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Solidarität in der Krise: Auf Besuch bei der griechischen Strassenzeitung Shedia

Nr. 356 | 14. bis 27. August 2015 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Colorado im Rausch: Blühende Wirtschaft dank legalem Cannabis


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Titelbild: WOMM

Die SVP-Spitze besingt auf Youtube falsch, aber volksnah ihr neues Maskottchen, die CVP stellt die arbeitsmarktlich so unsinnige wie rechtsstaatlich unmögliche Forderung nach Zwangsarbeit für Asylsuchende, die SP beginnt, die Leute im grossen Stil mit Telefonanrufen zu beglücken – der Wahlkampf 2015 wurde diesen Monat so richtig lanciert. Begonnen hat er aber nicht erst jetzt, ein Anfang und Ende ist eigentlich gar nicht mehr auszumachen: Ganzjährig buhlen die Parteien heute von Links bis Rechts mit populären bis populistischen Forderungen und PR-Kampagnen um die Gunst des Volkes. Dies ist grundsätzlich heikel, denn Parlamentarier sollten idealerweise gemeinsam nach umsetzbaren Lösungen für tatsächliche Probleme suchen. Besonders kritisch ist es jedoch, wenn sie für die Eigenwerbung das direktdemokratische Instrument der Volksinitiative missbrauchen. Den Schweizer Regisseur Thomas Isler hat diese Entwicklung beunruhigt, er ist ihr in einem neuen Film auf den Grund gegangen. Wir wollten von ihm wissen, was schief läuft in unserem System – lesen Sie das Interview ab Seite 10.

BILD: ZVG

Editorial Volksvernebelung

FLORIAN BLUMER REDAKTOR

Ein Dauerbrenner der bürgerlichen Parteien im Wahlkampf, auch dieses Jahr wieder aufgewärmt, ist die Forderung nach weniger Verboten. Klingt gut, bleibt aber eine Worthülse, solange die gleichen politischen Kräfte die Abschaffung des wohl unsinnigsten und schädlichsten Verbots weiterhin bekämpfen: die Prohibition von Cannabis. Sie ist ein Paradebeispiel dafür, wie unbescholtene Bürgerinnen und Bürger vom Staat in ihrer Freiheit eingeschränkt werden. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, warum man den Bürger davor schützen sollte, dass andere Cannabis konsumieren. Oder muss man ihn vor sich selber schützen? Es scheint, dass ihm der Staat hier eher etwas vorenthält: Die US-Gesundheitsbehörden haben im April dieses Jahres eine Studie veröffentlicht, in der erstmals nachgewiesen wurde, dass Cannabis Krebszellen zerstören kann; weiter ist die Wirksamkeit unter anderem bei Migräne, Epilepsie und Asthma bekannt. Durch die Prohibition ist die Behandlung in der Schweiz aber nur in Ausnahmefällen möglich. Kommt, zuletzt, hinzu, dass der Staat die Wirtschaft um ein Milliardengeschäft bringt und sich selbst um Millionen an Steuergeldern. Dies zeigen jedenfalls die Erfahrungen im US-Bundesstaat Colorado, wo die brachliegende Wirtschaft seit der Legalisierung Anfang 2014 wieder so richtig in Schwung gekommen ist. Wir nehmen Sie mit auf einen Trip in die Zukunft, in unserer Reportage aus Denver, Colorado, ab Seite 17. Ich wünsche eine erhellende Lektüre, Florian Blumer

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 356/15

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10 Demokratie Der Mythos Volk Sind uns Volksentscheide wirklich wichtiger als Menschenrechte oder eine rechtsstaatliche Verfassung? Regisseur Thomas Isler sieht die direkte Demokratie in der Schweiz in Schieflage und hat sich aufgemacht, mit Politikern und Justiz-Fachleuten dem Problem auf den Grund zu gehen. Dabei ist er auf den eigentlichen Knackpunkt der Diskussion gestossen: den «Mythos Volk». Ein Gespräch über nationale Heiligtümer und nüchterne Machtpolitik.

BILD: PHILIPP BAER

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Inhalt Editorial Gras fürs Volk Die Sozialzahl Lampe für Gutmänner Aufgelesen Frauen auf der Strasse Zugerichtet Engelhafte Reue? Kommentar Mythos direkte Demokratie Starverkäufer Urs Habegger Porträt Im Kampf gegen Behinderungen Fremd für Deutschsprachige Alltagsrassismus Tags Übersehene Kunst Kultur Basilikum im Mörser Ausgehtipps Mods in der Provinz Verkäuferporträt Nicht mehr allein Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP Surprise – Mehr als ein Magazin Verkäufer auf dem Ballenberg

14 Griechenland Solidarisch in der Krise Die Finanzkrise der späten Nullerjahre traf Griechenland unvorbereitet und mit voller Härte – der schlecht ausgebaute Sozialstaat war hoffnungslos überfordert. In dieser Situation gründete der Journalist Chris Alefantis die erste Strassenzeitung des Landes. Als Ende Juni Bezugslimiten von 60 Euro pro Tag eingeführt wurden, machte sich Alefantis Sorgen um seine Verkäufer – umsonst: Die Solidarität der Griechen hielt.

BILD: SHEDIA

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BILD: PATRICK TOMBOLA

17 Cannabis Colorado im Grasrausch

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Während die Legalisierung von Cannabis in der Schweiz irgendwo in den Mühlen der Politik steckengeblieben ist, hat der US-Bundesstaat Colorado den Schritt Anfang 2014 gewagt. Und damit weitherum für strahlende Gesichter gesorgt, nicht nur bei den Konsumenten: Die Wirtschaft ist wieder in Schwung gekommen und die Behörden freuen sich über Millioneneinnahmen. Eine Reportage aus dem Südwesten der USA, wo der Grasrausch ausgebrochen ist.

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Die Sozialzahl Die Steuern der Armen Wer schon wenig Geld hat, soll te möglichst keine Steuern zahlen müssen, könnte man mei nen. Ein Blick auf die kantonalen Steuerregelungen aber offe nbart für die Hauptorte und -städte Erstaunliches. Für eine n Vergleich nehmen wir eine Familie mit zwei Kindern, in der beide Eltern erwerbstätig sind. Der Vater trägt 70 Prozent, die Mutter 30 Prozent zum sogenannten Bruttoarbeitseinko mmen des Haushaltes bei. Wenn diese Familie in Fribourg lebt, wird sie bereits mit einem jährlichen Bruttoarbeitsei nkommen von 20 600 Franken steuerpflichtig. Sie hat dann Kan tons-, Gemeinde- und Kirchensteuern zu zahlen. Ganz and ers ist die Situation in Genf. Hier muss die gleiche Familie erst bei einem Jahreserwerbseinkommen von 78 400 Franken Steuern zahlen. Dazwischen liegen die anderen Kantonshau ptorte. So beginnt die Steuerpflicht für diesen Familienhau shalt in Bern bei rund 43 000 Franken, in Zürich bei 48 000 Franken und in Basel erst bei etwas weniger als 72 000 Franken . Die Unterschiede sind aber nich t nur beim Beginn der Steuerpflicht enorm. Grosse Diff erenzen finden sich auch bei der effektiven Steuerlast. So zahlt der DoppelverdienerHaushalt mit zwei Kindern bei einem bescheidenen Jahreserwerbseinkommen von 50 000 Franken in Fribourg schon 2320 Franken, während er in Solothurn 1131 und in Zürich nur 130 Franken dem Steuerst aat schuldet. Die Grafik zeigt zudem den Zusammenhang zwi schen dem Beginn der Steuerpflicht und der tatsächlichen Steuerbelastung. Es gilt: Je tiefer die Grenze für die Steuerpf licht angesetzt ist, desto höher fällt bei den tiefen Hausha ltseinkommen die Steuerbelastung aus.

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men Besteuerung tiefer Einkom Die Kantone gehen mit der en hod err Inn l Fribourg, Appenzel sehr unterschiedlich um: n. me kom sein selbst tiefste Erwerb und Neuenburg besteuern fak die , itik hen für eine Steuerpol Genf, Waadt und Basel ste s um inim zm Befreiung des Existen tisch zu einer steuerlichen e Vorder Bund hier übrigens ein führt. Für einmal nimmt den für n n Bundessteuern werde reiterrolle wahr. Die direkte em ein mit zwei Kindern erst ab Doppelverdiener-Haushalt ig. über 114 000 Franken fäll Bruttoarbeitskommen von altes ein ist s um inim nzm Existe Die Steuerbefreiung des geleistet, t. Würde diesem Folge sozialpolitisches Postula behankommen steuerlich gleich würden tiefe Haushaltsein hes Moe Sozialhilfe. Ein wesentlic delt, egal ob mit oder ohn tt aus hwelleneffekts» beim Austri ment des sogenannten «Sc lzivie die h auc it gfallen und dam der Sozialhilfe würde we in alte ush Ha nur ht eize, weil nic tierten negativen Arbeitsanr n, rde wü den bun Steuerpflicht ent der Sozialhilfe von der Arder r übe pp Einkommen kna sondern auch jene, die ein l lohwürde sich auf jeden Fal eit Arb mutsgrenze erzielen. sieres inte s ing licher Sicht. Allerd nen, zumindest aus steuer ung ast Bel e ht nur für die steuerlich ren sich die Haushalte nic fügbare lt, ist das tatsächlich ver ihrer Einkommen. Was zäh ben für sga wird auch durch die Au Einkommen. Und dieses ch die dur nkassenprämie sowie die Miete und die Kranke die wie alen Bedarfsleistungen Ausgestaltung der kanton soen Kinder- und Familienzulag Prämienverbilligung, die h auc ussung beeinflusst. Doch wie die Alimentenbevorsch Kan den Unterschiede zwischen dann bleiben deutliche inkomFazit: Bei gleichem Bruttoe tonshauptorten bestehen. immer am Ende des Monats nicht men haben die Haushalte ut hänaie. Wohlstand und Arm das Gleiche im Portemonn gen auch vom Wohnort ab. KN OE PFE L @VER EIN CA RLO KN ÖP FEL (C. BIL D: WO MM

SUR PRI SE. CH )

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Aufgelesen News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Keine Tauben London. Unter dem Titel «Space not Spikes» (dt. «Platz statt Stacheln») protestieren junge Künstler gegen die zunehmende Installation sogenannter defensiver Architektur. Damit sind fest angebrachte Metallstacheln vor Bürogebäuden gemeint, mit denen Wohnungslose – als seien sie Grossstadt-Tauben – davon abgehalten werden sollen, dort zu nächtigen. Die Kunstaktivisten deckten die Stacheln mit einladenden Matratzen ab und luden die Auftraggeber zu einem Dialog über «anti-soziales Verhalten» ein.

Arme Türen Kiel. In New York hat ein Wohnbauprogramm dazu geführt, dass es separate Hauseingänge für Arme und Reiche gibt. Bauherren bekamen bisher Steuernachlässe, wenn sie bei Neubauten auch einen Teil günstige Wohnungen anboten. Um die wohlhabenden Mieter nicht abzuschrecken, schufen Immobilienfirmen kurzerhand separate Eingänge für die günstigen Wohnungen. Mittlerweile sind diese «Poor Door» genannten Sondereingänge nach Protesten bei Neubauten wieder verboten worden. Bereits bestehende Armeneingänge dürfen aber bleiben.

Schutzbedürftig Berlin. Rund 25 bis 30 Prozent der Wohnungslosen in Deutschland sind Frauen. Dass sie andere Hilfsangebote brauchen als Männer, ist in Fachkreisen unbestritten. Die Realität hinkt der Theorie jedoch hinterher: Die einzige ganzjährig geöffnete Notschlafstelle nur für Frauen in Berlin wies 2014 insgesamt 678 Mal Frauen ab, weil alle Betten bereits belegt waren. Unterkünfte für wohnungslose Frauen mit Kindern fehlen in der Hauptstadt völlig.

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Vor Gericht Die Stimme des Engels Sie hatte viel Spass gehabt in der Sportstunde. Nun lief die zehnjährige Agira* eilig nach Hause, das Ballspiel hatte sie hungrig gemacht. Auf dem Heimweg hörte sie Schritte, jemand folgte ihr. Dies war nichts Besonderes, in der Oerliker Siedlung war ein Kommen und Gehen. Erst als er mit ihr zur Haustüre reinwollte, drehte sie sich um. Ihr Blick fiel auf einen jungen Mann mit tätowiertem Hals. Vor einem Monat war er aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er wegen eines Sexualdelikts eingesessen hatte. Noch während sie realisierte, dass der Verfolger nicht in ihrem Haus wohnt, packte er sie, hielt ihr den Mund zu und riss sie in den Keller. «Ich bring dich um, wenn du nicht still bist», zischte er ihr zu, warf sie zu Boden, zog ihr Höschen aus und griff ihr hart zwischen die Beine. Sie schrie vor Schmerzen. Er schlug ihr ins Gesicht. Dann zog er sich aus und befahl ihr, sein steifes Glied in den Mund zu nehmen. Darauf rieb er sich an ihrem Geschlechtsteil. «Rücksichtslos, roh, widerwärtig», wird der Richter später sagen. Doch es sollte noch einige Wochen dauern, bis der DNA-Abgleich einen «Treffer» in der Datenbank erzielte. In dieser Zeit überfiel der Tätowierte eine 30-jährige Frau, stiess sie auf einem Feldweg an der Glatt vom Velo, riss ihr die Kleider runter und griff ihr zwischen die Beine. Drei Tage später wurde er verhaftet. «Nehmen Sie Ihre Kappe ab und die Hände aus dem Hosensack», ordnet der Richter an. Kamon B. gehorcht, ein 29-jähriger dicklicher Teddy im Gangsta-Rap-Look. Für das Tribunal, das seinetwegen veranstaltet wird, fehlt dem Angeklagten jedes Verständnis. Er

ist geständig und hat die Haft vorzeitig angetreten und sagt auf Thailändisch: «Ich habe jetzt eine zusätzliche Seele bekommen.» Die Übersetzerin deutscht aus: «Ich bin nicht mehr der, der ich war.» Sein Leben bis dahin: Mit neun in die Schweiz, zur Mama, die in einem Salon arbeitete, sechs Jahre Schule, kaum Deutsch gelernt, Aushilfsjobs, die meiste Zeit arbeitslos, Sozialhilfe, mit 18 eine 16-Jährige geschwängert. Statt Familie, Arbeit und Hobbys bestimmten Drogen, Pornos und Straftaten seinen Alltag. Beim Verlesen seines Vorstrafenregisters irrt sein Blick am Boden umher: sexuelle Nötigung, Körperverletzung, versuchte Tötung, Verkehrsdelikte, Vernachlässigung der Unterhaltspflicht. Die Jugendstraftaten noch nicht mal aufgezählt. Warum er sich an dem Mädchen vergangen habe, will der Richter wissen. «In meiner Seele stimmte etwas nicht», antwortet der Angeklagte. Der psychiatrische Gutachter attestiert Kamon einen IQ von 87, also eine verminderte Intelligenz, sowie mehrere psychische Störungen und ein hohes Rückfallrisiko. Bedarf für eine Therapie sieht Kamon keinen: «Jetzt begleitet mich immer ein Engel, der mich daran hindert, falsche Sachen zu machen.» Der Richter verlässt sich lieber auf die «kleine Verwahrung». Die fünfeinhalb Jahre Haft, plus 18 Monate aus einem früheren Verfahren, werden aufgeschoben zugunsten einer stationären Massnahme, die verlängert werden kann, wenn die Gefahr weiterer Straftaten besteht: «Ihr Engel kann Ihnen nur helfen, wenn Sie eine Therapie machen.» * alle Namen geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 356/15


Kommentar Die Initiative gehört dem Volk Wer am lautesten schreit, hat nicht unbedingt recht: Wie die SVP die Volksinitiative zweckentfremdet und damit unsere direkte Demokratie gefährdet.

Wir Schweizer sind ein stolzes Volk. Am 1. August feierten wir einmal mehr ausgiebig unseren Stolz auf Morgarten, Rütli und Wilhelm Tell, aber auch auf für die heutige Zeit relevantere Dinge wie eine florierende Wirtschaft, ein gutes Bildungssystem oder unsere direkte Demokratie. Stolz ist eine gute Sache: Er macht einen selbstbewusst. Das können wir gut gebrauchen als kleines Land, das im Fussball naturgemäss benachteiligt ist und ganz allgemein anfällig für Minderwertigkeitskomplexe. Doch der Stolz hat seine tückische Seite: Er kann blind machen. Filmregisseur Thomas Isler stellt in seinem Film «Die Demokratie ist los!» fest, dass Mythen um unsere direkte Demokratie und das allmächtige Volk den Blick auf bedenkliche Entwicklungen vernebeln (Interview ab Seite 10). Ein Mythos hat keine Fehler und ist unantastbar. Beides trifft für die direkte Demokratie nicht zu, ebensowenig für «das Volk», das gerne für Parteiinteressen instrumentalisiert wird. Besonders laut wurde am 1. August von Toni Brunner und anderen SVP-Exponenten wieder einmal beklagt, dass Bundesrat und Parlament «das Volk» nicht respektierten, weil sie angenommene SVP-Initiativen nicht umsetzen – und damit die direkte Demokratie gefährden würden. Doch wer am lautesten schreit, hat deshalb nicht unbedingt recht: Tatsächlich ist es die SVP selbst, die mit ihrer Kaskade an populistischen Initiativen in den letzten Jahren Grundregeln unseres Systems verletzt. Denn die Volksinitiative wurde, wie der Name sagt, ursprünglich als Instrument eingeführt, mit dem das Volk Einfluss auf die Politik nehmen kann – um ein Gegengewicht zu den Parteien zu schaffen, die in Regierung und Parlament Macht ausüben können. Doch allen voran die SVP

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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hat erkannt, dass sie, die mächtigste und wohl auch reichste Partei des Landes, mit dem Instrument der Volksinitiative wirkungsvoll Wahlkampf betreiben und sich als Partei des Volkes inszenieren kann. Nach dem Rezept: Man nehme ein emotionales Thema, z.B. Ausländer, Flüchtlinge, Islam oder Kriminalität, stelle eine einfache, knackige Forderung – ob relevant und realpolitisch sinnvoll spielt keine Rolle –, verpacke das Ganze in eine Volksinitiative und bringe es mit dem SVP-Sünneli versehen an die Urne. Sollte das «Volksbegehren» Regierung und Parlament Kopfzerbrechen bei der Umsetzung bereiten, weil es Grundprinzipien unserer Rechtsordnung verletzt, so kann sich die Partei obendrauf noch als Kämpferin für die Rechte des Volks inszenieren, die von «denen in Bern oben» nicht respektiert würden. Doch für die Rechte welches Volks? Zieht man die Ausländer ohne politische Rechte, die Nichtstimmer und die Nein-Stimmer ab, dann handelt es sich bei «dem Volk», das für die Ausschaffungsinitiative gestimmt hat und für dessen Rechte sich die SVP einsetzen will, gerade mal um rund ein Sechstel der in der Schweiz ansässigen Personen. Mein Geschichtslehrer pflegte in Anlehnung an Winston Churchill zu sagen: «Die Demokratie ist ein Scheisssystem …» Das ist vielleicht etwas vulgär und drastisch ausgedrückt. Aber es würde auf jeden Fall helfen, wenn wir unsere direkte Demokratie etwas nüchterner betrachten und damit den Blick auf Schwachstellen und Missbrauch freibekommen würden. Als Stimmbürger kann ich mir im Hinblick auf die Wahlen im Herbst zum Beispiel die Namen jener Volksvertreter merken, die sich besonders im Rahmen populistischer Initiativen hervorgetan haben. Tragen wir Sorge zu unserem «Scheisssystem». Denn, so lautete der zweite Teil der Feststellung meines Geschichtslehrers: «… aber es gibt kein Besseres». ■

BILD: ZVG

VON FLORIAN BLUMER

Starverkäufer Urs Habegger Rebekka Zweifel schreibt: «Ich möchte gerne Urs Habegger, der in der Unterführung im Bahnhof Rapperswil verkauft, als Starverkäufer nominieren. Er wirkt immer zufrieden und man denkt, er macht seine Arbeit einfach gerne. Jeden Morgen begrüsst er mich so freundlich, dass mein Tag sofort gut beginnt.»

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Porträt Zwischen Auflehnung und Akzeptanz Sonja Häsler ist mehrfache Schweizer- und Europameisterin im Para-Badminton. In ihrem Alltag als Rollstuhlfahrerin in der Schweiz stösst sie dauernd auf Hindernisse – trotzdem fühlt sie sich privilegiert. VON MARA WIRTHLIN (TEXT) UND TAMARA KÄMPFER (BILD)

derte ich ihnen meine Handlungen der letzten 24 Stunden. Obwohl ich es als einen ruhigen, problemfreien Tag empfand, kam ich auf 17 Handlungen, von denen lediglich zwei problemfrei waren», schildert sie. «Zum Beispiel konnte ich den Kompost nicht entsorgen, da die Bio-Tonne umplatziert wurde und der Schacht zum Einwerfen nun zu hoch war.» Daher müsse sie für alles mehr Zeit einplanen für den Fall, dass etwas schiefgehe. Und auch das helfe nicht immer, wie Häsler beschreibt: «Ich konnte den Kompost nicht einwerfen, wollte ihn aber auch nicht in die Physio mitnehmen. Dann steht man da wie ein Volltrottel mit einem stinkenden Kompost in der Hand.» Häsler zählt sich trotz allem eher zu den «privilegierten Menschen mit Beeinträchtigung». Daher sieht sie es als ihre Pflicht, sich für eine behindertengerechte Politik zu engagieren. «Ich bin körperlich und geistig fit, konnte eine Ausbildung absolvieren. Es ist mir wichtig, mich auch für die Schwächeren unter uns einzusetzen», sagt sie. Sie würde sich wünschen, dass sich mehr Beeinträchtigte aktiv gegen die zahlreichen Einschränkungen wehrten. «Viele nehmen ihr Schicksal hin, als sei es gottgegeben. Dabei hat die Gesellschaft eine Verantwortung den Schwächeren gegenüber, und darauf darf man sie ruhig hinweisen.» In Sachen Behindertenpolitik könne sich die Schweiz von nördlichen Län-

Anfang September vertritt Sonja Häsler die Schweiz an der Weltmeisterschaft im Para-Badminton in England. Schon 2011 gewann sie in Guatemala den Weltmeisterinnen-Titel im Damen-Doppel. Neben ihrem Sport pendelt die 38-Jährige für ihren Teilzeitjob beim Reiseanbieter Procap mit der SBB nach Olten, denn sie wohnt gern in ihrer eigenen Wohnung im Lehenmattquartier in Basel. Das spricht eine eindeutige Sprache. Die Rollstuhlfahrerin lässt sich nicht an den Rand der Gesellschaft drängen. Auch ihr Auftritt wird diesem Eindruck gerecht: In einem pinken, ärmellosen Sportshirt kommt Sonja Häsler mit ihrem Vorspann-Handbike zu unserem Treffpunkt angefahren. Trotz der drückenden Sommerhitze sieht sie fit und munter aus. Sie begrüsst mich mit festem Händedruck. Erst später im Gespräch wird sich herausstellen, dass ihr produktiver Optimismus oft eine Fassade ist. Dass es Situationen in Sonja Häslers Leben gibt, in denen sie alles nur zum Heulen findet. Mit 19 erlitt Häsler einen Skiunfall, sie wurde daraufhin mehrmals operiert, von den Ärzten sei zum Teil gepfuscht worden. Nun ist sie querschnittsgelähmt. Vor gut einem Monat hat sich der Tag, an dem sie in den Rollstuhl kam, zum zehnten Mal gejährt. «Dieser Jahrestag hat eine ziemliche Kri«Die Gesellschaft hat eine Verantwortung den Schwächeren gegense bei mir ausgelöst», sagt Häsler. Davon hat über, und darauf darf man sie ruhig hinweisen.» sie sich noch nicht ganz erholt. «Am meisten vermisse ich meine Eigenständigkeit. Ich stehe auf oder gehe ins Bett, wenn die Spitex kommt, das ist total nervig», erdern eine Scheibe abschneiden, findet Häsler. Wenn sie trotz ihren zahlzählt sie. Manchmal lasse sie ihren Frust an den Pflegerinnen aus – «obreichen Para-Badminton-Sportreisen noch Ferientage übrig hat, reist sie wohl ich weiss, dass es unfair ist, dass sie nur ihren Job machen», sagt nach Schweden. «Das ist für mich Erholung pur – nicht zuletzt wegen sie, «aber manchmal halte ich all die fremden Menschen in meiner Prider viel besseren Bedingungen für Rollstuhlfahrer.» vatsphäre einfach nicht aus!» Das Engagement für andere Behinderte hat sich Häsler zum Beruf geHäsler sucht nach einem Gleichgewicht zwischen Akzeptanz und macht. Sie arbeitet bei Procap Reisen und Sport, einem Reiseanbieter für Auflehnung. So gebe es Dinge, die sie einfach hinnehmen müsse, etwa Menschen mit allen möglichen Beeinträchtigungen. Dort berät sie zum die Tatsache, dass sie künftig wohl eher noch mehr fremde Hilfe benöBeispiel andere Rollstuhlfahrer, welche Ferienangebote geeignet sind. tigen wird. Nicht akzeptieren hingegen kann sie Einschränkungen, die Oder sie verfasst Texte für den jährlich herauskommenden Ferienkatavon aussen an sie herangetragen werden: «Wenn ich mich in der log. Sie half mit, den Trekking-Rollstuhl «Protrek» zu entwickeln, ging Schweiz bewege, fühle ich mich durch die Rahmenbedingungen oft beschon mal auf Husky-Schlitten-Tour oder besuchte die Inkastadt Machu hindert.» Häsler spricht nicht von kleinen Ärgernissen, etwa dass sie Picchu in Peru. manchmal ein Tram abwarten muss, wenn es mit Kinderwägen überfüllt Ursprünglich wollte Häsler Sportlehrerin werden. Der Sport ist es ist. Ihr Alltag sei voll von Stolpersteinen, die sich einfach aus dem Weg auch, der ihr über schwierige Zeiten hinweghilft. «Wenn man einigerräumen liessen, wäre der politische Wille dazu da, so Häsler. Im Zug etmassen körperlich fit ist, ist der Alltag einfach viel weniger beschwerwa werde sie trotz Anmeldung manchmal nicht ausgeladen, schlicht lich», sagt sie, «und der ist so schon beschwerlich genug.» Häsler kann vergessen. Dann fahre sie in Olten durch nach Bern und komme zu spät heute schon auf eine erfolgreiche Sportkarriere zurückblicken. Doch sie zur Arbeit. Ein anderes Mal kam sie plötzlich nicht mehr in ihre Wohruht sich nicht auf ihren Lorbeeren aus. So ist ihr nächstes grosses Ziel nung – wegen Baustellen, die nicht behindertengerecht waren. die Teilnahme an den Paralympics in Tokio 2020, an der Para-BadminTatenloses Jammern liegt Häsler fern. Sie ist in unterschiedlichen Arton als Sportart erstmals vertreten sein wird. Wenn Häsler vom Sport rebeitsgruppen politisch aktiv und trägt dazu bei, dass die behindertendet, etwa von der bald anstehenden Reise nach Singapur und dem Turgerechte Politik, die sich Basel-Stadt gerne auf die Fahne schreibt, auch nier in Indonesien, dann klingt ihr Frust ab. Es gelingt ihr dann auch, tatsächlich Früchte trägt. Als sie vor einiger Zeit eine Auflistung für die mit Optimismus und einer Prise Ironie über ihre Behinderung zu spreSP machte, wurde ihr die Dringlichkeit ihrer Forderungen schmerzlich chen: «Ich versuche, das Positive zu sehen. So wäre ich wahrscheinlich bewusst: «Um den Politikern ein realistisches Bild zu vermitteln, schilnie Weltmeisterin geworden, wäre ich nicht im Rollstuhl gelandet.» ■

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Demokratie «Das Volk darf nicht alles» «Die Demokratie ist los!», nennt der Regisseur Thomas Isler seinen Dokumentarfilm und impliziert damit, dass das politische System der Schweiz aus den Fugen geraten ist. Ein Gespräch über Institutionen, die ihre Aufgaben nicht wahrnehmen und den Mythos Volk.

VON FLORIAN BLUMER UND DIANA FREI (INTERVIEW) UND PHILIPP BAER (BILDER)

Herr Isler, sind Sie selber ein kompetenter Abstimmungsteilnehmer? Ein aktiver, würde ich sagen. Kompetent wäre eine Wertung, die ich mir nicht zutraue. Ich glaube nicht, dass man richtig oder falsch wählen oder abstimmen kann. Ihr Film stellt die Behauptung auf, die direkte Demokratie sei in Schieflage geraten. Wo liegt das Problem? Darin, dass wie bei der Ausschaffungsinitiative oder der Minarettinitiative Abstimmungen über Dinge durchgeführt werden, die nicht zulässig sein sollten, weil sie gegen grundsätzliche Verträge und Werte verstossen und deshalb nicht umgesetzt werden können. Ich glaube, dass hier das System versagt. Weshalb? Es versagt unter anderem wegen der Emotionalisierung. Neben den Medien arbeiten auch die Parteien sehr emotional. Vor allem die Rechtsaussen-Parteien, aber nicht nur sie. Das System hätte Mechanismen, die das verhindern könnten. Aber die liegen in politischen Händen, indem zum Beispiel das Parlament über die Gültigkeit von Initiativen entscheidet.

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Man könnte aber sagen, das Initiativrecht existiert, also darf es genutzt werden. Auch die Emotionalisierung ist ein Mittel der Politik. Wer das infrage stellt, macht bereits eine Wertung: Die bösen Rechten nutzen ihre Mittel, die guten Linken tun es weniger. Wir leben in einer Zeit, in der das Ausreizen der Demokratie von immer derselben Seite kommt, nämlich von der SVP, mit Schützenhilfe von der Mitte. Jede politische Form hat ihre Spielregeln. So darf eine Initiative kein zwingendes Völkerrecht verletzen und die Einheit der Materie muss gegeben sein – das heisst, es darf in einer Frage nicht über verschiedenartige Anliegen abgestimmt werden. Die Einheit der Materie war bei Ecopop, wo man gleichzeitig über Einwanderungsbeschränkung im Inland und Bevölkerungskontrolle im Ausland abstimmen musste, nicht gegeben. Und wenn die Masseneinwanderungsinitiative so umgesetzt wird, wie das die SVP vorsieht, mit Saisonnierstatut usw., dann bricht sie mit dem Völkerrecht. Das waren für mich Zeichen dafür, dass das Parlament seine Rolle nicht spielt. Warum tut es das nicht? Weil es das Volk überhöht. Und das ist falsch. Das Volk ist nur ein Organ des Staates. Das Parlament ist auch ein Organ des Staates. Wenn sie zusammen funktionieren, haben wir die optimale Situation. Bei den allermeisten Initiativen, bei denen die Umsetzung nicht klar ist, spielt das Parlament seine Rolle. Bei denen, die emotional aufgeladen sind, SURPRISE 356/15


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traut es sich nicht, weil es vor dem Mythos Volk einknickt. Das Volk steht für die Parlamentarier über allem. Wenn man ihm nun sagen muss, so können wir das nicht machen, setzt man sich dem Vorwurf aus, man sei undemokratisch. Der Mythos Volk, wie sie ihn beschreiben, scheint ein neueres Phänomen zu sein. Oder hätten Sie diesen Film vor 20 Jahren auch schon gemacht? Nein, ich hätte diesen Film vor 20 Jahren nicht gemacht. Damals gab es für gewisse Forderungen einfach noch keine Mehrheiten. Ich glaube, wir leben in einer Zeit, in der die Parteien – zurzeit vor allem die SVP – das Volk so sehr bemühen, dass es absurd wird. Das sind für mich Allmachtsfantasien. Jede politische Macht – und in der Schweiz ist die politische Macht beim Volk – braucht eine Form von Korrektiv, sonst wird sie hemmungslos. Macht breitet sich immer aus. Die Minarettinitiative, die Ausschaffungsinitiative, und ich finde auch die Verjährungsinitiative und die Pädophileninitiative sind Initiativen, die das System auszuhöhlen versuchen. Sie funktionieren alle nach dem gleichen Muster: Es werden nicht mehr Einzelfälle von Richtern beurteilt, sondern es soll pauschal entschieden werden. Der Mensch kommt heute vors Volk statt vor Gericht? Genau. Der Trend geht hin zur Volksjustiz. Ich frage mich: Wollen die Leute das wirklich? Will das die Schweiz? In einer Szene in Ihrem Film sagt der französische Front-NationalPolitiker Gilbert Collard: Wer das Volk nicht über alles stellt, ist überheblich. Er hat offensichtlich nicht verstanden, wie eine Gewaltenteilung funktioniert. Er ist für mich ein Absolutist. Wenn man von Allmachtsfantasien des Volkes redet, kann man auch vom Absolutismus des Volkes reden. Wenn ein Organ alle Macht im Staat hat, dann wird man zum absolutistischen Staat. Früher waren es die Könige. Heute funktionieren die Institutionen grundsätzlich noch, aber das Gleichgewicht steht zur Disposition. Das Interessante daran ist, dass ich hier ein bürgerlich-liberales Staatsverständnis von mir gebe. Sie reden mit Collard darüber, worüber das Volk bestimmen darf oder eben nicht. Einmal beginnen Sie Ihre Antwort mit «Ich …». Worauf er sofort dazwischenfährt. Und sagt: «Moi, je suis rien. Vor dem Volk bin ich nichts.»

Regisseur Thomas Isler: «Jede politische Macht braucht ein Korrektiv.»

Woher hat denn das Volk seine Allmachtsfantasien? Das ist eine ganz schwierige Frage. Das Schlimmste ist vielleicht, dass der Handlungsspielraum des Bürgers in einem demokratischen Staat immer kleiner wird. Worüber können wir überhaupt noch abstimmen, was auch eine Wirkung entfaltet? Man entfaltet oft nur Wirkung im symbolischen Bereich. Oder in einem Bereich, der einen überhaupt nicht schmerzt. Wenn Ausländer ausgeschafft werden, betrifft das einen nicht direkt. Das Gleiche bei der Verwahrungsinitiative. Das sind alles Randphänomene, bei denen die allermeisten Menschen keine Konsequenzen zu befürchten haben.

Nun kann man ihm ja irgendwie recht geben. «Ich» ist immer einer unter Millionen. Grundsätzlich gehören alle zu einer Demokratie, die das Recht haben mitzumachen. Jeder darf hier «ich» sagen. Das Problem ist aber, dass die Demokratie zu einem totalitären System wird, wenn sie ihre Minderheiten ungenügend «Wir leben in einer Zeit, in der die Parteien – vor allem die SVP – schützt. Dann wird sie zur Diktatur der Mehrheit. Eine der grossen Schwierigkeiten einer das Volk so sehr bemühen, dass es absurd wird. Das sind für mich Demokratie ist, dass man die dauerhaften VerAllmachtsfantasien.» lierer an Bord hält. Das heisst, dass man ihnen zugesteht, dass auch sie recht haben. Das ist Heisst das nun, dass die Stimmbürger im Machtrausch entscheiden? der Minderheitenschutz. Sagen wir einmal, die Schweizer Bevölkerung Oder werden sie von den Parteien manipuliert? spricht sich dafür aus, dass wir keine Roma und keine Fahrenden mehr Mit der Manipulation bin ich nicht ganz einverstanden. Sonst müsste bei uns wollen, dass alle deportiert werden. Es leuchtet doch ein, dass man alle politisch aktiven Menschen für unmündig erklären. Ich denke, wir nie über so etwas abstimmen können. Aber in Collards Logik wäre die Mythologisierung des Volkes hat mit der Isolation der Schweiz zu das möglich, auch wenn er sagt, das Volk habe ein gesundes Bewussttun. Man manövriert sich selbstbestimmt ins Abseits und überlebt in sein für Gerechtigkeit. Nein, das hat das Volk nicht. Es kann viele Dindieser paradoxen Situation nur, indem man sich selber eine Mythologie ge anrichten, die man nicht unbedingt reproduziert haben will. Das Volk gibt. Eine dieser Mythologien besteht darin, dass bei uns die Demokradarf nicht alles. Das ist auch ganz normal, wieso sollte denn das Volk tie in der reinsten Form besteht. Wir glauben, wir sind das demokraheiliger sein als alles andere? Es geht nur, wenn ein Rahmen besteht, in tischste Land der Welt, etwas ganz Besonderes, ein Sonderfall. Das führt dem Abmachungen gelten.

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«Es gibt immer ein Wir und die anderen. Und wir wollen die Macht nicht teilen. Das ist vielleicht ein Ur-Handicap der Demokratie.»

Sind wir denn nicht das demokratischste Land der Welt? Wir sind ein Land, das eine spezifische Form von Demokratie kennt. Und das ist die, die ich am liebsten mag: die direkte Demokratie. Aber es gibt ja auch in anderen Ländern direktdemokratische Vorgänge, in den USA zum Beispiel gibt es Bundesstaaten, die weitgehend direktdemokratisch funktionieren. Zu meinen, man sei damit alleine, ist falsch. Und wir müssen respektieren, dass auch eine rein repräsentative Demokratie eine Demokratie ist. Der grösste Teil der Schweizer würde wohl behaupten, die direkte Demokratie sei demokratischer als die repräsentative. Bei der Wertung muss man immer aufpassen. Sie selber haben gesagt, sie sei Ihnen lieber. Sie ist mir lieber, ja. Sie ist meine Kultur. In Deutschland hat man den Film sehr interessiert aufgenommen und intensiv diskutiert. Ich sehe die grosse Sehnsucht, die direkte Demokratie auch bei ihnen möglich zu machen. Es gibt ganz allgemein in Europa einen Trend in diese Richtung. Von daher muss ich sagen: Ja, vielleicht sind wir irgendwo demokratischer. Aber das Paradox ist, dass ganz vieles in der Schweiz so spät aufs Tapet kam. Wieso dauerte es so lange, bis das Frauenstimmrecht eingeführt wurde? Haben Sie eine These? Ich glaube, es ist ein Grundproblem der direktdemokratischen Mitbestimmung, dass es immer ein Wir und die Anderen gibt. Wir sind die, die abstimmen dürfen. Und die anderen sind die, die nicht abstimmen dürfen. Das sind 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung, und damit ist es für mich fraglich, ob unsere Demokratie wirklich so repräsentativ ist. Und das Teilen von Macht ist ein Problem. Wenn man den Frauen das Stimmrecht gibt, schwächt man sich selber als Mann. Ich glaube, die gleiche Tendenz ist mit dem Ausländerstimmrecht da. Wir wollen die Macht nicht teilen. Das ist vielleicht ein Ur-Handicap der Demokratie. Wieso läuft die Diskussion über die direkte Demokratie eigentlich immer auf die Diskussion über Links und Rechts hinaus? Weil das die Kräfte sind, die das System am meisten prüfen. Momentan tut dies gerade die Rechte sehr stark. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir über die Extreme das Normale definieren. Das Normale, die Demokratie in unserem Fall, muss aber auch funktionieren, wenn der grosse Sturm da ist. Und der ist zurzeit da. Deswegen dreht sich die Diskussion sehr stark um die Pole. Ist denn das Demokratieverständnis zwischen Links und Rechts unterschiedlich? Ja, ich denke schon. Die Rechte will nicht akzeptieren, dass ein Staat im Zusammenspiel mit verschiedenen Teilen funktioniert und jeder Teil seine Berechtigung hat. Ich glaube, Blocher und Konsorten akzeptieren nicht, dass es eine Gerichtsbarkeit gibt. Ich glaube, Christoph Blocher ist wahnsinnig überzeugt davon, dass es falsch ist, Richter zu haben, die Entscheide fällen können, die dem Volk vielleicht nicht gefallen. Deshalb greife ich tatsächlich die Rechte an mit meinem Film. Früher hatte die Linke aber genau das gleiche Problem. In den Siebzigerjahren hatte sie in der ganzen Ideologisierung und in ihrem Marxismus das Gefühl, sie habe immer recht.

Wieso war Ihnen im Film der Blick über die Grenzen wichtig, nach Deutschland, Frankreich und Österreich? Ich wollte unsere Demokratie spiegeln und einerseits zeigen, wie positiv sie gesehen wird. Anderseits kann der Blick von aussen auch alles infrage stellen. Je mehr emotionale, symbolische Initiativen in der Schweiz durchkommen, desto weniger wird die direkte Demokratie in Deutschland eingeführt. Dass es in Deutschland so selbstverständlich ist, dass es eine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt – eine starke Institution, die politische Entscheide korrigieren kann –, empfinde ich als bedenkenswerten Input für unseren Diskurs. Ob es tatsächlich die Lösung ist, sei dahingestellt. Aus der Aussensicht hat unsere Demokratie Konstruktionsfehler? Man kann feststellen, dass die direkte Demokratie ursprünglich nicht so gedacht war, wie sie heute praktiziert wird. So wurde das Initiativrecht eigentlich für diejenigen Kräfte geschaffen, die in Parlament und Regierung nicht vertreten sind. Im Zweiten Weltkrieg dann wurde die direkte Demokratie sistiert und durch ein Vollmachten-Regime ersetzt. 1949 wurde dem Volk – also den Männern damals – die Frage vorgelegt, ob man die direkte Demokratie wieder einführen soll. Es war mit 50,7 Prozent Ja-Stimmenanteil eines der knappsten Abstimmungsresultate je. Das scheint mir eine sehr wohltuende Relativierung der Überzeugung, dass uns die Demokratie sozusagen in den Genen liege. Kein System ist gottgegeben. Es ist gewachsen. Und man muss ständig darüber nachdenken, wie man es verändern und verbessern kann. ■ Kommentar zum Thema auf Seite 7.

«Die Demokratie ist los!» In Teilen der Schweizer Bevölkerung macht sich ein Unbehagen über die künftige politische Ausrichtung des Landes breit: Die überraschenden Entscheidungen zu Minarett-, Ausschaffungs- und Masseneinwanderungsinitiativen kollidieren in Wortlaut und Umsetzung teilweise mit der Schweizer Verfassung oder mit internationalen Verträgen. Dazu befragt Thomas Isler in seinem Dokumentarfilm Politiker wie den grünen Alt-Nationalrat Jo Lang, SP-Nationalrätin Amarelle Cesla oder SVP-Alt-Bundesrat Christoph Blocher sowie Juristen wie CVP-AltBundesrichter Giusep Nay oder Helen Keller, Schweizer Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Seine Suche nach dem Zustand unserer heutigen direkten Demokratie zeigt ihre Chancen genauso wie ihre Grenzen. Thomas Isler: «Die Demokratie ist los!», CH 2015, 82 Min. Der Film läuft ab 3. September in den Deutschschweizer Kinos.

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dazu, dass wir uns überlegen fühlen. Es wird uns von Kindesbeinen an erzählt, wie wichtig bei uns das Volk sei und wie sehr bei uns auf das Volk gehört werde.


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Griechenland Ein Floss im Sturm Die vor zwei Jahren gegründete Athener Strassenzeitung «Shedia» ist für viele ein Rettungsanker in der Not. Und die Griechen zeigen sich in der Krise solidarisch: Sogar Arbeitslose, die selber fast kein Geld haben, kaufen die Zeitung jenen ab, die gar keines haben. VON STEVEN MCKENZIE

Invisible Tours. Sie zeigt Besuchern eine andere Seite von Athen, einschliesslich der immer wichtiger werdenden Suppenküchen und der Obdachlosenunterkunft, in der sie schläft. Dort wird sie aber nicht mehr lange bleiben. «In ein, zwei Monaten ziehe ich in meine eigene Wohnung», erzählt sie freudestrahlend. Shedia ist stolz darauf, dass es rund 20 ihrer Verkäufer durch den Verkauf von Strassenzeitungen geschafft haben, das Leben auf der Strasse oder in einer Obdachlosenunterkunft hinter sich zu lassen und in ihr eigenes Heim zu ziehen. Als jedoch die Banken schlossen und die Bezugslimiten auf 60 Euro pro Tag beschränkt wurden, hatte Chris Alefantis Angst um das Einkommen seiner Verkäufer: «Am Tag nach der Ankündigung des Referendums machten wir uns grosse Sorgen, ob unsere Verkäufer unter diesen Umständen überhaupt Zeitungen verkaufen können. Die Verkaufszahlen gingen leicht zurück, aber nicht annähernd so stark, wie wir befürchtet hatten. Sie fielen um 20 Prozent, aber wenn man bedenkt, dass der gesamte Markt das Landes zusammengebrochen ist, ist das doch verständlich. Shedia-Leser sind alltägliche Stammkunden. Sie glauben noch an Liebe und Zusammenhalt und bringen dies im Umgang mit unseren Verkäufern zum Ausdruck.»

«Fast alle unsere Verkäufer sind Opfer der Finanzkrise», sagt Chris Alefantis, Redaktor und Mitgründer der Athener Strassenzeitung Shedia, zu Deutsch «Floss». «Sie hatten Arbeit, eine Wohnung, eine Familie. Sie verloren ihre Arbeit, ein paar Monate später ihre Wohnung, und dann alles.» Shedia funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie Surprise und die meisten Strassenzeitungen weltweit: Die Verkaufenden behalten die Hälfte des Verkaufspreises, bei Shedia sind dies 1 Euro 50. Gegründet wurde die Zeitung 2013 in Athen auf dem Höhepunkt der Finanzkrise. Griechenlands Sozialsystem kollabierte, der Staat war auf die Entwicklung nicht vorbereitet. Vor dem Ausbruch der Krise wurde Arbeitslosigkeit noch meist im Familienverband aufgefangen, es fehlten die staatlichen Strukturen, um die Folgen einer Wirtschaft im freien Fall zu korrigieren. Nach offiziellen Zahlen sind 30 Prozent der Griechen ohne Krankenversicherung, tatsächlich dürften es aber bis zu 50 Prozent sein. Auch Obdachlosigkeit betraf plötzlich nicht mehr nur eine relativ kleine Anzahl Menschen, die psychisch krank oder drogenabhängig waren, sondern Leute, die vor Kurzem noch eine Arbeit hatten und sozial inteVon der Käuferin zur Verkäuferin griert waren. Alefantis stellt eine weitere Verkäuferin vor, Despina Merkouri, die Laut Schätzungen gibt es in Athen und Umgebung 15 000 bis 20 000 früher als Leiterin bei einer Marktforschungsfirma arbeitete. Sie wurde Obdachlose. Die Jugendarbeitslosigkeit des Landes liegt bei 50 Prozent, arbeitslos, als die älteren Angestellten durch jüngere Arbeiter auf temaber Alefantis sagt, für Arbeiter ab 45 Jahren, die entlassen wurden, sei porärer Basis ersetzt wurden. «Ich wusste, dass Shedia eine gute Strases noch schwieriger. Viele der bei Shedia registrierten 170 Verkäufer sind Arbeiter – sie verloren als Erste ihre Jobs, als die Finanzkrise begann. Doch zu den Ver«Wenn du kein Geld hast, spielt es keine Rolle, ob käufern zählen auch Architekten, Verleger und Drachme oder Euro – du hast immer noch kein Geld in Händler. «Jeden Tag kommen neue Leute», der Tasche.» sagt Alefantis. «Es belastet uns sehr, dass wir nicht alle aufnehmen können. Wir haben nicht Chris Alefantis, Mitgründer von Shedia genügend Verkaufsplätze, das ist eines unserer grössten Probleme. In unserer heutigen Persosenzeitung ist, denn ich kaufte sie, als ich noch das Geld dafür hatte», nalversammlung fragen wir uns: Was können wir tun? Wie können wir sagt sie. «Wenn du älter als 35 bis 40 bist, ist es fast unmöglich, einen den Menschen helfen? Wir glauben, dass die Situation im Laufe der Job zu finden. Ich beschloss, dass der Verkauf von Shedia der richtige nächsten Wochen und Monate noch schwieriger wird.» Erst einmal werWeg für mich ist. So halte ich mich über Wasser.» den Hilfesuchende auf eine Warteliste gesetzt. Merkouri erklärt uns, dass ihre Kundschaft nicht nur aus denjenigen besteht, die sichere Jobs haben. Sogar Arbeitslose kaufen die StrassenNur leichter Verkaufsrückgang zeitung, um anderen zu helfen, denen es noch schlechter geht. Viele Eine der vielen, für die Shedia als Rettungsanker dient, ist Maria Gawerden von ihren Verwandten, die ausserhalb von Athen wohnen, tou. «In den Neunzigern arbeitete ich zehn Jahre lang in einem Famiunterstützt. Aber da es riskant ist, Geld über Banken zu überweisen, selienunternehmen, doch dann schloss der Betrieb im Jahr 2004 und ich hen sich viele gezwungen, aufs Land zurückzukehren. Und diejenigen, wurde arbeitslos», sagt sie. «In den nächsten Jahren fand ich nur Geledie noch da sind, können Shedia nicht mehr so regelmässig kaufen. «Sie genheitsjobs als Reinigungskraft jeweils für ein oder zwei Monate.» Da gehen mit traurigem Blick an uns vorbei und sagen, dass es ihnen leid sie ohne regelmässiges Einkommen die Hypothek nicht mehr zahlen tut», erzählt Merkouri. «Momentan ist es schwierig, dieselbe Anzahl von konnte, nahm die Bank ihr Haus in Besitz. Gatou wohnte dann eine Zeit Strassenzeitungen wie früher zu verkaufen, aber es gibt immer noch lang bei einem Freund, bis auch der sein Haus verlor. «Als Shedia geviele Käufer. Als die Banken schlossen, zahlten die Leute in den ersten gründet wurde, habe ich beschlossen, verkaufen zu gehen», sagt sie. Tagen mit Kleingeld – fünf Cent, zehn Cent. Für uns ist das viel. Sie haMaria arbeitet auch als Stadtführerin bei einem anderen Shedia-Projekt, SURPRISE 356/15

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Seit der Finanzkrise ist Obdachlosigkeit in Griechenland keine Randerscheinung mehr – Strassenszene in Athen, Januar 2012.

ben mit dem Wenigen bezahlt, das sie hatten, um unsere Strassenzeitung zu kaufen. Das bestärkt uns, gibt uns Mut und Hoffnung.» Shedia-Verkäufer verkaufen in ganz Athen, auf denselben Strassen und Plätzen, wo häufig Demonstrationen und Kundgebungen sowohl für als auch gegen die Syriza-Regierung oder die Europäische Kommission stattfinden. Dadurch wird denjenigen, die von der Sparpolitik am meisten betroffen sind, ein einzigartiger Einblick in die Situation gewährt. «Man hört Gespräche zur politischen Lage, zum Grexit, darüber, was geschehen wird», sagt Merkouri. «Im Moment wäre eine gravierende Veränderung – um es höflich auszudrücken – schmerzhaft. Wenn man sich ein Jahr lang auf den Grexit vorbereiten könnte, wäre das sicherlich weniger schlimm.» Sie fährt fort: «Jeden Tag hören wir von ultimaten und durchleben dieselbe Panik, jedoch nicht mehr so stark wie vor dem Referendum. Jetzt sagen sich die Menschen: Soll kommen, was mag … Ich bin keine Politikexpertin, aber ich glaube nicht, dass es zum Grexit kommen wird.» Keine Lust mehr auf Schikanen Das von Ministerpräsident Alexis Tsipras einberufene Referendum wurde weitherum als Votum für oder gegen den Euro oder auch die Europäische Union betrachtet. Die Welt war schockiert, als die Bedingungen des Rettungsangebots mit überwältigender Mehrheit abgelehnt wurden. Alefantis schockierte das nicht: «Wenn drei Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben und 30 Prozent arbeitslos sind, sollte dieses Ergebnis nicht überraschen», sagt er. «Wenn du kein Geld hast, spielt es keine Rolle, ob Drachme oder Euro – du hast immer noch kein Geld in der Tasche. Viele haben die Nase voll von unseren sogenannten europäischen Partnern. Sie wollen nur unser Blut saugen, und das können die Menschen zuletzt brauchen. Immer mehr sagen: Ihr könnt uns mal, wir wollen die Drachme wieder.»

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Doch was ist mit denjenigen, die sagen, dass Griechenland sich viel Geld geliehen hat und dieses zurückzahlen muss? «Die Medien sagen, Griechenland sei schuld – glauben Sie das nicht!», ereifert sich Alefantis. «Die Griechen haben die längsten Arbeitszeiten pro Woche in Europa, schauen Sie sich die Zahlen an. Alle finden, dass die Schuldenrückzahlungen nicht tragbar sind. Was sind das überhaupt für Schulden? Wohin ist das Geld geflossen, etwa zur griechischen Bevölkerung? Wann haben unsere europäischen Partner gemerkt, dass sie es in den letzten 40 Jahren mit korrupten Regierungen zu tun hatten und dass viel Geld auf diesem Weg verloren gegangen ist? Während der globalen Wirtschaftskrise? Oh, dafür haben sie aber lange gebraucht. Das ist reine politische Schikane.» Und darauf hätten die Leute einfach keine Lust mehr, konstatiert Alefantis. «In einem EU-Mitgliedsstaat haben Tausende von Häusern keine Elektrizität. Die Hausbewohner sind nicht schuld an der Finanzkrise. Wie sollen wir das einfach so hinnehmen? Wir hassen die Heuchelei der europäischen Technokraten. Viele hier glauben, dass sie kein Interesse daran haben, dass unser Land wieder auf die Beine kommt. Es geht ihnen nur darum, die Banken zu retten.» Alefantis und Merkouri sind sich einig, dass es sich nicht nur um eine wirtschaftliche Debatte handelt, sondern auch um eine politische und moralische. Der Shedia-Gründer meint: «Die Banken kümmern sich nicht um uns, aber was ist mit unserer europäischen Familie? Unserer europäischen Familie sollten wir wichtig sein. Nur mit Liebe und Zusammenhalt können wir es schaffen. Es gibt nur einen Weg nach vorne: Wir müssen optimistisch sein.» – «Und weiter hart arbeiten», sagt Merkouri. «Und niemals aufgeben.» ■ Deutsche Übersetzung von Julie Mildschlag. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom INSP Nachrichtendienst www.INSP.ngo/The Big Issue SURPRISE 356/15


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Cannabis Gr체nes Gold Seit der Legalisierung von Marihuana vor eineinhalb Jahren ist der US-Bundesstaat Colorado im Hoch: Das Gesch채ft mit Cannabis l채sst die Wirtschaft aufbl체hen, die Immobilienpreise explodieren und die Staatskasse klingeln.

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VON PATRICK WITTE (TEXT) UND PATRICK TOMBOLA (BILDER)

nissen eingestiegen. Ich hatte bereits als Jugendlicher mit Gras gedealt und nach dem College neben meinem Job als Versicherungsangestellter. Ich liebte das Gefühl, Geschäfte über das Telefon abzuwickeln, wie ein Broker. Ich war ein guter Dealer, aber ein schlechter Krimineller.»

Als am 1. Januar 2014 das Gras zu Gold wurde, streifte Luke Ramirez gleich frühmorgens dick eingehüllt, aber unverkatert durch die Strassen Denvers. Block für Block starrte er glücklich, aber auch neidisch auf Lä«Starbucks für Gras» den mit Namen wie Medicine Man, Organic Seed oder Natural RemeAls in Colorado 2009 der Anbau von Marihuana zu medizinischen dies. Und vor allem auf die langen Schlangen der geduldig wartenden Zwecken durchzustarten begann, wechselte Luke Ramirez die Seite, Kunden davor. An diesem Neujahrsmorgen legalisierte der Staat Colorawollte endlich legal verkaufen. Ohne Gangs, ohne Waffen. «Ich wusste, do den Besitz, Verkauf und Konsum von Marihuana. Nicht nur für den eine Lizenz für dieses Geschäft zu erhalten ist eine Chance, die man nur medizinischen Gebrauch wie in Kalifornien oder Arizona, sondern auch einmal im Leben bekommt.» Ramirez nennt sich selbst den «Mann für für den Entspannungsjoint in der Freizeit: «recreational marihuana». die Zahlen», ist mit seinen 26 Jahren aber der CEO des Unternehmens. Von da an konnte jeder über 21 Jahre einfach in einen Coffeeshop Er kümmert sich um seine Angestellten und Kunden, den Absatz und reinspazieren und sich von Fachleuten über Geschmack und Wirkung natürlich den Umsatz. Insgesamt 550 Kilo erntet er jedes Jahr von dem von Grassorten wie Bubba Kush, Purple Haze oder White Skunk beragrünen Gold. 750 Pflanzen hat er zweigeschossig auf die 280 m2 Anbauten lassen. Kurze Zeit später und einige Dollar ärmer standen die Cannabis-Freunde bereits wieder auf der Strasse, strahlend wie Kleinkinder fläche zusammengequetscht, längst ist er auf der Suche nach weiteren zu Weihnachten, und nickten kurz den Polizisten in ihren StreifenwaAnbauflächen. Damit, sagt Ramirez, sei er allerdings nur ein Produzent gen zu. Statt sie zu verhaften, sorgten die Cops nun für einen reibungsmittlerer Grösse. Andere ernteten weitaus mehr, und er ist sich sicher, losen Verkauf des Stoffs. Frohes Neues Jahr. dass es bald zwei, drei grosse Anbieter geben wird, «quasi Starbucks für Heute, ein Jahr später, sitzt Ramirez im Trimming-Raum seines GeGras». Die würden zwar ihre Preise senken können, «doch sicherlich auf wächshauses in Stapleton, einem Viertel von Colorados Hauptstadt Kosten der Qualität.» Denver. Und ist Teil einer Industrie, die 2014 Marihuanaprodukte und Keine Option für Ramirez. Top-Produkte sollen ihm eine Nische im Zubehör im Wert von einer knappen Milliarde US-Dollar umgesetzt hat. Markt verschaffen, «eher exklusive Boutique als billiger Supermarkt». Ramirez baut Marihuana an und sorgt für Nachschub für den jährlichen Ein Kilo Marihuana kostet ihn im Anbau 2500 Dollar, vor allem für Bedarf von schätzungsweise 130 Tonnen Gras in Colorado. Normalerweise sitzen hier von Luke Ramirez’ Rechnung geht auf: «Unsere Gewinnmarge liegt bei Montag bis Freitag sechs Angestellte und 100 Prozent, wir bekommen für jeden investierten Dollar zwei heraus.» schneiden von neun bis fünf die nutzlosen, weil kaum THC-haltigen Blätter von den klebrigen, potenten Blüten, trimmen sie also. Doch es ist bereits nach fünf, Strom, Wasser und Dünger – Marihuanapflanzen sind gierig. Doch die auch in der Marihuana-Industrie wird der Feierabend penibel eingehalRechnung geht auf: «Unsere Gewinnmarge liegt bei 100 Prozent, wir beten. Und so sitzt Ramirez an dem schmalen, einfachen Tisch an der kommen für jeden Dollar, den wir investieren, zwei heraus.» Kein WunWand und redet gegen die Lüftung an, die unablässig versucht, den fender, dass auch Ramirez von einem neuen Grasrausch in Colorado sterlosen Raum von dem schweren, süsslichen Geruch zu befreien. spricht. «Irgendwann wird es einen nationalen Markt für Marihuana in den ganzen USA geben. Sicherlich werden dann unsere Gewinne gerinGuter Dealer, schlechter Krimineller ger sein. Aber bis dahin sind wir die Könige.» Ramirez trägt ein schwarzes Jackett und ein weisses Businesshemd, dazu Jeans. Wie die ganze Marihuanaindustrie will er seriös wirken, ohBlühender Arbeitsmarkt ne das legere Image zu vergessen. Zusammen mit einem Teilhaber beDie Könige sind allerdings nicht allein in ihrem Reich. Vor den Toren sitzt er noch ein weiteres dieser typischen, unscheinbar wirkenden LaDenvers liegt der trist wirkende Betonflachbau der wahren Regenten. In gerhäuser, in dem er Marihuana anbaut, dazu noch den Coffeeshop Block B residieren die Torwächter zum Millionengeschäft: die «MariWalking Raven: Von der Aussaat bis zum Verkauf der Blüten liegt alles huana Enforcement Division», eine Unterabteilung der Steuerbehörde in ihren eigenen Händen. Mit einem Grinsen erzählt er: «Seit die Wähvon Colorado. 2010 ins Leben gerufen, um den Anbau von mediziniler 2012 im Referendum für die Legalisierung von Marihuana gestimmt schem Marihuana zu regulieren, ist die Behörde nun vor allem damit behaben, wussten wir natürlich, dass die Freigabe kommt. Wir haben es schäftigt, Lizenzen für den neuen Geschäftszweig auszustellen. gelesen, haben auch mitbekommen, wie die Läden ihr Sortiment umge«Colorado ist der erste Staat, der dieses Experiment wagt. Wir hatten baut haben.» Aber zu sehen, wie ein abstrakter Paragraf eine neue, eikein Modell, an dem wir uns orientieren konnten», sagt Ron Kammergene Wirklichkeit schafft, war für ihn dann doch «etwas Besonderes». zell, seit 2012 leitender Direktor der Behörde. Kammerzell ist Mitte 50, Neidisch war er nur auf die Tatsache, dass andere Marihuanaproduzenseine Haare sind kurz geschoren, die gelbe Krawatte eng gebunden. Man ten vor ihm eine Lizenz zur Produktion von «recreational marihuana» sieht ihm an, dass er, wenn überhaupt, mal an einem Glas Whiskey bekommen haben. Die Behörden der Stadt waren von den Anträgen nippt. Aber Marihuana? «Noch nie in meinem Leben.» Kammerzell schlicht überschwemmt worden. möchte die Legalisierung auch nicht werten: «Das Volk von Colorado hat «Doch es war nur eine Frage der Zeit. Meine Überprüfungen verlieentschieden», meint er nur. Ob Angestellter, Züchter oder Coffeeshopbefen alle reibungslos», sagt Ramirez. Und als er achtzehn Tage später mit sitzer – jeder, der in direkten Kontakt mit Marihuana kommt, muss sich seiner Lizenz ganz offiziell an dem Millionenspiel teilnehmen durfte, bei Kammerzell und seinen Kollegen um eine entsprechende Lizenz bewar ihm endgültig klar: das ganze Risiko, die Fast-Pleiten, die Monate werben. Bislang hat die Behörde davon 800 für Coffeeshops und Züchin seiner Bruchbude, ohne Fernseher, aber mit viel Alkohol, all das war ter erteilt. Und über 10 000 für deren Angestellte – in Colorado blüht nun vorbei. «Ich und mein Teilhaber sind mit unseren ganzen Ersparauch der Arbeitsmarkt auf. Kammerzell betont: «Uns waren von Anfang

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Luke Ramirez, Marihuana-Industrieller: «Bis es einen nationalen Markt für Marihuana gibt, sind wir die Könige.»

Ron Kammerzell, Direktor der «Marihuana Enforcement Division», möchte die Legalisierung nicht werten: «Das Volk hat entschieden.» SURPRISE 356/15

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Matt Brown brach seine Managerkarriere in New York ab, um nach Colorado zu ziehen. Er leidet an der Erbkrankheit Morbus Crohn, Marihuana hilft.

nicht mehr Bikergangs und Drogenkartelle, während der Staat Millionen an vor allem zwei Aspekte wichtig: die Kartelle aus dem Geschäft zu für einen erfolglosen Krieg gegen Drogen zahlt. Von nun an profitieren halten und dafür zu sorgen, dass Marihuana nicht in die Hände von die Bürger von Colorado. Allein für den Transport der Ernte vom GeMinderjährigen gerät.» Jeder Bewerber, vor allem aber Züchter und Lawächshaus zum Coffeeshop kassiert Colorado eine Steuer von 15 Prodenbesitzer, wird daher von Kammerzell und seinen Kollegen intensiv zent, dazu kommen weitere Abgaben von insgesamt über 12 Prozent. überprüft. «Wer will eine Lizenz? Warum? Hat er Vorstrafen? Woher Der Staat bekommt also von jedem umgesetzten Dollar seine 27 Cent. kommt sein Kapital?» Wenn Fragen wie diese nicht eindeutig geklärt werZusätzlich dürfen die lokalen Verwaltungen eine eigene Steuer erheben. den können, rückt die begehrte Lizenz schnell in unerreichbare Ferne. Doch auch nach einer erfolgreichen Bewerbung lässt der Staat seine Klientel nicht aus Die Gras-Steuer hat Schattenseiten: Während das Gramm früher für den Augen. Ob Aufzucht, Verarbeitung oder ein paar Dollar zu kaufen war, kostet es nun 15 Dollar. Arme Kiffer geVerkauf – jede Bewegung in den Coffeeshops, hen da lieber wieder zu ihrem Dealer. Treibhäusern oder Trimmingräumen wird lückenlos von fest installierten Kameras überDie Stadt Denver etwa nahm mit einer Verkaufssteuer von 3,5 Prozent wacht. Und sobald ein Marihuanasprössling seine zarten Blätter entfalzusätzlich über 15 Millionen Dollar ein. Es ist Geld, das zurückfliesst in tet, bekommt er einen Plastikbadge mit integriertem Chip angelegt, je Anti-Drogen-Kampagnen, Schulen oder den Gesetzesvollzug. Oder eben nach Bestimmung entweder gelb für den medizinischen oder blau für in die Marihuana Enforcement Division. den Freizeitgebrauch. Dieser Chip muss in ein Computerprogramm ein«Alles in allem sind wir zufrieden», sagt Kammerzell. «Haben wir algescannt werden, auf dessen Daten die Behörde jederzeit zugreifen les richtig gemacht? Nein. Aber wir arbeiten an Verbesserungen. Regelkann. Vom Samen bis zum Verkauf will die Enforcement Division so den mässig halten wir runde Tische mit Vertretern der Marihuana-Industrie Weg jeder einzelnen Pflanze nachverfolgen, ein kostspieliges Verfahren. ab, aber auch mit Ärzten, Lehrern und Staatsanwälten.» Gerade bei den Aber es finanziert sich von selbst, denn jedes verkaufte Gramm bringt Steuern gelte es, aufmerksam zu bleiben. Denn die Steuern auf Maridie Staatskasse von Colorado zum Klingeln. huana kreierten auch ein Problem: den Schwarzmarkt. Während das Gramm Gras in illegalen Zeiten für ein paar Dollar zu kaufen war, kostet 43,3 Millionen Dollar Steuereinnahmen es nun 15 Dollar. Gerade Studenten, Künstler und andere treue, aber arAllein in den ersten Tagen nach der Legalisierung verkauften die dame Raucher gehen da lieber wieder in den Park zu ihrem alten Stammmals insgesamt 51 Coffeeshops Marihuanaprodukte im Wert von fünf dealer. Dennoch: Verzichten will Colorado auf das Geld der MarihuanaMillionen US-Dollar. Und bis zum Oktober 2014 nahm der Staat ColoraIndustrie auf keinen Fall. Die geschätzten Steuereinnahmen aus dem do 43,3 Millionen Dollar an Steuern ein. Tendenz steigend, denn noch Verkauf von Marihuana tauchen bereits in den Budgetplänen des Staahaben nicht alle der 800 lizenzierten Züchter und Ladenbesitzer ihre Totes für die nächsten fünf Jahre auf. re geöffnet. Marihuana gab es in Colorado immer. Doch nun profitieren

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Marihuana zum Trinken: Marktwirtschaft macht erfinderisch.

Matt Brown, einer der Architekten der Legalisierung, steht auf einer zugigen Brücke der Interstate 70, die den dichten Verkehr durch Denvers Stadtteil Stapleton leitet, und zündet sich im Windschatten seiner Jacke eine Zigarette an. Stapleton liegt ausserhalb des Zentrums. Es ist noch kein reines Industrieviertel, aber viele Lagerhäuser, Möbelfabriken und Autowerkstätten prägen noch immer das Bild der Gegend. Brown blickt auf das Panorama der schneebedeckten Rocky Mountains, dann auf die neugebauten Apartmentkomplexe und Einfamilienhäuser vor ihm und schlägt mit seinem Arm einen grossen Bogen, der den ganzen Stadtteil umfassen soll. «All das», sagt Matt Brown, «war früher die ‹Hood›, eine Geisterstadt am Ende der Flughafenlandebahnen. Hier hausten Obdachlose und Junkies in leer stehenden Häusern mit eingeschmissenen Fenstern. Jetzt wachsen die Ecken, in denen junge Familien wohnen. Stapleton holt auf.» Big Business in entspannter Athmosphäre Auch dank ihm. Vor Jahren arbeitete er für Bloomberg und Accenture in New York, hatte eine grosse Wirtschaftskarriere vor sich. Doch er zog nach Denver. Denn dort konnte er bereits 2007 Marihuana auf Rezept bekommen. Browns Gene tragen die Krankheit Morbus Crohn, eine chronische, schmerzhafte Entzündung des Verdauungstrakts. Und abgesehen von Chemiekeulen lindert Marihuana die Symptome am besten. 2009 entschied sich Brown schliesslich ganz dafür, «eine Stimme der Marihuana-Industrie» zu werden. Zu gross waren für ihn die Vorteile der Pflanze: ob medizinisch als Mittel gegen Epilepsie, Krebs, Depressionen oder eben Morbus Crohn oder auch wirtschaftlich als Rohstoff für Papier, Baustoffe oder Kleidung. Und zu unsinnig erschien ihm ihr Verbot. Brown lobbyierte, jeden Tag, jahrelang, insbesondere, um die konservativen Politiker auf seine Seite zu ziehen. Dabei spielte Brown nicht die «Karte der Wundermedizin», wie er es beschreibt, sondern «das SURPRISE 356/15

Pik-Ass der Wirtschaft». Colorado ist Farmerland. Und die Erfahrungen der medizinischen Marihuana-Industrie seit 2009 legten nahe, dass nicht nur auf Colorados Bauern rosige Zeiten warteten – wenn das Gesetz es nur zulassen würde. «Stapleton lag damals im Koma, die Rezession 2008 gab dem Viertel quasi den Rest. Niemand konsumierte, niemand investierte, alles lag still», erinnert sich Brown. «Die Marihuana-Industrie war hier ganz klar ein Katalysator. Wir hatten das Geld und heuerten die Leute an.» Denn damals galt das Prinzip do it yourself. Gerade für die Um- und Einbauten, für Belüftungsanlagen, Bewässerung oder Licht. «Wirklich verdient haben in jenem Jahr nicht die Züchter, sondern die Handwerker von Stapleton», sagt Brown. Die konnten plötzlich wieder neues Personal einstellen. Diese wiederum kurbelten die Binnennachfrage an und investierten. Ein lange unterbrochener Wirtschaftskreislauf kam wieder in Schwung. Nur einen Monat nachdem die ersten Gewächshäuser aufgemacht haben, öffneten bereits wieder Tankstellen, die seit fünf Jahren geschlossen waren. Mittlerweile seien 50 bis 60 Prozent dieser Lagerhäuser in Stapleton Graszuchten, sagt Brown. Gebäude, die vor fünf Jahren gerade einmal 50 000 Dollar wert waren, würden heute auf zehn Millionen geschätzt. High Times in Denver. Andere Industriezweige können sich bereits gar nicht mehr leisten, nach Stapleton zu ziehen. Der Geruch des Motorenöls wurde längst vom süsslichen Duft des Marihuana abgelöst. Manche sehen statt eines Booms bereits eine Blase. Doch noch immer stehen die Investoren Schlange, stellen laut Brown «einfach so Schecks über Millionen» aus. Und die Züchter brauchen das Geld: Allein eine Bewerbung für eine Lizenz kostet 30 000 Dollar, dazu muss man mit weiteren 250 000 Dollar rechnen, um eine Zucht erfolgversprechend zum Laufen zu bringen. Dennoch soll die entspannte Atmosphäre, von der viele im Business schwärmen, erhalten bleiben. «Wir machen den Job nicht für den schnellen Profit», sagt Matt Brown. «Wir wollen nicht einfach Geld aus den Vierteln abziehen und verschwinden. Wir wollen einen entspannten Lebensstil führen, die Leute ein wenig high machen. Manchmal ist es einfach gut, die Leute zum Kichern zu bringen.» THC-Gummibärchen für Nichtraucher Die Köpfe der Marihuana-Industrie hingegen sind absolut klar und arbeiten längst an der Zukunft. Brown sieht diese vor allem in den medizinischen Anwendungsbereichen der Pflanze, extrahiert mit seiner Firma Cannabinoide aus dem Hanf und geht bald Allianzen mit der Pharmaindustrie ein. «Ein Millionengeschäft», wie er sagt. Doch auch in der Gegenwart hat die kleine grüne Blüte einen Markt mit fast unendlichen Möglichkeiten geschaffen. Die Tourismusbranche erlebt seit 2014 ganz neue Höhen, Start-ups reissen sich um den Internetmarkt, planen ein lizensiertes Ebay für Marihuana, von den Zulieferern für Gartenbau, Computeranlagen oder Kameratechnik ganz zu schweigen. Es wirkt, als habe Colorado das Marihuana quasi erfunden und weiterentwickelt. Der neueste Trend sind «edibles», mit Marihuana versetzte Nahrungsmittel: Softdrinks, Schokolade, Gummibären oder natürlich der klassische Cookie. Sie sollen vor allem die Mittelklasse ansprechen, die Erst- und Gelegenheitskonsumenten, Eltern, die zu Collegezeiten mal einen Joint geraucht haben, und die Nichtraucher. Doch über der schönen grünen Wunderwelt schwebt ein Damoklesschwert: Zwar ist Marihuana im Staate Colorado legal, doch in den Gesetzen der USA sind die Blüten noch immer eine Substanz der Klasse A, also verboten. Fast das gesamte Business ist daher ein Cashbusiness, Banken könnten, sobald sie einen Kredit bewilligen oder Geschäftsbeziehungen mit der Marihuana-Industrie eingehen, wegen Beihilfe zur Drogenproduktion oder Schmuggel geschlossen werden, Gefängnisstrafen für die Angestellten inklusive. Doch wer auf das Ausmass der Marihuna-Industrie in Colorado blickt, kann sich kaum vorstellen, dass dieses Rad jemals wieder zurückgedreht werden wird. Im Gegenteil: «Irgendwann wird Marihuana wie Tomaten behandelt werden», ist sich Brown sicher. Und die kann man nicht einmal rauchen. ■

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Fremd für Deutschsprachige Kontrolle Öffentliche Verkehrsmittel dienen leider oft als Sammelcontainer für alle denkbaren Formen von Feindseligkeit, so auch von Alltagsrassismus. Ich jedenfalls werde mindestens monatlich Zeugin entsprechender Szenen. Sei es, dass ich mitkriege, wie Leute direkt beschimpft werden («Wir sind hier nicht im Busch!»), sei es, dass ich unfreiwillig zur Zuhörerin rassistisch dekorierter Berichte werde («Neulich hat mein Schüler, der Balkanpinsel …»). Ich selbst als jemand, dem man «es» nicht so ansieht, werde zwar kaum zur Zielscheibe solcher Anfeindungen, bin jedoch, gerade weil inkognito unterwegs, besonders geeignet, solche indirekt mitzubekommen. Dass der ÖV ein Ort von Begegnungen auch der unangenehmen Art ist, hat die SBB erkannt und mit einer überraschend guten Kampagne

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pariert: «Unterwegs zu Hause», heisst es da über den Porträts von Leuten verschiedenen Alters, Geschlechts, Einkommens und unterschiedlicher Hautfarbe. Feinsinnig die Botschaft: Mobilität und folglich auch Vielfalt sind der Normalzustand. Doch seit Kurzem mischt sich mir ein bitterer Beigeschmack hinzu beim Anblick der schönen Plakate. Dies wegen einem meiner jüngsten Zug-Erlebnisse: Sonntagmorgen auf der Strecke Basel–Zürich, kaum Leute im Zug und ich bin der einzige Fahrgast im Waggon. Nach einer Weile kommen eine Kontrolleurin und ein Kontrolleur vorbei, die sich nach der Ticketkontrolle drei Abteile vor mir niederlassen und zu plaudern beginnen. Der Zug gleitet durch die sonnige Landschaft und ich dämmere in einen verkaterten Halbschlaf hinüber. Nur ab und an schnappe ich einen Gesprächsfetzen der beiden auf; sie verstehen sich gut, was bestens zu meinem idyllischen Sonntag passt. Doch um Baden herum kehrt die Sache ins Unangenehme, das Wort «Neger» klatscht mir plötzlich gegen das Ohr und ich horche auf: Es scheint um eine Person zu gehen, über die der Kontrolleur sich neulich geärgert hat, die er gar am liebsten angezeigt hätte. Aber das bringe ja nichts. Ich interpretiere, dass es sich um eine rassistische Anfeindung eines Fahrgastes gegenüber einem weiteren, schwarzen Fahrgast gehandelt haben muss, den der Kontrolleur verteidigt ha-

be. Weit gefehlt: Es geht um einen Passagier, einen älteren schwarzen Mann, den der Kontrolleur schon zwei Mal ohne Ticket angetroffen habe: «Und dann war der auch noch schmutzig, richtig gestunken hat der!» Mir stockt der Atem – erst recht, als der Mann zur Illustration in die kolonialistische Reimkiste greift: «Ja ja, du: Die Mohren mit den dreckigen Ohren!» Mir klingelt der Schädel und ich will grad aufstehen und zu ihm rübergehen, als seine Kollegin zu bedenken gibt: «Ja gut, dass er nicht so sauber war, könnte damit zu tun haben, dass er obdachlos ist …» Doch noch ehe der Satz richtig zu mir durchgedrungen ist oder der Mann etwas hätte erwidern können, lenkt sie, offenbar um die kollegiale Eintracht besorgt, wieder ein: «Aber na-nein, wer in der Schweiz sauber sein will, der kann das auch.» Schändlich fällt meine Zivilcourage in sich zusammen. Mein Mund bleibt zugeklebt, noch als der Zug in Zürich einrollt. Ich nehme meinen bekloppten Rollkoffer und ziehe ihn über die Türschwelle, am runden, braunen Gesicht des kleinen Malo vorbei, der unterwegs in der Schweiz angeblich auch «zu Hause» ist.

SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 356/15


Street Art Urban wie die Steinzeitmenschen BILD: ZVG

Graffiti und Tags werden in Zürich zügig weggeputzt. Länger leben die urbanen Kunstwerke in der Starkart Galerie, die in den kommenden Wochen den Tags huldigt. VON EVA HEDIGER

Urban Art in einer Galerie auszustellen, geht das überhaupt? Ja, findet der Zürcher Roman Leu. 2009 gründete er die Starkart Galerie – Urban Art Exhibitions. In den Räumlichkeiten an der Zürcher Brauerstrasse zeigt Leu Kunst, die eigentlich auf der Strasse stattfindet. Aktuell sind es Tags, die Namensschriftzüge von Graffiti-Künstlern und Crews. Leu ist eng verknüpft mit der Szene, er hat als Teenager selbst gesprayt. Nach einer Pause eröffnet er jetzt die Galerie neu. «Auch aus diesem Grund habe ich mich für Tags entschieden: Sie sind der Anfang der Kunst.» Tags gelten als die Vorformen von Graffiti. Bereits Steinzeitmenschen kritzelten sie an Höhlenwände. Heute sind Tags für viele Stadtbewohner nur unerwünschte Schmierereien. Doch Leu stellt klar: «Es gibt Tags, die so kunstvoll sind wie japanische Schriftzeichen.» Deshalb lautet der Titel der aktuellen Ausstellung auch «Offspace – Kalligrafie der Strasse». Leu macht klar, dass Tags einen künstlerischen Anspruch haben. «Tags werden noch immer stiefmütterlich behandelt», erklärt Leu, «selbst von Museen, die Graffiti ausstellen.» Denn diese Form der Strassenkunst boombt, Künstler wie Banksy werden international gefeiert. Leu profitiert mit seiner Ausstellung zwar auch von der Kommerzialisierung der Urban Art, aber grundsätzlich steht er ihr kritisch gegenüber: «Durch die Popularisierung entsteht eine Verflachung. Viele fangen an, Graffiti als Kunstform anzuerkennen. So kann ein Kunstschüler die Technik und Sprache erlernen und damit viel Aufmerksamkeit generieren – auch wenn er keinen persönlichen Bezug zur Street Art hat.» Gleiches gelte für die Käufer: «Die Kunstwerke werden zum reinen Prestigeobjekt. Ein Graffiti von Banksy zu besitzen, steigert das Selbstwertgefühl des Sammlers.» Niemand weiss, wie Banksys bürgerlicher Name lautet. Seine Identität hält der Engländer geheim. Genau wie Leu jene der zehn bis 20 Künstler, deren Tags in der Starkart Galerie zu sehen sind. Dieser Entscheid ist keine effektheischende Geheimniskrämerei, sondern schützt die Ausstellenden, denn Graffiti-Künstler bewegen sich an der Grenze zur Illegalität. Die Anonymität gefällt dem AusstellungsmaSURPRISE 356/15

Hier drin erleben die Künstler ihre 15 Minuten Anonymität.

cher: «In Zeiten von globaler Überwachung und in einer Gesellschaft, in der Andy Warhols berühmtes Zitat der ‹15 minutes of fame› mit Facebook schon längst Realität geworden ist, liegt der Reiz wieder vermehrt darin, für 15 Minuten anonym zu bleiben.» Roman Leus Galerie liegt im hippen Kreis 4. Wie verbreitet sind Graffitis hier, in der ganzen Stadt? «Zürich ist zwar klein, hat aber ein grosses Budget. Deshalb werden die Graffitis rigoros weggeputzt», meint Leu. Die Geschichte der Strassenkunst wird immer wieder zerstört und kann nur dank Fotos und Erzählungen weiterleben. Was während der Ausstellung wann genau passieren wird, hat Leu vor der Eröffnung noch nicht festgelegt. Klar ist jedoch, dass sich die dreiteilige Ausstellung und ihre Objekte stetig verändern – und dass drei Vernissagen gefeiert werden: Der erste Teil «Kreation» startet am 26. August, der zweite Part «Kommerzialisierung» beginnt an der langen Nacht der Museen am 5. September. An diesem Abend ist eine Führung durch die Ausstellung sowie eine Filmvorführung und eine Überraschung geplant. Die dritte Vernissage

findet am 25. September statt und ist gleichzeitig die Schlussfeier. Deren Motto lautet «Zerstörung». Während der letzten Tage sind auch die Tags des Nachwuchses zu sehen. Denn während der Ausstellung findet ein zweitägiger Workshop für Jugendliche mit dem Titel «Tag und Throw-up» statt. Am Samstag lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, mit Papier und Stift ihren eigenen Stil zu finden. Am Sonntag werden an Stellwänden die Tags gesprayt. Dabei erfahren die Teenager auch, wie sie sich und die Umwelt schützen, wo es legale Plätze für ihre Kunst gibt und wie diese geschickt entstehen kann. So ist auch für die nächste Generation von Streetart-Künstlern gesorgt – fernab von der Kunstschule. ■

Starkart Urban Art Exhibitions, Brauerstrasse 126, Zürich, Mi, 26. August bis Fr, 25. September, Mi bis Fr, 18 bis 20 Uhr, Sa, 14 bis 20 Uhr. starkart.org

Workshop in Zusammenarbeit mit dem Verein «Home of Arts»: Sa, 19. und So, 20. September, jeweils 13 bis 16 Uhr.

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Kultur

In dieser Strasse verbindet die Leute ein gemeinsames Wort: «Merde!»

Diese Herren mischen Indie-Rock-Rhythmen in Synthi-Pop.

Buch Aussicht auf Betonklötze

Synthi-Pop Computer-Soul mit Folk-Gefühl

In der Chronik ihrer Strasse entfaltet Barbara Honigmann eine ganze Welt im Kleinen.

Die Londoner Band Hot Chip verneigt sich vor der Musikgeschichte und ist dennoch unverkennbar sich selber.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON HANSPETER KÜNZLER

Die Rue Edel in Strassburg ist keine «Edel»-Strasse. Hier wohnt man, wie Barbara Honigmann in einem wiederkehrenden Refrain schreibt, nur am Anfang und zieht möglichst bald weg, in eine bessere Gegend mit Blick auf das Europaparlament oder die Kathedrale, auf Gärten oder einen Park, nicht auf eine baumlose Strasse und auf hässliche Betonklötze gegenüber. Für manche ist es aber eine Strasse des Hängenbleibens, wie für die Autorin und ihre Familie. Doch bei ihr ist es kein verpasster Auf- oder Ausstieg, sondern eine gelebte Liebeserklärung. Es ist eine sehr gemischte Nachbarschaft, mit vielen Völkern, die sich «nach dem Rhythmus der Weltkonflikte erneuern» – und die sich aus dem Weg gehen, denn es ist vielleicht multikulti, aber kein melting pot. Und so «ruft, redet, spricht, brüllt und schreit» es zwar in vielen fremden Sprachen, aber es gibt eigentlich nur ein gemeinsames Wort: «Merde!» Das verbindet den Vielvölkerstaat en miniature mit dem anderen Frankreich, den echten Franzosen, die auch hier leben. Verlotterte Gestalten am unteren Ende der Einkommensskala, die nur zu gern über die Fremden schimpfen. In all dem lebt die Autorin, seit sie selber die DDR noch vor der Wende verlassen hat, als eine, die nicht «von hier» ist, aber auch nicht mehr «von dort». Das hat sie mit vielen in ihrer Strasse gemeinsam, die wie sie «irgendeine verlassene Heimat mit sich herumtragen». Das sind nicht selten dramatische Schicksale, etwa aus der Zeit des Naziterrors, aber auch neuere aufgrund aktueller Greueltaten und -staaten und solche, die der Alltag und das Jetzt schreiben. Wie von einem ruhenden Pol blickt die Autorin von ihrem Schreibtisch aus durch das Fenster auf den Korridor ihrer Strasse und lässt uns an all den Lebensgeschichten teilhaben und an einer Gegenwart, in der die Vergangenheit ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen hat. Wie in einem Bewusstseinsstrom ziehen die kleinen und grossen Begegnungen und Begebenheiten an uns vorbei, und die Sprache entfaltet dabei einen stillen Sog, der uns eine Lektüre lang zum Bewohner dieser Strasse macht, in der sich die ganze Welt widerspiegelt.

Kaum eine Band hat das altgedienten Genre «Synthi-Pop» in den letzten Jahren nachhaltiger geprägt als die Londoner Band Hot Chip. Ein Rhythmus-Gefühl, das eher vom Indie-Rock herzukommen scheint, kombiniert mit dem herbstlich-folkigen Tenor von Alexis Taylor und einem feinen Ohr für eigenwillige und doch ohrwurmige Melodien, hat ihnen allerhand Hits und vor allem viel Respekt eingebracht. Und auch ihr sechstes Album gewinnt dem Konzept wieder frische Freuden ab. In den drei Jahren seit dem letzten Wurf haben die Mitglieder allerhand Nebenprojekte gepflegt. Multi-Instrumentalist Al Doyle und Synthi-Spezialist Felix Martin ergründeten als New Build unkonventionelle Songstrukturen, Joe Goddard kredenzte mit 2 Bears harte House-Beats, Taylor erforschte mit About Band das Unterholz von Electronica, Folk, Jazz und Improvisation. Als sie nach der Pause wieder zusammenkamen, verspürten sie alle das Bedürfnis nach mehr «Groove». Wie Doyle erklärt, seien sie zu der Zeit auch alle im Banne des neuen D’Angelo-Albums gestanden. Wie ein roter Faden führen denn auch allerhand smarte Anspielungen auf vergangene Soul- und Disco-Momente durchs Album: «I Need You Now» zum Beispiel findet im Sample von einer obskuren Disco-Single von 1983 Reize, die man dem Original nie angemerkt hätte. Die Groove-Zügel sind auch insofern gelockert worden, als die bisher nur im Live-Ensemble tätige Schlagzeugerin Sarah Jones zum festen Bandmitglied befördert worden ist. Ihr Instrument traktiert sie ganz oldschool mit organischen Händen und Füssen: «Sie war schockiert, wie weit wir sie gewähren liessen», erklärt Doyle. «Es hat Stücke, wo sie genau das Gegenteil von dem macht, was man sich von einem coolen Drummer wünscht. Ständig raschelt und klappert und rumpelt es irgendwo!» Die grösste Überraschung eines überaus süffigen, aber auch innovativen Albums folgt ganz zuletzt. Perverserweise ist es einerseits das Titelstück, andererseits klingt es wie nichts, was die Band früher gemacht hat. Schmutzig wabernde House-Beats treffen hier auf einen pechschwarzen Rock-Groove, ominöse Orgel und kirchenhafte Gesangsmelodie. Es ist das Privileg der Schlauen: Wenn die Resultate solchen Spass machen, fragt kein Mensch nach dem Sinn dahinter.

Barbara Honigmann: Chronik meiner Strasse. Hanser 2015. 23.90 CHF

Hot Chip am Zürich Open Air: Sa, 29. August, www.zurichopenair.ch

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Nur mit dem Mörser dringt man zu allen Aromen vor.

Piatto forte Königskraut für das Volk Es gibt kaum ein Kraut, welches so häufig in der Küche eingesetzt wird, wie das Königskraut. Wir kennen es als Basilikum. VON TOM WIEDERKEHR

Ursprünglich war Basilikum eine Heilpflanze, die vor allem gegen Appetitlosigkeit eingesetzt wurde. Offenbar war die Wirkung dermassen gut, dass Basilikum heute zu den meist eingesetzten Kräutern in der mediterranen Küche gehört. Das führt aber leider auch dazu, dass es häufig schon fast wie Salat über alles Passende und auch Unpassende gestreut wird. Dabei verdienen die delikaten, leicht süss-pfeffrigen Aromen eine spezielle Aufmerksamkeit. Egal, ob Basilikum auf typischem Sommergemüse wie Tomaten, Auberginen, Zucchetti oder als Kontrast zu süssen Aromen wie Erdbeeren oder einer Ananasglace verwendet wird – die aromatischen Blätter sollten nicht mit der unfreundlichen Kälte eines Kühlschranks in Berührung kommen. Wer sie nicht selber anpflanzen mag, der kauft sie am besten beim Gemüsehändler und bewahrt sie wie ein Sträusschen in einem Glas Wasser auf. Zudem sind die delikaten Aromen sehr flüchtig, daher sollten die Blätter erst kurz vor dem Servieren verarbeitet werden. Wer Basilikum feiner als verzupft braucht, der zerstösst es im Mörser, um möglichst viele Aromen zu gewinnen. Und zum Kochen – zum Beispiel in einer Tomatensauce – sind die fein gehackten Stengel ideal, bevor man die zerzupften Blätter am Schluss hinzufügt. Eine veritable Hommage an die Aromen des Golfs von Genua ist das Pesto Genovese. Dafür von zwei bis drei Bund Basilikum, rund 60 Gramm, die Blätter abzupfen und mit 30 Gramm Pinienkernen und einer grossen Knoblauchzehe in einen grossen Mörser geben. Sehr viel kräftiger wird die Sauce, wenn die Pinienkerne vorher ohne Fett in einer heissen Pfanne hellbraun angeröstet werden. Wer keinen rohen Knoblauch verträgt, schwenkt auch die Streifen des Knoblauchs noch kurz in der heissen Pfanne. Jetzt alles mit kreisförmigen Bewegungen zerquetschen, bis eine homogene Paste entsteht. 80 Gramm sehr reifen Parmesan fein reiben und hinzufügen – oder Pecorino für noch mehr Charakter. Schliesslich die Paste mit knapp 1 dl allerbestem Olivenöl vermengen und mit grobem Meersalz abschmecken. Wenn sich diese kalte Extraktion mediterraner Aromen um die al dente gekochten Spaghetti schmiegt, werden Sie nie mehr eine Sauce aus der Konserve essen, die auf dem Etikett behauptet, ein Pesto zu sein.

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten

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Netzpilot Communication, Basel

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Balcart AG, Therwil

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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weishaupt design, Basel

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Coop Genossenschaft, Basel

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AnyWeb AG, Zürich

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Burckhardt+Partner AG

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mcschindler.com GmbH, Zürich

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fast4meter, Storytelling, Bern

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Bachema AG, Schlieren

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Ko Schule für Shiatsu GmbH, Zürich

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Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

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Lions Club Zürich-Seefeld, Zürich

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Privat-Pflege und Betreuung, Oetwil am See

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Praxis Colibri-Murten, Murten

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Schumann & Partner AG

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Bezugsquellen und Rezepte: www.piattoforte.ch/surprise 356/15 SURPRISE 356/15

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Ausgehtipps

Die Vespa des Mods erkennt man an der Ausstattung.

Sozialismus ohne Ende: «Good Bye, Lenin!».

Solothurn Wie einst die Mods

Zürich Filme zum Schein

Seit 1946 ist sie nicht mehr von den Strassen wegzudenken: die Vespa. In Solothurn bekommt der kultige Zweiräder jährlich mit dem Vespa Twist sein eigenes Fest. Gewidmet ist dieses Mini-Festival jedoch nicht ausschliesslich dem Roller, sondern vor allem auch der Musik und dem Lebensgefühl der (vornehmlich englischen) Sechzigerjahre. Denn die Vespa gehörte damals in Britanniens Städten zur Grundausstattung eines Mods. Zur Erinnerung: Die Mod-Szene war die Subkultur, die sich todschick kleidete und legendäre Weekender durchtanzte. Ab und zu gab sie sich – von den Medien bereitwillig skandalisiert – Prügeleien mit den Rockern. Zentral war bei den Mods aber ihre Liebe zum afroamerikanischen Jazz, Soul und Rocksteady. Heute erfreut sich die Szene wieder zunehmender Beliebtheit – zumindest was die Musik und den Stil anbelangt, zu dem eben der «Scooter» gehört. Solothurn beherbergt schon seit Langem eine kleine Gruppe solcher Sechzigerjahre-Liebhaber. Die kleine Aarestadt verdankt diesen Puristen mittlerweile einen guten Ruf unter Soul- und SkaFans – auch dank dem Vespa Twist. Hier gibt es stilbewusste Bands, gute DJs mit originalem 45-tourigem Vinyl und den unverzichtbaren Vespacorso durch die Altstadt. (toe)

http://seismographic-sounds.norient.com,

Es ist Zürichs ältestes Openair-Kino, und zugleich das schönste: das «Film am See» in der Roten Fabrik. Anfangs, im Sommer 1984, war ein Freiluftkino noch Neuland, und mangels Aufführungsbewilligung mussten sich die Macherinnen um die offiziellen Filmtitel herumschleichen, sodass der «Last Tango in Paris» schon mal als «Brandos letzter Tanz in der französischen Hauptstadt» angekündigt wurde. Tempi passati – mittlerweile ist die Rote Fabrik etabliert, und das Film am See eine ihrer prominentesten Veranstaltungen. Jeden Sommer präsentiert es ein ausgesprochen findiges cineastisches Freiluftprogramm mit Ausweichmöglichkeit ins Trockene bei schlechtem Wetter. Noch zweimal wird diesen Sommer unter den Mammutbäumen der Projektor angeworfen. Das diesjährige Thema: Sein und Schein. In den ausgewählten Filmen greift das Scheinbare in die Welt der realen Konflikte ihrer Protagonisten ein. Wem kommt da nicht die Tragikomödie «Good Bye, Lenin!» in den Sinn? In dem Kassenschlager von 2003 mit einem sehr jungen Daniel Brühl gaukelt ein Sohn seiner schwerkranken Mutter, einer überzeugten Sozialistin, nach der Wende die scheinbare Welt der schönen alten DDR vor. Um das Aufrechterhalten des Scheins einer intakten Familie geht es auch in «Dare mo shiranai» (engl. Nobody Knows) des Japaners Hirokazu Koreeda, der die Geschichte einer Mutter erzählt, die mit ihren vier Kindern in eine kleine Wohnung in Tokio zieht. Drei davon versteckt die Mutter, sie dürfen die Wohnung nicht verlassen. Als die Mutter eines Tages verschwindet, kümmert sich der älteste Sohn um seine Geschwister und versucht, den Schein zu wahren. (ami)

www.forumschlossplatz.ch/Veranstaltungen

Film am See, «Good Bye, Lenin!», deutsch,

Bishi definiert Britishness neu.

Aarau Schöne neue Musikwelt Was ist mit der Musik weltweit passiert, seit sie nicht mehr von den Major Labels definiert wird, sondern ihren Weg zu den Hörerinnen und Hörern über YouTube, Facebook und SoundCloud findet? Dieser Frage ging Norient nach – wir haben schon verschiedentlich auf Veranstaltungen und Publikationen des Berner Netzwerks und Onlinemagazins hingewiesen, weil die Musikethnologen immer am Puls der Zeit sind und stets packende und berührende Einblicke in neue Welten geben. Das Ergebnis ihres neuesten Projekts ist nun in einer Ausstellung zu sehen, die verspricht, ein umfassendes Erlebnis zu werden: Begehbare thematische Kinoboxen, Mixtapes und Podcasts stellen innovative Musikerinnen und Musiker rund um den Globus vor. Die thematischen Auseinandersetzungen reichen von regierungskritischem Heavy Metal in Indonesien mit der Band Burgerkill über finnische Versuche, die Einsamkeit zu überwinden, bis zu Reflexionen mit unserem guten alten Stahlberger aus St. Gallen darüber, warum man aus der Schweiz nicht herauskommt. Und wer nach der Ausstellung etwas verwirrt ist oder einfach noch nicht genug hat, für den gibt es das Ganze auch noch in Buchform. (fer) «Seismographic Sounds. Visionen einer neuen Welt», Ausstellung mit Begleitprogramm, Sa, 15. August bis So, 20. September, Forum Schlossplatz, Aarau.

Vespa Twist No. 8., Sa, 29. August, Rothus Halle, Solothurn. www.vespafanclub.ch/event/vespa-twist-no-8

Do, 20. Aug, 21 Uhr; «Dare mo shiranai», japanisch, deutsch und französisch untertitelt, Do, 3. Sep, 21 Uhr, Rote Fabrik, Zürich. Eintritt frei, Kollekte.

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BILD: HANS UND KARIHANNA FREI

BILD: ZVG

Demokratie auf der Strasse: Bürgerinnenprotest in Spanien.

Architektur-Ikone mit Pferd: Chandigarh in der Bauphase.

Basel Raus aus der Krise

Zürich Visionen in Stahlbeton

Wachsender Einfluss der Parteien, wachsender Einfluss von Geld und Wirtschaft und ein wachsender Teil der Bevölkerung, der nicht mitbestimmen kann – es ist Zeit, sich mit der Demokratie zu befassen, damit uns unsere Mitsprache irgendwann nicht noch abhandenkommt; siehe auch unsere Titelgeschichte. Eine gute Gelegenheit, sich inspirieren zu lassen und auch gleich mitzudiskutieren, bietet sich am Occupy-Abend im Quartiertreffpunkt LoLa. Auf der Suche nach einer besseren, demokratischeren Gesellschaft wird u.a. die Frage aufgeworfen: Wie kann eine menschenkonforme statt eine marktkonforme Demokratie aussehen? Als Anregung für die Diskussion wird der Film «Wir sind Demokratie! – Europäische Protestbewegungen» gezeigt, der neuen Ansätzen der Bürgerpartizipation von Spanien bis Island nachgeht. «Raus aus der Krise, rein in eine tragfähigere Gesellschaft» lautet das Motto – so klingt Aufbruchstimmung. (fer)

Bau uns mal eine Stadt, sagte die indische Regierung Anfang der Fünfzigerjahre zum Schweizer Architekten Le Corbusier. Der liess sich nicht zweimal bitten und stellte Chandigarh mitten in die Pampa des Punjab hinein, nahe der damals frisch gezogenen Grenze zu Pakistan. In der Aufbruchstimmung nach der neu erlangten Unabhängigkeit setzten also indische Arbeiter Le Corbusiers städtebauliche Visionen in rechten Winkeln und Stahlbeton um. Bis heute bleibt Chandigarh eine Ikone der Architektur, wenn auch eine nicht unumstrittene. Die Fünfziger waren auch das grosse Jahrzehnt der Reportagefotografie, und Schweizer Fotografen und Architekten reisten von Beginn an in die Planstadt, um deren Entstehung zu dokumentieren. Die Bilder trugen damals zur Popularisierung des Projekts Chandigarh bei. Gleichzeitig begründeten sie eine Tradition der kontinuierlichen fotografischen Dokumentation der rasant wachsenden Stadt. Die Ausstellung «Chandigarh sehen. Schweizer Reportagen» stützt sich im Kern auf die Originalbilder des Fotografen Jürg Gasser, die bereits 1968 und 1969 gezeigt wurden. Hinzu kommen neue Farbfotografien, die Gasser 2014 von seiner letzten Reise nach Indien mitbrachte und die die heutige Millionenstadt in all ihren Facetten zeigen. Zudem stellen konzis ausgewählte Beispiele aus fünf Jahrzehnten das breite Spektrum medialer Auseinandersetzung mit Chandigarh zur Diskussion. (ami)

«Wir sind Demokratie! Europäische Protestbewegungen», Film und Diskussionsabend in Kooperation mit Occupy Basel, anschliessend veganes Nachtessen, Eintritt frei, Bezahlung für Essen nach Gutdünken, So, 23. August, 18.30 Uhr bis 22 Uhr, Quartiertreffpunkt LoLa, Lothringerstrasse 63, Basel.

Liestal Nähen in der Community

«Chandigarh sehen. Schweizer Reportagen», noch bis 4. Oktober, jeweils Mi bis So, 12 bis 18 Uhr, Museum Heidi Weber, Höschgasse 8, Zürich. Führungen und weitere Informationen: www.stadt-zuerich.ch/lecorbusier BILD: ZVG

Nähen und stricken, Kleider flicken. Längst finden diese Tätigkeiten nicht mehr nur im Privaten statt, sondern immer mehr auch in Communities: Nähclubs und Strickevents schiessen wie Pilze aus dem Boden. In den ehemaligen Produktionshallen der Hanro in Liestal gibt es konsequenterweise schon seit 2011 eine öffentliche Näh-Werkstatt: das Textilpiazza Atelier. Stundenweise, für einzelne Tage oder dauerhaft können Textilschaffende aller Art hier Arbeitsplätze mit professionellen Maschinen mieten. Workshops werden angeboten, Events wie das Textilpiazza-Festival oder der Stoffverkauf durchgeführt und Wissen rund um Stoffverarbeitung und textiles Schaffen wird ausgetauscht. Dass dabei viele Produkte entstehen, die ihre Schöpfer und Schöpferinnen auch gerne verkaufen würden, liegt auf der Hand. Ein eigener Shop war also nur eine Frage der Zeit: Am 28. August wird er nun feierlich eröffnet, zeitgleich mit der Einweihung des neuen Atelierraums und der Neueröffnung des Hanro-Fabrikladens. (toe) Textilpiazza, Shoperöffnung: Fr, 28. August, Benzburweg 20 + 22, Liestal. www.textilpiazza.ch SURPRISE 356/15

Gemeinsam macht’s mehr Spass – gilt auch fürs Nähen.

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Verkäuferporträt «Jetzt bin ich endlich selbständig» BILD: IMO

Seit über acht Jahren verkauft Hayelom Ghebrezgiabiher (29) Surprise vor der Migros Zähringer in Bern. Er findet: Junge Menschen sollten etwas lernen und ihr Geld selbst verdienen. AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

«Ich bin im Dezember 2006 als Flüchtling in die Schweiz gekommen und habe bereits vier Monate später bei Surprise angefangen. Das war ein riesengrosses Glück für mich, denn so kam ich sehr schnell mit Schweizerinnen und Schweizern in Kontakt. Weil ich mittlerweile seit mehr als acht Jahren regelmässig in der Länggasse vor der Migros Zähringer stehe, kenne ich bestimmt das halbe Quartier. Ein wenig liegt das sicher auch an mir, denn ich habe die Leute von Anfang an nett gegrüsst. Die Quartierbewohner haben mir schon auf verschiedenste Weise geholfen: bei der Wohnungssuche, beim Bewerbungen schreiben – einmal habe ich sogar ein Velo geschenkt bekommen. Sehr viel bedeutet mir aber auch die Anteilnahme der Leute. Wenn ich zum Beispiel längere Zeit nicht an meinem Verkaufsplatz war, fragten sie mich bei meiner Rückkehr besorgt, ob ich krank gewesen bin. Das tut mir bis heute gut, auch wenn ich heute eine Frau und eine kleine Tochter habe und nicht mehr so alleine bin wie am Anfang. Genauso unterstützt wurde ich vom Verein Surprise. Ich bin in den letzten acht Jahren schon so oft mit meinen Fragen oder irgendwelchen Formularen zum Ausfüllen ins Büro Bern gegangen, und wenn immer möglich, hat mir dort jemand geholfen. Durch Surprise kam ich auch zum Strassenfussball und konnte 2009 sogar am Homeless World Cup, also an der Strassenfussball-WM, in Mailand teilnehmen. Zusammen mit dem einwöchigen Trainingslager im Tessin vor der WM sind das schöne, wichtige und vor allem unvergessliche Erlebnisse für mich. In Mailand trafen wir Leute aus der ganzen Welt. Und mit den Coaches und den andern Spielern musste ich mich zwei Wochen lang auf Deutsch verständigen. Weniger gut lief es bei der Arbeitssuche. Nach etwa einem Jahr in der Schweiz hatte ich eigentlich eine Stelle in der Küche gefunden, doch es klappte wegen meinem Status nicht, damals hatte ich erst den N-Ausweis, die Aufenthaltsbewilligung während des Asylverfahrens. Ich absolvierte dann verschiedene Kurse und Praktika in der Küche, unter anderem im Schulrestaurant La Cultina in Bern und in einem Altersheim in Ostermundigen. Als ich nach Hunderten von Bewerbungen immer noch keine Stelle hatte, gab mir der Schuhmacher Meister Haxha im Zähringer-Migros die Chance, bei ihm ein Praktikum zu machen. Eine Anstellung konnte er mir danach leider nicht anbieten, da er nur Arbeit für eine Person hat. So suchte ich weiter einen Job in der Gastronomie und machte die Fahrprüfung, um meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Nach sechs Jahren und insgesamt rund 450 Bewerbungen habe ich 2012 endlich mit der Hilfe eines Kollegen, der dort arbeitet, eine Stelle als Küchenhilfe in einem der Restaurants des Berner Kursaals gefunden. Darüber bin ich sehr glücklich, vor allem weil ich jetzt endlich selbständig, sprich nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig bin. Ich fand es sehr schwierig, so jung so lange keine richtige Arbeit zu haben. Junge

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Menschen sollten etwas lernen, arbeiten und ihr Geld selbst verdienen! Zum Glück hatte ich Surprise und somit immer eine Beschäftigung und ein zusätzliches Taschengeld. Wenn ich heute neu angekommene Flüchtlinge treffe, rate ich ihnen immer, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen, weil man ohne genügende Sprachkenntnisse kaum eine Arbeit findet. Das sage ich aus eigener Erfahrung. Mittlerweile ist es auch schon einfacher geworden, für sich selbst ein bisschen zu lernen: Man kann sich zum Beispiel eine App Tigrinya-Deutsch besorgen. Als ich in die Schweiz kam, gab es nur so kopierte, zerfledderte Wörterbücher, die herumgereicht wurden. Zudem empfehle ich den neuen Flüchtlingen, sich nicht nur mit Landsleuten zu treffen, sondern wenn möglich Schweizer kennenzulernen. Ich weiss, wenn beide Seiten einen Schritt machen, kommt man sich näher. Sonst würde ich jetzt in der Länggasse nicht so viele Leute kennen!» ■ SURPRISE 356/15


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Fatma Meier Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

356/15 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 356/15

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Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit einem Netzwerk aus freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der ganzen Deutschschweiz. Sie kämpfen um den Titel des Schweizermeisters und des Weltmeisters beim Homeless World Cup. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen kostenlosen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine einfache und charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren. Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Gönner-Abo für CHF 260.–

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Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Florian Blumer (fer, Heftverantwortlicher), Diana Frei (dif), Mena Kost (mek), Thomas Oehler (tom), Sara Winter-Sayilir (win), redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Olivier Joliat, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Philipp Baer, Eva Hediger, Tamara Kämpfer, Hanspeter Künzler, Steven McKenzie, Julie Mildschlag, Isabel Mosimann, Thomas Oehler, Patrick Tombola, Mara Wirthlin, Patrick Witte Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 19 900, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T+41 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung) s.roter@vereinsurprise.ch Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 356/15


Surprise – Mehr als ein Magazin

BILDER: ZVG

Vertrieb Basel Die Bauernkultur kennengelernt Dieses Jahr passte bei unserem Ausflug alles – sogar das Wetter! Während es am Sonntag, 14. Jun, im Rest der Schweiz regnete, blieb es in Hofstetten bei Brienz, trocken und sogar meistens sonnig. So verbrachten wir zusammen einen gemütlichen und interessanten Tag im Freilichtmuseum Ballenberg. Für viele unserer aus Afrika stammenden Verkäufer und Verkäuferinnen war es das erste Mal, dass sie einen Einblick in die schweizerische Bauernkultur bekamen. (teb)

Prost! Apéro mit Vertriebsmitarbeiter Thomas Ebinger (ohne Glas, rechts).

Verkäufer Fabian Schläfli passt sich den modischen Gepflogenheiten an.

Emsuda Loffredo-Cular ist eine Frau, die anpackt (hier mit Zeru Fesseha).

Jérôme Chevey und Fabian Schläfli machen Pause.

Bunte Truppe: Kein Ausflug ohne Gruppenbild.

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