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Betroffene erzählen vom Leben mit HIV «In der Nacht passieren unartige Dinge!» – The Prodigy im Interview

Ohne Geld kein Entkommen aus der Hölle: Reportage aus bolivianischen Gefängnissen

Nr. 351 | 5. bis 18. Juni 2015 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Titelbild: Isabelle Bühler

Editorial Chronisch statt tödlich BILD: ZVG

Eine ganze Generation ist in Angst vor Aids aufgewachsen, gut 30 Jahre später ist die Krankheit von einer tödlichen zu einer chronischen, aber behandelbaren geworden. Eine riesige Veränderung. Was sich gehalten hat, sind das gesellschaftliche Stigma und die Diskriminierungen – persönliche, juristische, berufliche. Die Journalistin Rea Wittwer hat mit drei Betroffenen gesprochen. Sie haben viel erzählt (siehe Seite 10), aber sie haben sich nicht aus der Anonymität gewagt. Ihren wahren Schrecken wird die Krankheit erst verloren haben, wenn wir solche Lebensgeschichten irgendwann mit vollem, richtigem Namen und den Fotos der Protagonisten veröffentlichen können. Auch Ramiro Llanos hat noch einen langen Weg vor sich. Er kämpft in Bolivien für DIANA FREI verbesserte Verhältnisse in den Gefängnissen. Mit gutem Grund: Ausgerechnet die REDAKTORIN Haftanstalten sind längst zu einer Art gesetzloser Zone geworden. Der Journalist Timo Kollbrunner war vor Ort und beschreibt haarsträubende Verhältnisse, aber lesen Sie selbst, ab Seite 14. So viel schon vorweg: Kollbrunners Schilderungen wirken wie eine dystopische Erzählung – wie eine düstere Zukunftsvision, angesiedelt irgendwo zwischen George Orwells Roman «Animal Farm» und Bong Joon-hos Science-Fiction-Actionfilm «Snowpiercer»: Beide skizzieren soziale Gefüge, in denen ein erbitterter Machtkampf zwischen den Mächtigen und den Machtlosen ausbricht. Fast möchte man meinen, mit der Geschichte aus Bolivien seien ebenso fiktionale Gesellschaftsbilder entworfen worden, um uns vor Augen zu führen, was es in letzter Konsequenz heissen kann, wenn Bestrafung wichtiger ist als Resozialisierung. Der Text stellt Fragen wie: Sollen Gefängnisse in erster Linie Anstalten der Strafe und Züchtigung sein? Muss sich eine Gesellschaft für die Wiedereingliederung von Sträflingen interessieren? Kann es ein Grundsatz sein, dass ein Mensch hinter Gittern alle seine Rechte abgibt? Es sind Fragen, die wir uns auch in der Schweiz stellen müssen – sei es in der Diskussion über die angebliche Kuscheljustiz und über Resozialisierungsmassnahmen, sei es bei der Umsetzung der Verwahrungsinitiative oder der Pädophilen-Initiative. Die Schweiz ist nicht Südamerika, und dass die bolivianischen Häftlinge nicht kuscheln, sehen wir bereits auf den Bildern. Aber kann es sein, dass die Antworten auf grundsätzliche Fragen von Fall zu Fall verschieden sind? Ist Menschenwürde relativ? Dystopische Erzählungen geben Anlass, über eigene Realitäten nachzudenken. Zugegeben, das bolivianische Szenario ist etwas gar drastisch. Umso schlimmer, dass es nicht einmal erfunden ist. Herzlich Diana Frei

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 351/15

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10 HIV Das Stigma Katharina erzählt: «Ich war verliebt in diesen Mann.» Köbi sagt: «Als ich erfahren habe, dass ich HIV-positiv bin, stellte ich mich auf den Tod ein.» Und Serafino erinnert sich: «Ich war in der Therapie, wollte endlich drogenfrei werden.» Rund 30 Jahre ist es her, dass Aids bekannt wurde. Seither haben die medizinischen Fortschritte der Krankheit ihren überwältigenden Schrecken genommen, aber das gesellschaftliche Stigma ist geblieben. Drei Patienten erzählen aus ihrem Leben mit HIV.

ILLUSTRATION: ISABELLE BÜHLER

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Inhalt Editorial Leider nicht fiktiv Basteln für eine bessere Welt Im Radiofieber Aufgelesen Der Billig-Brutkasten Zugerichtet Kriminelle Energie Medienkrise Podium in Wien Starverkäufer Herbert Engeler Porträt Märchen-Profi Wörter von Pörtner Kanonenrohre im Zoo Kunst Nichts über alles Kultur Ein Brechbeutel für die Liebe Ausgehtipps Als Fischli/Weiss noch unbekannt waren Verkäuferporträt International Schwarz sein in Boston Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP Surprise – Mehr als ein Magazin Musikalische Experimente

14 Bolivien Wer arm ist, bleibt drin In Bolivien sitzen fast 15 000 Menschen im Gefängnis: dreimal so viele, wie in den Anstalten des Landes eigentlich Plätze hätten. Und die grosse Mehrheit ist nicht einmal rechtskräftig verurteilt. Wer im Gefängnis überleben oder gar wieder hinauskommen will, muss bezahlen. Von der Korruption profitieren Polizisten, Richter, Staatsanwälte – und die brutalsten Häftlinge. Ein Mann will das ändern, koste es, was es wolle.

BILD: TIMO KOLLBRUNNER

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BILD: PAUL DUGDALE

19 Prodigy «Wir sind Energie-Lieferanten»

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Die britische Rave-Band The Prodigy war dabei, als Techno im Londoner Untergrund gross wurde. Ende der Neunzigerjahre steckte sie ihre Wut über die Kommerzialisierung der Bewegung in eine neue, knüppelharte Art von Techno. Das brachte den Musikern den Durchbruch, den grossen Plattenlabels blieben sie trotzdem fern. Gut gelaunt erzählen Soundtüftler Liam Howlett und Sänger Maxim im Interview von unausweichlichem Band-Zwist, Nachtarbeit im Studio und warum sie wenig von politischer Musik halten.

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Die Abstimmung vom 14. Juni über die Umwandlung der Billag in eine Abgabe für alle (RTVG) lässt die Gemüter hochkochen. Kein Wunder, es geht ja auch um eine Rechnung. Die Aufgebrachten reklamieren, dass sie bei Annahme der Vorlage auch zahlen müssen, wenn sie kein Empfangsgerät besitzen. Nun, dem kann mit unserem RTVG-Radio kostengünstig abgeholfen werden. Jetzt müssen Sie nur noch den richtigen Sender zur richtigen Zeit einschalten (probieren Sie’s mal mit Echo der Zeit oder Input auf SRF2 und 3), dann können Sie sich auch bei Annahme der Initiative entspannt zurücklehnen – mit dem guten Gefühl, nicht umsonst bezahlt zu haben.

1. Nehmen Sie eine leere WC-Rolle und befestigen Sie

2. Fixieren Sie die entstandene Spule mit drei Streifen

3. Besorgen Sie sich einen rund 20 m langen Draht mit

das Ende eines Kupferlackdrahtes (0,8 mm dick,

Klebeband und isolieren Sie den letzten Zentimeter

Kunststoffisolierung und schneiden Sie ein rund 1 m

mind. 9 m lang) durch ein kleines Loch ca. 1 cm vom

Draht ab, indem Sie die Lackschicht mit einer Nagel-

langes Stück ab. Entfernen Sie mit einer Schere je

linken Rand. Wickeln Sie den Draht ohne Lücken

feile rundherum abschleifen. Schleifen Sie entlang

2 cm der Isolierung an den Enden und wickeln Sie das

und Überkreuzungen um die Rolle. Stechen Sie zwei

einer Linie auch die Lackschicht auf der Spule ab.

eine Ende um einen Wasserhahn (er wird als Erdung

weitere Löcher hinein und ziehen den Draht hindurch.

Achtung, lieber zu wenig als zu viel! Die Windungen

dienen), das andere Ende zusammen mit dem zuvor

Kürzen Sie den restlichen Draht auf etwa 10 cm.

dürfen untereinander keinen Kontakt haben.

abisolierten Spulenende um das hintere Ende des Steckers eines Kopfhörers oder einer kleinen Boxe (siehe Abbildung).

4. Schneiden Sie ein weiteres rund 15 cm langes Stück des Drahtes ab und isolieren es an beiden Enden ab, dies wird der Abnehmer. Isolieren Sie bei einem weiteren, gut 10 m langen Stück nur das eine Ende ab und verschliessen Sie das andere mit Klebeband, dies wird die Antenne.

Spulenende S pulenende

Abnehmer A bnehmer

Diode Diode Antennenende A ntennenend e

Erdungskabel E r dungskabel

5. Verbinden Sie eine Germanium-Diode (erhältlich im

6. Formen Sie das andere Ende des Abnehmers zu

Elektronikmarkt) am einen Ende mit dem vorderen

einem U und fixieren Sie dieses mit einem Gummi-

Ende des Klinkensteckers und am anderen Ende mit

band auf der abisolierten Linie (Schritt 3) der Spule.

dem abisolierten Antennenende und dem einen Ende

Fahren Sie auf der Linie hin und her, bis sie auf einen

des Abnehmers.

gebührenfinanzierten Sender gestossen sind!

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ILLUSTRATION: RAHEL KOHLER | WOMM

Basteln für eine bessere Welt Das RTVG-Radio


Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Zehntausend Euro Strafe Wien. Zwei Sozialdemokraten machen sauber: Die SPÖ-Bürgermeister von Wien und Salzburg wollen ihre Parkanlagen obdachlosenfrei halten. Die Touristen im Salzburger Mirabellpark und im Wiener Stadtpark sollen von dem unangenehmen Anblick verschont werden. Sogenannte «Kampierverordnungen» stellen das Übernachten in Schlafsäcken ausserhalb der Campingplätze unter Strafe – in Salzburg mit bis zu 10 000 Euro.

Zehntausend ohne Wohnung Kiel. Die Zahl der Wohnungslosen in Schleswig-Holstein steigt dramatisch an. Einer Erhebung des dortigen Diakoniewerks zufolge sind über 10 000 Personen wohnungslos oder vom Verlust ihrer Wohnung akut bedroht – zum Beispiel wegen einer anstehenden Zwangsräumung. Die Dunkelziffer wird auf das Doppelte geschätzt. Besonders besorgniserregend ist die Zahl junger Menschen zwischen 18 und 25, die betroffen sind: 2012 waren es in den Städten Kiel und Lübeck noch 661, 2014 schon 799.

Zehntausende Leben retten London. Der 23-jährige britische Designstudent James Roberts hat einen Brutkasten erfunden, der zehntausende Leben retten könnte. Vor allem in Flüchtlingslagern sterben jedes Jahr 27 500 Neugeborene. Ein herkömmlicher Brutkasten kostet rund 40 000 Franken und muss von Fachleuten bedient werden. Roberts Brutkasten namens «Mom» ist tragbar und einfach zu bedienen. Er läuft für 24 Stunden an einer Autobatterie – und kostet in der Herstellung knapp 350 Franken.

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Zugerichtet Gut geblufft Die kriminelle Energie eines Täters ist für das Gericht ein wichtiger Faktor bei der Strafbemessung. Nehmen wir zum Beispiel an, ein Alkoholiker erbettelt sich von einem Passanten zwei Franken, um sich Essen zu besorgen. Von dem Geld kauft er aber eine Dose Bier, kein Brot. Hatte er auch nie vor, wusste aber: «Häsch mer zwei Stutz für es Bier» hätte nicht so gut funktioniert. Das ist Arglist und somit Betrug. Es ist nun aber davon auszugehen, dass der Alkoholiker, hätte der Passant ihn ignoriert, ihm nicht nachgelaufen wäre. Er hätte auch keine medizinischen Gutachten gefälscht, um potenziellen Spendern seine Unterernährung zu belegen. Er hätte einfach den Nächsten gefragt. Zudem wäre sein Vorgehen nicht besonders dreist oder raffiniert gewesen. Der Angeklagte, der kürzlich vor Obergericht stand, ist da ein etwas anderes Kaliber. Er sprach seine Opfer nicht in der Bahnhofshalle an, sondern auf diversen Internet-Plattformen. So bot er auf gratis-inserate.ch vier Tickets für ein Divertimento-Konzert zum Verkauf. Er brauche sie wegen eines Krankheitsfalles in der Familie nicht mehr. Der Käuferin liess er ein MMS mit dem Einschreiben zukommen, woraufhin sie ihm 450 Franken auf sein Konto einzahlte. Der Beschuldigte schickte der Geschädigten aber ein leeres Couvert, das er vorher einmal geöffnet und wieder zugeklebt hatte, um den Anschein zu erwecken, dass die Tickets auf dem Postweg abhandengekommen seien. Auf dieselbe Weise beschiss er auch Rammstein-Fans und Spenglercup-Besucher und «verkaufte» Dutzende Flaschen Mouton Rothschild 1986, Autozylinder, Kameras und

Laptops, die er nie besass. Insgesamt verschaffte sich der Beschuldigte so einen Gesamtdeliktsbetrag von rund 100 000 Franken. Die Anklagebehörde spricht in diesem Fall von einem aggressiven und dreisten Vorgehen. Sprich: Die Energie, die er in seine Betrügereien steckte, war enorm. Er fingierte Quittungen und Belege oder kopierte Fotos aus dem Internet, um sich und seine Angebote glaubwürdiger zu gestalten. Um allfälliges Misstrauen zu zerstreuen, tischte er ohne Zögern plausible Lügengeschichten auf. Und war ihm ein Opfer auf den Leim gegangen, übte er geschickt Druck aus, um es zur sofortigen Überweisung des Kaufpreises zu bewegen, etwa mit grosszügigen Rabatten bei Vorauszahlung. Im Vergleich mit unserem Alkoholiker oben legte der Angeklagte also eine viel grössere kriminelle Energie an den Tag. Und das seit Jahren. Weshalb ihn auch die erste Instanz zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt hatte, die er derzeit absitzt. Etwas aber ist identisch mit unserem hypothetischen Vergleichsfall: die Beweggründe für die Taten. Mit Substanzen hatte der Angeklagte zwar nie etwas am Hut, ihn trieb die Sucht aber in die Kasinos. Vor Obergericht konnte er glaubhaft machen, dass er nun dank Therapie und CaseManagement auf dem rechten Weg sei. Dieses honorierte die «beachtlichen Anstrengungen» des Beschuldigten und reduzierte seine Strafe glatt um ein Jahr. Wenn alles gut läuft, wird er in vier Monaten freikommen. Dann wird sich zeigen, ob er es ernst gemeint oder einfach einmal mehr gut geblufft hat.

YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 351/15


Medienkrise Warum trauen uns die Leser nicht mehr? In der Titelgeschichte im Heft 349 thematisierten wir den Vertrauensverlust in die Massenmedien. An einer Podiumsdiskussion in Wien wurde mit Beteiligung von Surprise über das Thema debattiert.

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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auch, dass diese nicht mehr genug Zeit für die Recherche bekommen. Erwähnt wurde das Beispiel eines Kollegen auf einer grossen Schweizer Online-Redaktion, dem zu verstehen gegeben wurde, dass das Nachprüfen einer Agenturmeldung im Internet Zeitverschwendung sei. Peter Klein von Ö1 warf ein, dass die Arbeitsbedingungen beim öffentlich-rechtlichen Radiosender noch vergleichsweise gut seien, da dieser nicht der Gewinnmaximierung verpflichtet ist – ein Einwand, den wir uns angesichts der aktuellen Angriffe auf die SRG auch in der Schweiz zu Herzen nehmen dürfen. Klein verteidigte aber auch die Verlage, indem er betonte, dass am Schluss halt «eine schwarze Null» in der Betriebsrechnung stehen müsse. Dem wurde entgegnet, dass die Medienhäuser heute von Managern geleitet werden, die eben nicht die schwarze Null, sondern einen Gewinn anstreben, wie er bei Banken und Fluglinien üblich ist – was sich mit Qualitätsjournalismus nicht vereinbaren lasse. Zuletzt wurde die Frage aufgeworfen, ob alternative Medien von der Krise der kommerziellen profitieren könnten. Tatsächlich, so die Vertreter von Surprise und Migrazine, gewinnen nicht-kommerzielle Medien an Bedeutung, wenn Nutzerinnen vermehrt nach Alternativen zu den Mainstream-Medien suchen. Das Angebot von Tageszeitungen könnten sie

aber nicht ersetzen. Die Runde schloss mit der Erkenntnis: Es gibt bedrohliche Entwicklungen im Journalismus, trotzdem ist nicht alles schlecht, was heute in den Medien gemacht wird – und alles schlecht zu reden hilft sicher nicht dabei, das Vertrauen der Medienkonsumenten zurückzugewinnen. (red.) ■ Videozusammenfassung der Podiumsdiskussion auf www.eurozine.com/timetotalk

BILD: ZVG

Medienjournalist Christof Moser berichtete in der Titelgeschichte «Mit Vollgas in die Vertrauenskrise» von haarsträubenden Zuständen und miserablen Arbeitsbedingungen auf Redaktionen. Er kam zum Schluss, dass Journalisten den Journalismus gegen seine Feinde verteidigen müssen – und dazu zählten auch ihre Arbeitgeber, die Medienkonzerne, die Gewinnstreben über alles stellen. Offensichtlich waren wir bei Surprise nicht die Einzigen, die sich gerade intensiv Gedanken zum Thema machten: Noch bevor die Geschichte erschien, erreichte uns eine Einladung aus Wien für eine Podiumsdiskussion über den Vertrauensverlust in die Medien. Moderiert von Lisa Bolyos, Redaktorin der Wiener Strassenzeitung Augustin, diskutierten Surprise-Redaktor Florian Blumer und Assimina Gouma, Redaktorin des Online-Migrantinnenmagazins migrazine.at mit Peter Klein, Programmleiter des öffentlich-rechtlichen Radiosenders Ö1, und Anneliese Rohrer, langjährige Redaktorin der Tageszeitung Die Presse. Die Diskussion fand im Rahmen des Forums «Film to Talk» des European Network of Houses for Debate statt. Anneliese Rohrer, beklagte, dass Journalistinnen und Journalisten heute kaum mehr ihr Büro verliessen, um zu recherchieren. Die Runde war sich jedoch einig, dass dies nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass das Internet die Journalisten faul macht, sondern

Starverkäufer Herbert Engeler Eric van Rekum schreibt: «Länger schon wollte ich Herbert Engeler am Zürcher Bahnhof Hardbrücke ein Surprise abkaufen, und als ich letzte Woche auf ihn zuging, war er bereits damit beschäftigt, eines seiner Magazine zu verkaufen. So stand ich sogar Schlange! Und nun das Schönste: Als ich ihm eine Zehnernote gab und sagte, er könne den Rest behalten, bekam ich das netteste Lächeln und Dankeschön, das ich mir wünschen konnte. Es begleitete mich den ganzen Tag!»

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Porträt Prinzessin im Kinderzimmer Sibylle Baumann ist professionelle Geschichtenerzählerin. Sie will ihre Stoffe, die sich während Jahrhunderten an den Lagerfeuern dieser Welt geformt haben, zu neuem Leben erwecken. VON ADRIAN SOLLER (TEXT) UND LUC-FRANÇOIS GEORGI (BILD)

zählte sie die Geschichte eines Kinofilms einer Freundin, gehörten viel Gestik und Mimik dazu. Die Filmliebhaberin bekam Komplimente für ihr Erzähltalent. Und so meldete sie sich im Jahr 2006 bei einer Geschichtenerzählerschule an. Dort konnte sie ihr Talent in Gruppen- und Einzelübungen schärfen. Baumann lernte, die Bilder in ihrem Kopf nach aussen zu tragen. Denn wenn sie etwas liest oder hört, läuft vor ihrem inneren Auge gleich ein Film ab. Daher kommt es, dass Baumann ihre Geschichten nie auswendig zu lernen braucht. Eher versucht sie, die in ihrem Kopf auftauchenden Bilder zu beschreiben. Manchmal seien ihre eigenen Bilder ganz konkret, manchmal nur ein Gefühl. Auch ändert sich ihr Kopfkino ständig. Die Bilder entwickeln sich weiter, manchmal über Nacht, dann jedenfalls, wenn sie von ihnen träumt. «Alles ist im Fluss», sagt sie. Darum auch sei keine Erzählung wie die andere. Und gerade das macht die Erzählkunst aus. Denn: Fast alles Erzählte stammt aus mündlicher Überlieferung. Es sind Geschichten, die sich während Jahrhunderten an den Lagerfeuern dieser Welt geformt haben. Wer sie aufschreibe, konserviere lediglich eine von unzähligen möglichen Variationen. «Wer aber eine Geschichte fühlen will, muss sie auch hören», erklärt Baumann. Baumann erzählt ihre Geschichten immer erst ihrem Lebenspartner – oder ihrem Kuscheltier, einem ledernen Elefanten. So übt sie das Erzählen der verschriftlichten Geschichten, die sie in den Brockenstuben dieser Welt findet. Bis ins Detail aber könne man einen Auftritt nicht planen. Denn das Publikum gestaltet die Geschichte mit. Die Emotionen, die sie in den Gesichtern ihrer Zuhörerinnen abliest, verarbeitet sie

Niemals hätte sie das gedacht, nicht einmal in ihren kühnsten Träumen. Musste sie einen Vortrag halten, lief sie knallrot an und wollte am liebsten in den Boden versinken. Als Kind war Sibylle Baumann nicht sonderlich selbstbewusst. Sie war eine Einzelgängerin. Sie galt als scheu. Heute erzählt Baumann ihre Schöpfungsmythen, Fabeln, Parabeln und Volksmärchen – vor Dutzenden Fremden. In den vergangenen acht Jahren trat die professionelle Geschichtenerzählerin über 260-mal öffentlich auf. Klar: Die 45-Jährige ist vor einem Auftritt auch heute noch etwas nervös. Das sei aber gut so. «Ich brauche eine gewisse Anspannung», erklärt Sibylle Baumann. Wie die Nervosität aber nicht überhandnimmt, hat sie über die Jahre gelernt. Vor einem Auftritt geht sie spazieren, erscheint immer erst zum Vorstellungsbeginn, nicht vorher. Und wenn sie dann erst einmal abgetaucht ist in die Welt des Erzählens, vergisst sie alles andere sowieso: «Erzähle ich von einem Palast», sagt Baumann, «dann bin ich auch wirklich dort.» Auf der Bühne verwandelt sie sich durch Stimmenimitation, Mimik und Gestik in verschiedenste Charaktere. Auch wenn Baumann auf Requisiten und aufwendige Bühnenbilder weitgehend verzichtet: Der visuelle Ausdruck spielt beim Erzählen eine entscheidende Rolle. Gekonnt variiert Baumann das Tempo ihrer Erzählung. Mal bellt sie wie ein Hund, mal miaut sie wie eine Katze. Baumann erzählt mal kurze, mal lange, mal lustige, mal traurige Geschichten. Sie erzählt sie im Zoo, im Schloss, im Festsaal, in der Jurte, im Wohnzimmer oder an einem Firmenanlass. Hauptsache, sie kann erzählen, am liebsten Geschichten aus anderen Kulturen, aus Indien, China, Afrika oder Ja«Wer eine Geschichte fühlen will, muss sie auch hören», sagt Sibylle pan. Im Moment arbeitet sie an der indischen Baumann. «Wer sie aufschreibt, konserviert nur eine von unzähligen Weisheitsgeschichte «Die vier Brahmanen». möglichen Variationen.» Baumann liebte Geschichten von klein auf. In ihrem Kinderzimmer im Zürcher Vorort Dietikon las die kleine Sibylle von Prinzessinnen und ihren Schlössern, von direkt in ihrer Darbietung. Es sei eine Art Dialog ohne Worte, sagt sie. Indianern und ihren Abenteuern, von Lindgrens Pippi Langstrumpf und Beim Erzählen mag Baumann am meisten jene kurzen Sekunden der ihrem Affen. Stundenlang pendelte sie damals zwischen Buchseiten und Stille zwischen ihrem letzten Wort und dem Applaus. Es ist der MoFantasiewelten hin und her. Oft wandelte sie als Grenzgängerin irgendment, in dem alle gemeinsam wieder von der Fantasiereise zurückkehwo zwischen den Welten, sah den Grashalmen im Wind zu – und tauchren. Und schon alleine wegen diesem Moment will Baumann, dass das te dabei ab, in Geschichten und Gedanken. Geschichtenerzählen wieder fester Teil des hiesigen Kulturangebotes Mit Anfang 20 machte Baumann die Lehre zur Praxisassistentin. wird. Zu diesem Zweck hat sie im Alten Botanischen Garten Zürich die Zwar mochte sie die Geschichten ihrer Kindheit immer noch, las sie «Urbane Geschichtenoase» ins Leben gerufen, ein Erzählfestival mit aber kaum mehr. Und jene Geschichten zum Beruf zu machen, es wäre Gast-Performern aus aller Welt. ihr nicht in den Sinn gekommen. Ihr Karriereweg aber erwies sich als «Diese alten Geschichten sind wichtig, sie enthalten LebensweisheiEinbahnstrasse. «Praxisassistentinnen haben keine Aufstiegschancen», ten», erklärt Baumann. Für sie ist klar: «Eine Geschichte ohne Kern ist erklärt Baumann. Auch habe sie mit der Zeit ihre Mühe gehabt mit der keine gute Geschichten.» Denn jene Lebensweisheiten verknüpfen die Schulmedizin. So kam es, dass sie sich als Kosmetikerin ausbilden liess Erzählung noch stärker mit der Erzählerin. Und nur wenn eine Erzähund einen Schönheitssalon eröffnete. lung eng mit ihren eigenen Erfahrungen verbunden sei, könne sie auch Ihren Salon hat Baumann heute noch. Sie betreibt ihn aber nicht ein Teil von ihr werden. Besonders gerne erzählt Baumann Geschichten mehr so regelmässig. Denn heute kann Baumann von ihren Geschichüber «starke Frauen». Baumann bewundert jene cleveren Frauen, die ten leben, hat rund 50 Auftritte im Jahr. Reich, nein, werde sie damit sich nicht durch Muskelkraft, wohl aber durch Köpfchen hervortun, jenicht. Doch sie sei zufrieden, brauche nicht mehr. Wiederentdeckt hat ne Frauen, die sich etwas trauen. Frauen eben, die über ihren eigenen sie ihre Liebe zu den Geschichten beim Nacherzählen von Filmen. ErSchatten springen können. ■ SURPRISE 351/15

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HIV Leben mit dem Makel Serafino, Katharina und Köbi leben verschiedene Leben, aber teilen ein Schicksal: Sie haben sich vor Jahren mit HIV angesteckt. Seither wurden riesige medizinische Fortschritte gemacht, aber ihre persönlichen Geschichten zeigen: Das Stigma ist geblieben. VON REA WITTWER (TEXT) UND ISABELLE BÜHLER (ILLUSTRATIONEN)

Serafinos Geschichte In den Sechzigerjahren erschütterte ein schweres Erdbeben die sizilianische Provinz Agrigent. 70 000 Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf. Und hier – mit dieser Erschütterung der Erde – beginnt Serafinos* ganz persönliche Odyssee. Damals ist Serafino ein kleiner Bub, der bei seinen Grosseltern in Sizilien lebt. Seine Eltern waren Jahre zuvor in die Schweiz migriert, wie zahlreiche andere italienische Staatsbürger auch. Doch plötzlich steht er da, Serafinos Vater, holt den kleinen Buben, steigt mit ihm ins Flugzeug und nimmt ihn mit in die fremde Schweiz. «Ich bin wie wild herumgehüpft im Flugzeug. Hey, ich bin vorher noch nie geflogen, weiss noch genau, wie das war!», erzählt er, und seine Hände und Arme, sein ganzer Körper bewegt sich beim Erzählen der Geschichte. «Viel Energie, ja das hatte ich schon immer. Heute würde man vielleicht hyperaktiv dazu sagen», berichtet er. Plötzlich war er also in der Schweiz. Ein guter Schüler sei er gewesen: «Aber gell, meine Energie, die hibbelige Art, das trieb manchen zur Weissglut», erzählt Serafino. Er fiel auf, wo immer er hinkam. Das Augenmerk lag auf dem

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jungen Wilden. Aber er sei eine ehrliche Haut gewesen, ahnungslos, wenn nicht sogar etwas naiv. «Dann fing das mit dem Töfflifrisieren an. Das war halt illegal. Das war einfach noch eine komplett andere Zeit.» So wurde Serafino, der friedliche Störenfried und temperamentvolle Secondo, wegen des Töfflifrisierens von heute auf morgen in eine Beobachtungsstation für Schwererziehbare gebracht. Wurde für ganze zwei Jahre von seinen Eltern getrennt und ins Heim gesteckt. Dort lernte er die Drogen, das Stehlen und Leute aus der Szene kennen. Und so, mit dem Eintritt in die Beobachtungsstation, nahm seine Odyssee ihren weiteren Lauf: Basel, Zürich, Italien, wieder Zürich – und dort das ganze Programm mit AJZ, Platzspitz und Letten – Lugano, immer wieder Italien, Thun, Bern und so weiter. «Wie das eben so ist als Junkie. Da bist du nirgendwo und überall daheim. Alles dreht sich um die Drogen, um den nächsten Schuss. Von daheim auf die Gasse, von der Gasse wieder nach Hause. Super, echt!», sagt Serafino voller Ironie. Er erinnere sich erstaunlicherweise noch sehr klar an diese verschwommene, diffuse Zeit

seines Lebens. Gefängnisaufenthalte, Therapieversuche, Diebstähle, seine besorgten Eltern, die ihn immer wieder aufgefangen haben, die Polizei, die Sozialarbeiter. Und er mittendrin, überall als hoffnungsloser Fall abgestempelt. Die Ärzte gaben ihm noch 18 Monate Im Jahr 1984, irgendwann mitten in dieser turbulenten Zeit und zwischen all den Stationen, hat es Serafino erwischt. «Wegen zwölf Gramm Heroin wurde ich in Italien rausgenommen und bekam vier Jahre unbedingt, wovon ich fast drei Jahre gesessen bin. Damals wurde bei einem Test meine HIV-Infizierung festgestellt, ich war erst Anfang 20.» Serafino war in sehr schlechter Verfassung. Die letzten Jahre und das bereits fortgeschrittene Stadium der Infizierung hatten ihre Spuren hinterlassen, die Ärzte gaben ihm noch 18 Monate. Doch er kämpfte – wenn auch noch einige weitere Jahre im selben Teufelskreis. Er sei immer ein stolzer und gläubiger Mensch gewesen, daraus habe er wohl seine Kraft geschöpft. «Ich vertrug die damals neuen Medikamente schlecht, setzte sie also ab, obwohl die Krankheit laut den SURPRISE 351/15


Ärzten bereits ausgebrochen war. Ich habe keine Ahnung, wie ich das geschafft habe.» Seit vielen Jahren nimmt er Medikamente, die das HI-Virus soweit als möglich eindämmen. Serafino kann Teilzeit arbeiten und seinen Vaterpflichten nachgehen, auch wenn er schneller als andere erschöpft ist. «Allzu viel will ich aber bei den Arztbesuchen jeweils gar nicht wissen. Ich kenne meinen Körper, und solange ich mich gut fühle, möchte ich mein zweites Leben geniessen.» Es scheint, dass Serafino dem Thema HIV keinen grossen Platz in seinem Alltag einräumen will. Auch sprechen tue er fast mit niemandem darüber, das käme gar nicht gut, sagt er. Die Menschen seien noch immer verunsichert im Umgang mit HIV. Zurück zum Teufelskreis: Damals, in den Neunzigern, lernte er während eines Aufenthalts in einem Schweizer Gefängnis eine Pfarrerin kennen, die ganz anders war als viele andere Menschen. Durch sie habe er erst verstanden, was der Glaube an Gott bedeute. «Ich versuchte mein Leben umzukrempeln und fing eine Therapie an. Dort habe ich zwar immer

wieder einen Grund finden wollen, um als hoffnungsloser Fall abgestempelt zu werden und dadurch im gewohnten Teufelskreis zu bleiben. Gott sei Dank misslang es. Ich habe eine totale Kehrtwende vollzogen.» Familienleben auf dem Land Seine Lederjacke, die er auch an diesem Abend trägt, habe ihn vor rund zwanzig Jahren sozusagen gerettet. «Ich war in der Therapie, wollte endlich drogenfrei werden. Auf einem Konto lag noch etwas Geld, und so kaufte ich mir diese schöne Jacke. Als ich von der Stadt zurückkam, fragten sie mich, woher ich das Geld dafür hätte.» Serafino wäre verpflichtet gewesen, seine finanziellen Ersparnisse offenzulegen. Wütend brach er die Therapie ab, lief davon, flüchtete in sein altes Muster, ging zu seiner Mutter. Doch anders als die vielen Male zuvor nahm sie ihn nicht mehr auf. «Das war der Wendepunkt. Da hab ich geschnallt, hey, jetzt oder nie!» Serafinos Drogentherapie verlief nach dieser Erkenntnis erfolgreich, und er ist bis heute drogenfrei geblieben. Das Virus

aber bleibt für immer. Er hat eine Ausbildung und mehrere Weiterbildungen abgeschlossen. Heute lebt Serafino mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern auf dem Land. Die Medikamente, die das HI-Virus eindämmen, muss er jeden Tag immer zur gleichen Zeit einnehmen. Nur so ist die Viruslast in seinem Körper zu gering, um jemanden anzustecken. Deshalb war es ihm und seiner Frau denn auch möglich, eine Familie zu gründen. Über seine Odyssee wissen nicht viele Menschen Bescheid. Dass er HIV-positiv ist erst recht nicht. «Beim HIV ist es anders als bei normalen Krankheiten, das Wissen um die Krankheit verändert sofort die zwischenmenschlichen Beziehungen», sagt er mit Nachdruck. Serafino hat es zu oft am eigenen Leib erfahren. «Sobald meine Vergangenheit zum Vorschein kam, sind Freundschaften zu Ende gegangen. Aber Mitleid und Verachtung braucht man nicht. Es ist schade, dass wir in einer Gesellschaft leben, in welcher der Schein mehr wert ist als das Sein.» ■

Katharinas Geschichte Ein kaum merkliches, nachdenkliches Lächeln huscht über Katharinas Gesicht, als sie sagt: «Ich war verliebt in diesen Mann.» Wer kennt sie nicht, die starken Emotionen, die aufflammen, wenn man sich zu einem Menschen hingezogen fühlt? Wenn man fasziniert, überglücklich und gebannt ist? Und immer auch ein bisschen geblendet. Wer kennt schon die Liebe nicht? «Es war kompliziert, wir führten eine Distanzbeziehung, konnten uns oft nur am Wochenende sehen. Das Ganze war nicht einfach.» In den Neunzigerjahren, als noch nicht alle ein Handy hatten, war es entsprechend schwieriger, den Kontakt zu halten. Katharina erzählt mit einer sanften, angenehmen Stimme ihre Geschichte. Eine Geschichte, die von Liebe, Trauer und Schweigen, von Akzeptanz und Treue handelt. SURPRISE 351/15

Übel und komisch sei ihr gewesen. Schweissausbrüche, Magenkrämpfe und Schwindel wechselten sich ab. 35 Jahre alt war Katharina damals, 1998. Die Ärzte sagten ihr, es sei alles in Ordnung. « ‹Wechseljahre›, sagte der eine Arzt, ein anderer meinte, ich sei wohl etwas verstopft.» Nach rund einem Monat fühlte sie sich nicht besser und ging zur Untersuchung zum Frauenarzt. «Dort wurde mir mitgeteilt, dass ich schwanger sei. Das war eine grosse Überraschung, damit hatte ich nicht gerechnet.» Der Mann jedoch, den sie liebte, wollte das nicht glauben. Das könne nicht sein, er sei bestimmt nicht der Vater. Katharina erzählt, dass sie ihn danach nie mehr gesehen habe. Zwei Wochen darauf rief der Arzt an, Katharina solle nach Bern kommen, es sei dringend. «Ich war verunsichert, hatte Angst, dass etwas

mit dem Kind nicht stimmt.» Der Arzt empfing Katharina in seiner Praxis, meinte zur Assistentin, es könne etwas länger dauern. Er schloss die Tür hinter sich und sagte ihr dann: «Es tut mir sehr leid, Ihnen das sagen zu müssen. Ihr Blut wurde getestet, Sie sind HIV-positiv.» Katharinas Welt geriet ins Wanken, drohte zusammenzubrechen. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf: Wie geht es dem Kind? Wie soll alles weitergehen, alleine und krank? Was mache ich nun? Wo ist wohl der Mann, und weiss er, dass er auch betroffen ist? Wem sage ich es? Will ich überhaupt noch leben? Oft lieber geschwiegen Zuhause angekommen dachte sie daran, aus dem Fenster zu springen. Einfach springen, dann wäre alles vorbei. Eine ihrer fünf

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Schwestern rief an. «Sie hat gleich gemerkt, dass etwas los ist, und fuhr mit ihrem Mann und unseren Eltern sofort zu mir. Diesen Rückhalt spüre ich bis heute, dafür bin ich sehr dankbar.» Ihr Sohn wuchs während der ersten zwei Jahre bei ihren Eltern auf. Danach sorgte Katharina selber für ihr Kind, als alleinerziehende, berufstätige Frau, unterstützt von ihrem persönlichen Umfeld. Katharinas Verhältnis zu ihren Schwestern, ihrem Bruder und den Eltern ist bis heute ein gefestigtes. Mit den Schwestern mache sie hie und da Ausflüge, Wanderungen oder Spielabende. Wichtig ist ihr das gemütliche Beisammensein. Katharinas Sohn ist heute 15 Jahre alt, es geht ihm gut. Er will Bauzeichner lernen und macht fleissig Hausaufgaben. Ihr Sohn kam ohne HIV-Infektion zur Welt. «Ich musste in der Schwangerschaft täglich Medikamente schlucken, um die Viren zu unterdrücken. Mein Sohn kam per Kaiserschnitt zur Welt, wegen der Ansteckungsgefahr. Ihm wurden während der ersten Lebenswochen ebenfalls starke Medikamente verabreicht, ich durfte ihn auch nicht stillen.» Damals wurde im Spital sogar ihre Bettwäsche separat gewaschen. Manche Ärzte waren wenig vertraut mit dem Thema und hätten mit dürftigen Informationen besonders ihre Eltern stark verunsichert. Katharina fühlte sich in solchen Momenten wie

eine Aussätzige. Dass sie HIV-positiv ist, wussten lange Zeit nur sehr wenige Menschen. «Ich habe immer gespürt, wem ich meine Krankheit anvertrauen wollte und wem lieber nicht. Das spürt man ganz deutlich. In ganz vielen Fällen habe ich lieber geschwiegen.» Zu oft habe sie mitbekommen, wie Menschen andere leichtfertig verurteilen, abstempeln, diskriminieren. «Dabei weiss man ja nie, welche Geschichte ein Mensch hat und welches Schicksal er mit sich herumträgt.» Am Arbeitsplatz wussten ihre Vorgesetzten und einige wenige Arbeitskollegen von Katharinas Diagnose. Die Arbeit war ohnehin ein Rettungsanker und eine willkommene Ablenkung von den einsamen, traurigen Momenten in der Nacht. Denn schlafen, das konnte sie nicht mehr so gut. Und so ging Katharina lange Zeit sehr gerne zur Arbeit, nahm die ihr übertragene Verantwortung gewissenhaft wahr. Sie sagt: «Ich war ein Workaholic.» In der Freizeit widmete die junge Mutter all ihre Kraft und Zeit ihrem kleinen Buben. «Wir haben ganz viel unternommen, waren oft draussen und machten viele Ausflüge. Ich habe einfach funktioniert, ich musste, und das war auch gut so.» Doch irgendwann, vor ein paar Jahren, war Schluss. Bei der Arbeit geschah etwas, an das sie nicht mehr erinnert werden und das sie

deshalb auch nicht publik machen möchte. Katharina fühlte sich nicht mehr willkommen, nicht mehr wohl, und ihr Alltag nahm eine Wende. «Ich war plötzlich wie ausgebrannt, war oft müde, sehr müde. Bis heute hält das an. Gefühle, ob gute oder schlechte, habe ich keine mehr.» Katharina sagt, sie verspüre weder Freude noch Trauer, das sei ihr irgendwo auf ihrem Weg abhandengekommen. Trotzdem ist ihr Gesichtsausdruck ein weicher, herzlicher. Ihre Gegenwart ist sehr angenehm und ihr Lachen scheint von tief innen zu kommen. Katharina traf auf Menschen, die ihr geholfen haben, mit der Diagnose und den Hürden im Alltag umzugehen. «Was mir besonders gut tut, ist, wenn ich meine Geschichte erzählen kann. Deshalb mache ich beim Projekt ‹Positiv sprechen› der Aids-Hilfe Bern mit, bei dem betroffene Menschen im persönlichen Kontakt vor allem mit Schulklassen von ihrer Situation erzählen. Mein Sohn kam auch einmal mit, auch er hat die Fragen der Schülerinnen und Schüler beantwortet und meinte danach, Mami, das war jetzt ein schöner Abend.» Das Akzeptieren der eigenen Geschichte sei ein ganz wesentlicher Schritt zu etwas mehr Ruhe und Frieden. «Das ist mein Schicksal, das ist mein Leben. Ich lerne damit umzugehen.» ■

Köbis Geschichte «Als ich mit 26 Jahren erfahren habe, dass ich HIV-positiv bin, stellte ich mich innerlich auf den Tod ein», sagt Köbi* ruhig. Denn damals, Mitte der Achtzigerjahre, gab es noch keine Medikamente, die er mit gutem Gefühl hätte nehmen wollen. «Ich stand mit der amerikanischen ‹People with Aids›-, kurz PWA-Bewegung in Kontakt, die an vorderster Front über Aids, AZT und dessen Nebenwirkungen aufgeklärt hat.» Azidothymidin, kurz AZT, wurde in den Sechzigerjahren ursprünglich als Krebsmedikament entwickelt. 1985 hatte ein

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amerikanischer Wissenschaftler festgestellt, dass AZT die Vermehrung von HIV stoppen kann. Die unter dem Handelsnamen Retrovir® vertriebene Substanz war mit rund 10 000 Dollar Behandlungskosten pro Patient und Jahr das bis anhin teuerste verschreibungspflichtige Medikament. Wer diese Therapie antreten wollte, musste einen exakten Zeitplan einhalten: alle vier Stunden eine Tablette. Nebenwirkungen: starkes Erbrechen, Kopf- und Bauchschmerzen, Gleichgewichtsstörungen, Fieberschübe mit Schüttelfrost und Anämie. «Ich

habe mich dieser Therapie verweigert und gleichzeitig auf ein besseres Medikament gehofft», erzählt Köbi. Es sei eine verrückte Zeit gewesen damals, chaotisch, mit 3500 Neuansteckungen in einem Jahr. Viele Betroffene und Ärzte hätten in den Anfängen nach jedem rettenden Strohhalm gegriffen. Schliesslich fand Köbi nach einigen Monaten intensiver Suche endlich einen Arzt, der bereit war, ihn als Patient zu behandeln. «Das Unwissen unter Medizinern war riesig, viele waren hilflos, und die Angst vor HIV und Aids SURPRISE 351/15


war gross.» Nachdem Köbi sich gegen die damals gängige Therapie entschieden hatte, ging es ihm viele Jahre relativ gut. «Ich habe mich in meinen Job gestürzt, der mir sehr viel bedeutete. Mein Umfeld habe ich informiert, habe nichts versteckt, auch nicht meine Homosexualität. Wahrscheinlich würde ich heute etwas weniger breit und grosszügig kommunizieren. Es ist immer noch ein heikles Thema, und man hat das Messer vielleicht eher im Rücken, als man denkt.» Die Existenzberechtigung entzogen Doch 1994 ging es gesundheitlich bergab. Köbi war Mitte 30, als mehr und mehr sichtund spürbare Spuren auftraten. Er war nicht mehr nur HIV-positiv. Er hatte Aids. Es sei eine schlimme Zeit gewesen, ein langer Kampf um sein Leben, das er doch jetzt noch nicht hergeben wollte. Doch er, der sich im Laufe der vergangenen Jahre tief in die medizinische Thematik und Forschung rund um HIV und Aids eingearbeitet und ein grosses Fachwissen angeeignet hatte, wartete immer noch auf die richtige Therapie. «Die Krankheit hat mir meine Existenzberechtigung entzogen. Ich habe mir in dieser Zeit geschworen, dieses Übel aus der Welt zu schaffen.» Im letzten Moment, als sein Körper bereits andere begleitende Krankheiten entwickelt hatte und die Kräfte zusehends schwanden, wurde die lang erwartete Dreifach-Therapie zugelassen – eine Tablette mit drei verschiedenen Wirkstoffen, die man in der Regel einmal pro Tag einnimmt. «Es grenzt an ein Wunder, dass ich heute hier sitzen kann», sagt der gross gewachsene, kräftige Mann. Und in seiner sonoren Stimme schwingen sowohl Dankbarkeit als auch Erstaunen mit. Köbi sprach gut auf die neue Therapie an. Seine Viruslast – das heisst die Menge der Viren im Blut – sank schon nach wenigen Wochen auf 5000/ml. Zum Vergleich: Bei Menschen mit HIV, die keine Medikamente einnehmen, gilt eine Viruslast von unter 10 000 als niedrig. Grundsätzlich verfolgt die HIV-Therapie damals wie heute das Ziel, die Viruslast so weit zu reduzieren, dass das Virus nicht mehr nachweisbar ist. Das ist der Fall, wenn die Viruslast unter 20 bis 50 Viruskopien pro Milliliter Blut sinkt. «Langsam, langsam konnte ich meine Kräfte wieder aufbauen. Körper und Geist konnten sich erholen. Doch die letzte Meile dauerte lange und war hart, ich war erst nach drei Jahren wieder sehr beschränkt arbeitsfähig. In meinen früheren Job jedoch konnte ich nicht mehr einsteigen.» Bis 2008 kämpfte Köbi mit schweren Nebenwirkungen, trotz der inzwischen verbesserten Dreifach-Therapie. «Ich muss was tun» sei einer der wichtigsten Impulse gewesen während all der Zeit. Als es dem heutigen Mittfünfziger körperlich und psychisch besser ging, verschaffte er sich eine SURPRISE 351/15

Arbeit mit passenden Rahmenbedingungen. Und was läge da näher als ein Engagement im Bereich der Patientenrechte, der Arzt-Patienten-Zusammenarbeit und -Kommunikation und der Forschung rund um das Thema HIV? «Ich habe all die Jahre sehr viel wissenschaftliches Material über HIV gelesen, bin von Kongress zu Kongress gereist, lernte wichtige Menschen auf diesem Gebiet kennen und vertiefte mein Wissen darüber.» Seine Erkenntnisse, sein Fachwissen und die eigenen Erfahrungen teilt er sowohl mit Gesundheitsbehörden, der Ärzteschaft als auch mit betroffenen Menschen. «Kann die Adhärenz, also die Therapietreue, sichergestellt werden, so haben HIV-positive Menschen eine sehr hohe Lebensqualität. Das bedingt aber, dass die Medikamente täglich zur gleichen Zeit eingenommen werden. Das ist gar nicht so einfach. Doch nur dann ist die Viruslast im Blut zu gering für eine Ansteckung.» So ist es heute möglich, dass ein HIV-positiver Mann mit einer HIV-negativen Frau Kinder zeugen kann, die gesund zur Welt kommen. Gesellschaft hinkt der Medizin hinterher Köbi hat sich nach vielen Jahren eines inneren und äusseren Kampfes gegen HIV und Aids seinen Platz im Leben regelrecht zurückerobert. Er wirkt gelassen und zufrieden. Mit dem 2008 veröffentlichten Statement der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF), dass eine erfolgreiche Therapie auch präventiv wirke, sei den Betroffenen eine riesige Last von den Schultern gefallen. Es war ein wichtiger Meilenstein. Mitte der Neunzigerjahre kamen die ersten richtig wirksamen Therapien auf den Markt, der Fortschritt seit den Anfängen von Aids ist riesig. Die einst relativ schnell zum Tod führende Infektion ist heute zu einer behandelbaren, wenn auch schweren chronischen Krankheit geworden. Die gesellschaftliche Akzeptanz dagegen hinkt den medizinischen Tatsachen hinterher: Die Angst von Betroffenen vor dem Stigma ist nach wie vor gross, arbeitsrechtliche Diskriminierungen sind häufig und auf Gesetzesebene sind Benachteiligungen nach wie vor vorhanden. Solche Themen beschäftigen Köbi. «Kürzlich sind Forschungen in Paris und London abgebrochen worden, weil sie unerwartet erfolgreich waren», sagt er. «Einer Risikogruppe von Menschen, die ein äusserst reges Partyleben mit überdurchschnittlich häufig wechselnden Sexualpartnern ohne Schutz führen, wurde das HIV-Medikament Truvada präventiv verabreicht. Damit sind sie sozusagen immun gegenüber einer HIV-Ansteckung.» Es sind Forschungen, die heikel zu kommunizieren sind, weil sie mit moralischen Vorstellungen kollidieren können und gleichzeitig die nötige Selbstverantwortung nicht infrage stellen dürfen. «Wir müssen begreifen, dass richtige Prä-

vention komplexer geworden ist», meint Köbi. «Ein Zaubermittel gibt es nicht. Es braucht den Einsatz vieler verschiedener Strategien, die offen diskutiert werden sollten.» Er, der so genau weiss, wovon er spricht, hat dem Virus auf allen Ebenen den Kampf angesagt. ■ * Name geändert

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Bolivien Gegen das Monster Mit Geld ist alles möglich, ohne ist es die Hölle: Wer in Bolivien im Gefängnis landet, muss schmieren, um zu überleben oder um rauszukommen – ein System mit vielen Profiteuren. Der Mann, der an vorderster Front dagegen kämpft, hat schon als Kind in diese Abgründe geblickt. VON TIMO KOLLBRUNNER (TEXT UND BILDER)

Der Mann, der die Mission hat, die Gefängnisse Boliviens zu reformieren, wird das schlimmste Weihnachtsfest seines Lebens nie vergessen. Sieben Jahre war Ramiro Llanos damals alt, und zusammen mit seinen beiden älteren Brüdern und ihrer Mutter Maria sass er auf einer Bank auf der Plaza Murillo in Boliviens Hauptstadt La Paz, an Heiligabend 1971. Gleich würde er kommen, der Vater. Die Mutter hatte bezahlt, damit ihr Mann aus dem Gefängnis freigelassen würde und die Familie Weihnachten zusammen verbringen könnte. Die Knaben waren stolz auf das Pinienbäumchen, das sie zuhause aufgestellt und dekoriert hatten. Da kam ein Jeep angefahren. Und tatsächlich, im Auto sass Julio, der Vater, zusammen mit dem Gefängnisdirektor. Dann aber beugte sich ein Staatsangestellter, der neben dem Bänkchen gewartet hatte, zur Mutter hinunter. «Das ist das letzte Mal, dass du deinen Mann siehst», sagte er. Der Jeep fuhr davon. Zuhause warfen die Buben das Pinienbäumchen aus dem Fenster auf die Strasse. Es waren traurige Weihnachten, aber noch schlimmer hat Ramiro die Tage in Erinnerung, die folgten. Frühmorgens ging er mit seiner Mutter jeweils zuerst zum Leichenschauhaus. Erleichtert, Julio dort nicht zu finden, gingen sie weiter zum Gefängnis. Aber auch dort war er nicht. Nein, Julio Llanos war eingesperrt in einem Keller irgendwo in La Paz. Er wurde nackt in einen nassen Raum gesteckt, wo ihm Wasser auf den Kopf tropfte, Stunde für Stunde, Tag und Nacht. Und einmal, als er sich immer noch weigerte, zu reden, hackte ihm einer der Männer mit dem Bajonett den linken Mittelfinger ab. Nur das unterste Gelenk blieb an der Hand. Nach ein paar Wochen kam er frei und tauchte noch vor seinem Prozess unter. Wieder einmal, wie so oft in den Jahren zuvor. SURPRISE 351/15

1964, wenige Monate nach Ramiros Geburt, verliess Julio seine Familie zum ersten Mal. Er war Minenarbeiter in Colquiri gewesen, gut 200 Kilometer entfernt von La Paz. Zwölf Jahre zuvor hatte in Bolivien eine anti-imperialistische Allianz aus Minenarbeitern, Bauern und intellektuellen Unterstützern das Militär gestürzt und dann grosse Teile der Streitkräfte aufgelöst. Bauern und Minenarbeiter hatten sich bewaffnete Milizen geschaffen. Die Zinnminen waren verstaatlicht worden, die Macht der Gewerkschaften war gewachsen, und Julio war mittendrin. Als junger Mann war er in die kommunistische Jugend eingetreten, später wurde er zum Gewerkschaftsführer seiner Mine gewählt. Der Beginn des anderen Lebens Dann, 1964, putschte sich René Barrientos an die Macht – und schickte sich an, die bolivianischen Minen für ausländische Investoren zu öffnen. Er begann, die mächtige Gewerkschaft der Mineure zu zerschlagen, entwaffnete die Milizen, verfolgte die kommunistisch eingestellten Gewerkschaftsführer. «1964 begann das andere Leben», sagt Julio Llanos heute. 18 Jahre dauerte dieses Leben, 18 Jahre wechselnder Militärregimes in Bolivien. Gemäss Amnesty International wurden in dieser Zeit 200 Menschen vom Staat exekutiert, über 5000 willkürlich verhaftet und etwa 20 000 deportiert oder ins Exil gezwungen. So auch Julio. Er erfuhr vom Betreiber der Mine, dass er auf einer Todesliste stand, und flüchtete nach China, wo er eineinhalb Jahre lebte, ohne auch nur einmal ein Zeichen von seiner Familie erhalten zu haben oder sie von ihm. Als er zurückkam, ging er mit Frau und Söhnen nach La Paz, wo Maria fortan versuchte, sie mit selbstgemachten Broten und Suppen durchzubringen. Vater Julio war meist nicht da: Er versteckte sich vor dem Re-

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Mauern. Sie organisierten sich Fernseher, Alkohol, Waffen, Prostituiergime, übernachtete stets andernorts und wurde wiederholt verhaftet, te. Die Polizei bewacht das Eingangstor, soll beteiligt sein am Schmugüber Jahre hinweg. Einmal wollte Julio seine Familie nach zwei Monagel. Drinnen ist sie abwesend. Hier obliegt die Kontrolle über das Zuten im Versteckten endlich wieder sehen. Doch jemand muss ihn verrasammenleben der Disciplina – einer Organisation von Gefangenen. Es ten haben. Als er zuhause war, wurde das Haus umstellt. Julio steckte gilt die Regel: Wer am längsten im Gefängnis ist, hat am meisten zu saseine Pistole, die er mit sich trug, seinem ältesten Sohn Juan Carlos zu, gen. Das heisst: Die Brutalsten machen das Gesetz. Die Trentones, jene, damit die Polizisten sie nicht finden würden. Die drei Knaben, Ramiro, die Strafen von 30 Jahren und mehr absitzen, die Mörder und VergeJulio Cesar und Juan Carlos, sahen weinend zu, wie ihr Vater in ein waltiger, regieren über all die Untersuchungshäftlinge, die ein Handy geFahrzeug gepfercht wurde. Auf der Hose von Juan Carlos, unter der die stohlen haben oder mit ein paar Gramm Gras erwischt wurden. Wer Pistole steckte, wurde ein dunkler Fleck langsam grösser. nach Palmasola kommt, müsse als Erstes schauen, so rasch wie möglich Juan Carlos hat noch bis in seine Zwanziger jede Nacht das Bett geGeld aufzutreiben, damit er nicht von Mithäftlingen gefoltert werde, ernässt. Heute lebt er in Spanien, nach Bolivien will er nie wieder zurückzählen die Inhaftierten. Um die 1000 Dollar verlange die Disciplina fürs kehren. Der Mittlere, Julio Cesar, zog in die USA. Ramiro aber, der Jüngste, hat einen anderen Weg gewählt. Er, der als Knabe oft seinen Vater im Gefängnis besuchte, Um die Pendenzen abzutragen, müssten alle Richter des Landes 300 auch bei ihm übernachtete und miterlebte, Fälle pro Tag aburteilen. Das wird schon deshalb nicht geschehen, weil unter welch prekären Bedingungen die Inhafsich viele nur gegen Bezahlung an die Arbeit machen. tierten lebten, hat sich eine Mission zum Lebensziel gemacht: die bolivianischen Gefäng«derecho al piso» – also für das Recht, überhaupt im Gefängnis zu sein. nisse zu verändern. Er doktorierte in Rechtswissenschaften, und heute, Ein Schutzgeld, um nicht behelligt zu werden. Doch einen Schlafplatz mit 50 Jahren, ist Ramiro Llanos der unumstrittene Gefängnisexperte Bohat man damit noch nicht. Den muss man zusätzlich mieten. Weil sich liviens. Zweimal war er Direktor des bolivianischen Strafvollzugs. Seine viele Familien daneben nicht auch noch eine Wohnung ausserhalb der Vision: In Bolivien soll es eines Tages Gefängnisse geben, in denen die Mauern leisten können, ziehen Frau und Kinder oft zu den inhaftierten Insassen auf ein besseres Leben nach der Haft vorbereitet werden. Männern ins Gefängnis. Eine funktionierende Trennung nach Schwere des Deliktes gibt es ebenso wenig wie eine nach Alter. Alle leben hier Plutokratie der Verbrecher zusammen: Ehefrauen neben Frauenmördern, Kinder neben PädokrimiUm zu verstehen, was Ramiro Llanos vorhat, muss man sich ein Bild nellen, in einer von Schwerverbrechern orchestrierten Plutokratie. Mit machen von den abstrusen Realitäten in den bolivianischen GefängnisGeld ist alles möglich, ohne Geld ist es die Hölle. Und Gewalt ist allgesen. Man kann das mit Zahlen versuchen: In den Haftanstalten des Langenwärtig. Immer wieder kommen in bolivianischen Anstalten Insassen des, in denen es insgesamt Platz gibt für 4884 Insassen, sind derzeit fast ums Leben. Im August 2013 griff hier in Palmasola eine Gruppe von 15 000 Menschen eingesperrt. 81 Prozent von ihnen sind nicht verurteilt, Häftlingen einen anderen Pavillon an, mit brennenden Gasflaschen setzsondern Untersuchungshäftlinge – die höchste Quote in ganz Südameten sie die Zellen in Brand, es ging um die Vorherrschaft im Sektor, darika. Manche sind seit fünf, sechs Jahren hinter Gittern, länger als die rum, wer die Schutzgelder eintreiben darf. 35 Personen kamen gemäss Höchststrafe für das Delikt betragen würde, das sie womöglich gar nicht Medienberichten ums Leben. Ramiro Llanos sagt dazu: «Es heisst, Bolibegangen haben. Die Ursache liegt im immensen Rückstand der Justiz. vien habe die Todesstrafe abgeschafft. Aber es gibt sie nach wie vor, in Ende 2013 waren in Bolivien gemäss dem Defensor del Pueblo, einem den Gefängnissen.» Ombudsmann, der das bolivianische Volk gegenüber dem Staat vertritt, über 300 000 Gerichtsfälle pendent. Um diesen Berg innert drei Jahren Gratis gibt es kaum etwas abzutragen, müssten die weniger als 900 Richter des Landes 300 Fälle Nicht nur in Palmasola gilt offenbar: Nicht die Schwere des – möglipro Tag aburteilen. Das wird schon deshalb nicht geschehen, weil sich cherweise – begangenen Delikts oder die Gefährlichkeit eines Delinviele Anwälte, Staatsanwälte und Richter nur gegen Bezahlung an die quenten entscheidet über die Haftbedingungen, sondern in allererster Arbeit machen. Gemäss Transparency International betrachten 76 ProLinie die Dicke des Portemonnaies. Die Häftlinge, mit denen ich spreche, zent der Bolivianer die Justiz als korrupt, gar auf 86 Prozent kommt die die Verteidiger, Ramiro Llanos; alle sagen sie dasselbe: Wer nichts hat, Polizei. «Ich würde sagen, acht von zehn Polizisten, Anwälten und Richbekommt nichts. Juan Perez* ist so ein Fall. Der 33-Jährige will nicht satern sind korrupt», sagt Ramiro Llanos. gen, weshalb er hinter Gittern ist – «nichts Schlimmes», meint er nur. Er Doch Zahlen allein vermögen nicht zu beschreiben, was hinter boliist seit sieben Monaten an einem der wohl schlimmsten Orte Boliviens vianischen Gefängnismauern vor sich geht – zum Beispiel in Palmasola eingesperrt: in El Bote, der Büchse, der engsten Zelle des Gefängnisses in der Stadt Santa Cruz, der grössten Anstalt des Landes, in der über von Montero, einer Stadt im tropischen Tiefland Boliviens. Auch in die5000 Personen eingeschlossen sind. Im Schlepptau von Pflichtverteidise Anstalt haben mich die Pflichtverteidiger mitgenommen. Im einst für gern, die hier wöchentlich ihre Mandanten besuchen, komme ich pro30 Personen gebauten Gefängnis sind 320 Personen eingepfercht, gegen blemlos an den Polizisten vorbei ins Innere, auf ein riesiges, von einer 40 von ihnen in El Bote, die keine zehn Quadratmeter gross ist. Die Mänhohen Mauer umgebenes Gelände. Links, umzäunt, die Abteilung für ner, die meisten sehr jung, sitzen schwitzend am Boden, Schulter an knapp 500 Frauen, die meisten eingesperrt wegen Drogengeschäften. Schulter. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn hier zwei in Streit geUnd dahinter, umgeben von einer eigenen Mauer, die Abteilung vier, die raten. «Geh uns Kaugummi kaufen», sagt Juan Perez bitter durch die Gitgrösste und eigenartigste in Palmasola: ein eigenständiges Dorf mit eiterstäbe hindurch, «damit wir ein paar von uns an die Wand kleben könner Kirche und einem Fussballplatz, mit Läden, Restaurants, Fitnessnen.» Dann hätten sie wenigstens ein bisschen mehr Platz. räumen und Billardtischen, mit einem Dorfplatz, auf dem vornehmlich Die Eingesperrten drängen sich ans Gitter, reden durcheinander, junge Männer in schmuddeligen Kleidern und mit schlecht gestochenen möchten alle gleichzeitig ihr Leid klagen. Sie werden wohl nicht oft geTattoos darauf warten, dass der Tag vorbeigeht. 1988, als in Bolivien das fragt, wie es ihnen geht. Gerade mal 15 Minuten pro Tag dürften sie aus Gesetz gegen den Drogenhandel in Kraft trat, war das Geburtsjahr dieder Büchse raus, um zu pinkeln und sich abzuduschen, sagen sie. Wähses Dorfs. Denn die Drogenhändler, die im Gegensatz zu den meisten rend die anderen Gefangenen zumindest zum Essen ihre Zelle eine früheren Häftlingen Geld hatten, begannen, mit korrupten Polizisten, Stunde verlassen dürfen, werde ihnen die Suppe durch die Gitter gedie den Einlass ins Gefängnis kontrollierten, Handel zu treiben. Sie bereicht. In der Büchse landet man nicht, weil man besonders schwere Destellten Baumaterialien und bauten ihre eigenen Häuser im Innern der

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«Es heisst, Bolivien habe die Todesstrafe abgeschafft. Aber es gibt sie nach wie vor, in den Gefängnissen», sagt Ramiro Llanos.

Gegen 40 Häftlinge sind in El Bote eingepfercht, einer Gefängniszelle, die keine zehn Quadratmeter gross ist. SURPRISE 351/15

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als Direktor des Strafvollzugs zweimal von innen gesehen und musste likte oder einen Verstoss gegen Gefängnisregeln begangen hat, erklären kotzen. Aber ich weiss, wie man es besiegen kann.» die Häftlinge. El Bote ist die Strafe für Armut. Wer ins Gefängnis komLlanos hat Fürsprecher unter den neu gewählten Ministern, die Anme und kein Geld bei sich habe, komme erst mal hier rein – und orgafang Jahr ihre Arbeit aufgenommen haben. Vielleicht, glaubt er, wird er nisiere dann so rasch wie möglich Geld bei Verwandten, um in eine anein drittes Mal auf den Posten berufen. Er würde es wieder tun – aber dere Zelle versetzt zu werden. 150 Dollar koste das etwa. Wer das Geld nicht auftreiben könne, bleibe in El Bote. Gratis gibt es im Gefängnis von Montero gemäss In der Büchse landet man nicht, weil man besonders schwere Delikte den Eingesperrten ein Brot mit Tee am Morgen oder einen Verstoss gegen Gefängnisregeln begangen hat, erklären die und eine Suppe zu Mittag. Das Abendessen Häftlinge. El Bote ist die Strafe für Armut. müssen sie sich kaufen, ebenso wie Medikamente, Zahnbürste, Seife. Besucher haben den nur mit einem präsidialen Dekret. «Bis jetzt wagt Evo Morales nicht, das Polizisten am Tor Eintritt zu bezahlen. Richtig teuer wird es, wenn jeProblem wirklich anzugehen und sich gegen jene zu stellen, die Milliomand endlich einen Gerichtstermin ausserhalb der Mauern hat, erzähnen mit den Häftlingen verdienen. Der Präsident muss mir einen verlen die Häftlinge. Erst gilt es, die Gefängnissekretärin zu bezahlen, bindlichen Auftrag erteilen. Dann bin ich bereit.» damit sie überhaupt den Computer startet. Steht der Termin, hat der Insasse einen bis zwei Polizisten zu vergüten, damit sie ihn zum Gericht «Auch wenn man es nicht überlebt» begleiten – in einem Auto, das er auf eigene Kosten mieten muss. Und Manchmal, wenn Ramiro Llanos ein paar Minuten Zeit hat, geht er dann sollte er sicherheitshalber dem Staatsanwalt und dem Richter voraus seinem Büro raus und in die Stadt hinunter, zu einem blechernen gängig etwas zukommen lassen – sonst ist die Gefahr gross, dass die gar Pavillon, der gegenüber dem Justizministerium aufgestellt ist. Dort sitzt nicht erst auftauchen. Wer schliesslich freikäme, muss erst das Geld für sein 76 Jahre alter Vater Julio und wartet auf Gerechtigkeit. Jeden Tag sein Entlassungspapier auftreiben. verbringt er hier und die meisten Nächte, gemeinsam mit anderen OpNiemand in Bolivien kritisiert diese korrupte Maschinerie so direkt fern der Militärdiktaturen. wie Ramiro Llanos. «Die Polizisten bezahlen, um in ein Gefängnis verIm vergangenen Herbst wurde Bolivien in den UN-Menschenrechtssetzt zu werden, weil man nirgends mehr verdienen kann als dort», sagt rat gewählt. Rodolfo Calle von der bolivianischen Abgeordnetenkammer er. «Wenn wir die Polizei nicht rausbekommen und durch zivile Wärter kommentierte die Wahl mit den Worten: «Der UNO ist klar geworden, ersetzen, werden wir unsere Gefängnisse nie verbessern können.» dass in Bolivien Demokratie herrscht und die Menschenrechte respektiert werden.» Für Julio und Ramiro Llanos kann das nur wie Hohn klin«Wir müssen Llanos umlegen» gen. Julio will hier in der Baracke bleiben, bis die Regierung sich ernstEs sind solche Sätze, solche Vorhaben, die Ramiro Llanos zwei Mal haft mit den Menschenrechtsverletzungen befasst, die seine Mitstreiter das Amt des Strafvollzugsdirektors gekostet haben. 2006 hatte er das und er in den Jahren der Diktaturen erlitten haben – oder bis er stirbt. Amt als erster Direktor unter Präsident Evo Morales angetreten, ein Jahr Und Ramiro wird weiter gegen die unmenschlichen Zustände in den Gespäter war er es schon wieder los – weil er versucht hatte, ein Gefängfängnissen ankämpfen. Wenn Julio über Ramiro spricht, scheint sein nisreglement in Kraft zu setzen, das die Korruption erschwert hätte. Stolz stärker als seine Angst. «Er ist mein Sohn, er hat neben mir gelitFünf Jahre später berief man ihn erneut auf den Posten. Und 2013 geten», sagt der Vater und drückt sich ein Papiertaschentuch auf die Aulang ihm ein symbolträchtiger Erfolg: Er weihte in Santa Cruz die Jugen. Klar sei er besorgt um Ramiro. «Ich habe gesehen, wie der Staat gendanstalt Cenvicruz ein, das erste bolivianische Gefängnis, in dem Menschen eliminiert hat. Aber manchmal ist es unumgänglich, sich für nicht die Polizei, sondern spezifisch ausgebildete Zivile den Betrieb reeine Sache einzusetzen. Auch wenn man es vielleicht nicht überlebt.» geln. Ein Affront gegenüber der Polizei und ein Signal, das seine WirAn Heiligabend schliesst Julio Llanos gegen Abend die Tür zur Blechkung nicht verfehlte: Drei Tage später war er als Direktor abgesetzt. baracke ab und macht sich auf zur Wohnung von Ramiros Familie. Um Doch Ramiro Llanos macht einfach weiter. Er treibt seine GefängnisreWeihnachten zu feiern. form voran, indem er in hoher Kadenz Bücher schreibt, Studenten ■ unterrichtet, der Regierung in Briefen Ratschläge erteilt. Die Journalisten fragen noch immer ihn, wenn sie wissen möchten, was in den Ge* Name geändert fängnissen des Landes falsch läuft und wie es besser sein könnte. Er möchte Videokameras in den Gefängnissen installieren und Störsender, damit die Häftlinge nicht per Mobiltelefon ihren kriminellen MachenMenschenrechte in Bolivien schaften nachgehen können. Er will die über 1000 Kinder aus den boliIm vergangenen Herbst wurde Bolivien für die nächsten drei Jahre in vianischen Gefängnissen herausholen. Er verlangt ein höheres Salär für den UN-Menschenrechtsrat gewählt. Rodolfo Calle von der bolivianiStaatsanwälte und Richter und im Gegenzug mehr Kontrolle. Er möchte schen Abgeordnetenkammer kommentierte die Wahl mit den Worten: den Strafkatalog revidieren, damit nicht jeder, der eine Cola klaut, gleich «Der UNO ist klar geworden, dass in Bolivien Demokratie herrscht und ins Gefängnis kommt. die Menschenrechte respektiert werden.» Das sehen viele anders. Die Ramiro Llanos legt sich an mit den Polizisten, den Richtern und Organisation Human Rights Watch etwa schreibt in ihrem World ReStaatsanwälten, auch mit den Häftlingen, die vom System profitieren – port 2015: «Die gefährdete Unabhängigkeit der Justiz und Straflosigim Wissen, sich damit mächtige Feinde zu schaffen. Kürzlich erhielt er keit für Gewaltverbrechen und Menschenrechtsverletzungen bleiben abends eine Nachricht auf sein Handy, von einer ihm unbekannten ernsthafte Probleme in Bolivien. Der umfangreiche und willkürliche Nummer: «Schlaf bequem auf deinem Kissen, bald wirst du auf einem Einsatz von Untersuchungshaft und die verzögerten Verfahren unterSteinkissen schlafen.» Einmal vertraute ihm ein Polizist an, seine graben die Rechte der Angeklagten und tragen zur Überbelegung Dienstkollegen seien zum Schluss gekommen: «Wir müssen Llanos umvon Gefängnissen bei.» Auch Amnesty International kritisiert die Zulegen.» Ramiro Llanos hat eine Frau und zwei Mädchen, aber er spricht stände in den Gefängnissen – wie auch den Umgang mit Menschennicht gerne über sie. «Sie sollen mich umlegen, wenn es sein muss», sagt rechtsverletzungen während der Militärdiktaturen: «Opfern von Mener, «aber nicht meine Familie.» Seine Frau wünschte sich, dass er sich schenrechtsverletzungen während der Militärregime wird weiterhin weniger exponiert. Aber das ist keine Option. Es sei seine Verpflichtung, Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung verweigert.» Das sei die Gefängnisrevolution voranzutreiben, sagt er. «Ich habe das Monster «nicht zu rechtfertigen», so Amnesty International. (tik)

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BILD: PAUL DUGDALE

Prodigy «Soundtrack für die Konfrontation» Band-Zwist ist Programm und der Tag ihr Feind: Soundtüftler Liam Howlett und Sänger und MC Maxim von The Prodigy sagen, wieso. Und erklären, wie das Basler Drum Corps Top Secret auf ihr neues Album kam.

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INTERVIEW VON HANSPETER KÜNZLER

te mich. Und es steckte plötzlich ein ganz anderes Gefühl in der Musik. In der Nacht passieren unartige Dinge!

Vor 25 Jahren veröffentlichte der Studiobastler Liam Howlett seine Hättest du nicht einfach in ein Studio gehen können, das keine Fenerste Single unter dem Namen The Prodigy. Howlett war in der Grafster hat? schaft Essex im Osten von London aufgewachsen, einer Hochburg der Liam: Es ist eine psychologische Sache. Am Tag sind zu viele Leute da. rauschenden, von Ecstasy getriebenen Rave- und Warehouse-Party-SzeZu viele Ablenkungen. Man ist schneller ausgelaugt. Nachts herrscht eine der späten Achtzigerjahre. Schon mit der ersten Single «Charly» ne andere Stimmung. Es ergab auch Sinn – in meinen Augen war Probrachte er den munteren und hochoktanigen Zeitgeist so geschickt auf digy-Musik schon immer Nacht-Musik. Wir treten ja meistens in der den Punkt, dass diese in den vordersten Rängen der britischen PopNacht auf! Drei Monate lang haben wir unsere Körperuhr umgestellt. Charts landete. Mit den Tänzern, Rappern und Sängern Keith Flint, MaFür mein Gefühl war es eine einzige Party. Vielleicht ist es die Müdigxim und Lee Thornhill an seiner Seite lieferte Howlett fortan einen laukeit, jedenfalls gefällt mir das leicht eigenartige Gefühl, das sich in den fenden musikalischen Kommentar zu den Geschehnissen in der Szene. frühen Morgenstunden einstellt und die Gedanken irgendwie andere Wo die Band am Anfang noch eine unbeschwerte, aus Reggae, SynthiWege gehen lässt. Pop und House zusammengesetzte Tanzmusik kredenzte, wurde sie in dem Masse lauter, rockiger und aggressiver, wie das britische EstablishWie hat die Arbeitsweise den anderen beiden Bandmitgliedern gement die Rave-Szene als Bedrohung empfand und niederzuringen verfallen? suchte. Das erste Album «Experience» mit der Single «Out of Space» erLiam: Keith ärgerte sich schon ziemlich stark. Bei ihm muss immer etschien 1992, als die Obrigkeiten mit brachialer Gewalt die 30 000 Besuwas laufen. Immer wieder fragte er, ob die Songs nun endlich fertig cher des Free Festivals von Castlemorton auseinandertrieben. Der nächseien, die er längst eingesungen hatte, und immer wieder bekam er die ste Wurf, das wegweisende «Music for a Jilted Generation», folgte 1994 Antwort: Ich arbeite nun an etwas anderem. Es gab Spannungen, Streit. – in dem Jahr, als in Grossbritannien strenge Gesetze eingeführt wurEin steiniger Weg. den, die illegale Raves verhindern sollten. «Fat of the Land» schliesslich erschien 1997 und fasste den Zorn über die Kommerzialisierung und damit das Ende der «Die elektronische Musik ist von der Pop-Welt entführt worden. Es Bewegung in eine beinharte, neue Art von ist bloss fair, dass man auch die andere Seite, unsere Seite, zu hören Techno. Dieser schlug einen direkten Bogen bekommt.» zur Hardcore-Punk-Szene und verhalf der Band auch in den USA zum grossen DurchWenn ich mich recht erinnere, war das noch bei jedem Prodigy-Albruch. Seither hat The Prodigy mit Thornhill ein Mitglied verloren und bum so, oder? drei weitere Alben herausgebracht, zuletzt im März «The Day is My EneMaxim: Stimmt. Der steinige Weg gehört zur Methode. Ein Album, das in my». Alle haben sie in ihrer britischen Heimat die Spitze der Hitparade friedlicher Eintracht entstünde, wäre kein authentisches Prodigy-Album. erstürmt. Bei Mineralwasser und frischen Früchten erklären Liam Howlett und Maxim in einem Londoner Hotel, wo The Prodigy heute stehen. Handelte es sich bei den Steinen im Weg um die klassischen unterschiedlichen künstlerischen Meinungen? Liam und Maxim, wir befinden uns mitten im Quartier Soho. Früher Liam: Ganz und gar nicht! Die Jungs haben in der Hinsicht volles Verwimmelte es hier von Plattenläden … trauen in mich, und das ist cool. Es ist auch sehr schön, wenn am Ende Liam Howlett: Und wie! Ich habe viel Zeit hier verbracht, um Platten zu wieder alles ins Lot kommt und die Freundschaft zurückkehrt. Die Steisuchen, die ich samplen konnte. Das war echt cool. ne hatten mit der Unberechenbarkeit der Kreativität zu tun. Ich habe keinerlei Kontrolle darüber, wie und wann die Einfälle entstehen. Wenn Diese Zeiten sind vorbei. Wo kriegst du heute deine Samples her? die Welle kommt, gibt es nur eines – aufspringen und mitreiten. Das Liam: Auf dem neuen Album hat’s praktisch keine. Wir hatten einfach Warten kann den anderen allerdings auf die Nerven gehen. mal Lust darauf, ohne Samples zu arbeiten. Darum wohl ist es auch am ehesten von all unseren Platten ein richtiges Band-Album geworden. Die Nachtarbeit ist kaum besonders gut fürs Gesellschaftsleben, Vieles wurde im Studio live aufgenommen. oder? Liam: Na ja, inzwischen ist zum Glück wieder die Normalität eingeDafür tauchen einige Gäste auf, zum Beispiel gleich auf dem Titelkehrt. Ich hatte jeweils gerade noch genug Energie, meinen Sohn von stück die surreal gedrillten Trommler des Top Secret Drum Corps aus der Schule abzuholen und meine Frau zu begrüssen. Aber wir haben alBasel. Wie bist du auf sie gestossen? le gute Familien, die uns Rückhalt geben. Es ist nicht leicht, eine FamiLiam: Beim Surfen im Internet. Ich war auf der Suche nach Trommlern lie zu führen und Mitglied von The Prodigy zu sein. Aber meine Frau und landete immer wieder bei ihnen. Solche Ensemble-Präzision gibt bringt viel Verständnis auf. Sie war ja auch mal in einer Band und weiss, es sonst nirgends. Mir gefiel auch, dass sie aus der Schweiz kommen. wie das so läuft. Sie versteht den Vibe. Sowieso vermeiden wir es, länMit Trommlern aus England in diesem militärischen Stil hätte das ger als drei Wochen auf Tournee zu gehen. Ich will nicht verpassen, wie Stück einen patriotischen Unterton gekriegt, den wir nicht haben meine Kids aufwachsen. wollten. Maxim: Wir könnten gar nicht länger auf Tournee gehen. Wie gehen bei jeder Show aufs Ganze. 100 Prozent, jedes Mal. Schonung gibt’s nicht. «The Day is My Enemy» heisst das neue Album – «Der Tag ist mein Feind». Wast hast du nur gegen das schöne Tageslicht? Das letzte Prodigy-Album «Invaders Must Die» erschien nach einer Liam: Die meisten Songs auf dem Album lagen schon seit einer Weile langen Schaffenspause. Das Album davor hatte enttäuschende Reakherum, seit Ende 2013, anfangs 2014. Aber es fehlte ihnen die Intensität. tionen ausgelöst. War der Erfolg von «Invaders» eine Art freudige Ich tüftelte und flickte, monatelang, aber zufrieden war ich nicht. Dann Überraschung? kam ich auf die Idee, die Arbeit in die Nacht zu verlegen. Ich ging um Liam: Wir erwarten nie etwas. Für uns besteht der Erfolg darin, dass wir sechs Uhr abends ins Studio und blieb bis morgens um vier oder fünf weiterhin für Gigs verpflichtet werden. Das ist unser Gradmesser für die Uhr dort. Dadurch änderte sich alles. Kein Telefon und keine E-Mail stör-

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Qualität unserer Alben. Wir wissen, dass unsere Fans das neue Album aufregend finden werden. Etwas anderes interessiert uns nicht.

anderes sind als iPod- und USB-Stick-Operateure. Ich dachte mir, dieses Thema würde sich recht gut für einen richtig bösen Song eignen. Der Vibe passte gut zum Vibe von Sleaford Mods. Sie klingen ganz anders als wir, aber es hat ja keinen Zweck, Gäste einzuladen, die nochmal dasselbe machen! Das Stück ist toll herausgekommen. Ein freches Augenzwinkern und gleichzeitig ein mächtiger Kick in den Hintern, know what I mean!

Eure Musik ist oft nahezu gewalttätig im Klang. Ist diese musikalische Aggressivität sowas wie die andere Seite von eurer friedlichen Alltagserscheinung? Maxim: Wir sind Energie-Lieferanten. Darin besteht die Funktion unserer Musik. Liam: Der Sound mag gewalttätig wirken, aber «Seit the Clash hat’s kaum richtig gute Songs mit politischem Inhalt es ist eine positive Energie, die wir verbreiten. gegeben. Das Verlangen nach Eskapismus hat für viel aufregendere Wir sind völlig normale Menschen. Dieser FaMusik gesorgt.» me-Zirkus hat uns nie interessiert. Er hat uns nichts zu bieten. Wir sind stolz darauf, dass Wo steckt eigentlich Keith Flint heute? wir immer zu unseren Prinzipien gehalten haben. Darum sind wir imLiam: Der ist irgendwo unterwegs. Das Stillsitzen liegt ihm nicht. mer bei Indie-Labels unter Vertrag gewesen. Wir sassen am Steuer und niemand sonst. Ich habe gehört, er habe ein Pub gekauft. Liam: Stimmt! Mitten in Essex, in der Nähe von Chelmsford. Pleshey Immer wieder beginnen neue Bewegungen mit einer anarchistiheisst der Ort glaube ich. Wir waren alle kurz vor Weihnachten mal schen Art von Übermut, und immer wieder versickert die Energie im dort. Eine richtig gute Kneipe! Typisch Keith. Bei allem, was er angeht, Sand. Steckt im neuen Album auch ein bisschen Zorn über den stimmt jedes kleinste Detail. Als er ankündigte, er wolle ein Pub überschrillen und doch so passiven Zeitgeist von heute? nehmen, sind wir alle innerlich erschrocken. Oh nein, keine gute Idee! Liam: Unsere Musik ist immer eine Reaktion auf das, was in unserer Aber er hat uns überrascht. Der Typ ist verrückt. Wenn er keine AufgaUmgebung geschieht. Die elektronische Musik ist von der Pop-Welt entbe hat, dreht er durch. Nachdem er all seine Gesangparts fürs neue Alführt worden. Es ist bloss fair, dass man auch die andere Seite, unsere bum eingesungen hatte, hatte er monatelang nichts mehr zu tun. Die Seite, zu hören bekommt. Yin und Yang. Wir haben es immer als unseKneipe hat ihm geholfen, sich zu beschäftigen. Er ist spezialisiert auf ren Job verstanden, den Soundtrack für eine Konfrontation zu liefern. ausgefallene Ale-Biere. Aus irgendwelchen Gründen ist dieser Soundtrack diesmal noch härter ■ geworden. Wir wissen nicht warum. Wir wollen es auch nicht wissen. Es war eine ganz natürliche Entwicklung. Wir analysieren unsere Handlungen nur so weit, wie sie den natürlichen Fluss unserer Einfälle nicht stören. Was wäre geschehen, wenn Ed Miliband oder David Cameron auf die Parlamentswahlen hin ein Stück von euch als Wahlkampf-Song eingesetzt hätte? Liam: Wir hätten es verhindert! Da gibt es doch immerhin gewisse Kontrollmechanismen. Denn wir sind keine politische Band. Wir verstehen unsere Musik eher als ein gesellschaftliches Werkzeug. Sie ermöglicht einen gewissen Eskapismus. Maxim: Genau! Unsere Musik erlaubt genau das Gegenteil, nämlich die Flucht vor der Politik. Egal woher du kommst, wie du aussiehst, wer du bist – an unseren Shows kannst du all den Bullshit loswerden. Hat Musik in euren Augen keine politische Kraft? Liam: Ich finde Politik in der Musik einfach schrecklich langweilig. Seit The Clash hat’s kaum richtig gute Songs mit politischem Inhalt gegeben. Das Verlangen nach Eskapismus hat über die Jahre hinweg für viel aufregendere Musik gesorgt. Public Enemy waren eine tolle politische Band. Rage Against the Machine ebenfalls. Aber auch bei ihnen habe ich immer eher die unpolitischen Elemente in der Musik geschätzt: die Direktheit der Melodien, die Stimme von Chuck D., die Stimme von Zak. Es ist nicht nötig, mit allem einverstanden zu sein, was sie singen, um die Musik zu geniessen und Energie daraus zu ziehen. Trotzdem tauchen auf dem neuen Album auch die Sleaford Mods als Gäste auf, ein Duo mittleren Alters aus Nottingham, das mit klapprigen Elektro-Beats und superbösen Raps besonders bei politisch interessierten Musikfans mächtig Aufsehen erregt hat. Wie kam es zu der Zusammenarbeit? Liam: Wir kennen sie schon eine ganze Weile. Eigentlich hatten wir ja gar nicht geplant, Gäste einzuladen. Aber dann kam ich aus Ibiza zurück und war richtig wütend auf all diese Typen, die sich DJs nennen, sogar als Stars gehandelt werden, die aber im Grunde genommen nichts SURPRISE 351/15

The Prodigy: «The Day Is My Enemy» (Take Me To The Hospital/Cooking Vinyl). Das Album ist Ende März erschienen.

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Grosswildjäger In modernen Zoos sind die Tiere nicht mehr in Käfigen gehalten, die Zeit von Rilkes Panther hinter den Gitterstäben ist zum Glück abgelaufen. Die Gehege sind mehr oder weniger naturnah gestaltet, die Tiere haben freien Auslauf. Das führt dazu, dass die Besucher gefordert sind, die Tiere müssen entdeckt werden, manchmal verstecken sie sich oder können nur von einer der zahlreichen Plattformen, von denen das Gehege eingesehen werden kann, beobachtet werden. Zu besonderem Gedränge führt das naturgemäss bei den beliebten Raubtieren, vor allem wenn es, wie im Zürcher Zoo bei den Schneeleoparden, herzige Jungtiere zu sehen gibt. Die besten Plätze sind dabei stets von den domestizierten Grosswildjägern besetzt. Nicht jene, die aus sicherer Distanz mit Hochpräzisionswaffen vom Aussterben bedrohte Tiere abknallen und sich dabei als die

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letzten echten Abenteurer fühlen. Nein, die domestizierten Grosswildjäger, die man im Zoo trifft, haben Kameras dabei. Grosse, schwere Apparate mit überdimensionierten Objektiven, wie sie sonst nur noch an Sportveranstaltungen zu sehen sind. Die mächtigen Rohre werden fleissig auf- und abmontiert, entsprechend gross ist der mitgetragene Rucksack, in dem auch noch ein Stativ oder ein Falthocker mitgeführt werden kann. Grosswildjäger brauchen viel Platz und Zeit. Dass sie sich von den anderen Zoobesuchern, insbesondere von Kindern, die zum blossen Vergnügen und ohne greifbares Resultat das Getier begaffen, gestört fühlen, geben sie klar zu erkennen. Jeder Augenblick könnte zu einem einmaligen Bild führen, während die Goofen wahrscheinlich schon auf dem Spielplatz wieder vergessen haben, wie der Tiger genau ausgesehen hat. Die Grosswildjäger stehen aber nicht nur dort, wo man einen freien Blick auf die Tiere hat, auch durch Scheiben zu fotografieren stellt offenbar kein Problem dar, nicht einmal bei den Aquarien. Voller Verachtung schauen sie auf die Handy- und Selfie-Föteler, denen offenbar niemand glaubt, dass sie an einem wahrhaftigen Pinguinbecken gestanden haben, wenn sie es nicht fotografisch belegen können. Was aber geschieht mit den Bildern der Grosswildjäger, bei denen es sich um jene Art von Tieraufnahmen handelt, die zu Abertausenden

im Internet oder in Fotobänden zu finden sind? Mimik und Körperhaltung von Raubkatzen sind beschränkt und bestens dokumentiert. Gibt es spezielle Internet-Foren und Fotowettbewerbe für Zootierbilder? Veranstalten sie Dia-Abende, bei denen ihre Freunde und Bekannten voller Bewunderung über Bilder von Zoo-Tigern Ah und Oh machen? Oder behaupten sie schlichtweg, die Tiere in freier Wildbahn aufgenommen zu haben, bei ihrer letzten Reise nach Indien oder Kenia, beim Tauchurlaub auf den Seychellen? Obwohl allen klar ist, dass Schneeleoparden, wie der Name vermuten lässt, im Schnee leben und nicht in nachgebauten Gartenlandschaften? Türmen sich in den Wohnungen dieser Leute Tausende Fotoalben mit Aufschriften wie «Tiger schlafend, Zoo Zürich 2013 – 2015»? Um Fragen wie diese zu beantworten und einiges mehr über diese interessante, vom Aussterben kaum bedrohte Spezies zu erfahren, wäre es hilfreich, wenn im Zoo entsprechende Infotafeln angebracht würden. Oder ein artgerechtes Gehege.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT (SAVVE@VTXMAIL.CH) SURPRISE 351/15


Kunst Nichts als ein Museum Das No Show Museum hat sich der Verweigerung, der Leere und Zerstörung verschrieben. Das Ziel ist nichts weniger als das Nichts unter die Leute zu bringen.

Nichts kann provozieren. Andreas Heusser hat es selber erlebt. Der Künstler und Kurator, der dieser Tage das No Show Museum eröffnet hat, hätte damals an der Kunsthochschule irgendwann seine Abschlussarbeit präsentieren sollen. Ein Kunstwerk, zu einem festgelegten Zeitpunkt an einem festgelegten Ort ausgestellt: soweit die Erwartung der Hochschule. «Aber ich bin nicht einer dieser Künstler, die auf eine Ausstellung hin arbeiten, sondern ich realisiere meine Arbeiten dort, wo ich das Gefühl habe, dass sie die beste Wirkung entfalten», sagt er. «Ich hätte etwas machen sollen, von dem ich immer gesagt hatte, dass es nicht meine Arbeitsweise ist. Daraus ist die Idee entstanden, dass ich einfach nichts mache.» Nichts als Abschlussarbeit: Es war das Werk, das am meisten zu reden gab, das auch am meisten provozierte. Angenommen wurde die Arbeit trotzdem, anerkannt als Konzeptkunst. «Ich hätte es ja gut gefunden, wenn ich das Diplom nicht bekommen hätte. Dann hätte ich sagen können: Wegen nichts habe ich das Diplom nicht bekommen.» (Andreas Heusser spricht meistens von «nichts» statt von «dem Nichts» und scheint sich über die Doppeldeutigkeiten und Absurditäten zu freuen, die dabei entstehen.) Und nun also das No Show Museum, in dem nichts in allen möglichen Formen ausgestellt wird. Und weil es um nichts geht, ist das Museum gleichzeitig überall und nirgends verortet: im Internet nämlich. Klickt man sich aber durch die Website, wähnt man sich in einem realen Museum. Alles ist im Grundriss vorhanden – mit thematisch konzipierten Stockwerken, kuratierten Sälen, Saaltexten zu den Werken und sogar einem Museumsshop. Etwa 400 Werke von 150 Künstlern sind in den virtuellen Räumen ausgestellt. Hört man sich nach dem Gespräch mit Andreas Heusser das Band nochmals an, wird deutlich: Da ist kein Interview drauf, sondern eine Führung durchs Nichts. Fast möchte man glauben, man sei zusammen mit dem Kurator die Stockwerke hinaufgestiegen und habe Werk für Werk betrachtet. Doch in Wahrheit SURPRISE 351/15

BILD: ZVG

VON DIANA FREI

Mitten im Nichts: Kurator Andreas Heusser auf Tour.

sitzt Heusser an einem Holztisch im «Institut», seinem Kunstraum in einem Hinterhof im Zürcher Kreis 4, klickt durch die Homepage und erzählt Geschichten. Zum Beispiel die von Yves Klein, der «Zonen immaterieller piktorialer Sensibilität» (vielleicht würden manche sagen: nichts) verkauft hat: Der Besucher bezahlte Gold und bekam im Gegenzug einen Scheck für den Besitz dieser Zone. Um den Deal gültig zu machen, wurde der Scheck verbrannt, und Yves Klein warf die Hälfte des Goldes in die Seine. Der Deutsche Gregor Schneider wiederum setzte sich zum Ziel, Goebbels’ Geburtshaus zu zerstören. Er hat es aufgekauft und zugrunde gewohnt, indem er es Stück für Stück abriss. Der Schutt wurde später ausgestellt. Ist nichts etwas anderes je nachdem, was man darüber weiss? Diese Frage stellt auch die Mexikanerin Teresa Margolles in den Raum. Und zwar ganz konkret, in Form von verdunstetem Leichenwaschwasser der Toten aus dem Drogenkrieg. Sie hat – so wird behauptet – das Wasser der Klimaanlage ausgetauscht, die die Ausstellungsräume reguliert. Ein leerer Raum also, solange man davon nichts weiss. Erfährt man allerdings, was hier in der Luft liegt, kann es einem schlagartig zu

viel werden. Tom Friedmann wiederum hat tausend Stunden lang ein weisses Papier angestarrt. Eine Leistung, die wertgeschätzt sein will. Aber hat er es tatsächlich getan? Spielt es eine Rolle, ob er es getan hat? Manches im No Show Museum ist hochgradig politisch, manch anderes wirkt wie ein Witz und will ihn auch haben. Trotzdem meint es Andreas Heusser ernst mit dem Nichts: «Ich will mit dem Museum Verständnis für Kunstformen wecken, auf die viele mit einem Abwehrreflex reagieren. Das Ziel wäre für mich, dass Besucher einer Ausstellung einen Zugang zur zeitgenössischen Kunst finden, auch wenn sie vielleicht im ersten Moment das Gefühl gehabt haben: Das ist ja nichts.» Die Kunst soll daher sinnlich daherkommen, und das virtuelle Museum manifestiert sich auch in handfesten Events. Mit einem zum mobilen Museum umgebauten VW-Bus geht Heusser im Sommer auf Europatournee und organisiert Ausstellungen – manchmal in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, manchmal mitten im Nichts. ■ No Show Museum: Online- und andere Ausstellungen oder Events unter www.noshowmuseum.com

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BILD: NINA STILLER

BILD: ZVG

Kultur

Mensch, Maschine und alles dazwischen.

«My Sofa» heisst ein Titel. Sie meinen dasjenige zuhause mit der Kleinkinderkotze.

Buch Jassen mit Steve Jobs

Indie-Folk Fertig mit faul

Thomas Weibel stellt die Nerds der Computerwelt in eine Reihe mit den grossen Erfindern der Menschheitsgeschichte.

Das Duo Friska Viljor wird nicht mehr vom Alkohol, sondern vom Kindersegen angetrieben. Es ist dem neuen Album anzuhören.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON MICHAEL GASSER

Wer hätte das gedacht: Das Bild, das wir uns vom Nerd machen, ist nichts als eine Mär. Der Computerfreak, picklig und blass, schwerstabhängig von Internetanschluss und Pizzaservice – ein Klischee! Der Nerd ein durchwegs unterschätzter Zeitgenosse. Für Thomas Weibel ist der Nerd weit mehr, nämlich schlichtweg der Inbegriff des Erfinders, quer durch die Jahrtausende: Forscher, Künstler, Unternehmer, Ingenieur, Schriftsteller, Journalist, voller Neugier, Wissensdurst und Gestaltungsdrang. Und all das, was wir diesen «Nerds» zu verdanken haben, spannt sich bei Weibel zu einem Bogen von der Zahl Pi des Archimedes bis zu den iGadgets von Apple, nebst allem, was vorher schon erdacht und in Zukunft noch ausgetüftelt wird. Diese Geistesblitze aus der Geschichte des menschlichen Fortschritts wurden bereits in der Reihe «100 Sekunden Wissen» von SRF 2 Kultur ausgestrahlt. Nun hat Weibel sie zu einem kurzweiligen Kompendium zusammengestellt, Wissenshäppchen von jeweils etwa einer Seite, die bestens ins Zeitalter von SMS und Twitter passen – ein kunterbuntes, von A bis Z aufgereihtes Sammelsurium. Natürlich liegt das Schwergewicht auf allerlei rund um die Ära von PC und World Wide Web. Das geht von Akku und Browser, Copy & Paste und E-Mail, Google, mp3 und MS-DOS bis zu Open Source, SMS, Tetris, Wikipedia und zip. Auch der Nerd selber darf nicht fehlen. Daneben findet sich aber so manches, was den Blick über das typisch Nerdige hinaus erweitert: Bleistift und Bostitch, Diderot und Gutenberg, Mahjong, Museum und Post-it, Sekunde, Würfel oder einfach nur das X. Das Reich der Tüftler und Genies, der Düsentriebs und Qs, ist halt weit und enger verbandelt als gedacht. Kein Wunder, wenn sich da unter J recht unvermutet Jassen und Steve Jobs gegenüberstehen. Das zu lesen hat Unterhaltungswert, ist bestes Infotainment, das ein bisschen süchtig macht, auf eine Weise, die einem bekannt vorkommt. Ach ja! Wie das nerdige Klicken durchs World Wide Web.

Ohne Alkohol kein Debüt: Vor bald zehn Jahren hatten Daniel Johansson und Joakim Svenigsson gescheiterte Beziehungen zu verdauen. Das nahmen die beiden 2006 zum Anlass, um zu bechern und unter dem Namen Friska Viljor – was so viel heisst wie: gesunder Geist – ebenso verheulten wie schrägen Indie-Folk einzuspielen. Inzwischen sind die Schweden wieder in festen Händen und zu Familienvätern herangereift. Entsprechend kann es sich das Duo heute nicht mehr leisten, wie früher ausgiebig auf der faulen Haut zu liegen und Musik bloss nach Lust und Laune zu fertigen. Als wir sie beim Interviewtermin fragen, wie sehr ihnen das süsse Nichtstun fehlt, erfolgt die Antwort in Form sehnsüchtiger Blicke. Noch nie habe die Band so hart geackert wie für das neue Album «My Name Is Friska Viljor», wird übereinstimmend erklärt. Weil ihnen die Vaterpflichten über alles gingen und gehen, galt es für die Aufnahmen einen Masterplan zu erstellen: Johansson brachte seine Kids morgens in die Kita, eilte anschliessend ins Studio zum Tüfteln, wo er nachmittags von Svenigsson abgelöst wurde, der seine kleineren Kinder tagsüber zuhause betreute. «Wir sahen uns jeweils nur für ein paar Minuten, tauschten uns kurz aus, klatschten uns ab und zogen wieder unserer Wege», beteuern die Skandinavier. Funktioniert habe das bloss, weil jeder zunächst an unterschiedlichen Tracks arbeitete. «Und das super konzentriert», so Johannson. Dass Friska Viljor nicht mehr allzu häufig im Ausgang sind, lässt sich an Liedtiteln wie «Laundry» oder «My Sofa» ablesen, die allesamt durch den heimischen Alltag inspiriert sind, wie die Künstler gestehen. «Momentan gibt es zwei grosse Zirkusse in Stockholm, mein Zuhause und das von Joakim», sagt Johansson und erklärt so, woher die aktuellen Eingebungen der Formation stammen. Nicht von ungefähr haftet ihrer Musik viel Unbeschwertes an. Die Harmonien sind aus vollem Hals gesungen, die poppigen und eingängigen Melodien sind verspielt, und selbst für Momente voller Kindlichkeit bleibt reichlich Platz. Das Album strahlt eine Zufriedenheit aus, die ansteckt und zur Feststellung führt, dass das Familienleben dem Sound von Friska Viljor absolut bekommen ist.

Thomas Weibel: Nerdcore. Ein Konversationslexikon für Nerds und alle, die es werden wollen. Verlag Johannes Petri 2015. 24 CHF

Friska Viljor: «My Name Is Friska Viljor» (TBA/Phonag). Das Album wird am 12. Juni veröffentlicht. Live: Sa, 7. Nov., Kaserne, Basel, und So, 8. Nov., Kuhstall 6, Zürich. www.friskaviljor.net

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BILD: HMB, NATASCHA JANSEN

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Diese unschuldige Stehlampe musste wüste Bettszenen beobachten.

Ausstellung Endstation Sehnsucht Im Museum of Broken Relationships zeugen Alltagsgegenstände von verflossenen Beziehungen in aller Welt. VON MONIKA BETTSCHEN

Dass auch Brechbeutel ein Symbol einer vergangenen Liebe sein sollen, lässt einen doch leer schlucken. Aber wenn man es sich genau überlegt, verwundert es kaum, dass gerade die banalsten Dinge zu Sinnbildern verlorenen Liebesglücks werden können. Denn diese Objekte sind es, die die einstige Lovestory wie Requisiten komplettierten und als greifbare Erinnerungen übrig bleiben. «Diese Tüten haben sich während einer Fernbeziehung angesammelt», steht auf einer Texttafel. Sie sind die traurigen Überbleibsel einer zweijährigen Beziehung und wurden, wie an die 2000 weitere Gegenstände, beim stetig wachsenden Museum of Broken Relationships dankbar entsorgt. Dieses Kunstprojekt, das nun im Museum für Wohnkultur in Basel gastiert, startete 2006 als Versuch der kroatischen Künstler Olinka Vistica und Drazen Grubisic, besser über ihre Trennung hinwegzukommen, indem sie Erinnerungsstücke aus ihrer Zeit als Paar ausstellten. Die Idee fand Anklang, und immer mehr Menschen erkoren die Wanderausstellung, die 2011 mit dem Kenneth Hudson Award zum «innovativsten Museum Europas» gekürt wurde, zur passenden letzten Ruhestätte für ihre mit Wut, Rache oder stiller Trauer verbundenen Gegenstände. Inzwischen machte das Museum der zerbrochenen Beziehungen auf allen Kontinenten Halt, und an jedem neuen Ort werden die Leute dazu aufgerufen, weitere Objekte zu spenden. So entsteht ein Abbild, wie Menschen in verschiedenen Ländern Trennungen verarbeiten. «An den Texten lässt sich auch ablesen, wie verarbeitet eine Trennung bereits ist», sagt Benedikt Wyss, Ko-Kurator der Ausstellung. «Spannend ist, dass in Basel der Begriff der Trennung sehr frei interpretiert wurde. Trennung bezieht sich hier überraschend oft nicht nur auf die Liebe, sondern auch auf das Ende ganz anderer Lebensabschnitte», so Wyss, und er verweist auf den Brief einer Frau, die aus einer Sekte ausgestiegen ist und schildert, wie es dazu kam. Das Gefühlsspektrum der Ausstellung reicht von Sehnsucht und Wehmut bis hin zu blankem Hass und trifft einen mit Wucht in die Magengrube. Beim Anblick dieser Deponie der kaputten Träume darf auch geschmunzelt werden, zum Beispiel bei einem Tanga aus Süsswaren, der augenscheinlich nie angeknabbert wurde.

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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weishaupt design, Basel

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Coop Genossenschaft, Basel

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AnyWeb AG, Zürich

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Burckhardt+Partner AG

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mcschindler.com GmbH, Zürich

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fast4meter, Storytelling, Bern

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Bachema AG, Schlieren

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Ko Schule für Shiatsu GmbH, Zürich

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Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

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Lions Club Zürich-Seefeld, Zürich

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Privat-Pflege und Betreuung, Oetwil am See

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Praxis Colibri-Murten, Murten

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Schumann & Partner AG

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Bruno Jakob Organisations-Beratung, Pfäffikon

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Hofstetter Holding AG, Bern

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Projectway GmbH, Köniz

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OfficeWest AG, Baden

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Museum of Broken Relationships, eine Ausstellung der Basler Dokumentartage 15 im Museum für Wohnkultur in Basel, bis 31. August. www.hmb.ch 351/15 SURPRISE 351/15

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BILD: BREAKINGTHESILENCE.ORG

BILD: ZVG BILD: ISTOCKPHOTO

Ausgehtipps

Das Militär kommt zuerst. Danach lange nichts mehr.

Basel Wo sie herkommen Eritrea sei das Nordkorea Afrikas, lautet häufig der Vergleich. In Eritrea ist es derart ungemütlich, dass sich nicht einmal Christoph Blocher zum Wandern dorthin traut. Beherrscht von einer autokratischen Regierung, sind Land und Leute abgeschottet vom Rest der Welt. Bürgerinnen und Bürger können zu jahrelangem unentgeltlichem Militär- und sogenanntem Nationaldienst gezwungen werden – und können deshalb oft ihre Familien nicht ernähren. Wer den Dienst verweigert oder das Land verlässt, gilt als Deserteur. Und doch fliehen Abertausende – zum Beispiel in die Schweiz. Mit einer Diaspora von inzwischen rund 23 000 Personen sind die Eritreer die grösste Flüchtlingsgruppe hierzulande. Und jetzt sind sie auch zum Wahlkampfthema geworden, seit die FDP im Nationalrat einen Vorstoss eingereicht hat, die Rückführung von Eritreern zu prüfen. Die zum dritten Mal stattfindende Basler Fachtagung Integration will weder wandern noch rückführen, sondern sich «Fakten, Hintergründen und Perspektiven zu Eritrea» widmen. Unter dem Titel «Deserteure oder Verfolgte?» sollen Fragen gestellt werden, mit denen uns die Einwanderer ohne Heimkehrperspektive konfrontieren: Haben sie eine Chance, sich in der Schweiz zu integrieren? Unterscheiden sie sich von anderen Flüchtlingsgruppen? Wie schlimm ist es in Eritrea? Zu den Referentinnen und Referenten zählt neben Fachpersonen aus Behörden Dr. Magnus Treiber, seines Zeichens Ethnologe an der Universität in Addis Abeba in Äthiopien. (ami)

Gemeinsam sind wir stark. Aber auch gut?

Innenansichten aus einer verborgenen Welt.

Bern Zusammen I

Zürich Schweigen brechen

Kriege, Sklaverei, Genozid – die Geschichte der Menschheit ist ein einziges Hauen und Schlachten. Oder? Nicht ganz, zum Glück. Die Beweisführung dazu lieferte Richard Sennett in seinem populärwissenschaftlichen Bestseller «Together: The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation» aus dem Jahr 2012. Der Basler Theaterregisseur Marcel Schwald macht nun auf der Basis dieses Werks den Praxistest auf der Bühne: Er schickt sechs Performerinnen und Performer in ein «Experiment zwischen History Show und kollektivem Selbstversuch». Doch aufgepasst: Haben Sie sich bei Zaubershows und ähnlichem jeweils in der hintersten Sitzreihe versteckt, um ja nicht auf die Bühne zu müssen, ist das wahrscheinlich nichts für Sie. Denn der Abend beginnt, indem sich die Performer jeweils eine Gruppe von Zuschauerinnen zusammenstellen, mit der sie sich auf eine Reise durch die Geschichte begeben. Die Ausschreibung verspricht, dass Sie als Zuschauer dabei sowohl das Rad erfinden wie von der Pest hinweggerafft werden. Hexenverbrennungen und Sklaverei werden aufzeigen, dass Kooperationen nicht immer ganz gewaltfrei und harmonisch ablaufen. Was also, wenn man soziale Kooperation als zukunftsweisende Methode anwenden will? «Together» verspricht Antworten, praxisnah und in Kooperation erarbeitet. (fer)

Dass Israel ein Recht auf Existenz und Selbstverteidigung hat, ist zumindest unter zurechnungsfähigen Zeitgenossen unbestritten. Wo aber endet die Verteidigung im Namen der Israeli Defense Forces – und wo beginnt die Aggression? Das ist Stoff für verzweifelte Araberinnen, international Solidarische und den UNO-Sicherheitsrat und natürlich: kritische Jüdinnen und Juden. Aus den Reihen letzterer stammt Breaking the Silence, eine Organisation israelischer Reservisten, die als Soldaten die Besatzungsrealitäten erlebt haben und das Schweigen in der israelischen Gesellschaft und darüber hinaus brechen möchten. Immer wieder sorgen sie für Furore, zuletzt mit Videos aus dem Gazakrieg vom vergangenen Sommer. Ein Teil der Arbeit von Breaking the Silence ist eine Ausstellung, die nun auch in Zürich gastiert. Von struktureller Repression über die stille Kooperation mit extremistischen jüdischen Siedlern bis hin zu alltäglichen Schikanen zeigt sie Fotografien und Videos, die Soldatinnen und Soldaten für private Zwecke im Alltag aufgenommen haben. Die Ausstellung sorgte in Israel für breite Diskussionen. Jetzt regen die Ex-Soldaten auch hierzulande zum Nachdenken an. Breaking the Silence verdeutlicht, welchen Preis beide Gesellschaften, die israelische wie die palästinensische, für die Besatzung zahlen. Sowohl in Palästina als auch in Israel sind die Menschen bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Lebensverhältnisse Opfer eines Konflikts, der sie längst zu seinen Gefangenen gemacht hat. Täglich führen Ex-Soldaten durch die Ausstellung. Die Führungen finden auf Englisch und auf Anmeldung mit Übersetzung statt. (ami)

«Together», Fr, 12. bis So 14. Juni, jeweils 20.30 Uhr, Grosse Halle der Reitschule, Bern.

Breaking the Silence, noch bis So, 14. Juni, täglich von 14 bis 20 Uhr, Sa und So von 11 bis 18 Uhr,

3. Basler Fachtagung Integration, Do, 18. Juni, von 9

Kirchgasse 13, Zürich. Führungen auf Englisch

bis 12.30 Uhr, Kultur- und Begegnungszentrum Union,

täglich um 17 Uhr oder auf Wunsch. Für übersetzte

Klybeckstrasse 95, Basel.

Führungen bitte voranmelden unter:

Anmeldung: www.ggg-ab.ch/tagung.html

programm@kulturhaus-helferei.ch

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BILD: PABLO STÄHLI, AUFNAHME MIT SELBSTAUSLÖSER 1969

© ALEX COLLE UND LICHT FELD GALLERY BILD: FOTO &

Signer hat den Raum in vergangenen Jahren schon in Fluss gebracht.

Basel Kein Abwasser Umnutzungen von Orten wie Fabrikhallen, industriellen Betrieben oder Reithallen haben immer einen ganz besonderen Reiz. Und im Filter4 gibt der Raum auch ab und an das Thema vor: Es rauschen die Gedanken rund ums Wasser. (Der Ort ist eine ehemalige Langsamfilteranlage aus der Jahrhundertwende, mit der das Wasser für den Verbrauch der Stadt gefiltert wurde.) Jetzt findet hier Kunst statt. Aufgescheucht durch die Tatsache, dass Grosskonzerne die Ressource Wasser immer mehr zu einem Produkt gemacht haben, welches sich kommerziell ausschlachten lässt, haben die Veranstalter beschlossen, eine Ausstellung zum Thema zu organisieren. Ganz nach dem Grundsatz: Wasser ist frei für alle, und das muss auch so bleiben. Sieben Künstler aus der Schweiz, aus Deutschland und den USA zeigen ihre Installationen, Skulpturen und Videos im Filter4. Zu sehen gibt’s noch nichts bis zur Vernissage, aber wenn man sich anschaut, was hier Roman Signer vor ein par Jahren hineingestellt hat, ahnt man: Es könnte spannend werden. Terminlich auf das Art-Wochenende hin geplant, gibt’s auch Party, um ein paar Leute von den Messehallen und vom Warteck herzulocken. (dif) «H2O – kontemporär», Vernissage Sa, 13. Juni, 19 bis 24 Uhr, Barbetrieb und Sound ab 22 Uhr, Ausstellung bis Sa, 26. September; Lavinia’s choice – your shakin’ bones! Am Fr, 19. und Sa, 20. Juni, jeweils 22 Uhr, iwbFilter 4, Eingang Reservoirstrasse, Basel. www.iwbfilter4.ch

Zürich Zusammen II

Schick: Pablo Stähli mit Humordienstmütze.

Kriens Plötzlich geschehen Dinge Man denkt beim Stichwort Kunst in diesen Tagen schnell mal an rekordverdächtige Preise von eingelegten Haifischen, an gehypte Künstlerkarrieren und Vermarktungsmechanismen. Das muss nicht sein. In den Siebzigerjahren ging Kunst zum Beispiel so: Über eine Zeitspanne von 100 Tagen tauschen ein paar Künstler Nachrichten, Postkarten und witzige Einfälle untereinander aus, und die Dokumente, die so zusammenkommen, versieht man mit Vermerken und stellt sie aus. Auf lustige Ideen wie diese sind die Künstler Markus Raetz, Balthasar Burkhard und der Verleger und Galerist Pablo Stähli gekommen. Das Projekt war symptomatisch für den Aufbruch, der zu Anfang der Siebzigerjahre auch die Kunstszene Luzerns erfasst hatte. Das Publikum musste sich langsam dran gewöhnen, dass es nicht mehr nur Alte Meister zu bestaunen gab, sondern dass Happenings stattfinden und Performances auf einen hereinbrechen können. Pablo Stähli war mittendrin und arbeitete mit Leuten wie Dieter Roth, Harald Szeemann oder Fischli/Weiss zusammen, bevor sie international bekannt wurden. Und vor allem hat Stähli die damalige Kunstszene fleissig fotografiert. In Kriens gibt’s jetzt erstmals zu sehen, was sein Privatarchiv alles hergibt. (dif) «Die ersten hundert Tage der siebziger Jahre», Fotografien und Dokumente aus dem Archiv des Galeristen Pablo Stähli, noch bis zum 5. Juli, Museum im Bellpark, Luzernerstrasse 21, Kriens. www.bellpark.ch

BILD: SRK KANTON ZÜRICH

Gehören Sie zu denjenigen, die Flüchtlinge nicht in erster Linie als Bedrohung sehen, sondern als schutzbedürftige Menschen, die alles verloren oder aufgegeben haben? Und sie zählen zu den Bürgerinnen, die frustriert sind, mit dieser Ansicht an der Urne immer wieder in der Minderheit zu sein und damit an der restriktiven Flüchtlingspolitik nichts ändern zu können? Nun, es gibt einen Weg, trotzdem etwas zu bewegen: Die Plattform Zürcher Flüchtlingstag – der u.a. Caritas, Heks und das Rote Kreuz angehören – wird zum weltweiten Flüchtlingstag über die Möglichkeiten zu freiwilligem Engagement informieren. In Kurzfilmen und an einer Podiumsdiskussion mit Menschen, die sich bereits engagieren, erfährt man, was es heisst, gemeinsam mit Flüchtlingskindern Spielnachmittage zu verbringen, mit Flüchtlingen zu gärtnern oder Deutsch zu lernen. Altruist brauche man dazu übrigens nicht zu sein: Die Involvierten erzählen von Glücksmomenten und schwärmen davon, dass sie sehr viel zurückbekommen für ihr Engagement. (fer) «Freiwillig für Flüchtlinge», Begegnungen – Podiumsgespräche – Kurzfilme zum Flüchtlingstag, Mo, 15. Juni, 17.30 Uhr, Kulturmarkt Wiedikon, Ämtlerstrasse 23, Zürich. SURPRISE 351/15

Wer hat die besseren Karten bekommen?

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Verkäuferporträt International Seit 22 Jahren Strassenverkäufer Algia Benjamin, 53, aus Boston, ist vielleicht der dienstälteste Strassenzeitungsverkäufer der Welt. In seiner Kindheit mussten Schwarze aus dem Weg gehen, wenn eine weisse Frau entgegenkam.

Seit 22 Jahren verkauft Algia Benjamin das Magazin Spare Change News auf den Strassen der nordostamerikanischen Stadt Boston. Der 53Jährige fing mit dieser Arbeit an, als das Strassenmagazin, das älteste der heute noch bestehenden weltweit, seit gerade mal drei Monaten existierte. Mit anderen Worten: Algia Benjamin könnte gut der dienstälteste Strassenzeitungsverkäufer der Welt sein. Benjamins Geschichte beginnt in den Sechzigerjahren im Südstaat Alabama – damals nicht der beste Ort für eine Afroamerikanerin, um zehn Kinder grosszuziehen. Benjamins Mutter tat es. 1966 zog die Familie nach Boston. Der kleine Algia wuchs zur Zeit der Proteste der Bürgerrechtsbewegung auf, als es die Rassentrennung noch gab. Er erinnert sich daran, dass seine Mutter oft Angst hatte – manchmal zögerte sie aus dieser Angst heraus sogar, mit den Kindern einen Ausflug zu machen. Benjamin betont, dass damals von einem Afroamerikaner verlangt wurde, zur Seite zu gehen, wenn er auf dem Trottoir an einer weissen Frau vorbeiging. Kein Wunder also, dass seine Mutter der Mensch ist, den Benjamin auf der Welt am meisten bewundert. «Meine Mutter hatte zehn Kinder und brachte alles unter einen Hut», sagt er. «Dank ihr hatten wir ein Dach über dem Kopf und genug zu essen.» Das Beispiel seiner Mutter treibt Algia Benjamin an, seiner 14-jährigen Tochter die gleiche Unterstützung zu bieten. Er ist sich bewusst, dass die Sorgen, die die Geldnot mit sich bringt, dazu führt, dass Menschen die schönen Dinge im Leben nicht mehr geniessen können. Davor will er seine Tochter bewahren. Deshalb arbeitet er sieben Tage die Woche und verkauft die Zeitung auf den Strassen von Boston. Er sagt: «Wenn Menschen keinen finanziellen Druck verspüren, können sie sich mehr auf ihr Glück konzentrieren.» An einem eiskalten Dienstagnachmittag steht Benjamin vor einer Apotheke am Porter Square. Während andere ihre Zeitungen lieber in warmen Bahnhöfen verkaufen, ist er gern draussen. Zu den Vorteilen seiner Arbeit als Verkäufer gehöre, dass er viele Menschen treffe, sagt er. Am Porter Square hat er etwa 40 Stammkunden. Viele von ihnen sind zu Freunden und Bekannten geworden, die für eine kurze Unterhaltung stehen bleiben. «Manchmal fühle ich mich wie ein Strassen-Psychologe», sagt Benjamin. «Ich schätze es, wenn Menschen gut kommunizieren können. Die Leute reden mit mir über alles Mögliche.» Algia Benjamin spricht engagiert über die jüngsten Unruhen in den USA. Etwa über die Vorfälle in Ferguson, Missouri, wo verschiedene Gruppierungen zusammengekommen sind, um gegen die Tötung von Michael Brown zu demonstrieren. Der unbewaffnete schwarze Teenager war von einem weissen Polizisten erschossen worden. Benjamin kennt den Rassismus der Sicherheitskräfte, das sogenannte Racial Profiling, aus eigener Erfahrung: Erst vor wenigen Wochen, er war gerade auf dem Rückweg vom Haus seiner Mutter, hielt ihn ein Polizeibeamter auf. Er sagte, er passe auf die Beschreibung eines Verdächtigen. Unzählige Afroamerikaner im ganzen Land könnten eine ähnliche Geschichte erzählen, sagt Algia Benjamin. Gleichzeitig freue es ihn zu sehen, wie Menschen verschiedenster Richtungen zusammengekommen sind, um

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BILD: ZVG

VON ANDREW WARBURTON

dagegen zu protestieren, wie die Justiz die Todesfälle von jungen Schwarzen behandelt hat. Obwohl Benjamin kein Typ ist, der Helden verehrt, gibt es einige Männer, zu denen er aufblickt. Dazu gehören Afroamerikaner, die an den Universitäten Erfolg hatten – Männer wie der Philosoph Dr. Cornel West, bei dem Benjamin einen Kurs besuchte. Oder Henry Louis Gates, der Direktor des Hutchins Center für Afrikanische und Afroamerikanische Studien an der Universität Harvard. «Mich faszinieren Afroamerikaner, die das Unmögliche erreicht haben», erklärt er, «Menschen, die Professoren geworden sind.» Was Algia Benjamin über das Leben weiss, ist eine Mischung aus Studium und harter Erfahrung. Er liebt seine Arbeit als Strassenzeitungsverkäufer. «Wenn ich am Morgen meine Augen öffne und mir die Sonne ins Gesicht scheint, bin ich am glücklichsten», sagt er. «Gott hat mir einen weiteren Tag geschenkt – ein weiterer Tag, an dem ich versuchen kann, ein besserer Mensch zu werden.» ■ Aus dem Englischen übersetzt von Katrin Wolf. INSP News Service www.street-papers.org / Spare Change News SURPRISE 351/15


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Fatma Meier Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

Telefon

Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

351/15 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 351/15

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Surprise ist:

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Geschenkabonnement für:

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Ob beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die Selbstständigkeit der Betroffenen. Surprise hilft dort, wo andere aufhören. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit einem Netzwerk aus freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der reguläre Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden direkt.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration von sozial benachteiligten Menschen mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der ganzen Deutschschweiz. Sie kämpfen um den Titel des Schweizermeisters und des Weltmeisters beim Homeless World Cup. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte eröffnen Kontakte und Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Café Surprise ermöglicht Menschen mit wenig Geld einen kostenlosen Kaffee in einer Bar, einem Café oder Restaurant. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine einfache und charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie trinken und bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihr Anliegen, z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus dem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungsgelder angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Strassenzeitungen in 40 Ländern angehören. Spendenkonto PC 12-551455-3

Impressum

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Rechnungsadresse: Vorname, Name

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Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Florian Blumer (fer), Diana Frei (dif, Heftverantwortliche), Mena Kost (mek), Sara WinterSayilir (win), redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Olivier Joliat, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Isabelle Bühler, Michael Gasser, LucFrançois Georgi, Timo Kollbrunner, Hanspeter Künzler, Adrian Soller, Andrew Warburton, Rea Wittwer Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 20 550, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T+41 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung) s.roter@vereinsurprise.ch Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge kommen allen Verkaufenden zugute. SURPRISE 351/15


Surprise – Mehr als ein Magazin Surprise Strassensport «Der Lernprozess verläuft rascher, wenn jüngere Kräfte am Singen sind» BILD: ROSARIO MAZUELA

Zum ersten Mal seit seiner Gründung ging der Surprise Strassenchor eine Kooperation mit einer anderen musikalischen Formation ein. VON PALOMA SELMA, LEITERIN STRASSENCHOR

Der Chor der Musikschule Solothurnisches Leimental aus Witterswil mit dem Namen MuSoul erwies sich als idealer Partner für ein gemeinsames Projekt mit dem Surprise Strassenchor, obwohl die Unterschiede beträchtlich waren: Während bei MuSoul mit Noten gearbeitet und viel Wert auf Gesangstechnik gelegt wird, stehen beim Strassenchor die sozialen Erfahrungen durch das gemeinsame Singen im Vordergrund. Zudem setzt sich MuSoul aus Kindern und Jugendlichen zusammen, die meist ein geregeltes Leben führen und noch bei den Eltern wohnen, während die erwachsenen Sängerinnen und Sänger des Surprise Strassenchors teilweise von Armut betroffen sind. Das jüngste Mitglied des Workshops war sieben, das älteste 68 Jahre alt – so ergab sich eine bunte Mischung der Generationen, der Interessen und der musikalischen Voraussetzungen. Was indes alle vom ersten Ton an verband, war die Musik. Der Workshop der beiden Gruppen fand Ende April in Witterswil statt. Er wurde von Ana Arnaz, der Chorleiterin von MuSoul, durchgeführt, wobei ihr mit Ariane Rufino dos Santos die Leiterin des Surprise Strassenchors unterstützend zur Seite stand. Am Anfang stand ein auflockerndes Spiel, das es den Teilnehmenden erleichterte, sich kennenzulernen. Danach konzentrierten sich alle rasch auf das Wesentliche: Die beiden Chöre erarbeiteten gemeinsam ein kurzes Programm, wobei die Solistinnen von MuSoul die Hauptstimmen übernahmen. Für die instrumentale Begleitung sorgten Gion Covo, ein Schüler des Gymnasiums am Münsterplatz, sowie Pucallpa, ein Strassenmusiker aus Peru. Gefordert waren die Beteiligten nicht zuletzt im Hinblick auf die beiden Auftritte, die schon kurze Zeit nach dem Workshop stattfanden. Trotz diesem Druck war die Arbeit effektiv und erfreulich: «Die spürbare Freude am Singen und die gewaltige Energie, die der Surprise Strassenchor ausstrahlte, waren für die Kinder von MuSoul besonders beeindruckend. Das Zusammentreffen verschiedener Altersstufen, sozialer Hintergründe und musikalischer Wahrnehmungen bereicherte die Arbeit auf wunderbare Weise – nicht nur am Tag des Workshops, sondern ebenso während der Auftritte», so die Chorleiterin Ana Arnaz. Und Ariane Rufino dos Santos ergänzt: «Das besondere Erlebnis für beide Chöre war es, auf einen Schlag mit doppelt so vielen Leuten zu singen und diesen Klang geniessen zu dürfen. Der Lernprozess scheint im Übrigen rascher zu verlaufen, wenn mehr und vor allem jüngere Kräfte am Singen und Lernen sind.» Einige Lieder des Workshops hat der Chor schon ins musikalische Repertoire aufgenommen. Auch die Rückmeldungen aus dem Publikum der beiden gut besuchten Konzerte in der Witterswiler Pfarrei und im SURPRISE 351/15

Zwei Chöre, zwei Welten: MuSoul und Surprise Strassenchor.

Engelhof waren positiv. Eine Besucherin wandte sich nach dem Konzert gleich mit einer Anfrage für einen weiteren Auftritt an uns. Die Zusammenarbeit war ein rundum gelungenes Experiment. In Zukunft planen wir, weitere Kooperationen mit anderen Gruppen einzugehen.

Nächste öffentliche Auftritte Benefizkonzert für den Surprise Strassenchor Sa, 6. Juni, von 15 bis 17 Uhr, Lorrainestrasse 5a, Bern Preis: 25 CHF, anschliessend Apéro Einladung zum Freundeskreis Öffentlicher Auftritt am Di, 30. Juni, von 18 bis 19 Uhr in der Musikschule archemusia, Aeschenplatz 2, Basel. Anmeldungen bitte bis Mo, 22. Juni unter: p.selma@vereinsurprise.ch, damit der Apéro für alle reicht. Der Apéro wird teilweise von den Mitgliedern der Unitarian Universalists of Basel spendiert. Wir freuen uns auf Ihren Besuch! Weitere Infos unter 061 564 90 40 oder www.vereinsurprise.ch/strassenchor

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Macht stark.

www.vereinsurprise.ch â?˜ www.strassensport.ch â?˜ Spendenkonto PC 12-551455-3 Verein Surprise, Spalentorweg 20, *&+' Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99


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