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Im Lande Assads Unterwegs im Kriegsgebiet Syrien: Wie hilft die Schweiz? Antworten von DEZA-Vizedirektor Bessler

Rätoromanische Popkultur – die Bündner Sagenwelt als E-Comic

Nr. 347 | 10. bis 23. April 2015 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Titelbild: Teun Voeten

Editorial Vier Jahre Krieg

Die Medien berichten nur lauwarm über die Jährung dieses Krieges, der sich laut der UNO zur grössten humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Der Spendenfluss ist praktisch versiegt, die Klickzahlen von SyrienArtikeln sind im Keller. Und die Weltwoche beklagt in ihrer Ausgabe vom 26. März die Kosten, welche die 3000 syrischen Flüchtlinge in unserem Land der Schweiz verursachen werden.

BILD: ZVG

Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner schaut hin. Vier Jahre ist es nun her, seit in Syrien der Krieg ausgebrochen ist. Und das vierte Kriegsjahr war das bisher schlimmste: 76 000 Zivilisten wurden alleine in diesem Zeitraum getötet. 7,6 Millionen Syrerinnen und Syrer sind heute im eigenen Land auf der Flucht, 4 Millionen in den Nachbarländern. Die Lebenserwartung in Syrien ist seit Kriegsbeginn um 20 (!) Jahre auf 55 gesunken.

FLORIAN BLUMER REDAKTOR

Grund genug, fanden wir, in unserer aktuellen Ausgabe Platz zu schaffen für eine neunseitige Reportage in Text und Bild. Zwölf Tage waren der holländische Reporter Robert Dulmers und der belgische Fotograf Teun Voeten durch die von Präsident Assad gehaltenen Gebiete unterwegs. Sie besuchten die einst blühenden Städte Damaskus, Aleppo und Homs, die heute teilweise Mondlandschaften gleichen – und in denen doch immer noch Menschen leben. Und sie haben mit Generälen und Repräsentanten von Baschar al-Assads Regime gesprochen, das aufgrund der begangenen Gräueltaten am eigenen Volk international am Pranger stand – und nun, da ihm auch der IS gegenübersteht, wieder auf Goodwill aus dem Westen hoffen darf. Was unternimmt die offizielle Schweiz angesichts dieser humanitären Katastrophe gigantischen Ausmasses? Wir haben bei Manuel Bessler, dem Vizedirektor der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit DEZA, nachgefragt. Er ist einer der wenigen, die Zugang zum Regime wie zu den Rebellen haben. Lesen Sie das Interview ab Seite 19. Eine neunseitige Reportage plus drei zusätzliche Seiten Interview zu einem Thema, das im Internet kaum mehr Klickzahlen generiert: Das ist, so zynisch es klingen mag, ein journalistischer Luxus heutzutage. Doch gerade für Surprise ist das Thema Krieg und seine Folgen besonders relevant. Denn Kriegsflüchtlinge sind bei uns keine ärgerlichen Kostenfaktoren, sondern wertvolle Mitarbeiter – selbst wenn sie, wie der Somalier Ali Nur Mohamed, infolge erlittener Gewalt handicapiert sind. Sie finden das Porträt unseres Verkäufers auf Seite 28. Es ist – ganz im Gegensatz zu den Berichten zum Syrienkrieg – eine Geschichte mit Happy End. Ich wünsche eine anregende Lektüre, Florian Blumer

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 347/15

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10 Syrien Bei Assads Generälen BILD: TEUN VOETEN

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Inhalt Editorial Stell dir vor … Basteln für eine bessere Welt Und plötzlich ist alles rosa Aufgelesen Das Kaffeedesaster Zugerichtet Vom Leben überfordert Leserbriefe Wie die WOZ? Starverkäufer Isayas Habte Porträt Soldatin wider Willen Wörter von Pörtner Politischer Spam E-Comic Bündner Monster Kultur Neo-Kannibalismus Ausgehtipps Rund bis eckig Verkäuferporträt Dem Tod entronnen Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

Seit vier Jahren tobt der Bürgerkrieg in Syrien, ein Ende ist nicht in Sicht. Der niederländische Reporter Robert Dulmers und der belgische Fotograf Teun Voeten haben es Anfang dieses Jahres geschafft, Zugang zur verborgenen Seite dieses Konfliktes zu erhalten: Während fast zwei Wochen reisten sie durch Gebiete, die Armee und Milizen der Regierung von Baschar al-Assad kontrollieren. Sie trafen dabei auf zerstörte Städte und siegessichere Generäle.

19 Syrien Hilfe in schwierigem Umfeld BILD: PASCAL MORA

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Es ist eine humanitäre Katastrophe historischen Ausmasses: Millionen Syrerinnen und Syrer sind im eigenen Land auf der Flucht und auf Hilfe angewiesen. «Dieser Krieg wird uns noch lange beschäftigen», sagt Manuel Bessler, Leiter der humanitären Hilfe des Bundes. Doch was konkret tut die Schweiz? Wir haben nachgefragt.

BILD: IL CRESTOMAT

23 E-Comic Wilde Reise mit Dr. Clau

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Die Bündner Sagenwelt als E-Comic: «Il Crestomat» ist als Projekt über eine Zeitspanne von sechs Jahren geplant – eine wilde Reise mit Dr. Clau, der Metta da fein, einem Glimari und dem Buttatsch cun egls. Die Idee stammt von drei jungen Bündnern, die im Studium ihre Begeisterung für das rätoromanische Kulturgut entdeckt haben. Sie machen es nun in neuer Form einem breiten Publikum zugänglich.

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Mal für Mal bemühen wir uns an dieser Stelle, die Welt ein Stückchen besser zu machen. Heute setzen wir damit einmal aus. Wir sind schliesslich keine Übermenschen: Angesichts der Lage in Syrien können wir Ihnen nichts anderes empfehlen, als sich die Realität etwas rosaroter zu färben, als sie ist. In vier Wochen werden wir Ihnen dann wieder einen Vorschlag machen, wie Sie die Welt besser basteln können, versprochen!

1. Nehmen Sie eine alte Sonnenbrille und entfernen Sie die dunklen Gläser.

2. Schneiden Sie zwei neue Gläser aus rosaroter durchsichtiger Folie (erhältlich im Bastelladen) so zurecht, dass Sie sie hinten mit Sekundenkleber oder Heissleim auf der Brille ankleben können.

Warnung! Benützen Sie die Brille mit Mass. Im Gegensatz zu anderen Schönfärbern wie Alkohol oder Cannabis sind zwar keine körperlichen Nebenwirkungen bekannt, übermässiger Gebrauch kann aber zu einem verzerrten Weltbild führen.

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ILLUSTRATION: RAHEL KOHLER | WOMM

Basteln für eine bessere Welt Rosa Brille für schwarze Zeiten


Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Kaffee zum Davonlaufen Hamburg. 20 Liter Kaffee trinken die Deutschen pro Jahr im Schnitt. Und so landen jährlich 6,4 Milliarden Coffee-to-go-Becher in Deutschlands Abfalleimern, 80 Becher pro Einwohner. Ein Umweltdesaster: Jeder Becher verursacht bei der Herstellung 110 Gramm Kohlendioxid – jenes Gas, das hauptverantwortlich ist für den Klimawandel. Das macht statistisch 8,8 Kilogramm CO2, die jeder Einzelne jährlich verursacht – nur durch den mobilen Kaffeekonsum. Die Verbraucherzentrale Hamburg startet jetzt deshalb eine neue Kampagne für Mehrwegbecher.

Schlimmer als Fleischzucht Glasgow/London. Kaninchen müssten dringend besser geschützt werden, fordert eine schottische Petition zur Verbesserung der Haltung der kuscheligen Nager. Viele oft zu junge Besitzer seien schlecht informiert und setzten ihre Tiere unwissentlich schlimmerer Qual aus als Zuchtbetriebe für die Fleischproduktion. Allein im Jahr 2012 wurden rund 67 000 Langohren aus britischen Käfigen gerettet, weshalb strengere Gesetze vonnöten seien, so die Petitionsinitianten.

Es trifft die Ärmsten Kiel. Weltweit sind immer mehr Menschen von Hunger betroffen. Schuld daran sind unter anderem die Auswirkungen des Klimawandels, sagt ein neuer Bericht der Weltbank. Demzufolge trifft die Erderwärmung – die sich im Bereich von 1,5 Grad nicht mehr verhindern lässt – vor allem die Ärmsten und Verletzlichsten. Ohne eine international abgestimmte Klimapolitik ist sogar eine Erwärmung um vier Grad bis 2100 wahrscheinlich.

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Zugerichtet Zum Diebstahl genötigt Benny B.* sieht aus wie ein Kerl, der Bäume ausreissen kann. Einsneunzig gross, neunzig Kilo schwer, muskulös. So einer wird immer gebraucht, denkt man, der hat kräftige Hände. Doch Benny bräuchte selber eine feste Hand, die ihn durch die Wirrnisse des Lebens leitet. 32 Jahre alt ist Benny B., und er gilt bereits als hoffnungsloser Fall. Gelernt hat er nichts. Arbeit hat er keine. Ein fester Wohnsitz fehlt ihm ebenfalls. Familie oder Partnerin hat er nicht, dafür zweifelhafte Leute um sich, «die so tun, als seien sie Freunde», wie er selbst sagt. Mit zwei von ihnen brach er in einer Novembernacht im Jahr 2013 in eine Pizzeria am Stadtrand von Zürich ein und entwendete das Serviceportemonnaie mit 1200 Franken Bargeld sowie 200 Franken aus der Münzschachtel. Beim Einbruch entstand zudem 1000 Franken Sachschaden, Benny hatte die Scheibe zur Toilette mit einem Stein eingeschlagen. Vor dem Richter spielt er das Opfer. Von Spielsucht ist die Rede. Es war halt «cool», zu pokern. Er lieh sich Geld bei seinen Freunden, und die hätten ihm das unlautere Angebot gemacht, wie er seine Schulden begleichen könnte. Reumütig erklärt er: «Ich war dabei, bin aber nur Wache gestanden.» Als er über das Fenster im Innenhof in das Lokal einstieg, um vorzusondieren, hatte der Angeklagte Fingerabdrücke hinterlassen, anhand derer ihn die Polizei identifizierte. Es ist nicht sein erster Einbruch. Vor ein paar Monaten war er deswegen schon verurteilt worden. Benny war auf Bewährung, die Bewährung war noch einmal verlängert worden, als er beim vorletzten Mal vor Gericht

stand. Wenn man es genau nimmt, hatte Benny zur Tatzeit zwei Bewährungen. Welcher Teufel hat ihn geritten, die Scheibe einzuschlagen? «Der Alkohol», sagt Benny. Der Alkohol ist immer für eine Entschuldigung gut. Er hatte ein paar Bier getrunken. Aber 0,84 Promille sind nicht genug, um sich mit Erinnerungslücken herauszureden. Benny gibt auch alles zu, dazu hatte ihm sein Verteidiger geraten. Es ist nicht so, dass sich niemand um Benny B. kümmern würde. Man könnte sogar sagen, es kümmern sich ungewöhnliche viele um diesen starken Kerl, der von der Sozialhilfe lebt und ab und zu einen Diebstahl begeht. Sein Anwalt verteidigt ihn auf Staatskosten, er hat eine sozialpädagogische Betreuerin, einen Bewährungshelfer, immer wieder findet er Unterschlupf bei Pfarrer Sieber. Ein psychiatrisches Gutachten hält fest, dass Bennys intellektuelle Struktur einfach sei. «Ich bin einfach überfordert im Umgang mit Geld», klagt der Begutachtete. Angesichts von vier einschlägigen Vorstrafen sowie sieben weiteren Einbruch-, Einschleich- und Einsteigediebstählen im Winter 2013/2014 verurteilt ihn der Richter zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Zudem muss der Angeklagte 1000 Franken bezahlen und trägt die Gerichtskosten. «Die können Sie abarbeiten», sagt der Richter. «Zupacken können Sie ja.» Benny nimmt das Urteil an. Von den bei ihm sichergestellten Einbruchswerkzeugen will er nichts zurückbekommen. «Das Einzige, was ich wiederhaben möchte, sind meine Turnschuhe», sagt er. Die hatte die Polizei für einen Abgleich mit einem Schuhabdruck auf dem Toilettendeckel der Pizzeria beschlagnahmt. ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 347/15


Leserbriefe «Es ist nicht einzusehen, warum der Staat den Kindersegen subventionieren soll» Nr. 344: «Diese Steuer heizt den Armen ein» von Nationalrat und Energieexperte Beat Jans; Berechnung darüber, wie die Energiesteuer (Abstimmung vom 8. März) die Ärmsten belasten würde. Pro Kopf oder pro Haushalt? Zum Glück ist die Energiesteuer abgelehnt worden! Nun würde ich gerne von Beat Jans wissen, wo ich ihn falsch verstehe bei seiner Berechnung: Max und Lisa haben letztes Jahr 693 Franken für Strom bezahlt, 19 Prozent davon flossen in den Stromsparfonds, das macht circa 131 Franken. Aber die 70 Franken, die sie aus dem Stromsparfonds beziehen, sind «ein bisschen mehr, als sie dort einzahlen» laut Jans. Ich finde, 70 Franken sind weniger als 131 Franken und dass es sich unter dem Strich für Lisa und Max nicht ausgezahlt hat. Für eine Aufklärung wäre ich froh, weil ich die Lenkungsabgabe grundsätzlich unterstütze. Louise Wilson, Bern Antwort von Beat Jans: Die 70 Franken sind pro Kopf, die 131 Franken sind pro Haushalt. Gemeinsam haben sie einen Bonus von 140 Franken erhalten.

Nr. 345: «Gute Geschäfte in Helvetistan», über den aserbaidschanischen Ölkonzern Socar, der in der Schweiz ein Tankstellennetz betreibt. «Dinge, die ich nicht wusste» Ich gratuliere zum Artikel von Sara Winter Sayilir über Socar, er könnte in der WOZ stehen. Er informiert mich über Dinge, die ich nicht wusste. Jacob Schädelin, Bern

Nr. 346: Die Sozialzahl, «Alle Risiken decken!» «Wollen wir nur noch Nutzpflanzen und Nutztiere?» «Wirklich bedenklich sind aber die geringen Aufwendungen für die Familien in der Schweiz», wird in diesem Artikel beklagt. Ich denke, die Aufwendungen dafür laufen aus dem Ruder und sind unnötig, weil Bevölkerungszuwachs für die Natur schädlich ist. Denn jedes zusätzliche Kind ist in erster Linie eine enorme Belastung für die Umwelt, wenn man den ökologischen Fussabdruck in unseren Breitengraden bedenkt. Zudem ist auch jedes Kind ein zukünftiger Rentner. Die kommende Generation wird nicht viel für die Rentensicherung tun können, denn durch die rasante Automatisierung und die Auslagerung der Arbeitsplätze in Billiglohnländer werden viele von ihnen der Arbeitslosenversicherung und den Sozialämtern zur Last fallen. Einmal mehr werden die Probleme von heute den nächsten Generationen weitergereicht. Ernteausfälle, ausgelöst durch die Klimaerwärmung, werden Nahrungsmittel knapp werden lassen. Dazu kommt das Problem mit dem Trinkwasser. Schon heute gibt es in Kalifornien ganze Landstriche und Städte, wo kein Wasser mehr aus den Leitungen fliesst. Ein weiteres Problem werden dereinst die Umweltflüchtlinge sein. Wenn sich dann einmal diese Millionen von Menschen in Bewegung setzen, werden die jetzigen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingsströme im Vergleich dazu geradezu klein dosiert wirken. Die überfluteten Gebiete stehen dann auch nicht mehr für den Nahrungsmittelanbau zur Verfügung. Es soll nicht vorgeschrieben werden, wie viele Kinder jemand haben darf. Aber wer Kinder in die Welt setzen will, soll sich dessen bewusst sein, dass diese kosten und dass nicht die Allgemeinheit, der Steuerzahler dafür aufzukommen hat. Es ist nicht einzusehen, warum der Staat den Kindersegen subventionieren soll, wenn die Erde schon heute hoffnungslos überbevölkert ist. Der Mensch breitet sich unaufhörlich aus, während täglich Dutzende Tier- und Pflanzenarten aussterben. Wollen wir wirklich, dass eines Tages die ganze Artenvielfalt aus wenigen Nutztieren und Nutzpflanzen besteht?

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

Gerhard Cornu, Felben-Wellhausen

Starverkäufer Isayas Habte Dagmar Gnägi aus Schliern schreibt: «Isayas Habte ist mein Starverkäufer, weil er bei Wind und Wetter und auch in grosser Kälte beim Coop Stapfenmärit in Köniz steht und immer eine Melodie, ein Liedchen und stets ein freundliches Lächeln auf den Lippen hat!»

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Porträt Unter Männern Vreni Fehr-Hegglin bezeichnet sich selber als Emanze. Sie war Grossrätin, Managerin und Soldatin – beim Militär landete sie, weil sie eine Wette verlor. VON NICOLE MARON (TEXT) UND PETER LAUTH (BILD)

Dank ihres politischen Engagements wurde Vreni Fehr-Hegglin in den folgenden Jahren von verschiedenen Organisationen in den VorEigentlich hat sie immer davon geträumt, einmal in Paris oder New stand berufen. Man erhoffte sich von der inzwischen 40-Jährigen, die York zu leben. Heutzutage ist sie froh, wenn sie von einem Besuch aus mittlerweile selbst Mutter zweier Kinder war, dass sie den jeweiligen dem hektischen Zürich heim ins beschauliche Kerns im Obwaldnerland Anliegen politisches Gewicht verleihen könnte. Als Kantonalpräsidentin kommt. «Im Alter verändert sich das Befinden», sagt Vreni Fehr-Hegglin. des Spitex-Verbandes Aargau, als Vorstandsmitglied des SchweizeriDas Wort Alter tönt im Zusammenhang mit ihr jedoch fast absurd, bei schen Krippenverbandes und als Vizepräsidentin eines Behindertenheiihrem so vielseitigen wie leidenschaftlichen Engagement. mes engagierte sie sich auch nach ihrer Zeit als Grossrätin viele Jahre Zum ersten Mal intensiv politisch engagiert hat sie sich 1971, es ging auf kantonaler und nationaler Ebene. Ihr letztes Ehrenamt hat sie erst um die Abstimmung übers Frauenstimmrecht: «Mit anderen CVP-Frauvor wenigen Monaten abgegeben. en habe ich Argumentarien zusammengestellt und Flyer verteilt, wir «Eigentlich war es für mich immer eine Selbstverständlichkeit, mich waren dauernd unterwegs.» Ihr Vater unterstützte die damals 26-Jährisozial zu engagieren», sagt Vreni Fehr-Hegglin. «Ich bin so erzogen worge und auch die Anliegen der Frauen, er stimmte Ja. Doch ihre zwei Brüden: Wenn es einem gut geht, soll man sich für andere einsetzen, denen der waren entschieden dagegen und bombardierten ihre Schwester bei es weniger gut geht.» Verschiedene Weiterbildungen haben sie zu einer jedem Familienessen mit Argumenten für ein Nein. «Sie nörgelten stänExpertin für Verbands- und Nonprofit-Management gemacht; zehn Jahdig: Ihr macht nicht einmal Militärdienst, aber bei der Politik wollt ihr euch einmischen», erinnert sie sich und verdreht die Augen. «Okay, habe ich gesagt, wenn «Damals musste man sich wirklich viel anhören, wenn man als die Abstimmung durchkommt, gehe ich ins Mutter arbeiten und die Kinder fremdbetreuen lassen wollte.» Militär.» So trat sie nach der Abstimmung wie vereinbart ihren Dienst in einer vierwöchigen verkürzten «Frauenhilfsdienst-RS» (FHD-RS) in Kreuzlingen an. Sie re lang war sie für die Organisationen Katholische Arbeitsgemeinschaft wurde zur Fliegerbeobachtung abkommandiert. Anschliessend absolfür Erwachsenenbildung der Schweiz und Liechtensteins (KAGEB) und vierte sie noch einige Wiederholungskurse. Die Diensttage zusammen Katholische Schulen Schweiz (KSS) tätig. mit guten Kameradinnen und Kameraden empfand sie als willkommene Vreni Fehr-Hegglin bezeichnet sich selbst als Emanze. Doch dem Bild Abwechslung vom Berufsalltag. Eine grosse Armeeangehörige sei sie des Mannweibs, das in Militär und Politik harte Ellbogen entwickelt und aber nie gewesen. Als sie ihr zweites Kind erwartete, quittierte sie den dabei das klassische Rollenbild von damals komplett über den Haufen Dienst und brachte ihre gesamte Ausrüstung ins Zeughaus. geworfen hat, entspricht sie nicht. Nach ihren Hobbys gefragt, antworVreni Fehr-Hegglin ist eine temperamentvolle Frau. Sie findet laute tet sie: «Nähen und Kochen, und zwar mit grosser Leidenschaft, seit ich und klare Worte für ihre Meinung und unterstreicht sie gerne mit einem 17 bin!» In ihrer Wohnung in Kerns hat sie eigens ein Nähzimmer einPochen auf die Tischplatte. Man kann sich gut vorstellen, wie sie sich in gerichtet; zwei Maschinen, eine Schneiderbüste und ein grosses Sameiner männerdominierten Umgebung durchsetzen konnte – nicht nur im melsurium von Stoffen zeugen davon, dass das Nähen bis heute einen Militär, sondern später auch in der Politik. 1973 übernahm sie das Frakgrossen Platz in ihrem Leben einnimmt. «Meine Tante hatte es mir dationssekretariat der CVP im Bundeshaus, 1993 kandidierte sie selber mals beigebracht», erzählt sie, «und ganz kategorisch sagte sie immer: und wurde in den Grossrat des Kantons Aargau gewählt. Nun konnte sie Nur mit Schnittmustern der Vogue arbeiten!» Daran hält sich Vreni Fehrsich endlich auf parlamentarischer Ebene für ihre Anliegen einsetzen Hegglin bis heute: «Ja ja, die werden wirklich aus New York geliefert», und etwas bewegen. «Das Wichtigste war vielleicht die Überweisung sagt sie und lacht dabei lauthals. Ihr zweites grosses Hobby sei Kochen, eines Postulates, das es ermöglichte, die Kosten für ausserhäusliche sagt sie und korrigiert sich gleich mit gerunzelter Stirn: «Nein, eigentlich Kinderbetreuung von den Steuern abzuziehen», resümiert sie – Faminicht Kochen, sondern Gäste verwöhnen!» Am liebsten bewirtet sie dielienpolitik und Frauenrechte waren der eigentliche Grund, warum sie se im Zimmer mit dem grossen Tisch, das sie «Verlobungszimmer» politisch Einfluss nehmen wollte. «Damals musste man sich wirklich nennt. Im «Prachtszimmer» seien früher Verlobungen gefeiert worden, viel anhören, wenn man als Mutter arbeiten und die Kinder fremdbealte Parkettböden und ein verzierter Kachelofen zeugen von vergangetreuen lassen wollte», erinnert sie sich und schaudert bei dem Gedannen Zeiten – was dem Raum etwas Geheimnisvolles verleiht. Das 1892 ken an die Diskussionen. «Unsere Generation hat Pionierarbeit geleistet, erbaute Schindelhaus, in dem Vreni Fehr-Hegglin seit sieben Jahren wir haben die Debatte über Themen wie Gleichstellung angestossen und wohnt, gehört ihrer Schwester und deren Mann, die den oberen Stock konnten einiges verändern – doch auch heute ist es noch nicht so, wie bewohnen. «Eine solche Lebensgemeinschaft ist genau das Richtige für wir es uns damals erträumt hatten.» Vreni Fehr-Hegglin erwähnt die mein Alter», sagt sie lachend. Und wieder stolpert man über das Wort Lohn- und Chancengleichheit von Mann und Frau, die aktuell wieder inAlter, das einfach nicht richtig zu Vreni Fehr-Hegglin passen will. ■ tensiv diskutiert wird. Im Laufe der Zeit habe sie allerdings gelernt, dass gesellschaftliche Veränderungen viel Zeit und Geduld brauchen.

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Syrien Hinter der Front Zwölf Tage reisten zwei westliche Journalisten durch die von Assads Truppen gehaltenen Gebiete Syriens. Reportage aus einem zerstörten Land.

VON ROBERT DULMERS (TEXT) UND TEUN VOETEN (BILDER)

«Es ist alles bereit. Schnell, der General erwartet Sie.» Acht Monate brauchte Präsidentenberaterin Reem Haddad, um die Armee davon zu überzeugen, sich gegenüber westlichen Journalisten zu öffnen. Nun, plötzlich, ging es los. Vor einem Jahr hatten wir Assads Syrien zum ersten Mal besucht. Ein Jahr, in dem mehr oder weniger zuverlässigen Quellen zufolge mehr als 76 000 Menschen ums Leben kamen, die meisten von ihnen Zivilisten. Mehr als 3000 davon waren Kinder. In den vier Jahren Krieg, die Syrien hinter sich hat, starben laut der UNO insgesamt 220 000 Menschen. Jetzt sind wir wieder da. Unser Dolmetscher Bassel, der beim Informationsministerium angestellt ist, begleitet uns auf der Reise. Er hat einen trockenen Humor, praktiziert Yoga und raucht 40 Selbstgedrehte am Tag. Auf langen Fahrten meditiert er und betet zu Gott, dass wir heil ankommen. Im schwer bewachten Militärhauptquartier in der Hauptstadt Damaskus erwarten uns drei Generäle, geordnet nach ihrem militärischen Rang sitzen sie in einer Reihe. Der höchste von ihnen ist im Jogginganzug gekommen. «Heute ist mein freier Tag», sagt er. Erst vor Kurzem hätten sie es wieder einmal versucht und mit westlichen Medien gesprochen. «Wir wurden enttäuscht», sagt der General. «Zwei Stunden lang habe ich mit dem Magazin Der Spiegel gesprochen, und am Ende wurde ich völlig falsch zitiert.» Es folgt eine Tirade gegen die USA und die Golfstaaten, weil sie den Krieg in Syrien anfeuern. «Wir sind aber nicht Amerika», wende ich ein. «Wir wollen über das berichten, was wir selber gesehen haben, ohne Vorurteile.» Der General fixiert uns mit seinem Blick. «Okay», sagt er schliesslich, «ich werde alle Posten über eure Ankunft informieren.» In der Nacht hören wir den Lärm von schwerer Artillerie und Luftabwehrraketen. Damaskus ist alles andere als sicher: Der Nordosten und der Osten der Stadt werden von verschiedenen Rebellengruppen kontrolliert, während im Süden ein Zermürbungskrieg im Gange ist. Am nächsten Morgen dröhnt ein MIG-Kampfflugzeug der Armee über uns hinweg. Wir hören laute Explosionen, vermutlich von abgeworfenen Bomben. «Am Boden bewegt sich kaum mehr etwas», erklärt uns ein Soldat, der angefangen hat, mit uns zu plaudern. «Unsere einzige Chance sind jetzt Luftangriffe.» SURPRISE 347/15

Es ist Silvester. Um halb sieben Uhr morgens lassen heftige Explosionen die Fensterscheiben unseres Hotels in der historischen Altstadt erzittern. Schwere Haubitzen feuern unablässig. Die Menschen stehen auf ihren Balkonen und schauen in Richtung des Viertels Jobar, das von den Rebellen gehalten und von der Regierung angegriffen wird. Vom Dach aus erkenne ich dicke Rauchwolken, die dort in zwei Kilometer Entfernung aufsteigen. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass Assad an diesem letzten Tag des Jahres dort auf Truppenbesuch war. Wir wollen nach Aleppo, der zweitgrössten Stadt Syriens, rund 400 Kilometer nördlich von Damaskus. Taxis sind exorbitant teuer geworden, also nehmen wir den Bus. Wir fahren durch Jobar und setzen unsere Reise Kilometer für Kilometer durch die zerstörten Vororte von Damaskus fort. Acht Stunden brauchen wir für die Fahrt. Ein längerer Abschnitt der Autobahn wird von der Opposition kontrolliert, deshalb machen wir einen langen Umweg zwischen Gebieten hindurch, die vom Islamischen Staat (IS) und dem al-Kaida-Ableger Nusra-Front kontrolliert werden. Bei einer Kaffeepause an einer Strassensperre, die auch als Raststätte dient, fragen wir unseren Dolmetscher Bassel, wie weit der IS entfernt sei. «Über 50 Kilometer», sagt er. Der Soldat, der uns Kaffee bringt, lacht. «Niemals, die sind gleich hinter dem Hügel, keine 300 Meter von hier. Und auf der anderen Strassenseite ist die Nusra. Fast jede Nacht legt der IS Minen auf die Strasse, und wir räumen sie am Morgen wieder. Letzten Monat haben wir dabei zwei Kommandanten und drei Soldaten verloren.» **** Vor dem Hotel Pullman in Aleppo wartet ein Pick-up, auf der Ladefläche drei Soldaten mit Kalaschnikow-Gewehren. «Das ist eure Eskorte», stellt sie ein junger Polizeileutnant vor, «zu eurer eigenen Sicherheit.» Es werde viel gekämpft, und grosse Teile der Stadt seien immer noch in den Händen der «Terroristen» – wie die Regierung ihre Gegner pauschal nennt. Diese Information ist uns natürlich nicht neu, doch es wird uns wieder bewusst, wie wichtig Aleppo ist. Nur gerade 30 Kilometer von der durchlässigen türkischen Grenze entfernt, ist die Stadt von höchster strategischer Wichtigkeit, und ihre Eroberung könnte den gesamten Kriegsverlauf entscheidend beeinflussen. Noch im Sommer 2012 wurde Aleppo hauptsächlich von Aufständischen kontrolliert, doch in den vergangenen sechs Monaten hat der

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Vier Jahre Krieg liessen nur Ruinen zurück: Häuserzeile in einem von den Regierungstruppen gehaltenen Aussenquartier von Damaskus.

Wind gedreht. Die Regierung hat Boden gutge«Das Feuer, das in Syrien ausgebrochen ist, soll auch den Westen ermacht, vor allem dank der Luftangriffe mit den reichen!», sagt der General, während er für seine Gäste die saftigsten berüchtigten Fassbomben. Sie sind eine primitiHühnerschenkel aus dem Reis fischt. ve Waffe: mit Altmetall und TNT-Sprengstoff gefüllte Ölfässer, die über eine enorme Wucht Häuser wurden dem Erdboden gleichgemacht, aber es gibt keine entverfügen und gleichzeitig über keinerlei Präzision. Hinzu kommt die Takwurzelten Bäume, keine Bombenkrater oder Mörserspuren in den Strastik der Regierung, ganze Viertel zu belagern und auszuhungern. So will sen. Alle paar Kilometer sehen wir Festungen auf den Hügeln, mittelsie die Kontrolle über die Stadt zurückgewinnen und den Rebellen und alterlichen Schlössern gleich, mit hohen, aufgeschütteten Mauern und Dschihadisten die Versorgungslinien aus dem Hinterland abschneiden. eingegrabenen Panzern sowie schweren Artilleriekanonen. «Das hier ist Lama, eure Führerin in Aleppo», sagt der PolizeileutDann, an einer Kreuzung, taucht ein kleines Gebäude auf, daneben nant. Eine junge Frau mit Kopftuch erscheint. Lama ist bei der örtlichen ein Zirkuswagen und ein kleiner Eiscrèmestand. Drinnen verbreitet ein Abteilung des Informationsministeriums angestellt. Sie ist freundlich, Ölofen angenehme Wärme. Wir treffen den General der syrischen Arlächelt oft, witzelt die ganze Zeit mit Bassel, kann aber kein Wort Engmee, der an der Ostfront das Kommando hat. Nach der Begrüssung belisch. Ein Soldat wird uns später anvertrauen, dass sie eine Agentin des fiehlt er zwei Soldaten, uns Essen zu bringen, eine üppige Portion Reis Geheimdienstes ist. mit Huhn. Gerade erst wurde ein Gesetz erlassen, das Generälen den **** Kontakt zu Medien eigentlich verbietet. Doch das Gesetz wird allseits ignoriert. Dennoch verzichten wir auf unser Aufnahmegerät und fragen Explosionen um Mitternacht. Wir sind im Jahr 2015 angekommen, den General nicht nach seinem Namen. Syrien hat fast vier Jahre Krieg hinter sich. Ein Krieg mit fast 7 Millio«Das Feuer, das in Syrien ausgebrochen ist, soll auch den Westen ernen im eigenen Land Vertriebenen und gegen 4 Millionen Flüchtlingen reichen!», sagt der General, während er für seine Gäste die saftigsten im benachbarten Ausland – ingesamt mehr als die Hälfte der über 20 Hühnerschenkel aus dem Reis fischt. Er und seine Männer seien die vorMillionen syrischen Staatsangehörigen. derste Frontlinie im Kampf gegen die Dschihadisten: «Der Tag wird komWir wollen an die Ostfront, in die Nähe von Raqqa, der Hauptstadt des men, wo die ganze Welt Syrien dafür danken wird, dass es die ExtremiKalifats, das der Islamische Staat ausgerufen hat. Mit unserer Eskorte und sten besiegt hat. Die Terroristengruppen, die der Westen aufgestellt und einem Zusatzfahrzeug für den Notfall verlassen wir Aleppo. Wir durchausgerüstet hat, sollen in den Westen zurückkehren.» Es ist der 1. Jaqueren eine verlassene Gegend, zerstörte Dörfer säumen die Strasse. Man nuar 2015, genau sechs Tage vor dem Attentat auf die Redaktion von kann es an den Häusern ablesen: Einige Dörfer wurden von Panzern zerCharlie Hebdo. «Die Menschen in Europa und Amerika haben das zwar stört, andere mit Mörsergranaten, wieder andere bei Luftangriffen. Unnicht verdient», fügt der General hinzu. «Aber die Regierungen schon. zählige durchlöcherte Wände zeugen von Häuserkämpfen. Einige Dörfer Ihnen wünsche ich jedes erdenkliche Übel.» hingegen scheinen schlicht und einfach gesprengt worden zu sein: Alle

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Das Leben geht weiter, trotz allem: Barrikaden und Checkpoints prägen das Strassenbild der Innenstadt von Aleppo.

Gab es in letzter Zeit Gefechte mit den Dschihadisten? «Ja, vor einigen Wochen mit der Nusra-Front, es gab 40 Tote. Es herrschte dichter Nebel hier. Die haben nie den Mut, uns direkt gegenüberzutreten, sie sind Feiglinge. So sieht der Kampf hier aus.» Können wir mit ausländischen Kämpfern sprechen, die Sie gefangen genommen haben? «Wir machen keine Gefangenen. Entweder sie flüchten, oder wir töten sie auf der Stelle. Wir erschiessen sie und vergraben sie mit dem Bulldozer. Das sind keine Menschen. Ich schaue sie nicht als menschliche Wesen an. Für mich stehen sie auf einer Stufe noch unter den Tieren. An der Strasse, auf der ihr gekommen seid, hat es ein Massengrab. Dort sind 19 Dschihadisten vergraben, aus Ägypten, dem Sudan, Algerien, Saudi-Arabien. Schaut es euch auf dem Rückweg an.» Der General wirft ein paar ausländische Identitätskarten getöteter Dschihadisten auf den Tisch. Was ist mit den zerstörten Dörfern? Haben Sie die sprengen lassen? «Die Dorfbewohner kollaborierten mit den Rebellen der Freien Syrischen Armee. Sie wurden sogar als menschliche Schutzschilde benutzt. Wir hatten keine andere Wahl.» Wann wird der Krieg ein Ende haben? «Wenn die Welt erkennt, dass wir Recht haben.» Dann wird es ein langer Krieg? «Ja.» Der General startet seinen Geländewagen und fährt uns in die Wüste, begleitet von einem zweiten Wagen mit bewaffneten Soldaten und einer Fliegerabwehrkanone, hin zur Frontlinie mit dem IS. «Das ist unsere SURPRISE 347/15

letzte Stellung», sagt er, als er den Jeep stoppt. An der Front gibt es nichts Spezielles zu sehen. Ein Erdwall um ein Camp, Artillerie und ein schweres Maschinengewehr. Im Wind flattert eine zerrissene syrische Flagge. Vor uns: 20 Kilometer Niemandsland. Hinter dem Horizont liegt das Kalifat, es ist zu weit weg, um die schwarze Flagge zu erkennen. Hier, 50 Kilometer vor der Stadt Raqqa, haben sich die Fronten zum Stillstand verkeilt. Jede Seite könnte zwar die leere Wüste zwischen ihnen besetzen, doch das macht für beide keinen Sinn. Hier ist im Moment die Grenze: eine faktische Teilung Syriens in das Kalifat im Osten und den von der Regierung kontrollierten Westen. Wie wird es weitergehen? Wird die Armee Raqqa zurückerobern? «Schon bald», sagt der General. «Vermutlich noch in diesem Jahr.» Wie können Sie das wissen? «Ich weiss, dass es möglich ist, ich kenne unsere Stärke. Ich kenne die Vorbereitungen. Das ist alles geheim, aber der Herr Präsident sagt, dass wir Raqqa befreien werden.» **** Zurück in Aleppo. Am ersten Tag des neuen Jahres schlugen vier Mörsergranaten in von Regierungstruppen kontrollierten Quartieren ein, 13 Menschen wurden getötet. Die syrische Luftwaffe fliegt Angriffe gegen die Rebellen in den Vororten. In Begleitung der Armee betreten wir die Altstadt, kommen zum Hotel Baron, wo Agatha Christie ihren Krimi «Mord im Orient-Express» geschrieben hat. Dann tauchen wir tiefer in das Gassengewirr der Altstadt ein. Das Stadtzentrum liegt verlassen da. In der Nähe der beschädigten Nationalbibliothek heben kleine Soldatengruppen Unterstände aus. Sie sehen aus wie Dschihadisten, sind aber Spezialtruppen aus Lathakia, der Heimatstadt der Familie Assad.

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Der letzte Aussenposten: Stellung der Regierungstruppen 60 Kilometer westlich von Raqqa, dahinter beginnt IS-Gebiet.

Leben in Ruinen: Kinderalltag in Aleppo.

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Drei Jahre lang belagerten Regierungstruppen die Altstadt von Homs, im Mai 2014 zogen die Rebellen ab.

Die Front ist nahe: Zwei Regierungssoldaten unterwegs in einem Aussenbezirk von Aleppo. SURPRISE 347/15

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Unter den Augen Assads: Strassenszene in Damaskus.

Wir betreten einen Tunnel unter der Altstadt, der vor drei Tagen von den Aufständischen gesprengt wurde. Wegen der Scharfschützen nimmt der Polizeioffizier seine Abzeichen von den Schultern ab. Ein paar Schritte weiter zeigt er uns eine sogenannte «Inferno 1», eine Gasflasche, von den Rebellen zur Bombe umgebaut. «Ziemlich einfallsreich», sagt der lokale Kommandant, «und sie verursachen eine erhebliche Zerstörung.» Ob er den Krieg gewinnen werde, fragen wir. «Bis vor Kurzem haben die Rebellen uns angegriffen», sagt der Kommandant, «aber jetzt haben wir die Oberhand. Jetzt führen wir die Angriffe. Ich bin sicher, dass wir gewinnen werden. So sicher, wie ich euch jetzt vor mir sehe.» Durch einen militärischen Sieg? «Natürlich.» **** Mohammed Marwan Olabi empfängt uns in seinem prunkvoll geschmückten und gut geheizten Büro, ein gigantisches Porträt von Assad hängt an der Wand. Olabi ist ein mächtiger Mann: Der Gouverneur von Aleppo herrscht über die reichste Provinz des Landes und ist ein enger Vertrauter des Präsidenten. Aleppo soll laut einem Vorschlag des UNOSondergesandten Staffan de Mistura als Testgebiet für einen Waffenstillstand zwischen der Regierung und den Rebellen dienen. Der Gouverneur hält nicht viel vom Vorschlag. «Das sind alles Mörder, die man töten sollte», ruft er aus. «Auf der ganzen Welt gilt derselbe Grundsatz: Wer tötet, der soll getötet werden.» Der Präsident, so Olabi, habe mehrmals Amnestien erlassen, sodass Rebellen, die nicht getötet hätten, als normale Bürger nach Hause zurückkehren konnten. «Aber Mörder», sagt Olabi, «Mörder kann man nur auslöschen.»

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Zu jedem Preis, auch mit Fassbomben? «Da wird übertrieben», sagt der Gouverneur. Sie geben aber zu, dass Fassbomben eingesetzt werden? «Jeder Staat hat das Recht, im Krieg gegen Verbrecher seine Macht einzusetzen. Doch wir als Staat verletzen keine Zivilisten.» Bisher hat die syrische Regierung, auch Assad persönlich, den Einsatz von Fassbomben stets abgestritten. Das unerwartete Geständnis trifft mich wie der Blitz, und ich lasse mein Glas mit Orangensaft fallen. Es zerbricht am Boden. «Scherben vertreiben das Böse», lacht der Polizeileutnant. Wir fahren in Richtung Süden, nach Homs. Hier ging die Strategie der Regierung auf: die Stadt belagern, die Versorgungswege abschneiden, die verbliebene Bevölkerung aushungern und die Aufständischen durch ständige Bombardements in die Enge treiben. Im Mai 2014 gab die Regierung den 1900 in der Altstadt eingeschlossenen Rebellen die Möglichkeit, freiwillig abzuziehen. Ein weisses Fahrzeug der UNO, begleitet von einem Jesuiten-Priester, führte den Zug aus der Stadt, bis er das Rebellengebiet der Freien Syrischen Armee erreichte. Unterwegs entscheiden wir, unserem General von der Ostfront nochmals einen kurzen Besuch abzustatten. Vor dem Camp steht ein leerer Käfig. Ob er doch Gefangene macht? Wie immer lächelt er freundlich und verneint. Stattdessen zückt er sein Handy und zeigt uns Fotos und Videos von getöteten Kämpfern des Islamischen Staates. «Einige sind sehr jung, nicht älter als zwölf oder 13. Sie werden zum Teil zwangsrekrutiert. Aber für mich sind und bleiben sie Kämpfer.» Bei Sonnenuntergang erreichen wir Homs. Es sieht schlimmer aus, als wir es uns vorgestellt hatten. Umgeben von ausgebombten Gebäuden wärmen sich Soldaten an einem Feuer, das in einem alten Ölfass SURPRISE 347/15


Zum Schutz vor Scharfsch체tzen sind die Gasseneing채nge mit Blachen verh채ngt: Gasse in Aleppo. SURPRISE 347/15

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**** Unsere Reise neigt sich dem Ende zu, wir sind zurück in Damaskus. Die Stadt ist ein wirrer Flickenteppich aus rebellen- und regierungskontrollierten Gebieten, manchmal nur wenige Meter voneinander entfernt. Hie und da ein kleines Dorf, eine Nachbarschaft, wo das tägliche Leben langsam wieder Fuss fasst. Kinder, die in den Strassen spielen, und Frauen, die bei Strassenhändlern Tomaten und Bananen kaufen. «Versöhnung» heisst das neue Mantra der Regierung. Gouverneur Olabi hatte es auch erwähnt: Man setzt auf lokale Waffenruhen mit den Clans, die einst mit den Rebellen verbündet waren. Dieser «Frieden im Kleinen» hat für Assad an Wichtigkeit gewonnen. Er musste mit ansehen, wie seine einst so stolze Syrische Arabische Armee in nur vier Jahren durch Verluste und Desertion von 325 000 auf 150 000 Mann dezimiert wurde. Die Regierung stützt sich immer stärker auf die 2013 gebildeten Nationalen Verteidigungskräfte, eine wilde Mischung aus 100 000 lokal organisierten und hochmotivierten Freiwilligen aus den Gemeinden und Ortschaften. Wir haben sie auf unserer Reise bereits angetroffen – im Gegensatz zur regulären Armee, von der wir ausser den Spezialeinheiten in Aleppo nichts Nennenswertes gesehen haben. Man kann also kaum von einer schlagkräftigen Nationalarmee sprechen. Die lokalen Kriegsherren und Clanführer, müde vom Kämpfen und der Belagerung, können zwischen zwei Optionen wählen: Entweder sie lassen sich von den Regierungstruppen abschlachten, die im Westen Syriens immer mehr an Boden gewinnen, oder sie lassen sich befrieden. Die staatlichen Medien zeigen vermehrt Videos von Rebellenführern und Offizieren beim Handschlag, was zeigen soll, dass Assads Ansatz der Waffenruhe im Kleinen da und dort Früchte trägt. «Es sind keine offiziellen Abkommen», sagt Präsidentenberaterin Reem Haddad, «doch es sind lokale Versuche, die beiden Seiten etwas Luft verschaffen. Das ist wenigstens etwas.» Könnte also Assads «Frieden im Kleinen», begonnen in Aleppo, der Ansatz sein, der am Ende zu Frieden in Syrien führt? Wir fragen Dr. Faisal al-Miqdad, stellvertretender Aussenminister und einer der einflussreichsten Vertreter der Assad-Regierung, nachdem er sich für seine Verspätung entschuldigt hat. Ein heftiger Schneesturm zieht gerade über Damaskus hinweg und hat den Verkehr lahmgelegt. «Der UNO-Gesandte de Mistura möchte, dass wir mit einem Stillhalteabkommen in Aleppo beginnen. Wir sind daran, mit ihm die Details zu klären und herauszufinden, wie wir das Ziel erreichen können.» Die Situation ist auf der diplomatischen Ebene mindestens ebenso verfahren wie auf der militärischen. Die letzte Friedenskonferenz in Genf brachte keine Ergebnisse – auch weil die Opposition und die USA Assads Rücktritt forderten, was für das Regime indiskutabel ist. Wird Präsident Assad Teil der Lösung sein? «Ich möchte offen mit Ihnen sein», antwortet der Minister. «Allein das syrische Volk bestimmt seinen Präsidenten. Und er wird nur abtreten, wenn ihn das syrische Volk dazu auffordert. Egal, was sie in Paris oder Washington oder London oder Brüssel diskutieren, sie werden damit nie Erfolg haben.» Wie lange wird der Krieg noch dauern? «Wir glauben, dass eine friedliche Lösung des syrischen Konflikts ohne Einflussnahme von aussen das Beste wäre. Wenn die Einmischung von aussen durch die Türkei, Saudi-Arabien, die USA und einige europäische Staaten endlich ein Ende hat, dann wird der syrische

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Konflikt – das sage ich ohne Übertreibung – in ein paar Tagen oder Wochen beendet sein.» Glauben Sie an eine militärische Lösung? «Wir können einen Konflikt innerhalb des syrischen Volks nicht militärisch lösen. Aber wir kämpfen auch gegen terroristische Organisationen wie den Islamischen Staat, die Nusra-Front oder al-Kaida. Mit Terroristen werden wir niemals verhandeln. Wir können Syrien nicht den Dschihadisten überlassen.» Die USA und ihre Alliierten bombardieren den IS. Nützt das Ihnen? «Den Terrorismus zu bekämpfen ist eine internationale Aufgabe, die von allen geschultert werden sollte. Der Terrorismus bedroht den weltweiten Frieden und die Sicherheit. Doch wir sind der Ansicht, dass die aktuelle Koalition unter der Führung der USA viel eher eine Militärparade ist als eine tatsächliche Operation. So kann dem Terrorismus kein Ende bereitet werden. Die USA sollten sich mit uns koordinieren, aber auch mit Russland, China, Brasilien und anderen.» Es gibt also keine Kontakte zwischen der Koalition und der syrischen Regierung? «Nein. Es fehlt der Wille zur Koordination.» Wirkt die Strategie der Versöhnung auch beim IS? «Unsere Strategie ist, die einzelnen Punkte auf der Landkarte zu verbinden. Wir nennen das ‹lokale Versöhnung›, das ist die Politik der Regierung. Wenn wir lokale Waffenruhen aushandeln können und das Töten unschuldiger Zivilisten ein Ende nimmt, dann haben wir doch viel erreicht. Der IS wird sich jedoch niemals mit uns versöhnen wollen.» Dann wird die Armee Raqqa zurückerobern? «Ja, das sehe ich kommen.» In diesem Moment ertönt ganz in der Nähe des Ministeriums ein heftiger Knall. Was denken Sie, Herr Minister, ist das Ihr Feuer oder feindliches? Der Minister lächelt: «Ich denke, das ist unseres.» ■ Übersetzung aus dem Englischen von Sven Wilms.

Türkei

Aleppo Raqqa

Irak Syrien Homs Libanon

DAMASKUS

■ IS-Gebiete ■ Rebellen-Gebiete Israel

Jordanien

■ Assad-Regime ■ Kurdische Gebiete

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QUELLE: BBC (VEREINFACHUNG), STAND MÄRZ 15

brennt. Es ist nicht leicht, in der zerstörten Stadt an Brennholz zu kommen. Am nächsten Morgen wandern wir durch die apokalyptische Szenerie, in der kaum eine Menschenseele anzutreffen ist. Insgesamt zählen wir elf Personen – einige Zivilisten, ein paar Soldaten und einige Milizionäre an den Checkpoints. Die Regierung kontrolliert so gut wie die ganze Stadt. Flüchtlinge dürfen zurückkehren, das haben einige in den Aussenbezirken auch getan. Zur Altstadt gibt es nichts zu sagen. Sie ist eine Mondlandschaft.


Syrien Wie hilft die Schweiz? Millionen Menschen sind in Syrien auf Hilfe angewiesen – es ist laut UNO die grösste humanitäre Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Manuel Bessler ist einer der wenigen, die sowohl mit der syrischen Regierung als auch mit den Rebellen sprechen. Der Vizedirektor der DEZA erklärt, wie die Schweiz hilft – und auf welche Schwierigkeiten sie dabei stösst.

VON AMIR ALI (INTERVIEW) UND PASCAL MORA (BILD)

Alles begann im März 2011 mit ein paar Jugendlichen, die nach Ausbruch des Arabischen Frühlings regimekritische Parolen an Hauswände in der südsyrischen Stadt Daraa schmierten. Die Aktivisten, die im Frühjahr 2011 wie in anderen arabischen Ländern auch in Syrien immer grössere zivile Proteste durchführten, sahen sich bald mit dem Sicherheitsapparat konfrontiert. Als Demonstrationen unter Beschuss von Polizei und Armee kamen, begannen die militanten Kräfte innerhalb der Opposition überhandzunehmen. Heute ist das einst verhältnismässig wohlhabende und wirtschaftlich entwickelte Syrien Schauplatz eines seit vier Jahren andauernden Bürgerkrieges, der mit der Zeit immer stärker konfessionelle Züge annahm: Teile der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit fühlen sich seit Jahrzehnten unterdrückt. Religiöse Minderheiten wie Christen oder Alawiten, zu denen auch die Präsidentenfamilie gehört, fühlen sich hingegen vom politischen sunnitischen Islam bedroht. Befeuert wird der Krieg durch äussere Mächte: Das schiitische Regime in Iran unterstützt Assad, die Golfmonarchien und die Türkei finanzieren die sunnitisch bis islamistisch oder gar dschihadistisch geprägte Opposition. Der Westen will Irans Verbündeten Assad loswerden, hat bis heute jedoch keine Antwort auf die Frage gefunden, welchen Teilen der Opposition man trauen will. Längst schon werden die Toten nicht mehr gezählt. Das UNO-Koordinationsbüro für Humanitäre Hilfe OCHA schätzt die Zahl der Opfer auf 220 000 – und schränkt gleich selbst ein, dass dies lediglich eine Annäherung an das tatsächliche Ausmass sei. Laut den Zahlen, die auch die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA als Grundlage benutzt, sind 18 Millionen Menschen wegen des Kriegs in Syrien auf humanitäre Hilfe angewiesen, davon 12,2 Millionen in Syrien selbst, 7,6 Millionen von ihnen sind Binnenflüchtlinge. Fast 4 Millionen Menschen sind in die Nachbarländer geflohen, insbesondere nach Jordanien, Irak, in den Libanon und die Türkei. Kinder und Jugendliche sind Tag für Tag Gewalt ausgesetzt. SURPRISE 347/15

Eine ganze Generation wächst auf inmitten von Verzweiflung und Mangel. Die UNO-Hilfsgelder für Syrien beliefen sich 2014 auf insgesamt 8,4 Milliarden Dollar, sie sind aktuell erst zu rund sieben Prozent finanziert. Im Dezember musste das Welternährungsprogramm der UNO die Vergabe von Lebensmittelgutscheinen an 1,7 Millionen Flüchtlinge in den umliegenden Nachbarländern stoppen, weil das Geld fehlte. Die Schweiz hat seit Ausbruch des Konflikts insgesamt 128 Millionen Franken für humanitäre Hilfe bereitgestellt, im März hat der Bundesrat weitere 50 Millionen Franken gesprochen. Auf die Bevölkerung umgerechnet sind das 4,50 Franken pro Kopf und Kriegsjahr. Die Gelder des Bundes fliessen zu 56 Prozent in Projekte innerhalb Syriens, der Rest in Massnahmen in den Nachbarländern. Im internationalen Vergleich liegt die Schweiz laut den Zahlen des Financial Tracking Service der UNO auf Rang 13 der Syrien-Geberländer.

Warum reisen Sie vor Ort? Ich will Informationen aus erster Hand, zum Beispiel über das Leben in einem Flüchtlingslager. Ich will auch sehen, was die von uns unterstützten Organisationen mit unserem Geld anfangen und wie unsere eigenen Projekte laufen. Und dann geht es um die Koordination der Hilfe sowie darum, über den humanitären Zugang und die Akzeptanz zu verhandeln – zum Beispiel mit den Behörden in Damaskus. Und worum geht es bei den Gesprächen? Ich lege Wert auf die Tatsache, dass ich mit einem humanitären Auftrag dorthin gehe, nicht mit einem politischen. Wir diskutieren das konkrete Arbeitsumfeld für die humanitären Helfer. Visa zum Beispiel, die viele Organisationen nicht bekommen. Oder Strassensperren: Ein Hilfskonvoi muss auf den knapp 500 Kilometern von Damaskus nach Aleppo rund 70 Checkpoints passieren – allein auf Regierungsterritorium. An manchen wird man aufgehal-

«Ein Hilfskonvoi muss zwischen Damaskus und Aleppo 70 Checkpoints passieren. Das macht es enorm schwierig, die Hilfe zu den Menschen zu bringen.» Seit 2011 leitet Manuel Bessler die humanitäre Hilfe des Bundes. Der Botschafter nimmt sich für das Gespräch mit Surprise fast zwei Stunden Zeit. Es sei wichtig, sagt er, dass weiterhin über den Konflikt in Syrien und die nötige Hilfe geschrieben und gesprochen werde. Jene Hälfte der 128 Millionen Schweizer Gelder, die in Syrien selbst eingesetzt werden, fliessen laut Bessler zu ungefähr 60 Prozent in von der Assad-Regierung kontrollierte Gebiete. Das liege ganz einfach daran, dass der Zugang und die Kontrolle dort einfacher seien. Herr Bessler, wie oft waren Sie seit Ausbruch des Syrien-Konfliktes im März 2011 in der Region? Bisher viermal, in der syrischen Hauptstadt Damaskus sowie in den Nachbarländern, wo der allergrösste Teil der 3,8 Millionen geflüchteten Syrer sind. Die humanitäre Aktion in der Region ist die derzeit grösste der Schweiz, und sie zieht sich hin.

ten, obwohl man grünes Licht aus Damaskus hat. Das macht es enorm schwierig, die Hilfe zu den Menschen zu bringen. Mit wem genau sprechen Sie? Die Schweiz führt trilaterale Gespräche mit der syrischen und der iranischen Regierung, wobei es sich in der Regel um hochrangige Vertreter der jeweiligen Aussenministerien handelt. Syrien und Iran sind durch die Vizeaussenminister vertreten, und ich vertrete die Schweiz. Warum der Iran? Der trilaterale humanitäre Dialog wurde vom Iran ins Rollen gebracht. Der Iran spielt dabei eine vermittelnde Funktion. Die iranische Regierung hat sich dafür angeboten, und es scheint ihr sehr wichtig, hier einen Beitrag zu leisten. Eignen sich die humanitären Dialoge auch für die Suche nach politischen Lösungen?

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«Die Schweiz ist auch ein politischer Akteur» – Manuel Bessler in einem Flüchtlingslager in Jordanien, März 2014.

Nein, es geht bei diesen Gesprächen um rein humanitäre Fragen. Es gab Überlegungen, die Runde zu erweitern. Aber es ist wohl besser, diese Gespräche klein zu halten. Die syrische Regierung setzt auf Waffenstillstände mit lokalen Kommandanten. Gab es Situationen, in denen der Zugang für humanitäre Hilfe dadurch ermöglicht oder erleichtert wurde? Ja. Hilfsaktionen finden immer in enger Absprache mit lokalen Behörden und lokalen Kommandanten statt. Gerade in Syrien, etwa in und um Aleppo, konnten dank solchen sogenannten Waffenstillständen im Kleinen schon mehrmals humanitäre Aktionen umgesetzt und bedürftige Zivilisten erreicht werden. Als westlicher Diplomat, der in Damaskus verhandelt, dürften Sie eine Ausnahmeerscheinung sein. Man trifft kaum auf westliche Kollegen, das stimmt. Wir führen diese Gespräche, weil wir jede Gelegenheit nutzen möchten, den betroffenen Menschen im Land zu helfen. Die Schweiz hat Anfang 2012 ihre Botschaft in Syrien geschlossen. War das ein Fehler? Da spielten verschiedene Faktoren mit, insbesondere die Sicherheit. Aber es kann auch als

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politisches Zeichen gegenüber Damaskus gewertet werden. Aus rein humanitärer Sicht mag es bedauerlich sein, weil es grundsätzlich wünschenswert ist, möglichst nahe am Geschehen zu sein. Man muss einen solchen Entscheid aber aus allen Perspektiven anschauen. Sie sprechen von einem politischen Zeichen: Das heisst, die Schweiz ist hier nicht neutral? Die Schweiz ist auch ein politischer Akteur, das ist klar. Das sieht man immer an den Diskussionen, wenn es um Sanktionen geht: Trägt die Schweiz sie nicht mit, kann sie zur Umgehung missbraucht werden. Trägt sie sie mit, kann ihr das als Missachtung der Neutralität ausgelegt werden. Als humanitärer Arm der Eidgenossenschaft versuchen wir stets, apolitisch zu bleiben. Humanitäre Hilfe muss dorthin, wo sie benötigt wird. Ist es heute noch möglich, humanitäre Hilfe unpolitisch zu betreiben? Viele humanitäre Hilfsaktionen finden in einem hochpolitisierten Kontext statt, so in Syrien oder in der Ukraine. Wichtig ist, dass die Hilfe nicht politisch motiviert ist oder nach politischen Kriterien ausgeführt wird. Sonst ist es keine humanitäre Hilfe mehr. Sie muss den humanitären Prinzipien der Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genügen.

Angenommen, der IS würde um humanitäre Hilfe bitten. Wie würden Sie reagieren? Ich würde mir das anhören. Zivilisten in ISkontrolliertem Gebiet oder verletzte IS-Kämpfer haben das Recht auf Hilfe wie alle anderen. Es versteht sich, dass wir einer Kriegspartei nicht einfach Lastwagenladungen voll Material hinstellen. Wir müssen die Abgabe selbst oder via vertrauenswürdige Partner beobachten und kontrollieren können. Das gilt für alle Seiten, auch für jene der Regierung. Weshalb hat der Konflikt in Syrien derart dramatische Auswirkungen? Es ist nicht einfach nur Syrien, die ganze Region ist betroffen. Allein in Syrien sind über zwölf Millionen Menschen tagtäglich auf humanitäre Hilfe angewiesen: Trinkwasser, Obdach, Medikamente, Nahrungsmittel. Diese Grössenordnung ist aussergewöhnlich. Und die militärische Lage ist äusserst komplex, weil die Opposition gegen die Regierung aus zahllosen kleineren und grösseren Gruppierungen besteht, die sich zum Teil gegenseitig bekämpfen. Die Frontlinien wechseln jeden Tag. Und: Fast vier Millionen Menschen sind aus Syrien in die Nachbarländer geflohen, was diese zum Teil an den Rand ihrer Belastbarkeit bringt. Ein Viertel der libanesischen Bevölkerung sind mittlerweile syrische Flüchtlinge. Es ist für den Libanon SURPRISE 347/15


eine gewaltige Aufgabe, dies zu bewältigen. In Jordanien, einem der wasserknappsten Länder der Welt, steigt mit dem Bevölkerungszuwachs der Wasserverbrauch markant. Wo ist der Zugang für humanitäre Hilfe einfacher: in den Gebieten der Regierung oder jenen der Opposition? Einfach ist es nirgends. Aber der Zugang hängt immer von Kontakten ab. Es braucht Ansprechpartner, auf die man sich verlassen kann. Wenn wir mit einem Kommandanten einen Zugang aushandeln, müssen wir sicher sein,

Zweitens finanzieren wir in und um Syrien Projekte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, verschiedener UNO-Hilfswerke und NGOs. Und drittens stellen wir den UNO-Hilfswerken Experten des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe zur Verfügung. Beispielsweise Bau- oder Wasserexperten. Welche NGOs finanziert die DEZA? In Syrien beispielsweise Action Contre la Faim. In Jordanien Save the Children. Wichtig ist, dass jeder unserer Partner professionell arbeitet, sich gut mit anderen humanitären Akteu-

«Die humanitäre Hilfe wird von immer mehr Kriegsparteien als Waffe benutzt – in völliger Missachtung des humanitären Völkerrechts» dass diese Informationen bis zur letzten Strassensperre seiner Männer durchdringen. Diese Struktur ist aufseiten der Regierung eher gegeben als im völlig zersplitterten Norden Syriens. Die Kommandostruktur ist das eine. Sind verschiedene Gruppen auch unterschiedlich empfänglich für Hilfe? Mit gewissen Gruppierungen ist es schwierig, eine gemeinsame Basis zu finden. Die sehen zwar, dass die Zivilbevölkerung leidet, sagen jedoch: Nein, wir wollen euch und eure Hilfe nicht. Sprechen Sie von islamistischen Gruppierungen? Je grösser das Wertegefälle, desto schwieriger ist es. Leider wird die humanitäre Hilfe von immer mehr Kriegsparteien als Waffe benutzt – in völliger Missachtung der vom humanitären Völkerrecht vorgegebenen internationalen Verpflichtungen. Sind es Wertedifferenzen oder mangelndes Vertrauen in den Westen? Das eine bedingt das andere. Humanitäre Hilfe wird oft als etwas angesehen, das aus dem Westen stammt und entsprechend geprägt ist. Dem widerspreche ich. Die grundlegenden Werte sind universal. Es gibt keine Kultur, die zum Beispiel den Schutz von Frauen und Kindern in einem Krieg ablehnt. Diese Werte können im Konflikt stehen mit Interessen. Aber sie sind die Basis, auf der man die Bedingungen für humanitäre Hilfe aushandeln muss. Mit wem arbeiten Sie vor Ort zusammen? Erstens haben wir eigene Projekte in Syriens Nachbarländern. In Jordanien und im Libanon etwa sanieren wir Schulen, welche auch syrische Flüchtlingskinder in den Unterricht integrieren. Und bis vor Kurzem lief unsere Bargeldunterstützung für Gastfamilien im Libanon, die syrische Flüchtlinge aufgenommen haben und dadurch finanziell belastet wurden. SURPRISE 347/15

ren koordiniert und gemäss humanitären Prinzipien arbeitet. Wir wählen diejenigen Partner aus, die diese Vorgaben am besten erfüllen. Wir müssen sicher sein, dass die Hilfe ankommt, und wir müssen das auch kontrollieren können. Wie ist der Kontakt zu den lokalen NGOs organisiert, die innerhalb Syriens arbeiten? Wir treffen die Vertreter im Grenzgebiet im benachbarten Ausland, also in unseren Büros in Jordanien, der Türkei und im Libanon. Die Vertreter der lokalen Hilfsorganisationen stellen in unserem Büro ihre Projekte vor, und wir prüfen, ob das unseren Vorstellungen und unserer Strategie entspricht. Andererseits läuft der Kontakt auch via internationale NGOs oder UNO-Agenturen, mit denen wir einen regelmässigen Austausch pflegen.

tern anderer Länder ab, um mehr über Organisationen zu erfahren, die man noch nicht kennt. So kann man sich schnell ein Bild davon machen, wo und wie eine NGO im Land arbeitet. Wenn das Hilfsmaterial dann unterwegs ist, hängt es von den bewaffneten Gruppen am Boden ab, ob es zu den Bedürftigen gelangt. Wie sichern Sie die Durchfahrt? Sichern ist ein grosses Wort. Es kommt immer wieder vor, dass ein Teil der Hilfsgüter als Wegzoll abgegeben werden muss. Das ist ein Problem. Aber grundsätzlich geht alles über Verhandlungen mit den Autoritäten, die das Gebiet kontrollieren. Sie sind einer der wenigen Westler, die sowohl mit Vertretern der Opposition als auch Syriens und des Iran im Gespräch sind. Spüren Sie Anzeichen dafür, dass man die Notwendigkeit einer politischen Lösung einsieht? Leider nicht. Alle Seiten scheinen nach wie vor überzeugt, auf dem Schlachtfeld gewinnen zu können. Dieser Krieg wird uns noch lange beschäftigen. ■

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Welche Art von Projekten unterstützt die Schweiz? Einerseits Nothilfeprojekte, etwa in den Bereichen Behausung, Nahrungsmittelnothilfe, Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen und Gesundheit. In Aleppo und allgemein im Norden Syriens ist die medizinische Versorgung sehr prekär, deshalb setzen wir dort einen Fokus darauf. Wir unterstützen jedoch auch Projekte, die Einkommen und Lebensgrundlagen stützen, zum Beispiel indem unsere Partner an Bauern in Syrien dürreresistentes Saatgut verteilen. Wie muss man sich das vorstellen: Ist da eine permanente Schlange vor dem Schweizer Büro in der Türkei? Es kommen pro Tag etwa drei bis vier NGOVertreter vorbei. Wie stellen Sie sicher, dass Schweizer Gelder nicht in falsche Hände geraten? Die Vernetzung unserer Teams vor Ort ist unglaublich wichtig, sie kennen viele der Antragsteller. Und man spricht sich mit den Vertre-

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Wählerwille In meinem Wohnkanton stehen Parlamentswahlen an. Von den Plakatwänden lächeln die Kandidaten und Kandidatinnen, da wir offenbar immer noch sehr instinktiv entscheiden, wen wir wählen. Laut einer Studie des Wählerverhaltens in Amerika sind bei Männern ein kantiges Kinn und bei Frauen die Attraktivität das entscheidende Kriterium. Das gilt allerdings nur für Wechselwähler; wer in einer Partei ist, wird wohl immer deren Kandidaten und ihre taktischen Verbündeten bevorzugen. Ich bin in keiner Partei, weiss aber ungefähr, welche der über 1734 Kandidaten ich wählen werde. Politische Werbung interessiert mich deshalb nicht, schnittige Porträts mit von PRFirmen verfassten Lobgesängen auf die Kandidierenden landen direkt im Altpapier. Da nicht ständig Wahlen sind, hält sich der Aufwand in Grenzen.

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Ausser bei einer Partei, die permanenten Wahlkampf betreibt und über endlose Geldmittel verfügt, da sie ein paar der reichsten Schweizer zu ihrer Führungsriege zählt und von den grössten und mächtigsten Unternehmen unterstützt wird. Wegen ihr habe ich am Briefkasten einen Aufkleber angebracht, auf dem steht, dass ich von dieser Partei keine Propaganda wünsche. Doch wer strahlt mir alle zwei Tage aus dem Briefkasten entgegen? Die Kandidaten ebenjener Partei, darunter ein Universitätsprofessor, also ein Studierter und Beamter, zwei Gruppen, für die sie sonst nur Hohn und Spott übrig hat. Obwohl beide in den eigenen Reihen gut vertreten sind. Weil diese Partei ihr Programm verbreitet wie ein verwöhnter Teenager, durch pausenloses Quengeln und Wüten, kommt man nicht umhin, es zu kennen. Ein wichtiger Punkt ist die Respektierung des Wählerwillens, zumindest dann, wenn er dem Programm entspricht, ein anderer die Forderung, dass Ausländer, die in diesem Land leben, die jeweilige Landessprache sprechen, ausser es handelt sich um Superreiche. Die brauchen nicht einmal Steuern zu bezahlen. Mit dem Ignorieren des deutlich am Briefkasten angeschlagenen Wunsches widerspricht die Partei mindestens einer dieser Forderungen. Wähler bin ich – wozu sonst mich mit Wahlwerbung eindecken –, aber meinen Willen respektiert sie nicht. Für Organisationen, die

über die einzig gültige Wahrheit verfügen, sind Leute, die anderer Meinung sind, falsch informiert oder bösartig, dumm oder sie lügen. Auf alle Fälle können sie nicht über einen echten Willen verfügen, genauso wenig wie sie echte Schweizer sein können. So rechtfertigen die Parteisoldaten wahrscheinlich ihr Verhalten, wenn sie die Zettel stecken. Falls diese Tätigkeit nicht an ausländische Arbeitskräfte outgesourct wurde, die nicht über die Sprachkompetenz verfügen, die Aufschrift auf meinem Briefkasten zu lesen, ganz zu schweigen von den Pamphleten, in denen sie schon lange nicht mehr als Menschen, sondern als Ratten, Krähen oder Schafe bezeichnet werden. Würde ich mich beschweren, wären es diese Leute, die ihre Arbeit verlieren würden, denn schuld – auch das ist Parteiprogramm – sind immer die anderen, die unten. Das will ich nicht verantworten, denn was solchen Leuten blüht, wenn diese Partei, wie zu erwarten, bei den Wahlen abräumt, ist so bekannt wie unschön. Meinen Wählerunwillen kann ich nur ausdrücken, indem ich den Briefkasten bis nach den Wahlen abschraube.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT (SAVVE@VTXMAIL.CH) SURPRISE 347/15


E-Comic Warlords im Bündnerland Der rätoromanische Comic «Il Crestomat» verwebt Figuren aus der Bündner Sagenwelt mit einer abenteuerlichen Geschichte. Ein Online-Projekt, das zeigt, wie actiongeladen die rätoromanische Kultur ist.

Wenn sich unter der vertrauten Oberfläche des Alltags urplötzlich Abgründe auftun, reagiert der Mensch oft mit einer Mischung aus Furcht und Faszination. Märchen und Fantasy-Geschichten spielen seit jeher mit diesem Effekt: Die Protagonisten fallen durch Zufall aus ihrem gewohnten Leben heraus und finden sich in einer anderen Dimension wieder. Nach zahlreichen Abenteuern kehren sie schliesslich wissend oder geläutert ins wirkliche Leben zurück. Bei Alice eröffnet sich das Wunderland auf dem Grund eines Kaninchenbaus, Goldmarie stürzt in einen Brunnen und landet bei Frau Holle, und in den Chroniken von Narnia führt der Weg in die andere Welt durch einen Wandschrank. Der Bündner E-Comic «Il Crestomat» startet ebenfalls mit einem unsanften Sturz aus der Wirklichkeit. Der Protagonist Dr. Clau wird in seinem Kellerabteil in eine Parallelwelt hineingesogen, die von fantastischen Märchen- und Sagenfiguren aus dem Bündner Kulturgut bevölkert wird und in der sich ein Bergdorf gegen machthungrige Warlords und dunkle Mächte behaupten muss. Bei seiner Ankunft trifft Dr. Clau als Erstes auf den Buttatsch cun egls, einen Rinderpansen mit Augen. Dieses sonderliche, sackförmige und äusserst mitteilsame Geschöpf erweist sich in vielen brenzligen Situationen als treuer Begleiter. Der Name des Comics «Il Crestomat» geht auf die Chrestomathie zurück, eine 13 Bände umfassende Textsammlung des Bündner Wissenschaftlers und Politikers Caspar Decurtins (1855 –1916). Vor einem guten Jahrhundert war es dessen Ziel, Geschichten, Sagen und Erzählungen der Rätoromanen akribisch zu dokumentieren. Diese Bände dienen heute dem dreiköpfigen Künstlerteam hinter «Il Crestomat» als Quelle und Inspiration für ihre Figuren. Sabrina Bundi und Michel Decurtins sind die beiden Autoren, vom Designer Mathias Durisch stammen die kraftvollen, in Schwarzweiss gehaltenen Comic-Zeichnungen. Die einzelnen Panels unterstützen die Handlungsstränge gekonnt, indem sie in Grösse und Form variieren. Dieser E-Comic, der letzten Herbst gestartet wurde, unterteilt sich in sechs Erzählzyklen, die jeweils ein Jahr dauern. Etwa alle zwei Monate kommt ein neues Kapitel à 20 Seiten hinzu. Während des sechs Jahre dauernden Projekts soll so schlussendlich ein gewaltiges, 600 Seiten umfassendes Epos entstehen. «Diese Struktur erlaubt es uns, die Dramaturgie in einem angemessenen Tempo aufzubauen», sagt Bundi. Von Band zu Band werden als Spannungselemente Cliffhanger eingebaut, um die Leser auf die Fortsetzungen einzustimmen. Die Comics werden zuerst auf Rätoromanisch verfasst und danach ins Deutsche, Italienische und Englische übersetzt. «Wir wollen in erster Linie unterhalten und alle Interessierten dazu animieren, sich mit den überlieferten Geschichten unserer Sprachregion zu befassen», sagt Sabrina Bundi. «Unser Ansatz ist nicht ideologisch. Auf unserer Website haben wir aber für alle, die sich vertieft mit der Sprache und Kultur befassen wollen, weiterführende Links eingeflochten.» Die beiden Autoren Sabrina Bundi und Michel Decurtins entwickelten ihr Interesse an den Sagen des Bündnerlandes während ihres Studiums, und als Resultat trifft nun modernes Comic-Handwerk auf die raue Bergwelt des 19. Jahrhunderts. Diese ungewöhnliche Mischung erzeugt Reibungsfläche und macht die überlieferten Erzählungen gerade auch für junge Leute attraktiv. «Manche der SURPRISE 347/15

BILD: ZVG

VON MONIKA BETTSCHEN

Figuren sind eher nur in einzelnen Sprachgegenden, zum Beispiel in der Surselva, dem Engadin oder dem Surmeir, bekannt, andere in der ganzen Rumantschia», sagt Bundi. Eine dieser bekannteren Figuren ist die Metta da fein, eine sinistre Frauengestalt, die abseits der Wege lauert. «In unserer Kindheit in den Achtzigerjahren wurde uns gesagt, wir sollen nicht über die Wiesen gehen, sonst würde die Metta uns mit ihrer Sense die Füsse abschneiden», erinnert sich Bundi. Im E-Comic ist die Metta da fein eine der Bösen, die es zu bekämpfen gilt. Ob die Guten siegen werden, kann jede und jeder gratis online mitverfolgen. «Wir wollen möglichst viele Leute für die rätoromanische Kultur begeistern, deshalb ist unser Comic für alle kostenlos.» ■ Sabrina Bundi, Mathias Durisch, Michel Decurtins: «Il Crestomat», lesen unter: www.crestomat.ch

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Kultur

Wer mit wem gegen wen? Kanibalen unter sich.

DVD Wölfe unter sich Chronik einer schrecklichen und schönen Zeit.

Buch Alias Frau Anders

Liebe Systemkritiker, seid frohen Mutes! Johannes Nabers Film «Zeit der Kannibalen» zeigt den Ausweg aus dem Kapitalismus: Er wird an sich selbst zugrunde gehen. VON THOMAS OEHLER

In «Neun Monate» schildert Roswitha Quadflieg das Sterben ihrer Mutter als Reise durch ein berührendes Anderssein. VON CHRISTOPHER ZIMMER

Als Roswitha Quadflieg die Nachricht erreicht, ihre 92-jährige Mutter sei «verrückt geworden», verbringt sie gerade einen Urlaub in Marrakesch, in einem Rausch aus Farben, Bewegung und Lärm, wie in einer anderen Welt. Und der Kontrast zur weit entfernten Heimat lässt sie denken: Warum nicht? Warum sollte ihre Mutter kein Recht dazu haben, nach all den Jahren der Pflichterfüllung? Dieser Gedanke – und mit diesem überhaupt die Frage nach Identität – zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Zeit des langsamen Abschieds. Neun Monate, die Dauer einer Schwangerschaft, in denen die Autorin zur Chronistin am Bett ihrer Mutter wird. Monate, in denen sie lernt, «umzudenken, zuzulassen». Ehrlich und liebevoll hält sie die zunehmende «Weltentrücktheit» der Mutter fest, diese Wanderung durch das «Irgendwo», das jeden Besuch zu einem Abenteuer macht. In dieser Schilderung hat vieles Platz: Rückblicke auf das Leben ihrer Mutter, als Kind und Studentin, als Frau des Schauspielers Will Quadflieg, als Heilpädagogin, die nach der Scheidung ein eigenes, reiches und tätiges Leben aufbaut, Verzweiflung und Hoffen, das Ringen um Verständnis und Verstehen, aber auch Situationskomik, über die beide, Mutter und Tochter gemeinsam, lachen können und wir unbeschadet mit ihnen. Leicht macht es die Mutter ihrer Umwelt nicht, denn als sie darauf besteht, dass man unter ihren Namen an der Tür ihres Zimmers im Pflegeheim «alias Frau Anders» schreibt, ist das programmatisch. Diese Frau ist in vielem anders geworden: erst paranoid, dann hochmütig und vor allem zunehmend wirr redend. Sie, die immer beherrscht war, lässt sich zum ersten Mal gehen. Dabei ist sie nicht eigentlich dement, sondern fast bis zum Schluss eloquent, analytisch und gebildet auf eine verrücktpoetische Weise. Diese zugleich schreckliche und schöne Zeit wird zum unerwarteten Geschenk für Mutter und Tochter. Denn dieses Anderssein lässt auch anderes zu, eine grössere Nähe und Zärtlichkeit, die aus dieser Chronik des Sterbens ein Erzählen vom Leben macht.

Kai Niederländer (Sebastian Blomberg) und Frank Öllers (Devid Striesow) wissen, wie man Kosten spart und Gewinne maximiert. Als erfolgreiche Unternehmensberater verhelfen sie Grosskonzernen in Drittweltländern zu noch mehr Geld. Vernichtete Arbeitsplätze und zerstörte Existenzen sind dabei Kategorien, die in ihrem zynischen Weltbild nicht vorkommen. Wichtiger ist: Wer von ihnen schafft es an die Spitze ihrer Firma? Dummerweise taucht auch noch eine dritte Anwärterin auf: Bianca März (Katharina Schüttler). Und schon geht es los, das Spiel gegenseitiger Intrigen und wechselnder Allianzen. Das Ganze ist eine geschliffene Gemme von Kammerspiel: Glanzvolles Schauspiel, brilliante Dialoge, aufs Substanzielle reduziertes Setting – fast alle Szenen finden in Hotelzimmern statt, die sich gleichen wie ein Ei dem andern. Nur das Dekor und die Angestellten wechseln – je nach Land, in dem sich die drei gerade befinden. Selbst die Aussicht ist immer dieselbe: eine stilisierte Grossstadtkulisse. Man bekommt den Eindruck einer aseptischen Kunstwelt. Der Ellbogenkapitalismus, für den die drei Protagonisten stehen, erscheint als ein monströses, aber letztlich überflüssiges Geschwür. Und er frisst seine eigenen Kinder. So merken März, Niederländer und Öllers bald, dass auch oberste Angestellte zu Spielbällen werden, wenn Konzerne bankrott gehen oder fusionieren. Plötzlich stehen die drei, die sich gerade noch als Herren der Welt gefühlt hatten, schutzlos vor der Realität. Und die bricht am Ende brutal in ihre abgeschottete Welt ein. «Zeit der Kannibalen» ist eine Komödie. Aber eine bittere. Der unverhohlene Zynismus gibt dem Lachen einen schalen Beigeschmack. Selbst der Untergang der Protagonisten will keine erlösende Schadenfreude aufkommen lassen: Dafür wirken sie dann doch wieder zu menschlich. Beispielsweise wenn sie von ihren verlorenen und durchaus hehren Jugendträumen erzählen. Oder wenn Öllers mit seinem kleinen Jungen telefoniert. Mit Schaudern stellen wir fest: Die Wölfe sind uns näher, als uns lieb ist. Johannes Naber: «Zeit der Kannibalen», Deutschland 2013, 93 Min., mit Devid Striesow, Sebastian Blomberg, Katharina Schüttler u.a. Mit freundlicher Unterstützung von Les Videos, Zürich: www.les-videos.ch

Roswitha Quadflieg: Neun Monate. Über das Sterben meiner Mutter. Aufbau Verlag 2014. 27.50 CHF

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BILD: DR-COLLECTION CINÉMASTHÈQUE SUISSE

Vision des Realen? Diktator Idi Amin im Selbstporträt.

Visions du Réel Idi Amin als Selbstdarsteller Das Filmfestival Visions du Réel feiert den Regisseur Barbet Schroeder, der einst mit Mickey Rourke gedreht hat. Seine Dokus behandeln politisch hochgradig kontroverse Themen.

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

01

Coop Genossenschaft, Basel

02

AnyWeb AG, Zürich

03

Burckardt + Partner AG, Bern

04

mcschindler.com GmbH, Zürich

05

fast4meter, Storytelling, Bern

06

Maya-Recordings, Oberstammheim

07

Bachema AG, Schlieren

08

Kaiser Software GmbH, Bern

09

Ko Schule für Shiatsu GmbH, Zürich

10

Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

VON DIANA FREI

Barbet Schroeder wurde einem breiten Publikum mit Filmen wie «Reversal of Fortune» mit Jeremy Irons bekannt. Und damit, dass er Mickey Rourke im Spielfilm «Barfly» als Charles Bukowski – Meister des poetischen Kraftausdrucks – durch die Bars hat dümpeln lassen. Jetzt wird der Franzose am Schweizer Festival als «Maître du Réel» gefeiert. Visions du Réel wurde zwar einst als Dokumentarfilmfestival gegründet, aber der Festivaldirektor Luciano Barisone macht schnell klar, dass ihm das zu eng gefasst ist. Und genau deshalb passt Barbet Schroeder zu Nyon: «An Schroeder ist einzigartig, dass er in seiner Karriere mit verschiedenen Formen des Kinos gearbeitet hat», sagt Barisone, «aber jeder seiner Filme – ob fiktional oder dokumentarisch – ist von ausgiebiger Recherche begleitet.» So ist aus den Begegnungen mit Bukowski, die als Vorbereitung zu «Barfly» stattfanden, zunächst ein Dokumentarfilm entstanden: «The Charles Bukowski Tapes», eine Reihe von Monologen mit Weinglas in der Hand. Inklusive gegenseitiger Beschimpfungen von Bukowski und seiner Freundin. «Schroeder geht es nicht darum, mit seinen Filmen zu informieren. Sondern er fühlt sich von seinen Figuren angezogen», sagt Barisone. So war denn auch der Dok «Général Idi Amin Dada: Autoportrait» eine Abmachung mit dem ugandischen Diktator, sich selber zu porträtieren. «Es war eine Art Falle: eine entlarvende Selbstdarstellung, weil er sich im besten Licht darzustellen versuchte», sagt Barisone. Barbet Schroeder interessiert sich für das Kontroverse, für die Widersprüche in seinen Themen. In «L’Avocat de la terreur» nähert er sich dem Anwalt Jacques Vergès an, der als Strafverteidiger von Diktatoren, Terroristen und Kriegsverbrechern bekannt wurde. Auch in der Wissenschaft tun sich die Widersprüche auf: In «Koko, le gorille qui parle» bringt eine Wissenschaftlerin einem Gorilla die Zeichensprache bei, damit er uns seine Intelligenz zeigen kann. Genau damit entfremdet sich die Natur aber von sich selber. Barbet Schroeder hatte das Projekt in der Absicht begonnen, einen Spielfilm über Koko zu drehen. Er blieb aber beim Dokumentarischen, weil er merkte, dass diese Form die passende für sein Thema war. Und weil sich Koko als fabelhafte Darstellerin offenbarte.

11

Lions Club Zürich-Seefeld, Zürich

12

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

13

Privat-Pflege und Betreuung, Oetwil am See

14

Praxis Colibri-Murten, Murten

15

Schumann & Partner AG

16

Bruno Jakob Organisations-Beratung, Pfäffikon

17

VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

18

Hofstetter Holding AG, Bern

19

Projectway GmbH, Köniz

20

OfficeWest AG, Baden

21

Scherrer & Partner GmbH, Basel

22

ArchitekturPlus, Zürich

23

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

24

FC Basel 1883 U19 Team UEFA Youth League

25

Homegate AG, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Visions du Réel, Fr, 17. bis Sa, 25. April, Nyon. www.visionsdureel.ch 347/15 SURPRISE 347/15

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BILD: NAVID TSCHOPP

BILD: GABI VOGT

Ausgehtipps

Die Künstler waren in Venedig auf Recherche.

Das Zollhaus zeigt den Werkplatz Schweiz.

Bern Zürich Die Stadt neu installiert Die Automaten-Schweiz

Auch Indianer müssen schlafen: Bett von Moritz (6).

Zürich Bettgeschichten Sogni d’oro, Goldene Träume: So heisst die Ausstellung der Fotografin Gabi Vogt. Wobei die Protagonisten diese – also die Träume – bereits hinter sich gelassen hatten, als die Werke entstanden. Das Bett ist zerwühlt, das Zimmer, in dem es steht, verlassen. Wir sehen, dass Matis (12) sein Heissgetränk im Bett zu sich nimmt. Wir sehen die sechs Pokale, die John (11) am Kopfende aufreiht. Dass Maximilian (6) morgens als Erstes die weite Welt sieht. Es sind Bilder, die das Kindsein ergründen. (ami)

In der Stadt schreien einzelne Gebäude in die Welt hinaus, was sie zu sein meinen. Da stehen die postmodernen Bauten und brüllen zum Beispiel: «Shopping Mall!» Das gefiel dem Soziologen Lucius Burckhardt gar nicht, der im letzten Jahrhundert die Spaziergangswissenschaft begründet und damit den Städtebau hinterfragt hat. Nun begehen zwölf Zürcher Künstler ihre Stadt neu: So hat San Keller alle, die Anne heissen, auf einem Spaziergang mitgenommen und alle, die Marie heissen, auf einen anderen, und hat sich ihre Geschichten erzählen lassen. Navid Tschopp installiert derweil digitale Gedenktafeln: Texte, Konzertaufnahmen und Bilder zu ehemaligen Kulturbesetzungen an den entsprechenden Orten, welche via Smartphone über WLAN zugänglich sind. Dazu experimentiert die !Mediengruppe Bitnik wie gewohnt digital – und missbraucht in der Arbeit «Same Same» den Google-Ähnlichkeitsalgorithmus und für eine ästhetische OnlinePerformance. (dif)

Die Schweiz wird in Bern demnächst im neuen Swiss Brand Museum als Werkplatz gefeiert. Da ist es besonders schön, dass auch das Strassenmagazin Surprise eine kleine Widmung erhalten hat: Im Vorfeld haben Schweizer Politiker einen Selecta-Automaten vor dem Swiss Brand Museum mit ihrem Stück Schweiz bestückt. Entstanden ist eine Art Auslegeordnung materialisierter Assoziationen zu unserem Land. Beat Jans, SP-Nationalrat und Vorstandsmitglied des Vereins Surprise, hat unser eigenes Heft in den Automaten gesteckt. Und FDP-Nationalrätin Christa Markwalder stellt Zinnbecher aus, weil die sie an die alljährliche britisch-schweizerische Parlamentarier-Skiwoche erinnern. BDP-Nationalrat Urs Gasche wiederum will die Schweizer Medizinaltechnik präsentiert haben. In den nachfolgenden einmonatigen Wechselausstellungen zeigt das Museum dann grössere und kleinere Schweizer Brands, darunter übliche Verdächtige wie Swatch, Bell und Novartis. (dif)

«Invent The Future With Elements Of The Past», noch

Swiss Brand Museum, Pre-Opening noch bis am

Sogni d’oro – Einblick in die Welt des Schlafs,

bis 12. Juli, Cabaret Voltaire, verschiedene Spiel-

12. April, Eröffnung Museum am Mi, 22. April, 18 Uhr,

Vernissage Do, 26. März, Ausstellung bis Do, 23. April,

stätten und Ausstellungsorte. Stadtrundgang mit

ehemaliges Zollhaus, Grosser Muristalden 2, Bern.

Glasmalergasse 6, Zürich; www.gabivogt.ch

Navid Tschopp entlang des alternativen Stadtbilds am

www.swissbrandmuseum.com

Sa, 30. Mai, 15 Uhr. www.cabaretvoltaire.ch

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Die Gebirgspoeten verwursten Mythen und Klischees.

Basel Literarische Festfreude Seit 15 Jahren gehört das Literaturhaus zu Basel das muss gefeiert werden. Peter Bichsel konnte ja auch eben ein Jubiläum feiern, seinen 80. nämlich, und so passt es, dass der Literat denn auch einen Auftritt in Basel hat: mit seinen Kolumnen, die ein polyphones Klanggefüge aus tausend namenlosen Stimmen der heutigen Schweiz ergeben. Denn sie beschäftigen sich mit allem Möglichen – Jahreszeit und Wetter, Sport- und politischen Ereignissen – aber ganz zentral immer mit dem Menschen. Am Samstag darauf gibt es Musik von Desirée Meiser vom Gare du Nord, es wird über das literarische Berufsleben diskutiert, übers Moderieren und Übersetzen. Dazu kommen Klaus Merz, Arno Camenisch und Annette Pehnt immer wieder gerne als «alte Freunde» nach Basel. Die Festerei klingt mit den Gebirgspoeten aus, die als skurrilste Boygroup der Schweizer Literaturszene gelten. (dif) 15 Jahre Literaturhaus Basel, Fr, 17. und Sa, 18. April, Literaturhaus Basel, Barfüssergasse 3. www.literaturhaus-basel.ch

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Wenn Maradona kein Heiliger ist, wer dann?

Basel Gott ist rund «Steilpass nicht verwertet», «kritische Aspekte kommen zu kurz», mäkeln die Kritiker. Das Historische Museum Basel in der Barfüsserkirche widmet dem Fussball eine Sonderausstellung. Und es hat sich den Luxus geleistet, die kritischen Aspekte des Sports – Kommerzialisierung, Korruption und Gewalt zum Beispiel – nur in Nebensätzen zu erwähnen. Denn gezeigt werden soll in «Fussball – Glaube, Liebe, Hoffnung» die religiöse Dimension des Fussballs. Und diese wird multimedial dargeboten, ja «ganzheitliche Vermittlung» nennt das Museum die moderne Art der musealen Vermittlung, die Teil ihrer «e-Culture-Strategie» ist. Das klingt doch vielversprechend und nach einem ungetrübten Genuss für all jene, die die Faszination für dieses Spiel teilen, die davon Unberührten oft so schwer verständlich zu machen ist. Und ist nicht die Vermittlung der kindlichen Freude und der Verehrung für Spiel und Spieler auch ein probates Mittel, um den Trittbrettfahrern aus globaler Wirtschaft, Fifa und Hooliganszene die Stirn zu bieten? Die Strategie, mit der Darstellung der schönen Seite die hässliche zu bekämpfen? Wie auch immer: Die Vermittlung der Faszination, so waren sich die Kritiker der Ausstellung einig, ist dem Historischen Museum Basel grossartig gelungen. (fer) «Fussball – Glaube, Liebe, Hoffnung». Sonderausstellung im Historischen Museum Basel in der Barfüsserkirche, noch bis 16. August. Begleitprogramm siehe www.hmb.ch/sonderausstellungen/Fussball.html

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Verkäuferporträt «Ich musste mich tot stellen» Ali Nur Mohamed (60) war in Somalia Tierarzt und NGO-Direktor. Seit einem Angriff der Terrorgruppe al-Shabaab lebt er als Surprise-Verkäufer in Basel. Dass er noch lebt, grenzt an ein Wunder.

«Ich denke oft an meinen früheren Job und die Verantwortung, die ich dabei hatte. Heute stehe ich auf der Strasse und verkaufe eine Zeitung. Das ist etwas ganz anderes. Aber ich verkaufe das Strassenmagazin gerne. Ich schaue im Leben lieber nach vorne als zurück. Ich bin seit 2012 in der Schweiz. Die Zeit davor war turbulent. In meiner Heimat Somalia habe ich einen Universitätsabschluss in Veterinärmedizin gemacht und arbeitete später für internationale und lokale Nichtregierungsorganisationen, unter anderem als Regionaldirektor für Westsomalia. Ich hatte eine gute und verantwortungsvolle Stelle, bis der Bürgerkrieg ausbrach. Ab da bespitzelte mich die Terrorgruppe al-Shabaab jeden Tag. Sie dachten, ich sei ein Spion, der für die USA arbeitet. Ich hatte Angst um mein Leben. Viele meiner Arbeitskollegen wurden erschossen. Eines Nachts stürmten sie dann auch mein Haus, zum Glück war meine Familie zu dieser Zeit nicht zuhause. Sie griffen mit Granaten an. Ich verlor mein rechtes Bein, und mein ganzer Magen hing aus dem Körper. Ich stellte mich tot. Sie meinten, ich sei bei dem Angriff ums Leben gekommen und flüchteten. Insgesamt hatte ich 17 Eisensplitter von einer Granate im Rücken, ich überlebte nur ganz knapp. Ich war ganze sieben Monate im Krankenhaus und lag lange im Koma. Hätte ich mich nicht tot gestellt, hätte ich nicht überlebt. Die Schweizer NGO, für die ich in Somalia lange gearbeitet hatte, holte mich dann 2012 in die Schweiz. Meine Frau kam nach, und fünf meiner Kinder sind seit letztem November auch in Basel. Aber mein ältester Sohn ist leider immer noch in Somalia. Da er schon erwachsen ist, haben die Schweizer Behörden seine Einreise nicht bewilligt. Für mich und meine Frau ist es sehr schwer zu wissen, dass er in unserem Heimatland keine Zukunft hat. Ich glaube nicht, dass er je in die Schweiz wird kommen können, obwohl wir es uns sehr wünschen. Meine Familie und ich teilen uns eine kleine 3.5-Zimmer-Wohnung. Ich wünsche mir für die Zukunft eine grössere Wohnung, so hätten alle sieben von uns mehr Platz. Alle meine Kinder gehen in die Schule, das ist mir sehr wichtig. Meine Frau verkauft auch Surprise, und nebenbei besuchen wir beide einen Deutschkurs. Die Sprache zu können, ist für die Integration sehr wichtig. Ich spreche vier Sprachen: Somali, Arabisch, Italienisch und Englisch. Aber Deutsch zu lernen, ist in meinem Alter nicht ganz einfach. Ich verkaufe das Heft immer freitags und samstags. Es gibt Leute, die extra bei mir Surprise kaufen. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Das ist auch meine Verkaufsstrategie. Ich versuche, einen möglichst grossen Kundenkreis aufzubauen. Bereits jetzt kaufen Freunde von Freunden bei mir das Heft, und so geht es immer weiter. Das Wichtigste dabei ist, sympathisch zu sein und kein launisches Gesicht zu machen. Ich sage immer nett ‹Guten Tag›. Viele Kunden sind wirklich an mir und meiner Geschichte interessiert, das freut mich sehr. Vor allem die Schweizer Frauen sind alle besonders nett. Surprise hilft mir und meiner Frau, Freunde zu finden. Aber das Wichtigste ist: Es hilft uns, Deutsch zu lernen. Wir sind glücklich hier,

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BILD: CSP

AUFGEZEICHNET VON CLAUDIA SPINNLER

gut integriert zu sein ist uns sehr wichtig, denn das Leben in der Schweiz ist unsere Zukunft. Am meisten Sorgen mache ich mir um meine Gesundheit. Seit dem Angriff in Somalia trage ich eine Bein-Prothese, die mich sehr schmerzt. Gehen kann ich nur sehr schlecht, da die Prothese 15 Kilo wiegt. Ich habe bei meiner Krankenkasse einen Antrag auf eine modernere und leichtere Prothese gestellt, aber der Antrag wurde abgelehnt, aus Kostengründen. Aber auch die Kälte macht mir zu schaffen. Wir dürfen ja nur draussen das Heft verkaufen. Nach einer gewissen Zeit spüre ich besonders die Finger nicht mehr. Im Sommer ist es viel besser. Ich denke oft an die Vergangenheit, an die Nacht des Granatenangriffes und dessen Folgen. Zum Teil ist es sehr hart, wenn diese Erinnerungen kommen. Und sie kommen immer wieder. Eines Tages würde ich gerne wieder nach Somalia zurückkehren, sofern es sicher ist. Wieder von null anzufangen, ist nicht einfach. Aber wir haben es geschafft hier in der Schweiz, nachdem wir in Somalia alles verloren hatten. Und das macht mich glücklich.» ■ SURPRISE 347/15


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Fatma Meier Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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347/15 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 347/15

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Geschenkabonnement für:

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen. Impressum

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Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Florian Blumer (fer, Heftverantwortlicher), Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win), Claudia Spinnler (csp, Praktikantin) redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Robert Dulmers, Peter Lauth, Nicole Maron, Pascal Mora, Thomas Oehler, Teun Voeten, Sven Wilms Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 20 650 Ex., Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an. Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 347/15


Surprise – Mehr als ein Magazin Surprise Strassenchor «Das erweitert den Horizont»

INTERVIEW VON ARIANE RUFINO DOS SANTOS (CHORLEITERIN STRASSENCHOR)

Ana Arnaz, du bist von Beruf Sängerin und Musikerin, was hat dich zur Chorarbeit geführt? Ana Arnaz: Es war der Chor, der mich schon als Kind zum Singen gebracht hat. Es ist natürlich und sinnvoll, im Chor anzufangen, sich als Teil der Musik zu begreifen und so das Gehör zu schulen. So entdeckte ich auch meine Begabung zum Singen. Später begann ich Gesangsstunden zu nehmen und mich als Solistin auszubilden. Beim Chor machte ich aber weiterhin mit. Ich erinnere mich, dass ich bereits als 13-Jährige während eines Stückes auf der Bühne den Jugendchor leiten durfte. Das war eine grossartige Erfahrung.

BILD: ANNA AESCH

Zum ersten Mal spannt der Strassenchor mit einem anderen Chor zusammen: mit dem MuSoul-Chor von der Musikschule Solothurnisches Leimental in Witterswil. Geplant sind ein Workshop und zwei Konzerte. Ein ambitioniertes Experiment, denn es gibt grosse Unterschiede zwischen den beiden Chören: Der eine vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen technischen Zugang zum Singen, beim anderen steht Singen als Gemeinschafts-Erlebnis im Vordergrund. Die beiden Chöre zusammenzubringen, soll dazu beitragen, Vorurteile abzubauen – untereinander genauso wie beim Publikum. Der MuSoul-Chor wird seit 2007 von Ana Arnaz geführt. Die Spanierin studierte Gesang an der Schola Cantorum Basiliensis. Als selbständige Sopranistin tritt sie heute in ganz Europa auf. Ariane Rufino dos Santos, unsere Leiterin des Surprise Strassenchors, hat sich mit ihr unterhalten. (tom)

Gemeinsam mit Projektleiterin Paloma Selma hattet ihr die Idee, deinen Jugendchor aus Witterswil und unseren Surprise Strassenchor gemeinsam singen zu lassen. Was versprichst du dir davon? Neben meinem Studium am Konservatorium in Spanien studierte ich Soziale Arbeit. Fünf Jahre lang arbeitete ich mit Migrantinnen und Migranten, Kindern und Familien. Diese Arbeit fehlt mir im Moment etwas. Ich verspreche mir auch etwas von den Begegnungen der Chormitglieder – die kulturelle Kooperation der zarten Jugend mit älteren Menschen, die die Schattenseite des Lebens gut kennen: Das erweitert den Horizont beider Seiten. Du hast einmal eine Probe des Surprise Strassenchors besucht, was ist dir dabei aufgefallen? Diese sichtbare Freude. Die Freude am Singen, am Teilen, an der gemeinsamen Tätigkeit, daran, die eigene Stimme zu entdecken. Auch die Toleranz: Man erwartet kein musikalisches Können, sondern nur, dass du dabei bist. Es war ein beeindruckendes Erlebnis, und ich wusste, dass es auch für die Kinder der Musikschule, an der ich arbeite, ein solches sein kann. Was bewirkt das Singen deiner Meinung nach beim Menschen? Die gesungene Stimme ist oft eine vernachlässigte Stimme. Sie hat nichts mit der gesprochenen Stimme zu tun, und oft werden wir beim Singen von unserer eigenen Stimme überrascht. Ich habe noch nie zwei gleiche Stimmen gehört, es ist unsere innere, authentische Identität und hilft jedem Menschen, sich selber neu zu entdecken. Die Leute, die sich trauen zu singen, lernen, dem Leben und sich selbst zu vertrauen. Nächste Auftritte des Strassenchors Benefizkonzert für den Surprise Strassenchor: Sonntag, 19. April, 15 bis 17 Uhr, Lorrainestrasse 5a, Bern, Preis: CHF 25, anschliessend Apéro.

Dienstag, 28. April, 19 Uhr, Röm.-Kath. Pfarramt St. Katharina, Witterswil-Bättwil, Kooperation mit dem MuSoul Chor.

Sonntag, 3. Mai, 20 Uhr auf der Offenen Bühne am Nadelberg, Kooperation mit dem MuSoul Chor.

Weitere Infos unter 061 564 90 40 oder www.vereinsurprise.ch/strassenchor SURPRISE 347/15

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