Kultur

Sengende Sonne, surrealer Sommer.

Stumme Rebellion gegen den Lehrer.

Buch Die Farben des Sommers

Kino Kuschelpädagogik oder Autorität?

Shaun Tan erzählt in albtraumnahen Bildern vom Sommer, von Abenteuern und von den strengen Regeln der Kinderspiele.

Mit dieser Gretchenfrage der Erziehung beschäftigt sich das Spielfilmdebut des Slowenen Rok Bicek, «Der Klassenfeind».

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON YVONNE KUNZ

Die Sommer der Kindheit sind unvergesslich. Und sei es auch nur als Erinnerung an eine besondere Farbe und die schier endlose Zeit. Spätestens nach dem Eintritt in die Schule wurde diese zur grossen Freiheit, die nur darauf wartete, mit Spielen erfüllt zu werden, alten, neuen, selbst erfundenen. Doch Spiele funktionieren nicht ohne Regeln. Regeln, an die man sich halten muss, selbst wenn man sie nicht versteht. Regelbruch wird bestraft. Denn Spielen ist eine ernste Sache. Und die Strafen können in den Augen der Kinder gigantisch sein. Der australische Autor und Illustrator Shaun Tan nimmt das wortwörtlich. So wie er die Fantasie, der Kleinen wie der Grossen, immer ernst nimmt, in oft surrealen Bildern, in denen sich seltsame Wesen tummeln, halb Mensch, halb Maschine, als hätte Hieronymus Bosch Pate gestanden. In seinem neuesten Bilderbuch, «Die Regeln des Sommers», fängt das ganz unscheinbar mit einem harmlosen Satz an: «Also das habe ich im letzten Sommer gelernt.» Doch von da an ist es aus mit der Harmlosigkeit. «Nie eine rote Socke auf der Wäscheleine hängen lassen», heisst die erste Regel, und weil da doch eine vergessen wurde, kauern zwei Jungs vor einer Bretterwand, hinter der ein riesenhaftes rotes Kaninchen herüberäugt. So geht es in loser Folge weiter, nicht als zusammenhängende Geschichte, sondern als fantastisches Panoptikum. Nie die Hintertür offen lassen, weil morgens das Haus von Unaussprechlichem bevölkert ist, nie auf eine Schnecke treten, weil das einen Hurrikan auslöst, aber vor allem … nie eine Prügelei verlieren. Das nämlich verstösst in die Einsamkeit, die Kälte, die Dunkelheit. Gut, wenn dann ein Freund da ist, der einen rettet, und wenn hinter einer hohen Mauer verheissungsvoll der letzte Sommertag wartet – den man natürlich nie verpassen darf. Shaun Tan erzählt eine Geschichte von Abenteuer, Streit und Freundschaft und fängt dabei in seinen albtraumnahen Bilderwelten die Farben des Sommers ein, die nicht nur warm sind. Seine Bildersprache mag keine leichte Kost sein, doch ist sie immer ein unbedingt lohnendes Leseund Sehabenteuer.

Das Schuljahr ist schon fast gelaufen, die Stimmung ausgelassen. Die Gedanken der Schüler kreisen eher um die Abschlussparty als das Deutschexamen. All das ändert sich schlagartig, als sich die beliebte Klassenlehrerin Nusa (Masa Derganc) in den Mutterschaftsurlaub verabschiedet und der autoritäre Intellektuelle Robert (Igor Samobor) das Zepter übernimmt. Beseelt von seiner Liebe zur deutschen Literatur und dem Bestreben, seinen Schülern eigenständiges Denken zu vermitteln, will er sie auf den Ernst des Lebens vorbereiten. Anders als Nusa kümmern ihn die privaten Verhältnisse seiner Schüler nicht. Er zeigt kaum Empathie gegenüber Luka (Voranc Boh), der um seinen Vater trauert, oder gegenüber Sabina (Dasa Cupevski), der nachdenklichen Pianistin. Letztere nimmt er bei einem Gespräch unter vier Augen in die Mangel. Er konfrontiert sie mit Fragen, auf die sie, wie viele Teenager, keine Antworten hat: Was willst du werden? Wann willst du dich entscheiden? Willst du, dass nichts wird aus dir? Ihre Klassenkameraden sehen nur, wie sie heulend aus dem Klassenzimmer rennt. Am nächsten Tag ist Sabina tot. Sie hat sich erhängt. Für die Schüler steht fest: Der Lehrer ist schuld. Die Tragödie ist der Anfang eines Zermürbungskampfs zwischen Lehrer und Klasse. Dieser weitet sich schrittweise aus, als sich Schulpsychologin, Rektorin und Eltern einschalten, und er wird bald zur ausgewachsenen Rebellion gegen das System. Als Deutschlehrer wird Robert nur noch «Nazi» genannt und paukt unbeirrt Thomas Mann, besonders jene Schriften, die sich mit Selbstmord befassen. So entfaltet sich ein klaustrophobisches Kammerspiel, in dem die Räume für eine gütliche Verständigung immer enger werden. Der erst 29-jährige Bicek weiss die wachsende Anspannung subtil einzufangen. Dabei nutzt er die unterschiedlichen Charaktere der Schüler – von Streber bis Revoluzzer –, um ein differenziertes Bild der verfahrenen Situation zu zeichnen. Das Drehbuch macht es sich nie leicht mit allzu einfachen Lösungen. So schwanken die Sympathien hin und her zwischen dem Lehrer, der sich mit immer abstruseren Anwürfen konfrontiert sieht, und der Schulklasse, die sich in ihrer Hilflosigkeit nichts mehr wünscht als etwas Menschlichkeit.

Shaun Tan: Die Regeln des Sommers. Aladin 2014. 29.90 CHF

Rok Bicek: «Class Enemy», Slowenien 2013, 112 Min., mit Dasa Cupevski, Jan Zupancˇicˇ, Voranc Boh u. a. Der Film läuft derzeit in den Deutschschweizer Kinos.

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Blutbefleckt durchs Gestern und Heute.

Theater Scheitern der Werte Regisseur Tumasch Clalüna untersucht im Stück «Ajax Amok – Kurzer Prozess» die Strukturen von Schuld und Verantwortung. Und bedient sich dafür der Antike und der Gegenwart. VON MICHAEL GASSER

Zwei von insgesamt sechs Probewochen haben Tumasch Clalüna, Regisseur von «Ajax Amok – Kurzer Prozess», und sein Team bereits hinter sich. Und langsam beginnt das Stück an Form zu gewinnen. Die drei Schauspieler Ralph Tristan Engelmann, Urs Humbel und Benjamin Mathis haben auf der Bühne wechselnde Rollen zu verkörpern: vom frech blökenden Schaf über Figuren der griechischen Mythologie bis hin zum real existierenden US-Soldaten Robert Bales. Antike und Neuzeit finden beim Spiel zu einem Erzählstrang zusammen. «Die Taten, die er früher vollbrachte, sind vergessen», wird etwa über den Helden der Antike, Ajax, geflüstert. Wenig später beginnt sich die Szenerie unmerklich zu wandeln. Und zeigt eine konsternierte Mrs. Bales auf Visite beim Militärpsychiater: Ihr Mann soll auf seiner vierten Tour in Afghanistan 16 Menschen niedergemetzelt haben; auch Frauen und Kinder. Was könnte den US-Amerikaner zu dieser unfassbaren Tat gebracht haben, die heute als Kandahar-Massaker bekannt ist? «Das ist die grosse Frage», sagt Clalüna. Auslöser könnten der Alkohol, Steroide, falsch verstandenes Pflichtbewusstsein oder die zu vielen Einsätze gewesen sein. «Letztlich wurde die Schuldfrage nie komplett geklärt.» Dennoch wird der heute 41-jährige bis Ende seiner Tage hinter Gittern sitzen. Ohne Aussicht auf Entlassung. Dem Amoklauf stellt Clalüna «Ajax» von Sophokles gegenüber. Dieser wird von der Göttin Athene mit Wahnsinn geschlagen, verfällt in mörderisches Rasen und sieht – wieder bei Sinnen – keinen anderen Ausweg als den Selbstmord. Der Regisseur übersetzte den Stoff aus dem Griechischen und entdeckte dabei einen unglaublich vielschichtigen Text. «Unser Plan war es, die Storys von Ajax und Bales parallel zu erzählen.» Doch bei den Proben seien die Handlungen zusehends miteinander verschmolzen. Ob das auch bei der Premiere noch der Fall sein wird, ist noch offen. Die Inszenierung will keine Lösungen anbieten, so Clalüna. «Aber aufzeigen, dass unsere Werte immer wieder scheitern.» Das war im Altertum schon so und hat sich bis heute nicht geändert.

01

Kaiser Software GmbH, Bern

02

mcschindler.com, Online-PR-Beratung, Zürich

03

archemusia Musikschule, Basel

04

BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

05

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

06

Lions Club, Zürich Seefeld

07

Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

08

VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

09

Scherrer & Partner GmbH, Basel

10

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

11

Velo-Oase Erwin Bestgen, Baar

12

Bruno Jakob Organisations-Beratung, Pfäffikon SZ

13

Balz Amrein Architektur, Zürich

14

Supercomputing Systems AG, Zürich

15

Kultur-Werkstatt – dem Leben Gestalt geben, Wil SG

16

Schluep Degen Rechtsanwälte, Bern

17

Anyweb AG, Zürich

18

A. Reusser Bau GmbH, Recherswil

19

Verlag Intakt Records, Zürich

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Hotel Basel, Basel

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Homegate AG, Zürich

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Balcart AG, Therwil

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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applied acoustics GmbH, Gelterkinden

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Privat-Pflege, Hedi Hauswirth, Oetwil am See

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

«Ajax Amok – Kurzer Prozess», Mi, 17. September, 20 Uhr (Premiere); Fr und Sa, 19. und 20. September, jeweils 20 Uhr; So, 21. September, 18 Uhr, Di, 23. September, 20 Uhr, Theater Roxy, Muttenzerstr. 6, Birsfelden www.theater-roxy.ch SURPRISE 333/14

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BILD: FONDATION ED. BILLE

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Ausgehtipps

So sieht einer aus, der Wandel will.

Bern Bukarest in Bern «Wo bist du, Bukarest?», fragt Regisseur Vlad Petri mit seinem Dokfilm über die Unruhen in der rumänischen Hauptstadt 2012. Wir wissen es: in Bern, in der komprimierten Form zweier Filme. Petris Dok folgte vor zwei Jahren den rumänischen Demonstranten und fand impulsive, zynische und entmutigte Menschen vor, die Wandel wollen, sich aber in ihrer reaktionären Ideologie verlieren und letztlich ohne Alternative bleiben. Tom Wilson wiederum fokussiert in «Das Bukarest Experiment» auf das Jahr 1989, als Rumänien einen Staatsstreich erlebte. Die Geheimdienste waren vorbereitet: Um den Menschen zu helfen, Reflexe für den freien Markt zu entfalten, stellten sie ein Geheimprojekt des psychologischen Engineering auf, das ganz neue Techniken anwandte. Die Regisseure werden anwesend sein. (dif)

Virtuoser Brasilianer: Aliéksey Vianna.

Eine Postkarte von Edmonde Bille, 1914.

Basel Kirche als Jazz-Club

Bern Zerrissene Schweiz

Der Jazz-Club Bird’s Eye ist in Basel eine feste Grösse, sein Gründer Stephan Kurmann ebenso. Nun tritt er zusammen mit dem brasilianischen Gitarrenvirtuosen Aliéksey Vianna an einem Ort auf, an den nicht nur Jazz-Freunde finden: in der Predigerkirche. Vianna ist im Jazz und der brasilianischen Musik ebenso zuhause wie in der grossen Konzerthalle, er arbeitet mit grossen Namen wie Pierre Boulez, als Solist tritt er international mit Orchestern auf und ist immer wieder beim Sinfonieorchester Basel zu Gast. Nun gibt’s also ein etwa einstündiges Benefizkonzert des Duos Kurmann/Vianna zugunsten der Gassenküche Basel. Zuvor kann man sich auf dem rund zweistündigen Surprise-Stadtrundgang durch die Stadt führen lassen. Und dabei die Gassenküche kennenlernen, die man mit dem Benefizkonzert unterstützt. (dif)

Die Schweiz war dem Zerbrechen nah, die Landesteile standen vor einer Zerreissprobe: 1914 wird Europa vom Ersten Weltkrieg erfasst, und obwohl in der Schweiz keine Schüsse fallen, ist auch sie im Kriegszustand. Ein Graben zieht sich durch das Land. Während ein grosser Teil der Deutschschweiz stark mit Deutschland und Österreich-Ungarn sympathisiert, schlägt das Herz der Westschweiz mehrheitlich für Frankreich und seine Verbündeten. Das wird von den Kriegsmächten genutzt – mit massiver Propaganda. (mek) «Im Feuer der Propaganda», noch bis So, 9. November zu sehen im Museum für Kommunikation, Bern.

Anzeige:

Aliéksey Vianna & Stephan Kurmann: Benefizkonzert zugunsten der Gassenküche Basel, So, 21. September, 17 Uhr, Predigerkirche Basel; sozialer Stadtrundgang, 14 Uhr, Treffpunkt Theodorskirche. Tickets für Konzert und Stadtrundgang zu bestellen unter tickets@rotaract-basel.ch (Konzert 30 CHF, Stadtrundgang 15 CHF). www.rotaract-basel.ch

Cinématte: So, 14. September: «Das Bukarest Experiment», 17 Uhr; «Wo bist du, Bukarest?», 19 Uhr, Wasserwerkgasse 7, Bern. www.cinematte.ch

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BILD: SUHRKAMP VERLAG, FREDERIC MEYER

BILD: ZVG

Buffet, Kultur – und jede Menge Diskussionen.

Nachdenken über das Fremde: Peter Weber (links) und Lukas Bärfuss.

Basel Solidarisch jubilieren

Zürich Buddhas im Wohnzimmer

Die Sozialkonferenz Basel will vernetzen, sozialpolitisch relevante Themen lancieren und den öffentlichen Diskurs anregen. Zum zehnjährigen Bestehen soll nicht nur das Jubiläum begangen werden. Es geht darum, Fragen rund um Armut und Existenzsicherung nachzugehen. Die Themen lauten etwa «Sozialfirmen: Zwischen Hilfeleistung, administrativer Versorgung und staatlich gestützter Prekarität» oder «Vom Wohn-Klo zur Heimat». (ami)

Das Fremde verunsichert uns – exotische Reiseziele und Buddhas als Dekor sind uns hingegen vertraut. Woher kommt das? In einer Ausstellung im Museum Rietberg nehmen 21 Künstler den Dialog mit Kunstwerken aus fernen Ländern auf. Eine Begleitpublikation enthält Texte von Lukas Bärfuss und Peter Weber. An der Buchpremiere führen die Autoren die Diskussion um das Fremde weiter. (mek)

Sozialkonferenz Basel, Sa, 12. September, ab 13.45 Uhr, Union Grosser Saal,

18 Uhr, Museum Rietberg, Zürich. Ausstellung bis So, 9. November.

Klybeckstrasse 95, Basel. Kontakt: m.gast@merianstiftung.ch

www.rietberg.ch, www.literaturhaus.ch

«Das Fremde ist nur in der Fremde fremd»: Buchpremiere am Do, 18. September,

Nehmen Sie an einem «Sozialen Stadtrundgang» teil! Erleben Sie Basel aus einer neuen Perspektive! Tour 1: Konfliktzone Bahnhof – vom Piss-Pass zur Wärmestube. Samstag, 20. September um 9 Uhr. Tour 2: Kleinbasel – vom Notschlafplatz zur Kleiderkammer. Samstag, 27. September um 9 Uhr. Tour 3: Kleinbasel – von der Sozialhilfe zur Selbsthilfe. Samstag, 6. September um 9.30 Uhr. Anmeldungen unter rundgang@vereinsurprise.ch oder 061 564 90 40. Weitere Infos unter www.vereinsurprise.ch/stadtrundgang SURPRISE 333/14

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Verkäuferporträt International «Kinder zeichne ich in Rennautos oder auf Dinosauriern» Harry Richards zeichnet Karikaturen von Passanten und bekommt dafür Trinkgelder und Spenden. Viele seiner Porträtierten in Portland im US-Bundesstaat Oregon sind aber selber obdachlos – also malt er sie umsonst. Zusätzlich verkauft er die Strassenzeitung Street Roots.

Als Harry Richards und ich uns zum Interview treffen, bietet er mir zuerst die Hälfte seines Burgers an. Man muss lernen zu teilen, erklärt er – vor allem, wenn man wie er in einer grossen Familie aufgewachsen ist. Mittlerweile teilt Richards auch sein Talent mit anderen. 2010 hat er angefangen, für Trinkgelder und Spenden Karikaturen in der Nähe des Saturday Market in Portland zu zeichnen. Er erzählt, dass er viele Kinder malt. «Ich frage die Kinder zuerst, was sie am liebsten mögen – seien es Rennautos, Dinosaurier, Bären, Ballerinas oder Einhörner. Dann male ich ihr Gesicht und mache sie zu ihrem Lieblingsobjekt. Wenn sie also ein Pirat auf einem Schiff sein wollen, zeichne ich ein Piratenschiff und male sie mit einem Piratenhut.» Aber Harry Richards macht nicht nur Kunst für Menschen, die ihm dafür Geld geben. Viele seiner Kunden sind arm oder obdachlos – also malt er sie gratis. «Ich glaube, ich habe viele, viele Jahre lang als Drogenabhängiger ein sehr selbstsüchtiges Leben geführt. Jetzt bin ich seit mehr als sechs Jahren weg von den Drogen und will etwas zurückgeben.» Zeichnen lernte er im Gefängnis, indem er massstabsgetreue Zeichnungen anfertigte und sich Cartoonhefte genau ansah. Seitdem ist viel passiert. Jetzt teilt er sich eine Wohnung mit seinem Neffen und einem Freund seines Neffen und plant, das grössere Schlafzimmer in ein Atelier zu verwandeln. Er zeichnet und malt abstrakte und spirituelle Bilder sowie Bauzeichnungen. Seine Werke verkauft er im Internet mithilfe seines Produzenten, der ihn 2008 entdeckte und momentan an einer Dokumentation über Harrys Erfahrungen arbeitet. Richards hat einige ganz spezifische Ziele für diese Dokumentation – und eine Vision für ein besseres Portland. Er hofft, dass der Film Jugendlichen zeigt, dass man über die Dinge reden kann, die für sie wichtig sind. Er sieht täglich, mit welchen Problemen obdachlose Jugendliche in Portland zu kämpfen haben, und hofft, ihr Leben zum Besseren verändern zu können. Harry Richards ist selbst in Armut aufgewachsen. Oft wurde eine Packung Makkaroni mit Käse zum Abendessen zwischen sieben Leuten aufgeteilt. Jetzt möchte er Jugendlichen helfen, zu vermeiden, was er und viele andere durchgemacht haben, erzählt er. «Ich weiss, was diese Heime den Kindern bieten», sagt er. «Zwar gibt es verschiedene Angebote, aber es heisst immer nur ‹Tu dies, tu das, tu dies, tu das› – und genau deshalb kommen die meisten Jugendlichen damit nicht zurecht. Viele sind schwer misshandelt, von ihren Eltern missbraucht oder für Drogen verkauft worden. Wenn ihnen jetzt jemand sagt, was sie tun müssen, um ein Bett zu bekommen, dann tun sie das nicht. Und wenn es darum geht, einem Fremden zu erzählen, was mit ihnen los ist, dann tun sie das auch nicht, weil sie kein Vertrauen haben.»

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BILD: SARAH HANSELL

VON SARAH HANSELL

Nur vom Karikaturenzeichnen kann Harry aber nicht leben. Als er im November jemanden traf, der Street Roots verkaufte, beschloss er, es selbst zu versuchen. Seitdem hat Harry vier weitere Menschen zu Street Roots gebracht. «Das ist auf jeden Fall besser, als von anderen abhängig zu sein und kein Selbstbewusstsein zu haben», sagt er. Harry geniesst es, mit ganz verschiedenen Menschen zu sprechen, während er das Magazin verkauft – von Ärzten, Anwälten und Orchestermusikern bis hin zu Menschen aus allen Ländern der Welt, die in Hotels in Downtown wohnen. «Ich führe gern intellektuelle Gespräche mit anderen», sagt er. Harry Richards ermutigt andere, sich an Street Roots zu wenden, um Geld zu verdienen. «Sogar wenn du es im Moment nicht schaffst, irgendjemandem zu vertrauen, kannst du immer noch gute Bekanntschaften schliessen. Und das kann dir immerhin zeigen, dass die Welt ein freundlicher Ort sein kann», sagt er. «Du musst die Sache nur nach dem Motto von Street Roots betrachten: Verurteile niemanden, dann wirst du auch nicht verurteilt.» Richards trifft man jederzeit an seinem bevorzugten Standort – vor dem Starbucks an der Ecke Southwest Avenue und Taylor Street. ■ SURPRISE 333/14


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Anja Uehlinger Baden

Ralf Rohr Zürich

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Fatima Keranovic Basel

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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333/14 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 333/14

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami, Heftverantwortlicher), Florian Blumer (fer), Diana Frei (dif), Mena Kost (mek) redaktion@vereinsurprise.ch leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Annette Boutellier, Michael Gasser, Sarah Hansell, Seraina Kobler, Timo Kollbrunner, Peter de Krom, Amantha Perera, Lorenz Wagner Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17 750, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), l.biert@vereinsurprise.ch, Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 333/14


Surprise Mehr als ein Magazin INSP-Konferenz Wenn das Bargeld verschwindet Was, wenn die Passanten kein Geld mehr auf sich tragen? In den USA und Skandinavien ist dies bereits Realität. Über diese und andere Herausforderungen der Zukunft diskutierten rund 100 Vertreter von Strassenzeitungen aus aller Welt. Mit dabei waren auch drei Mitarbeiter von Surprise. Zum Schluss der Konferenz wurde gefeiert, denn dieses Jahr sind es genau 20 Jahre her, seit das INSP gegründet wurde. 1989 wurde auf den Strassen New Yorks mit den Street News die erste Strassenzeitung im heutigen Sinne verkauft, die Idee schwappte rasch auf Europa, Australien und Afrika über. Fünf Jahre später bildete sich das Netzwerk mit Sitz in Glasgow, welches seither den weltweiten Austausch fördert und neue Strassenzeitungen mit Know-how und finanziellen Mitteln unterstützt. Dem Verband gehören heute 122 Strassenzeitungen aus 41 Ländern an, die rund 14 000 Verkäufer beschäftigen und insgesamt sechs Millionen Leserinnen und Leser erreichen. «INSPiring change for 20 years» lautete das Motto der diesjährigen Konferenz. Inspiriert und voller neuer Ideen kehrte auch unser Team aus Glasgow zurück – wir halten Sie auf dem Laufenden. (fer) ■

BILD: ZVG

Wie schaffen Strassenzeitungen den Sprung ins digitale Zeitalter? Wie sollen sie sich in der sich verändernden Landschaft von Hilfswerken, NGOs und sozialen Unternehmen positionieren? Dies waren nur zwei einer Vielzahl von brennenden Fragen, die an der 20. Konferenz des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen INSP diskutiert wurden. Rund 100 Vertreterinnen und Vertreter von Strassenzeitungen aus aller Welt – darunter auch drei Mitarbeiter von Surprise – trafen sich während drei Tagen im August auf Einladung des INSP in Glasgow, um sich auszutauschen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Auch konkrete Projekte wurden vorgestellt: Trudy Vlok von The Big Issue South Africa zum Beispiel berichtete über die erfolgreiche Lancierung der Handybezahlung über einen QR-Code, den die Verkäufer auf ihrer Weste tragen. Vertreterinnen aus den USA und Skandinavien teilten ihre Erfahrungen über alternative Modelle wie Kreditkarten- und SMS-Bezahlung.

Der INSP-Vorstand 2014: Fay Selvan von The Big Issue in the North, Nordengland, Paola Gallo, Geschäftsleiterin Surprise, Schweiz, Trudy Vlok, The Big Issue South Africa, Maree Aldam, Geschäftsführerin INSP, Schottland, Serge Laureault, INSP-Direktor, Kanada.

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