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Worauf warten Sie? Ein Gespräch mit Autor Thomas Meyer über Mensch und Moral «Man misstraut der eigenen Ehefrau»: Flüchtlinge aus Eritrea erzählen

Hopp Schwiiz: Diese acht Fussballer schickt Surprise an den Homeless World Cup in Amsterdam

Nr. 357 | 28. August bis 10. September 2015 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


19. September 2015: Surprise singt am OnePeople-Tag Am globalen OnePeople-Tag verbinden sich Menschen weltweit zu Kreisen und Menschenketten und stehen ein f端r eine Menschheit. Im Rahmen des dritten OnePeople-Tag finden im Sch端tzenmattpark in Basel verschiedene Aktivit辰ten statt. Der Surprise Strassenchor singt ab 16.30 Uhr zusammen mit den UUBasel Mitgliedern Lieder aus der ganzen Welt.

14 bis ca. 20 Uhr Sch端tzenmattpark, Basel Eintritt frei, Hutkollekte Organisator:

Infos auf www.vereinsurprise.ch/strassenchor oder www.onepeople.me


Titelbild: Pascal Mora

Es dürfte nicht allzu lange her sein, seit Sie, liebe Leserin, lieber Leser, zuletzt etwas über Eritreer gelesen haben. Wann aber haben Sie zuletzt mit einem gesprochen? Seiner Geschichte zugehört? Oder vielleicht auch nur mit ihm zusammen über das Wetter geschimpft? In den letzten Wochen haben sich, befeuert vom nahenden Wahltermin, die Schweizer Gemüter an eritreischen Flüchtlingen erhitzt. Da war die Rede von explodierenden Zahlen bei den Asylgesuchen und von Expertenberichten, die ein widersprüchliches Bild der Gefährdungslage im Land zeichnen. Da erklärten Regierungsräte und Parteisoldaten von ihren Sesseln aus die autoritäre Regierung für einsichtig und das Land für sicher. Im besten Fall waren ihre Aussagen als Kapitulation vor den logistischen Problemen zu verstehen, mit denen sie nach der Schliessung von Dutzenden AMIR ALI Asylunterkünften in den letzten Jahren nun angesichts der steigenden Flüchtlings- REDAKTOR zahlen konfrontiert sind. Im schlimmsten Fall ist es Stimmenfang auf dem Rücken von Menschen, die sich in aller Regel nicht wehren können. Was mich an dieser Pseudo-Debatte am meisten befremdete: Alle sprachen über die Eritreer. Keiner sprach mit ihnen. Wir haben zwei unserer vielen Verkäufer aus Eritrea gebeten, uns ihre Geschichten zu erzählen. Und der Ethnologe Magnus Treiber, der selbst in Eritrea geforscht hat, liefert uns einen nüchternen – und leider ernüchternden – Blick auf Zukunftsszenarien für das Land (ab Seite 18). Vielleicht nehmen Sie die nächste Gelegenheit wahr, sei es beim Surprise-Kauf oder sonstwo, und sprechen mit einem jener Menschen, die hinter den Statistiken stehen. Was auch immer ihre politischen Einstellungen zu Asyl und Migration sind: Sie müssen sie deswegen nicht über den Haufen werfen. Aber Sie tragen damit dazu bei, aus Problemen wieder Menschen zu machen. Sie erobern sich und Ihrem Gegenüber damit ein Stück von jener Menschlichkeit zurück, für welche die verwaltende Politik kein Sensorium hat. Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre. Amir Ali

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 357/15

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BILD: WOMM

Editorial Mit Eritreern übers Wetter reden


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Mit dem Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» gelang dem Zürcher Thomas Meyer ein Debut, wie es im Buche steht. Die Geschichte über einen orthodoxen Juden, der für die Liebe unorthodoxe Wege geht, eroberte den Büchermarkt. Zuvor hatte Meyer jahrelang mit intimen Fragen auf Klebern im öffentlichen Raum für Aufsehen gesorgt. Im Interview erklärt er, warum er das heute nicht mehr tun würde – und warum Schweizer Rassismus Deutsche ebenso trifft wie ihn als Juden.

14 Surprise-Porträtbuch Garfield fährt jetzt Limousine

BILD:

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10 Literatur «Braver Schweizer Antisemitismus» BILD: PASCAL MORA

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Inhalt Editorial Rückeroberung der Menschlichkeit Basteln für eine bessere Welt Eine Rose für Peter Aufgelesen Arm geboren Zugerichtet Traumatisierte Therapeutin Leserbriefe Kriegsjahre im «Chreis Chaib» Starverkäufer Hans Rhyner Porträt Theater am Existenzminimum Wörter von Pörtner Lächerliches bisschen Trampen Living Library Menschen ausleihen Kultur Handbuch der kleinen Sauereien Ausgehtipps Lernen im Kino Nachruf Peter Gamma Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

© MATTHIAS WILLI

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Seit 18 Jahren verkaufen Menschen in allen möglichen und unmöglichen Lebenssituationen das Strassenmagazin. Und ebenso lange porträtiert die Redaktion in jeder Ausgabe einen dieser Menschen. Das SurprisePorträtbuch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand», das im September erscheint, zeigt eine Auswahl dieser Geschichten – und blickt mit den Menschen dahinter aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit. Wie zum Beispiel mit Joachim «Garfield» Wasslowski, der früher als Punk am Bahnhof soff – und heute mit Kippa Limousine fährt.

BILD: REUTERS/JACK KIMBALL (ERITREA) SELECT

18 Eritrea «Wer frei sein will, muss gehen»

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Asylsuchende aus Eritrea sind zum Wahlkampfthema geworden, weil bürgerliche Politiker wissen, dass man mit emotionalisierten Themen Stimmung macht und Stimmen gewinnt. Und auch die Kantone und Gemeinden, überfordert von den steigenden Zahlen der Asylgesuche, reagieren mit Polemik. Wir wollten von zwei eritreischen Surprise-Verkäufern wissen, was sie zu den Vorwürfen sagen und was sie in ihrer Heimat erlebt haben. SURPRISE 357/15


Uns ist heute nicht nach lustig zumute. 18 Jahre lang war Surprise in Basel ohne ihn nicht vorstellbar, nun müssen wir damit leben, dass Peter Gamma, unser Verkäufer der ersten Stunde, nicht mehr da ist. Am 10. August ist er für uns alle völlig überraschend gestorben (Nachruf auf Seite 28). Nicht nur wir, auch Dutzende Stammkundinnen und Hunderte Pendler werden ihn in der Schalterhalle des Bahnhofs Basel vermissen. Sollten Sie zu diesen gehören: Vielleicht ist Ihnen danach, zum Gedenken an Peter Gamma irgendwo in der Bahnhofshalle eine Rose hinzulegen?

1. Nehmen Sie einen halben Meter

2. Halbieren Sie die gefaltete Stelle

Geschenkband mit Drahtkante und

jeweils zweimal.

falten Sie das eine Ende wie in der Abbildung oben.

3. Rollen Sie dann das Ganze mit drei, vier Umdrehungen ein.

4. Klappen Sie das Band hinten um und rollen Sie das Ende weiter ein, klappen das Band wieder hinten um usw. und formen Sie dabei eine Rosenblüte.

5. Wickeln Sie das letzte Stück um den Stiel und fixieren Sie diesen, indem sie ihn mit einem dünnen Draht ein paar Mal umwickeln. Mit dem Rest des Drahtes können Sie die Rose an einem Ort Ihrer Wahl fixieren.

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ILLUSTRATION: RAHEL KOHLER | WOMM

Basteln für eine bessere Welt Eine Rose für Peter


Aufgelesen News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Keine Kenntnis Berlin. Ein Obdachlosen-Zeltdorf am legendären Bahnhof Zoo wurde geräumt. Im Park zu campieren widerspreche «dem Widmungszweck einer Grünanlage», erklärte der zuständige Stadtrat. Die Obdachlosen hatten ihre Zelte allerdings nicht aus Liebe zur Natur aufgeschlagen, sondern weil die Winternotquartiere der Stadt im Frühling jeweils ihre Tore schliessen. Auf das Problem angesprochen, hiess es beim Stadtrat, wo «an anderer Stelle geeignete Flächen vorhanden sind», entziehe sich seiner Kenntnis.

Entkoppelte Jugend Kiel. In Deutschland fallen immer mehr Junge am Übergang zum Erwachsenenalter durch das staatliche Auffangnetz. Das Deutsche Jugendinstitut schätzt die Zahl der sogenannten entkoppelten Jugendlichen – Mädchen und Jungen ohne funktionierende Familie und ohne Arbeit – auf über 20 000. Etwa 8500 von ihnen leben auf der Strasse. Die meisten sind bereits arm aufgewachsen und stammen aus Hartz-IV-Familien. Das zeigt: Auch heute noch entscheidet mitten in Europa die Geburt, wo man landet.

Nicht bei mir Graz. Seit 2004 kennt Österreich eine Verteilquote, die regelt, wie viele Asylsuchende jedes Bundesland beherbergen muss – was nie funktioniert habe, wie die Asylrechtsexpertin Anny Knapp sagt. Die Grundhaltung sei: «Im Prinzip habe ich nichts dagegen, aber nicht bei mir!» Die Lösung: 250 Menschen, deren Asylverfahren in Österreich laufen, sollen in der Slowakei unterkommen. Wie sie von dort aus mit den Behörden in Kontakt treten sollen, weiss man nicht.

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Vor Gericht Lügen mit kräftigen Beinen Seit dem Herbst vorletzten Jahres ist für eine Zürcher Craniosakral-Therapeutin nichts mehr, wie es war. Polizisten kreuzten völlig unerwartet am Wohnort der zweifachen Mutter auf und verhafteten sie vor den Augen ihrer Kinder und der Nachbarn. Die Beamten wiesen sie an, sofort für die Betreuung ihrer beiden Söhne zu sorgen, ansonsten man die Kinderschutzbehörde aufbiete. Es gelang der Frau noch, den Vater zu kontaktieren. Danach wurde sie auf den Posten gebracht, fotografiert und über Nacht in einem provisorischen Polizeigefängnis eingesperrt. Die Frau hatte nicht die blasseste Ahnung, worum es ging. Erst anderntags kam Licht ins Dunkel. In einer Befragung durch die Staatsanwaltschaft wurde klar, was man ihr vorwarf: Die Therapeutin soll mit gefälschten Rechnungen für nie erbrachte Leistungen mehrere Krankenkassen um rund 20 000 Franken betrogen haben. Alles ganz anders, wie nach der erstinstanzlichen Verhandlung vor dem Bezirksgericht in Dietikon feststeht. Täterin war vielmehr eine 23-jährige Wirtschaftsstudentin, die genau einmal bei der Therapeutin in Behandlung gewesen war. Vor Gericht gestand die Studentin schluchzend, nach ihrer eigenen Verhaftung die Therapeutin angeschwärzt zu haben. Als Tatmotiv für die Betrügereien machte sie Geldnot geltend. «Ich war verzweifelt und unter Druck», schluchzte sie. Die Stipendien, die sie erhielt, hätten einfach nicht zum Leben gereicht. So schickte sie während drei Jahren über 30 fingierte Rechnungen mit einem Gesamtbetrag von rund 45 000 Franken an drei verschiedene Krankenkassen. In der Folge überwiesen diese ihr

und zwei Komplizen, die ihre Identität und Bankkonten zur Verfügung gestellt hatten, den späteren Deliktsbetrag. Trotz der Tränen kannte das Gericht kein Pardon. So sprach es die Studentin nicht nur wegen Betrugs und falscher Anschuldigung, sondern – wegen der durch ihr Verhalten verursachten Verhaftung – auch wegen Freiheitsberaubung schuldig und verurteilte sie zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 28 Monaten. Sechs Monate davon soll sie im Gefängnis verbüssen. Das Gericht folgte damit mehrheitlich dem Staatsanwalt, der der Studentin eine beachtliche kriminelle Energie attestierte. Derweil hatte der Verteidiger erfolglos dagegen gehalten, der Strafantrag sei überrissen. So sei es nicht seiner Mandantin anzulasten, dass die Staatsanwaltschaft die Geschädigte unnötigerweise festgenommen habe. Zu einer erheblich milderen Strafe kam das Gericht bei dem einen Mittäter, der damals der Verlobte der Angeklagten war: eine bedingte Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu 50 Franken sowie eine Busse von 1000 Franken. Der Dritte im Bunde wird in einem separaten Verfahren beurteilt werden. Der geschädigten Therapeutin sprach das Gericht überdies ein Schmerzensgeld von 5000 Franken zu. Ob ihr Leid dadurch geschmälert wird, ist zu bezweifeln. Mit den Folgen des Vorfalls kämpft die Betroffene bis heute. Ihr Anwalt sagt: «Sie hat damals das Urvertrauen in die Menschen verloren.» Nach wie vor sei sie traumatisiert und nicht in der Lage, ihrer früheren Arbeit nachzugehen. Die Beine von Lügen mögen kurz sein. Aber dieser Fall zeigt, dass sie trotzdem kräftig zutreten können.

YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 357/15


Leserbriefe «Ich kaufe Surprise, weil es Überraschungen bietet» «Ein farbiges und erfrischendes Feuerwerk» Danke für die Kurzgeschichten in den Sommerheften, allesamt temporeich, überraschend und erfreulich jung und spritzig. Ein farbiges und erfrischendes Feuerwerk. Kompliment auch für die Auswahl und für die Idee einer Plattform für unbekannte Autorinnen und Autoren (ist es das nicht auch ein bisschen?). Von mir aus können noch mehr solcher Hefte erscheinen! Barbara Munz, Brüttisellen Anmerkung der Redaktion Sollten Sie die Literaturausgaben verpasst haben, können Sie die Hefte mit Geschichten von Rolf Lappert, Klaus Merz, Mitra Devi, Linus Reichlin und weiteren Autoren zum Preis von je CHF 6.– plus Versandkosten direkt bei uns nachbestellen: Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel oder info@vereinsurprise.ch

Nr. 355, «Arbeitslos im Niederdorf», Auszug aus den Memoiren von Philipp Seidenberg, Verkäufer der Arbeitslosenzeitung Kulturspiegel in den Dreissigerjahren, und andere Artikel «Das Heft macht gute Laune, auch bei ungemütlichen Themen» Die Migros-Filiale am Kreuzplatz ist sein Revier. Ich sehe ihn schon von Weitem, er trägt immer den gleichen Hut, sommers wie winters. Er steht da, freundlich und still. Er macht keine Werbung, ist eher in sich gekehrt. Vielleicht geht es ihm nach all den Jahren der Verkaufserfahrung noch immer so wie Philipp Seidenberg und Nemo von der Strassenzeitung Kulturspiegel aus den Dreissigerjahren, wie in Surprise Nr. 355 beschrieben: Es ist nicht einfach, die eigene Scheu zu überwinden. Oder geht es ihm wie mir? Ich kaufe Surprise, weil ich weiss, dass es Überraschungen bietet. Da muss man ja auch keine Werbung machen. Da kann man freundlich und still und ein bisschen stolz auf das Produkt einfach dastehen und Surprise feilbieten. Ja, auch die Ausgabe 355 macht mir

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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Vergnügen, weil sie voller Überraschungen ist. Ich lese das Heft nachmittags bei 33 Grad in der Badi am See: Ich freue mich – wie immer – am Layout und am redaktionellen Stil. Weil ich selber schreibe, bin ich da empfindlich; aber es gibt nichts auszusetzen. Das Heft macht gute Laune, auch bei Themen, die ungemütlich sind, wie die Recherche zur Kinderarbeit. Aber doch finde ich immer ungewohnte Aspekte, neue Gedanken, Aufschlussreiches und Ungewöhnliches, das ich nur im Surprise lesen kann. Und Anregendes: Literatur (Laurie Penny) und Musik (Joy Williams), auf die ich sonst nicht gestossen wäre. Und die BastelIdeen sind natürlich ein Vergnügen für sich, auch wenn ich mich (bisher) da nicht betätigt habe. Dann also weiter so, möchte ich Ihnen und dem Team und allen Verkäufern zurufen, um stark und wütend und mutig zu sein, wie Laurie Penny, und kreativ und beständig. Gisela Ana Cöppicus Lichtsteiner, Zürich

«Stempeln auf dem Helvetiaplatz» Das Heft 355 habe ich – wie andere auch schon – mit viel Interesse gelesen und sofort einer Freundin gesandt, die in einem kleinen Bündnerdorf wohnt. Ich selber wohnte während der Kriegsjahre im Zürcher ‹Chreis Chaib›, dem Arbeiterquartier; mit Männern in unserem Haus konnten wir mit auf den Helvetiaplatz, wo sie stempeln gingen. Mich beeindruckte die «schwarze» Menschenmasse, fast alle mit Hut, und alle warteten, bis sie an der Reihe waren (das war so ab 1935). Fast alle in unserer Strasse (viele Italiener, Spanier, polnische Juden) waren sehr hilfsbereit, teilten das wenige, das sie besassen. Das Leben war fast wie in einem Dorf. Vieles hat mich damals sehr bewegt. Auch zum Beispiel, dass die jüdische Schauspielerin Therese Giehse, die aus Deutschland geflüchtet war, anderen beistand. Ich erlebte sie, als ich auf einer KleinKreditbank am Schalter arbeitete – ich fand leider damals keine andere Stelle –, wie sie bei uns einen Kredit aufnahm von 150 Franken, also als Emigrantin auch wenig Geld hatte. Danke für diesen Beitrag, der viele Erinnerungen in mir wachgerufen hat. Trudi Studer, Biel

BILD: ZVG

Literaturausgaben 353 und 354

Starverkäufer Hans Rhyner Familie Fiechter aus Seebach schreibt: «Hans Rhyner ist unser Starverkäufer, weil so ein hilfsbereiter und zuvorkommender Mensch wie er in der Stadt mit der Lupe zu suchen ist. Wir stellen es uns schwer vor, als gelernter Berufsmann, und dazu noch im höheren Alter, auf der Strasse zu stehen und Surprise zu verkaufen. Wir möchten es nicht unterlassen, Herrn Rhyner für seine unkomplizierte Art zu danken, und werden weiterhin bei ihm Surprise kaufen.»

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Porträt Immer dieses Theater Der Regisseur Pakkiyanathan Vijayashanthan musste wegen seiner politischen Inszenierungen aus Sri Lanka fliehen. Nun bearbeitet er Schweizer Bühnen, auch wenn das ein Leben am Existenzminimum bedeutet. VON MANUELA ZELLER (TEXT) UND ROLAND SCHMID (BILD)

mengearbeitet. «Neben Ethnien und Religionen gibt es in Sri Lanka auch noch Kasten. Neun sind es bei den Tamilen», führt er aus. Jede dieser Gruppen habe ihre Eigenarten, ihre eigene Körpersprache und ihr spezifisches Verhalten, erklärt er und zieht dabei die Schultern weit zu den Ohren hinauf. Unmittelbar nach seiner Ankunft in der Schweiz vor bald zehn Jahren schloss sich Vijayashanthan als Schauspieler und Regisseur mehreren Schweizer Theatergruppen an. 2013 schliesslich gründete er zusammen mit zwei Schweizer Kulturschaffenden das Experi Theater in Zürich. Aktuell wird die vierte Experi-Produktion in Schweizer Städten aufgeführt: «Gesichter», ein experimentelles Stück, das sich mit kulturellen Identitäten auseinandersetzt. Pakkiyanathan Vijayashanthan konnte dafür Kultursubventionen einwerben und so Löhne für insgesamt 14 Mitarbeitende auszahlen. Seine vierköpfige Familie kann er mit seiner Arbeit allerdings nicht ernähren. Momentan bezahlt die Sozialhilfe den Rest. Seine Sozialarbeiterin verlange jedoch, dass Vijayashanthan sich einen Job suche, mit

«Wenn ich erzähle, dass ich aus Sri Lanka komme und Theater mache, lautet die erste Frage oft: Dann machen Sie sri-lankisches Theater?», erzählt Pakkiyanathan Vijayashanthan. «Dabei verstehe ich nichts von sri-lankischem Theater.» Er mache aber auch kein europäisches Theater, fügt der in Zürich lebende Regisseur hinzu. Überhaupt misstraue er Schubladen und Kategorien. Er verstehe Theater als etwas Politisches. Als Werkzeug, um sich mit Situationen auseinanderzusetzen, Probleme aufzudecken und zu analysieren. Allerdings: Von Propaganda und Ideologie hält sich Vijayashanthan fern. «Ich will Geschichten von Menschen erzählen, die enorme Vielfalt jenseits von Kategorien zeigen», sagt er. Dabei wolle er sein Publikum nicht bloss unterhalten, denn das würde bedeuten, «sich vom Leben mit seinen Herausforderungen abzulenken», ist er überzeugt. Und das sei nicht sein Ziel. Auch Begriffe wie Ästhetik oder Schönheit vermeidet er lieber: «Zu wertend.» Vijayashanthans Theaterarbeit war – in Verbindung mit politischem Engagement – der Grund für seine Flucht aus Sri Lanka. Damals arbeitete der in der nord«Wenn man Krieg gewohnt ist, dann ist es normal, dass die Dinge östlichen Stadt Trincomalee Geborene als Jourpassieren, ohne dass man nach seiner Meinung gefragt wird.» nalist, Menschenrechtler und Theatermacher an kritischen Projekten mit, wurde deswegen unter Druck gesetzt und schliesslich gekidnappt. Nur Dank eines Bedem er den Lebensunterhalt seiner Familie selbständig bestreiten könkannten aus der Schulzeit, der ihm im Jahr 2007 heimlich nachts zur ne, sagt er. Das würde allerdings das Ende des Experi Theaters bedeuFlucht verhalf, hat er überlebt. Über Indien kam er in die Schweiz und ten. Dabei ist das nächste Stück bereits in Planung: eine Adaption von bekam hier Asyl. Fassbinders «Angst essen Seele auf». Plant er denn seine Zukunft in ZüDer 40-Jährige macht einen ernsten Eindruck. Gleichzeitig wirkt er rich? Vijayashanthan verneint vage: «Ich plane nicht langfristig, ich freundlich und wohlwollend. Ein angenehmer Gesprächspartner, der weiss nicht, was kommt.» Allerdings würden für die nächsten paar Jahviel lacht. Bloss jemandem gefallen, das will er nicht. Weder dem Pure Produktionen anstehen, er habe Verpflichtungen hier in der Schweiz. blikum noch der Presse. Als er beim Fototermin in die Kamera lächeln Vorerst werde er also bleiben. soll, ziehen sich seine Mundwinkel nur ganz wenig nach oben, der Blick Ist es nicht extrem belastend, immer noch nicht langfristig planen zu bleibt kritisch und wach. Warum Theater dermassen wichtig für ihn ist, können, nachdem man bereits unfreiwillig das eigene Land verlassen kann er nicht erklären, das sei einfach so passiert. Seit seinem siebund weit weg eine neue Existenz aufgebaut hat? «Nein», sagt Vijayaszehnten Lebensjahr begeistere er sich dafür, habe aber zunächst in Cohanthan, «das ist vollkommen okay für mich.» Wenn man Krieg und lombo Journalismus und Menschenrechte studiert. Nach seinem AbKonflikt gewohnt sei, dann sei es auch normal, dass die Dinge einfach schluss arbeitete er für verschiedene Entwicklungsprojekte und nutzte passieren, ohne dass man vorher nach seiner Meinung gefragt werde, das Improvisationstheater als eine Methode, um die Beteiligten besser meint er. «Schon im Studium war mir klar, dass ich vielleicht irgendin die Projekte einzubinden. Später wirkte er bei verschiedenen sri-lanwann flüchten muss.» Sein Blick ist nach vorn gerichtet: «Ich bin gekischen Theaterproduktionen mit. Aber es sei mehr als die reine Liebe flüchtet und jetzt schaue ich, was passiert.» zum Theater, die ihn antreibe. Sein eigenes Vergnügen sei weder Grund Und doch: eine gewisse Verbitterung verspüre er schon, gibt er zu. noch Ziel seines Schaffens. Für Vijayashanthan ist Theater nicht SelbstWut und Enttäuschung darüber, dass er wegen «eines kranken Systems» verwirklichung oder Leidenschaft, sondern eine Notwendigkeit – ein esseine Heimat verlassen musste. «Dreissig Jahre von meinen Erinnerunsenzieller Teil seiner selbst. gen finden in Sri Lanka statt. Mein Netzwerk, mein Freundeskreis ist Inhaltlich beschäftigt sich der Tamile viel mit Themen des interkuldort», erzählt er und gibt zu: «Ich kann nicht wirklich akzeptieren, dass turellen Zusammenlebens. Themen wie Integration oder Identität kenich gehen musste.» Von den negativen Gefühlen vereinnahmen lässt ne er nicht erst seit seiner Ankunft in Zürich, wie er erzählt: «Sri Lanka Pakkiyanathan Vijayashanthan sich jedoch nicht: «Ich bin kein kompliist ein multikulturelles, konfliktreiches Land, dort leben Menschen verzierter Mensch, ich mache Theater, egal wo ich bin: Das ist mein Leben, schiedener Ethnien und Religionen zusammen.» Vijayashanthan hat mein Leben ist Theater.» ■ stets mit Mitgliedern ganz unterschiedlicher Gemeinschaften zusamSURPRISE 357/15

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Literatur «Was heisst schon scheitern?» Thomas Meyer schreibt Romane, die alle lesen wollen. Und er stellt Fragen, die niemand hören will. Ein Gespräch über Moral, braven Schweizer Rassismus und die Zumutungen im öffentlichen Raum.

VON AMIR ALI (INTERVIEW) UND PASCAL MORA (BILDER)

Es ist nicht übertrieben, Thomas Meyer einen aussergewöhnlichen Autor zu nennen. Das erste Medium, mit dem der 41-Jährige als Künstler an die Öffentlichkeit trat, waren Kleber an Laternenpfosten. Unter dem Namen «Aktion für ein kluges Zürich» verwirrte und belustigte er von 2007 bis 2010 die Menschen in der Stadt Zürich mit Fragen wie: «Worin entsprechen Sie am wenigsten Ihrem Selbstbild?» oder «Finden Sie Ihre Lebensweise nachahmenswert?» 2012 folgte Thomas Meyers erster Roman. «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse», die Geschichte des jungen orthodoxen Zürcher Juden Mordechai Wolkenbruch, der sich in eine nichtjüdische Frau verliebt, eroberte den Schweizer Büchermarkt. Seither wird Meyer in den Medien befragt, wenn es um jüdische Themen geht. Und seither lebt er vom Schreiben. Letztes Jahr erschien sein zweiter Roman «Rechnung über meine Dukaten» über den exzentrischen Preussenkönig Friedrich Wilhelm I. Und auch die Fragen «für ein kluges Zürich» sind mittlerweile unter dem Titel «Wem würden Sie nie eine Postkarte schicken?» als Postkartensammlung erschienen. Im September folgt nun der Aphorismenband «Wäre die Einsamkeit nicht so hilfreich, könnte man glatt daran verzweifeln. Einhundertvierundvierzig Einsichten». Herr Meyer, vor einigen Wochen haben Sie via Facebook-Post eine neue Wohnung gesucht. Drei Zimmer in Zürich für maximal 1500 Franken. Sind Sie fündig geworden? Ja. War es einfach? Nein, ich hatte Glück. Wenn man eine Budgetlimite hat, ist die Wohnungssuche sehr schwierig, die Mieten sind massiv überteuert. Wenn man allerdings 2500 Franken pro Monat ausgeben kann, findet man natürlich ganz leicht etwas Schönes. Ihre Limite von 1500 Franken hat mich überrascht. Immerhin sind Sie ein erfolgreicher Autor. Ich habe von «Wolkenbruch» 80 000 Exemplare in dreieinhalb Jahren verkauft. Das hat mir ein ordentliches Einkommen beschert, aber reich SURPRISE 357/15

bin ich damit nicht geworden. Geld steht immer in Relation zur Zeit, in der man es ausgeben kann. Zudem bezahle ich noch Unterhalt für meinen Sohn. In einem anderen Facebook-Post haben Sie zur Zeit der Spendenaufrufe für Nepal sinngemäss geschrieben: Vergesst nicht, dass im Kanton Zürich 100 000 Menschen in finanziellen Schwierigkeiten sind. Was gab es für Reaktionen darauf? Viele Menschen haben mir dies bösartigerweise als Relativierung des Leids in Nepal ausgelegt und mich dafür angegriffen. Was mich verstört hat, ist die mehrfach geäusserte Sichtweise: Die Armen hier können sich ja jederzeit Hilfe holen. Dass die Schweiz über einen besseren Sozialstaat verfügt als Nepal, dürfte unbestritten sein. Das löst die Probleme der Menschen hier aber nicht. Sie können sich kein Sozialleben leisten, keine Kinder, keine Ferien. Ich finde es heuchlerisch, wenn man sagt: Um uns herum gibt es keine Probleme. Natürlich sieht man die Armen nicht, die bleiben ja zuhause. Und den notleidenden Menschen in Nepal soll man auch helfen. Aber diese selektive Emotionalität verstört mich immer wieder aufs Neue. Entweder man ist immer betroffen, oder es ist einem alles egal. Aber ich empfinde es als verlogen, quasi einen Geschmack zu pflegen, was schlimm ist und was nicht. Ist es nicht einfach eine simple Reaktion des Privilegierten auf das Wohlstandsgefälle zwischen der Schweiz und einem Land wie Nepal? Die Realität wegzuwischen, also in diesem Fall die Tatsache, dass es im Kanton Zürich 100 000 Arme gibt, ist nicht simpel. Das ist ignorant. Und es macht die Spende nach Nepal zu etwas, das weniger moralisch ist, als man glaubt. Gibt es eine allgemeingültige Moral? Ja. Nur ist sie irrelevant, weil sie ja ständig verletzt wird. Es sind die Dinge, die man in allen Glaubensbüchern findet: Mitgefühl und Rücksicht sind zum Beispiel moralisch. Das eigene Handeln so zu gestalten, dass es anderen nicht zum Schaden gereicht. Und es ist auch moralisch, keinen Unterschied zu machen zwischen den Menschen. Das sind schöne Worte, aber die Realität sieht anders aus.

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Existiert diese Moral überhaupt, wenn sie nicht eingehalten wird? Interessanterweise ja. Ich behaupte, dass wir alle wissen, was richtig ist und was falsch. Das ist tief in uns drin. Kinder wissen es sehr genau und sagen es auch. Wenn man älter wird, beginnt man zu beschönigen, zu verleugnen. Man hat eigene Bedürfnisse, und die sind mit der Moral nicht unbedingt vereinbar. Also beginnt man, sich die Moral zurechtzubiegen. Eine Frage, die in Ihrer Sammlung von Postkarten-Fragen fehlt: Welche Ihrer Bedürfnisse sind nicht mit der Moral vereinbar? Eine schöne Frage! Nennen Sie nur eines. (Denkt lange nach) Mir kommt nichts in den Sinn. Ich glaube, ich darf mich glücklich schätzen, dass das, was ich will, kein Problem darstellt für andere.

ser gekauft. Da fragte ich mich erstens: Woher will der das wissen? Der arbeitet ja nicht beim Grundbuchamt. Zweitens: Wenn einer geschäftstüchtig ist und kein Jude, dann ist das tugendhaft. Bei Juden aber ist es verdächtig. Diese Überzeugungen bringt man selbst mit strengster Logik nicht aus den Köpfen der Leute. Das finde ich absurd und verstörend. Betrifft Sie das, weil Sie selbst Jude sind? Natürlich betrifft es mich persönlich. Aber ich finde es auch furchtbar, wenn über die Deutschen gewettert wird. Diesem Rassismus begegnet man auf Schritt und Tritt. Mir kommen ganz wenige Leute in den Sinn, von denen ich sagen kann: Das sind keine Rassisten. Was heisst es, kein Rassist zu sein? Rassist zu sein ist auch etwas Passives, das im Zulassen besteht. Behauptungen wie «Die Juden haben alle Häuser gekauft» zu glauben und zu kolportieren, ist für mich rassistisches Verhalten. Einer, der kein Rassist ist, hat Zivilcourage, opponiert und würde sagen: Was erzählst du da für einen Mist? Rassismus ist eine Frage des Verhaltens.

Moral gilt auch im Kollektiv. Ist die Schweiz ein moralisches Land? Nicht dort, wo es um die Essenz geht. Wir haben eine massive Wirtschaftskriminalität, die wir glorifizieren: Im grossen Stil Geld zu maSind wir nicht alle anfällig auf diese Klischees und Verallgemeinechen, gilt als geil. Ich finde unseren Umgang mit Flüchtlingen in höchsrungen, die über Generationen weitergegeben werden? tem Masse unmoralisch: Wir überlegen uns nicht, was wir tun können, um das Leid zu mindern, sondern nur, wie wir uns darum herummogeln können. Ich finde es «Auszublenden, dass es im Kanton Zürich 100 000 Arme gibt, ist nicht auch unmoralisch, dass auch bei uns schlechsimpel. Das ist ignorant.» te Löhne bezahlt werden, dass in einem derart reichen Land so viele Menschen zu wenig verDoch, der Mensch glaubt, was er sieht und hört. An sich ist diese Argdienen für ihre Arbeit. Und ich finde es unmoralisch, dass wir unsere losigkeit eine schöne Eigenschaft, aber eben auch sehr gefährlich, weil Neutralität an die grosse Glocke hängen und diskret im Waffengeschäft alles geglaubt wird, was man am Familientisch oder im Büro hört. Das mitspielen. multipliziert sich, der eine quatscht es dem anderen nach, und am Ende wird aus einer Mär ein Volksentscheid an der Urne. Das ist eine lange Liste. Sie ist auch nicht vollständig. Zumal ich glaube, dass unser Wohlstand Glauben Sie an den selbständig denkenden Menschen? uns verpflichtet. Uns wäre es auch möglich, gegen den Welthunger anJa, ich kenne auch genug solche. Aber ich glaube eben auch an die Igzutreten. Wir tun ja nicht nichts, wir haben die DEZA, aber wir könnnoranz und die Selbstherrlichkeit des Menschen. Das wird uns und der ten uns im grösseren Stil engagieren. Auch durch Verzicht, indem wir Natur das Genick brechen. Ich bin extrem enttäuscht von den Menkeine Waffen und keine Munition mehr exportieren. schen. Wie erleben Sie die Menschen in diesem Land, in dem Sie zuhause Was hat den Ausschlag gegeben? sind? Zutiefst menschliche Eigenschaften, die zu akzeptieren mir immer Undankbar und rassistisch. schwerer fällt: Ignoranz, Gier, Mitleidlosigkeit. Man hat nicht mal sich selbst gegenüber Mitgefühl. Die Leute rauchen, trinken zu viel, überDas sind harte Worte. arbeiten sich, stecken in destruktiven Beziehungen. Es ist ihnen anDer Rassismus ist aber tief verankert. Wir haben zwar keine Anschläge scheinend egal, was mit ihrem Körper und ihrer Seele passiert. Und auf Asylheime und Naziaufmärsche wie in Deutschland. Und keine gleichzeitig versichern wir uns alle jeden Tag: Danke, es geht mir gut, Spinner, die in jüdischen Supermärkten um sich ballern wie in Frankalles bestens. Da beginnt doch schon die Rücksichtslosigkeit, bei diereich. Viele Leute glauben deshalb, in der Schweiz gebe es keinen Rasser Lüge. sismus und Antisemitismus. Ich weiss aber aus eigener Erfahrung: Es gibt eine brave, pseudointellektuelle und pseudopolitische Schweizer Sie wollen die absolute Ehrlichkeit? Art des Antisemitismus, und die ist weit verbreitet. Ja. Und das bringt mich immer wieder in Konflikt mit anderen. Aber ich fühle mich einfach verarscht, wenn jemand seine Gefühle verleugnet, Wie geht die? um seinen Stolz zu retten. Man ist überzeugt, dass die Juden, und damit meint man ungeachtet der Vielfalt wirklich alle, bestimmte Eigenschaften haben. Keine guten, naIhr erster Roman handelt vom jungen orthodoxen Juden Mordechai türlich. Man ist überzeugt davon und sieht immer wieder vermeintliche Wolkenbruch, der um jeden Preis seinen eigenen Weg geht. VerbinBeweise dafür und plappert dann den grössten Mist nach, ohne zu überdet Sie das mit Ihrem Protagonisten? legen, was das genau heisst, was man da von sich gibt. Ja. Zum Beispiel? Wieso sind Sie derart besessen davon, den eigenen Weg zu gehen? Vor ein paar Jahren wurde im Zürcher Quartier Wiedikon, wo viele orMir hilft, dass ich eine sehr tiefe Leidensschwelle habe. Wenn sich etthodoxe Juden leben, die Weststrasse von der Hauptverkehrsachse zur was nicht gut anfühlt, dann wird es schwierig für mich. Ich höre stark Quartierstrasse abklassiert, was eine Aufwertung der Gegend bedeutedarauf, wie es mir gerade geht. te. Ein Bekannter sagte im Vorfeld: Die Juden haben da schon alle Häu-

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War das schon immer so? Es wurde zumindest immer stärker. Ich habe mit 27 einen gut bezahlten Job in einer Werbeagentur angetreten. Diese Firma fühlte sich aber überhaupt nicht gut an, die Leute nicht, das Haus nicht, die Gespräche nicht. Ich habe nach zwei Wochen wieder gekündigt. Diesen Job aufzugeben hätte genauso gut dazu führen können, dass Sie heute hier unten das Strassenmagazin verkaufen würden. Ja, und das wäre völlig in Ordnung. Was heisst schon scheitern? Die meisten meiner Freunde, Männer um die 40, verdienen deutlich mehr als ich. Aber es ist mir egal, denn ich messe mich und die anderen an der Zufriedenheit mit dem Leben. Und meine Zufriedenheit ist sehr hoch, weil ich selbst entscheide, was ich tue und wie. Dafür verzichte ich gerne auf materielle Privilegien. Zufriedenheit bedingt Verzicht? Der Zwang ist der Feind der Zufriedenheit. Ein Bekannter von mir verdient viel Geld bei einer Bank. Aber er macht die Arbeit nicht gerne und mag seinen Arbeitsort nicht. Das ist ein Zwang, den er überwinden müsste, wenn er zufrieden sein will. Und das hiesse, auf das Geld zu verzichten. Interessanterweise sind sich die Menschen oft bewusst, welchen Preis sie bezahlen für ihre Privilegien. Aber sie denken, vielleicht kommt ja bald eine Zeit, in der ich das Privileg haben kann, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Verzicht hat seine Grenzen. Wenn man jeden Fünfliber umdrehen muss, wird man auch nicht zufriedener. Die Freiheit, die Geld uns gibt, ist stark begrenzt. Wenn du 15 000 Franken im Monat verdienst, hast du nur noch eine Sorge: nie mehr weniger als 15 000 Franken zu haben. Wieso war die Strasse der richtige Ort, um den Menschen unbequeme Fragen zu stellen? Man hätte es auch online machen können oder in einem Szeneheftli. Aber ich fand die Über«Die Leute fluchen, ziehen sich schlampig an und raschung an unerwarteten Orten am grössten. Füsse aufs Polster. Das finde ich eine Zumutung.» Die Leute sollten überall von Fragen angesprungen werden. Ich war zum Teil nächtelang am Kleben.

legen im Zug die

Sie haben sich unter anderem in Ihrer Kolumne im Sonntagsblick mehrmals kritisch dazu geäussert, wie sich die Leute im öffentlichen Raum verhalten. Die Leute fluchen, ziehen sich schlampig an und legen im Zug mit oder sogar ohne Schuhe die Füsse aufs Polster. Das finde ich vulgär. Eine Zumutung.

Worauf warten Sie? Auf die Einsicht des Menschen. Aber da kann ich wohl lange warten.

Könnte man es auch als Zumutung empfinden, im öffentlichen Raum mit Ihren Fragen konfrontiert zu werden? Man wird ja auch mit Werbung behelligt, aber das gilt als wirtschaftsfördernd. Meine Fragen fördern dafür die Konfrontation. Das kann unangenehm sein, aber am Ende ist es heilsam.

Dann halt so: Worin entsprechen Sie am wenigsten Ihrem Selbstbild? Wenn ich mich auf Video sehe, erlebe ich mich als deutlich weniger männlich, als mir lieb wäre. Oft sehe ich ein Kind, und das nervt mich.

Zum Schluss möchten wir von Ihnen ein paar Antworten auf Ihre eigenen Fragen. Was ist Ihr übelster Charakterzug? Wenn ich überzeugt bin, dass ich recht habe, fällt es mir schwer, die Aussagen meines Gegenübers stehen zu lassen. Womit lenken Sie sich von sich selbst ab? Mit Internet und Smartphone. Ich habe neulich gelesen, dass Handysüchtige bis zu 60 Mal pro Tag auf ihr Handy gucken. Und ich dachte: Was, nur 60 Mal?

Was ist die Lüge Ihres Lebens? Ich habe die meisten Fragen in der Sammlung auch für mich selbst geschrieben. Diese nicht. Ich habe in meinem Leben keine Lüge gefunden.

Finden Sie Ihre Lebensweise nachahmenswert? Ja. Wobei, auch ich könnte noch weniger konsumieren. Und was ich gar nicht nachahmenswert finde, ist mein Online-Verhalten. Mein Sohn sieht mich sehr oft aufs Handy schauen. Dafür schäme ich mich. Was ist Ihr Schatten? Ein tiefes Misstrauen gegenüber Beziehungen zwischen Menschen. Ich habe immer Angst, dass irgendwann etwas kommt, das sich schlecht anfühlen wird. Deshalb bleibe ich lieber ein wenig alleine. ■ Thomas Meyer: Wäre die Einsamkeit nicht so lehrreich, könnte man glatt daran verzweifeln. Einhundertvierundvierzig Einsichten. Salis Verlag 2015

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Surprise Porträtbuch Mit Kippa statt Irokesenschnitt Früher hing Joachim Wasslowski als Punk am Zürcher Bahnhof Stadelhofen rum und verkaufte Surprise, heute fährt er Limousine – für Uber. Vorabdruck aus dem Surprise Porträtbuch «Standort Strasse», das am 24. September erscheint.

«Nach der Schicht bin ich froh, wenn ich aus dem Anzug raus kann. So gern ich Limousinen chauffiere, an den Kittel habe ich mich noch nicht gewöhnt. Zum Glück ist er nicht grau oder blau. Das könnte ich nicht tragen. Da bin ich derselbe wie früher. Ausser dem Hang zu schwarzen Kleidern und meinem langen Ledermantel ist wenig geblieben aus der Zeit, als ich Surprise verkaufte und als Garfield oder Gäffe in der Punk- und Gothic-Szene Zürichs rumhing. Wobei doch: die Schulden. Früher hab ich halt lieber gesoffen als Rechnungen bezahlt. Das Alkoholproblem ist erledigt. Seit fünf Jahren hab ich keinen Tropfen mehr getrunken und dafür vierzehn Kilo verloren. Beim Geld dauert es noch. Immerhin vierzigtausend Franken habe ich schon abbezahlt. Wegen der Betreibungen kann ich kein eigenes Fahrzeug halten und miete die Limousine von einem Freund. Mit dem Wagen fahre ich auch für Uber. Der Fahrdienst wird in der Schweiz von vielen angefeindet. Als Privat-Chauffeur bietet er mir aber einen überlebenswichtigen Zusatzverdienst. Ich hoffe, der Service wird nicht verboten oder weiter schikaniert. Wir haben schon genug Einschränkungen im Vergleich mit offiziellen Taxis. Bevor ich mit dem Limo-Service angefangen habe, bin ich lange Taxi gefahren, meist die Nachtschicht. Im Dezember 2010 wurde ich von zwei Typen brutal überfallen. Sie hielten mir Pistolen an den Kopf. Attrappen zwar, doch das erfuhr ich erst später. Zudem hatten sie auch Messer. Sie nahmen mir beide Portemonnaies und das Taxi-Natel ab. Zum Glück hatte ich noch mein privates. Damit alarmierte ich die Polizei, und dank der Überwachungskamera einer Tankstelle wurden sie am nächsten Tag gefasst. Mich verfolgte die Geschichte trotzdem weiter. Ich mag es, als selbständiger Limousinen-Chauffeur quer durch die Schweiz zu fahren. Um davon leben zu können, fehlen mir aber noch einige Privatkunden. Gut läuft es schon jetzt bei orthodoxen Juden. Unter ihnen geniesse ich einen guten Ruf. Ich werde immer öfter gebucht, etwa wenn sie vor Hochzeiten auf die traditionelle Betteltour gehen. Darum habe ich immer eine Kippa und religiöse hebräische Musik zur Hand. Selber bin ich praktizierend, aber nicht orthodox. Das Judentum ist ein schwieriges Kapitel in unserer Familie. Auf Vaters Seite waren viele mit Nazis verheiratet. Das hat er erst kürzlich herausgefunden, und jetzt schämt er sich dafür. Mutter dagegen wurde von einer katholischen Familie adoptiert. Darum ist sie bei der jüdischen Gemeinde nicht eingetragen. Als sie letztes Jahr gestorben ist, wurde das ein Problem, da wir sie ohne Papiere nicht auf dem jüdischen Friedhof in Zürich beisetzen konnten. Baden war zum Glück unbürokratischer – dafür bin ich sehr dankbar. Davor hatte ich meine Mutter fast drei Jahre lang gepflegt. Sie hatte chronische Schmerzen und war dement. Früher war das anders. Da hat sie mir die Irokesen-Frisur nachgeschnitten. Mein Vater hingegen hatte gar kein Verständnis für Punks. Er trug immer Anzug und Krawatte. Für SURPRISE 357/15

mich war klar: So werde ich nie! Mit achtzehn flüchtete ich und wohnte in einem Zelt hinter der Gassenküche am Limmatplatz. Die Gipserlehre brach ich ab und gab mich dem Suff hin. Drogen habe ich aber nie angefasst. Meine kleine Schwester hat ihr Leben zum Glück im Griff. Die ältere dagegen hat leider eine lange Drogenkarriere eingeschlagen. Den Tod der Mutter sahen wir beide als Chance für einen Neustart. Wir haben Mutters Wohnung entrümpelt und eine WG gegründet. Leider mussten wir wieder raus, da wir die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Mein damaliger Chef hatte mir drei Monate lang keinen Lohn überwiesen. Meine Schwester zog dann in eine Methadon-WG, ich zum Vater. Er meinte nur: Selbständiger Chauffeur, das schaffst du eh nicht. Mich hat das nur motiviert. Bis jetzt habe ich nie einen Termin versäumt. Nun hoffe ich nur, dass der Job langfristig klappt. Ich habe nun wieder eine eigene Wohnung. Ich will nicht nochmals rausfliegen.» ■

Surprise Porträtbuch: «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» «Standort Strasse» erscheint Ende September im Christoph Merian Verlag und wird überall im Buchhandel erhältlich sein. Das Buch erzählt von 20 Menschen aus 18 Jahren Strassenmagazin, die alternative Lebensentwürfe abseits staatlicher Hilfe gefunden haben. Ihre Biografien zeigen, wie unterschiedlich die Gründe für den Abstieg sind – und wie schwer es ist, wieder auf die Beine zu kommen. Zu den aktuellen Porträts stehen im Buch alte Texte und Fotos derselben Person. So erfährt man mehr über ihre Entwicklung und welche Perspektiven Mensch in Not finden, durch den Heftverkauf oder ihre Aktivität in den anderen Projekten des Vereins Surprise. Dabei geht es nicht nur um Erfolgsgeschichten, sondern um ein authentisches Bild sozialer Not und Armut in der Schweiz. Beiträge von Knackeboul, Daniel Binswanger, Dominique Herr und Rebekka Ehret sowie eine Fotoserie von Surprise-Standplätzen runden das Buch ab.

20 000 Franken fehlen uns noch, um das Buch zu produzieren. Helfen Sie jetzt mit Ihrer Spende. Machen Sie mit unter: wemakeit.com/projects/surprise-standort-strasse Sie erhalten eine Spendenbescheinigung. Wir freuen uns, wenn Sie unser Anliegen an Freunde, Familie oder Kollegen weiterleiten.

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BILD: CMV

VON OLIVIER JOLIAT (TEXT) UND MATTHIAS WILLI (BILD)


Strassensport or v h ic s t ll te s 5 1 0 2 ti a -N e Die Surpris

SepCup. Vom 12. bis zum 20. für den Homeless World ft cha nns mMa Tea e s ein Da ise Surpr Welt treffen. Auch dieses Jahr stellt Spieler aus der ganzen 500 d run auf n, m rde rda we ste zu in Am p zugelassen tember wird die Auswahl zum Homeless World Cu Um nd. gru der yl Vor As im er ei hen dab fe angewiesen od erlebnis und Fair Play ste . dass sie auf Sozialhil z.B n, ülle erf len ien sol ter r Kri timmte – jedes Jah müssen die Spieler bes jeden Spieler einmalig n. Die Teilnahme ist für hne wo t reu n zu bekommen, tio bet er tiva od Mo d suchender sin ebnis Auftrieb und erl fts cha ins me Ge das alten, durch andere die Chance erh chen. wierigen Situation zu ma sch er ihr einen Schritt aus finden Sie auf: Videos aus Amsterdam Mehr Informationen und dcup.org und www.homelessworl www.strassensport.ch

HOPP Z! II S C HW

David Möller (32) Nationalcoach Mannschaft CH Street Soccer Nationalmannnschaft Lieblingsverein Borussia Mönchengladbach Lieblingsfussballer Kaka Hobbys Fussball, Snowboard, Reisen, Freunde treffen Lieblingsessen Spaghetti mit Meeresfrüchten Lebensmotto Never give up

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Abraham Mekonen (25) Assistenzcoach Mannschaft Surprise Basel Lieblingsverein Arsenal Lieblingsfussballer Thierry Henry Hobbys Schwimmen, Beachvolleyball und Velofahren Lieblingsessen Spaghetti Lebensmotto Viel Sport treiben SURPRISE 357/15


BILDER: TOBIAS SUTTER

Flo Rapp (23) Mannschaft Free Kickers Lieblingsverein Barcelona Lieblingsfussballer Neymar Hobbys Tennis, Basketball und Velofahren Lieblingsessen Dampfnudeln (Brioche al Vapore) Lebensmotto Never look back, think positive for the future

Pät Kiesinger (37) Mannschaft Free Kickers Lieblingsverein FC Basel Lieblingsfussballer Arjen Robben Hobbys Autos Lieblingsessen Pasta Lebensmotto Glücklich ist, wer vergessen kann SURPRISE 357/15

Alex Berglas (23) Mannschaft Free Kickers Lieblingsverein FC Basel Lieblingsfussballer Lionel Messi Hobbys Schwimmen, Billard, Tischtennis Lieblingsessen Ein Stück Fleisch mit Salat Lebensmotto Viel Sport treiben

Massimo Mascaro (40) Mannschaft Azatlaf Lieblingsverein Juventus Lieblingsfussballer Del Piero Hobbys Natur, Velo Lieblingsessen Pizza Lebensmotto Carpe diem

Sämi Diaz (22) Mannschaft Free Kickers Lieblingsverein Barcelona Lieblingsfussballer Fernando Torres Lieblingsessen Lasagne Lebensmotto Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter

Bruno Dos Santos (35) Mannschaft Azatlaf Lieblingsverein Barcelona Lieblingsfussballer Lionel Messi Hobbys Kochen, Velo fahren, Tennis spielen Lieblingsessen Bacalao (portugiesischer Fisch) Lebensmotto Leben und leben lassen

Julien Petri (35) Mannschaft Azatlaf Lieblingsverein Paris St. Germain Lieblingsfussballer Zlatan Ibrahimovic Hobbys Meditation Lieblingsessen Pizza Lebensmotto What doesn't kill you makes you stronger

Yohannes Tekle (20) Mannschaft Surprise Basel Lieblingsverein Arsenal Lieblingsfussballer Ces Fabregas Hobbys Filme schauen Lieblingsessen Engiera und Reis Lebensmotto Respekt gegenüber den anderen

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Eritrea «Der Militärdienst ist nicht das einzige Problem» Wie fühlen sich Flüchtlinge aus Eritrea angesichts der Debatte um ihre Anwesenheit in der Schweiz? Und was haben sie zu den Zuständen in ihrer Heimat zu sagen? Zwei Surprise-Verkäufer erzählen.

VON AMIR ALI

nur bedingt verlässliche Quellen, um etwa zu verifizieren, ob und wie viele geheime Gefängnisse es in Eritrea gibt und was dort geschieht. Das wäre die falsche Logik: Das Ziel kann, besonders in diesem Fall, nicht die endgültige Wahrheit sein. Doch wenn wir uns die Mühe machen, den Menschen hinter den Zahlen zuzuhören, kommen wir mit Wahrheiten in Berührung, aus denen wir uns ein eigenes Bild machen können. Deshalb haben wir uns auf die Suche gemacht nach Surprise-Verkaufenden aus Eritrea, die uns ihre Geschichten erzählen wollten. Und bereits auf der Suche lernten wir, wie kompliziert die Lage ist: Obwohl Surprise derzeit 109 aktive Verkäuferinnen und Verkäufer aus Eritrea zählt, sah es zunächst nicht danach aus, als ob sich jemand finden würde. «Die meisten wollen sich nicht äussern, und schon gar nicht in einem Gruppengespräch mit anderen Eritreern zusammen», sagt Vertriebs-Mitarbeiterin Andrea Blaser vom Surprise-Büro Bern. Zu tief sitze die Angst vor den Augen und Ohren der eritreischen Regierung auch hier im Exil. Zuletzt erklärten sich zwei Verkäufer bereit, ihre Erfahrungen zu teilen. Beide sind in der Schweiz vorläufig aufgenommen. Sie kennen sich und vertrauen einander. Fotografieren lassen wollten sie sich allerdings

Eines der freiesten und reichsten Länder der Welt steckt mitten im Wahlkampf. Das dringendste Thema: Flüchtlinge aus einem der unterdrücktesten und ärmsten Länder der Welt. «Eritreer sind nicht an Leib und Leben bedroht», sagte der Zürcher SVP-Nationalrat Hans Fehr Mitte Juli im Tages-Anzeiger und erklärte: «Der Wehrdienst in ihrem Heimatland mag zwar hart und lang sein, ist aber nicht lebensbedrohlich.» Parteipräsident Toni Brunner schoss kurz darauf gegen SP-Bundesrätin Sommaruga und forderte sie auf, ein Rücknahmeabkommen mit Eritrea abzuschliessen. Die Regierung dort wolle «eine Amnestie für alle Dienstverweigerer», wusste Brunner aus nicht genannter Quelle. Flüchtlinge aus Eritrea seien daher in ihrem Herkunftsland nicht länger gefährdet, so die Logik: «Das Land soll seine Bürger zurücknehmen und dafür deren Sicherheit garantieren.» Mitte August wurde bekannt, dass der lange Arm des eritreischen Staatsapparates bis in die Schweiz reicht. Mithilfe von «Spitzeln», so berichtete die Zeitung Schweiz am Sonntag, erpresse das Generalkonsulat illegal Steuern von der eritreischen Diaspora. FDP-Chef Philipp Müller, der die Eritreer bereits letzten Herbst als dringendes Problem und ergo Wahlkampfthema «Man weiss einfach nicht, wem man vertrauen kann. Also misstraut ausgemacht hatte, forderte kurzerhand die man allen, den Nachbarn, den Eltern, sogar der eigenen Ehefrau.» Schliessung des Konsulats – so viel zur Frage, ob eine autoritär herrschende Regierung, die ihre Bürgerinnen und Bürger zu Militär- und anderem Dienst ohne Ende nicht, und wir haben uns entschieden, ihre Namen zu ändern. Die Fraund ohne Lohn zwingt, von einem Tag auf den anderen zur verlässlichen ge, ob sie hier in der Schweiz Aktivitäten der eritreischen Regierung ausVertragspartei werden und die Sicherheit ihrer Bürger garantieren kann. gesetzt seien, wollten sie nicht beantworten. Bis Anfang August hatte sich die Spirale bis zu jenem Punkt weitergedreht, an dem CVP-Regierungsvertreter aus zwei Kantonen – Luzern Nebay, 57 Jahre, seit 2010 in der Schweiz: «Ich habe Eritrea vor über 25 und Schwyz – Stimmung gegen Flüchtlinge aus Eritrea machten und Jahren verlassen, weil ich Probleme hatte mit der Rebellenorganisation, den Bund aufforderten, diese nicht mehr als Flüchtlinge zu anerkennen. die damals gegen Äthiopien kämpfte und seit der Unabhängigkeit 1991 Im Zweifel für den Angeklagten? Trennung von Justiz und Politik? Dabis heute an der Macht ist. Ich kenne die heutige Situation also nicht aus für scheint es für Eritreer in der Schweiz zu spät. eigener Erfahrung, den zwangsweisen Militärdienst gab es damals noch Auffallend, und wohl typisch für migrationspolitische Debatten in der nicht. Ich lebte nach meiner Flucht viele Jahre in Ländern des Nahen Schweiz: Es kamen keine Eritreerinnen und Eritreer zu Wort. Natürlich Ostens, was einigermassen gut ging. Dann aber verschärfte sich das Kliwurde in den Medien das widersprüchliche Bild thematisiert, das verma, und ich wurde aus dem Libanon nach Eritrea zurückgeschafft. Dort schiedene Berichte von der Lage im Land zeichnen. Und natürlich sind steckten sie mich schnurstracks ins Gefängnis. Ich kann nicht erzählen, jene Leute, die geflohen sind und in Europa Zuflucht gefunden haben, wie ich es geschafft habe, aber ich kam wieder raus, ging direkt an die

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BILD: REUTERS/JACK KIMBALL (ERITREA) SELECT

«Die Leute können nicht arbeiten, nicht studieren, sich nicht weiterbilden»: Militärparade anlässlich des Unabhängigkeitstages in Asmara. (24. Mai 2007)

Grenze und verliess Eritrea erneut. Ich wusste, dass ich in ein wirklich sicheres Land musste, also machte ich mich auf nach Europa.» Jonathon, 34 Jahre, seit 2008 in der Schweiz: «Die Situation ist sehr schwierig. Ich zum Beispiel war fünf Jahre im Militärdienst. Offiziell dauert er nur 18 Monate, aber die Behörden können den Dienst verlängern, so oft und so lang sie wollen. Für den Dienst erhält man umgerechnet etwa drei Dollar pro Monat, das reicht auch in Eritrea nirgendwo hin. Ich hoffte jeden Tag, dass ich rauskomme und wieder arbeiten gehen kann. Gleichzeitig wusste ich nie, was passieren würde. Der Militärdienst ist nicht das einzige Problem in Eritrea, aber er ist die Ursache für viele andere: Die Leute können nicht arbeiten, nicht studieren, sich nicht weiterbilden. Nach fünf Jahren hatte ich genug und entschied mich zur Flucht.» Nebay: «Mein Bruder war seit 1988 im Dienst und wurde dieses Jahr entlassen. Das sind 17 Jahre. Seine Frau musste die Familie mit ihrer Arbeit als Krankenschwester ernähren. Das Problem ist: Sobald jemand sich gegen das System wehrt, seine Meinung sagt, ist er in Gefahr. Ich telefoniere zwar mit meinen Verwandten in Eritrea, aber sie reden nur sehr ungern über politische Angelegenheiten. Sie haben Angst. Man weiss einfach nicht, wem man vertrauen kann. Also misstraut man allen, den Nachbarn, den Eltern, sogar der eigenen Ehefrau. Alle könnten für die Regierung arbeiten.» Jonathon: «Eine Million Menschen sind aus unserem Land geflohen. Der einzige Grund, warum es nicht noch mehr sind, ist meiner Meinung nach das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte. Ohne Erlaubnis auszureisen ist sehr gefährlich. An unserer Grenze sterben Menschen. Oder sie werden verhaftet und verschwinden in einem Gefängnis.» SURPRISE 357/15

Nebay: «Ich glaube nicht, dass es genügend gesicherte Informationen gibt, um sagen zu können: Eritrea ist sicher, die Leute können zurück. Wir wissen selbst nur sehr wenig. Wie viele Gefangene gibt es im Land? Wie viele Gefängnisse? Und was genau geschieht dort? Von der Regierung gibt es diese Informationen nicht. Wegen des Konflikts mit Äthiopien herrscht seit Jahrzehnten Ausnahmezustand, die Verfassung ist ausgesetzt, es gibt keine Wahlen.» Jonathon: «Manche sagen, Eritrea sei sicher. Das stimmt nicht. Wenn ich in der heutigen Situation nach Eritrea zurückmüsste, wäre das sehr gefährlich. Ich habe zumindest keinen Grund, von etwas anderem auszugehen. Ich bin aus dem Dienst desertiert, und das wird bestraft.» Nebay: «Im Jahr 2002 wurden rund 220 Eritreer aus Malta deportiert und zurückgeschafft. Sie wurden noch am Flughafen verhaftet. Frauen, Kinder und Alte wurden nach einigen Wochen wieder freigelassen. Aber die Männer im dienstfähigen Alter wurden gefoltert, einige starben. Der Fall wurde damals von Amnesty International dokumentiert, und wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass sich daran etwas geändert hat.» Jonathon: «Hinzu kommen die UNO-Sanktionen. Sie lähmen die Wirtschaft: Es ist zum Beispiel sehr schwierig, Import und Export zu betreiben. Die Eritreer sind gefangen zwischen den UNO-Mächten und ihrer Regierung.» Nebay: «Das führt dazu, dass sich nichts bewegt. Die Leute können in dieser Situation nicht für Freiheit und Demokratie kämpfen. Alle haben Angst. Wer frei sein will, muss gehen. Und spätestens wenn man geht, ist man in Gefahr.» ■

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Eritrea «Düstere Aussichten» Der Ethnologe Magnus Treiber kennt Eritrea aus eigener Erfahrung und langjähriger Forschungstätigkeit. Er glaubt nicht, dass sich die Lage im Land auf absehbare Zeit entspannt – im Gegenteil. INTERVIEW VON SARA WINTER SAYILIR

Herr Treiber, warum kommen derzeit so viele Flüchtlinge aus Eritrea nach Europa? Offensichtlich haben die Kontrollen der eritreischen Sicherheitskräfte nachgelassen. Auch die Möglichkeiten zur Flucht sind vielfältiger geworden, es gibt einen etablierten Schmuggel sowie Geflüchtete, die bereits irgendwo angekommen sind und dies auch zurückmelden. Zudem gibt es einen fortschreitenden Prozess der Verarmung des Landes in den letzten zehn bis 15 Jahren, der verstärkend wirkt. Die asylrelevanten Fluchtgründe sind jedoch im Wesentlichen die gleichen wie vor 15 Jahren.

Warum kommen nicht ebenso viele Sudanesen oder Äthiopier zu uns? Die Wege sind dieselben, und das Leben dort ist nicht weniger schwierig. Eritrea gilt international als Unrechtsstaat, aus dem die Flucht legitim ist. Äthiopier hätten ebenfalls genügend Fluchtgründe, doch dies wird international nicht gleichermassen anerkannt, denn Äthiopien ist ein international anerkannter Partner in der Region. Nur wer dort zu als extrem eingestuften Oppositionsparteien gehört, kann in Anspruch nehmen, legitimer Flüchtling zu sein. In Bezug auf den Südsudan herrscht zudem weltweites Unverständnis über den frühen Zerfall in zwei Lager nach der Unabhängigkeit.

Was wissen wir denn über die Lage in Eritrea? Wem kann man glauHat der eritreische Staat weniger Interesse daran, die Flüchtlingsben? ströme zu kontrollieren, oder ist er dazu nicht imstande? Wir haben wenig Einblick. Das Land ist verschlossen, wir wissen nicht Ich vermute, die Kontrolle über die Migration ist dem Staat entglitten. einmal, wie viele Gefängnisse es gibt. Jede einzelne staatliche Institution, Gleichzeitig ist der eritreische Staat kein einheitlicher Apparat, sondern jede Behörde hat ihr eigenes Gefängnis. Selbst die Regierung hat keinen ein komplexes Gebilde aus Behörden, widerstreitenden und rivalisierenden Militärabteilungen und Geheimdiensten, alles unterlegt mit mafiosen Strukturen. Es gibt «Es gibt starke Hinweise darauf, dass hohe Militärs in Eritrea an der starke Hinweise darauf, dass hohe Militärs an Migration verdienen.» der Migration verdienen. Dann profitiert das Land von der Migration? Immerhin treibt Eritrea auch im Ausland Steuern ein. Sobald man unter Lebensgefahr das Land verlassen hat, wechselt man die Kategorie und wird vom Republikflüchtling zur Diaspora. Und Diaspora bedeutet, im Ausland zu leben, Geld zu verdienen und etwas davon zurückzuschicken. Davon profitiert der Staat natürlich. Es ist aber nicht so, dass der Staat die Menschen einfach hinausdrückt. Die Gefängnisse sind voll von Leuten, vor allem jungen, die versucht haben zu fliehen und vom ewig währenden Militär- und Nationaldienst zu desertieren. Das wird schlimm bestraft und ist der Hauptgrund, warum so viele im Gefängnis sitzen respektive das Land verlassen wollen. Die meisten Eritreer fliehen über den Landweg in die angrenzenden Länder Äthiopien und Sudan. Was ist ihr Ziel? Die jungen Menschen wollen irgendwohin gehen, wo man eine eigene Existenz aufbauen kann: einer Erwerbstätigkeit nachgehen, Zufriedenheit finden und tun können, was man will. Das alles kann man in Eritrea nicht. Auch die afrikanischen und arabischen Staaten der Region bieten diese Perspektive nicht. Das grosse Ziel der meisten ist aber nicht die Schweiz oder Europa, sondern die USA und Kanada. Dennoch kommen derzeit viele Eritreer hier an. Woran liegt das? Unter anderem an den positiven Rückmeldungen von Eritreern, die bereits hier sind und sagen: Ich hab es bis hierher geschafft. Wem die legale Einwanderung in die USA über Familiennachzug oder Sponsoring nicht offensteht oder wer es nicht illegal über Lateinamerika versuchen will, muss über Libyen den Weg nach Europa nehmen. Und dann ist die Schweiz natürlich ein Ziel, denn in Italien will niemand bleiben. Dass dabei viele Menschen im Mittelmeer ertrinken, ist auch in Eritrea kein Geheimnis mehr.

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Überblick mehr. Ich weiss aus eigener Feldarbeit und von Informanten, denen ich vertraue und deren Aussagen ich auch einordnen kann: Es gibt genug Gefängnisse, und die Zustände dort sind schrecklich. Es existiert keinerlei Rechtssicherheit. Jeden Tag kann man aus einem Missverständnis heraus im Gefängnis landen. Die Fluchtgründe sind legitim. Wie muss ich mir das eritreische Justizsystem vorstellen? Es gibt kaum Gerichte, Bestrafung läuft über das Militär und seine Abteilungen oder die Geheimdienste. Gerichtsverfahren sind die absolute Ausnahme. Menschen können in der Haft auch sterben, nicht notwendigerweise durch massenhafte Tötungen von Häftlingen. Aber bei einem Fluchtversuch nach dem Toilettengang ins Freie – denn sanitäre Anlagen gibt es keine – wird schon mal jemand erschossen. Zudem bekommen viele nicht die medizinische Hilfe, die sie brauchen. Was ist mit Folter? Schläge und auch böswillige Folter in vielen Einzelfällen gibt es zweifellos – wie organisiert das ist, kann ich nicht sagen. Einige Methoden sind dokumentiert, wie das Aufhängen an den Gliedmassen, das Stehenlassen in der Sonne oder das Beschmieren mit Honig in der Sonne, sodass Insekten kommen und das Gesicht anfressen. Dann ist die Aussage des Luzerner CVP-Regierungsrates Guido Graf falsch, die meisten eritreischen Flüchtlinge müssten in ihrer Heimat nicht um Leib und Leben bangen? Herr Graf hat sich seine Äusserungen sicher gut überlegt. Allerdings sagte der amtierende Informationsminister Yemane Gebremeskel gegenüber der Frankfurter Rundschau kürzlich, wer desertiert sei und zurückkehre, müsse mit Gefängnis rechnen. Damit widerspricht also ein eritreisches Regierungsmitglied Herrn Graf. SURPRISE 357/15


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BILD: ZVG

Und die internationale Staatengemeinschaft schaut zu? Wie leben die eritreischen Flüchtlinge in den Erstaufnahmeländern Die unterstützt bisher den Diktator. Er ist der grösste existierende Rest Sudan und Äthiopien? an Sicherheit und Stabilität in der Region. Alternativ wird ein neues SoDas Leben in den Flüchtlingslagern ist ohne jede Bequemlichkeit. Es gibt malia befürchtet. eine Erste-Hilfe-Station, die manchmal hilft und manchmal nicht. Dann gibt es Lebensmittelrationen, mit denen man wenig anfangen kann, etwa ungemahlenes Ge«Ich weiss aus eigener Feldarbeit und von Informanten, denen ich treide. Mitunter gibt es eine Grundschule und vertraue: Es gibt genug Gefängnisse, und die Zustände dort sind rudimentäre Kinderbetreuung, aber keine schrecklich.» weiterführenden Schulen. Malaria grassiert, es gibt nichts zu lesen und kaum Unterhaltungsmöglichkeiten. Nichts, was junge Leute auf die Dauer halten könnte. Die Also Eindämmung des Übels statt Engagement? verlassen daher die Lager legal oder illegal. In den Städten leben sie Das kann man so auslegen. Die deutsche Fernsehsendung «Monitor» hat auch prekär, aber zumindest selbständig. Lagerleben heisst abhängig unlängst aufgedeckt, dass die EU auf Betreiben Deutschlands eine Konsein. Allerdings haben die meisten eritreischen Flüchtlinge in Äthiopien ferenz in Khartum mit Sudan, Ägypten und Eritrea organisiert hat, in der es um die Bekämpfung der Migration ging. Als Versprechen für besheute eine Perspektive auf Umsiedlung in Resettlement-Programmen. sere Kontrolle wurde etwa eine weitere Ausbildung der Sicherheitskräfte in Aussicht gestellt. Die EU unterstützt den Repressionsapparat, um Wie funktioniert das? Es gibt eine Handvoll Länder, die bereit sind, in Zusammenarbeit mit Migration zu verhindern. dem UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Flüchtlingskontingente aufzunehmen. Aktiv sind derzeit vor allem die USA und Australien. Warum denn nicht stattdessen Wirtschaftshilfe betreiben, um den Migrationsdruck zu senken? Und diese Länder haben einfach ein Interesse an gut ausgebildeten Das ist ziemlich kompliziert. Eritrea hat nach der Unabhängigkeit 1991 Arbeitskräften? versucht, ein selbstbewusster Freund der westlichen Welt zu sein. Die USA überlegte sogar, einen Stützpunkt in Eritrea aufzubauen. 1998 Vermutlich. Die Aufnahmeländer haben eigene Richtlinien, nach denen sie selbst potenzielle Einwanderer aussuchen. Bei Australien steht beikippte die Stimmung aufgrund des Grenzkriegs mit Äthiopien. Weil Äthiopien als christliches Reich hinter dem islamischen Gürtel eine Gespielsweise ganz klar dabei: körperliche Gesundheit. Damit ist ausgeschlossen, wer ein Leiden hat, und unter den Migranten gibt es davon schichte als Partner des Westens hatte, wurde Äthiopien als Regionalviele. macht gestützt. Darüber war die eritreische Führung verbittert. Also wurde Isayas Afewerki zum Wadenbeisser. Er versuchte, durch ProvoUnd aus dem Sudan gibt es diese Perspektive nicht? kationen Verhandlungen zu erzwingen. Die Verbitterung darüber, dass das nicht geklappt hat, liest man heute aus jeder Regierungserklärung. Im Sudan wurde ein solches Resettlement-Programm bislang nicht für die Masse geschaffen. Von dort gibt es vor allem Familiennachzug. Oder den illegalen Weg über das Mittelmeer. Im Sudan sind die Lager in Was raten Sie der internationalen Staatengemeinschaft? Grenznähe vor allem nachts unbewacht und gefährlich. Von hier werDie Situation ist total verfahren. Derzeit warten alle ab, wie lange Afeden Entführungen gemeldet. Leute werden durch eritreische Militärs werki sich noch hält. und Sicherheitsdienste zurück nach Eritrea gebracht oder von Banditen gekidnappt und weiterverkauft bis auf den Sinai, wo sie Opfer des kriDann ist ein Bürgerkrieg unvermeidlich? minellen Organhandels werden. Wer kann, verlässt diese Lager so Tatsächlich sind Chaos und vermutlich Bürgerkrieg wohl vorgezeichnet. Niemand weiss, wie lange das noch dauern wird. schnell wie möglich. Der letzte Preis, den ich kenne, liegt bei etwa 100 US-Dollar von einem dieser Lager bis nach Khartum. Dann sind die zahlreichen vorläufigen Aufnahmen eritreischer Wer bringt einen dort hin? Flüchtlinge Augenwischerei, da es ja gar keine Rückkehrperspektive zu geben scheint? Schmuggler. Allerdings: Ob einer ein anständiger Schmuggler ist oder seine Fracht auf den Sinai verkauft, ist schwer herauszufinden. In KharSo wie ich das sehe, kommen die jungen Menschen, um zu bleiben. tum leben Zehntausende von Eritreern und auch Äthiopiern, die meisDoch sie gehen nicht ohne Wehmut, die Liebe zu ihrem Land besteht ten von ihnen illegal. Das weiss auch die sudanesische Polizei vor Ort fort. Das ist es, was in der Migration krank machen kann: Dass man in und kassiert kräftig ab. einer vollkommen neuen Situation ist, in einer Welt, in der man eigentlich gar nicht sein wollte, aber jetzt sein muss, weil man darin die einUnd die sudanesische Gesellschaft? zige Chance sieht. ■ Die öffentliche Debatte im Sudan ist ähnlich wie hier. Die etablierte sudanesische Mittelschicht beäugt die eritreischen Flüchtlinge sehr misstrauisch. Meistens hat man zwar ein eritreisches Hausmädchen oder auch einen Gärtner, mit denen man gut kann, aber die Einwanderung in der Masse wird skeptisch betrachtet. In Äthiopien hat man zumindest eine Perspektive, dass es weitergeht. Im Sudan hingegen gibt es nur tägMagnus Treiber promovierte vor zehn Jahliche Unsicherheit ohne irgendeine Hoffnung auf einen legalen Weg hinren zu Lebenswelten junger Erwachsener in aus. Also versucht man so schnell wie möglich weiterzukommen. Asmara, Eritrea. Seither haben fast alle seine Bekannten Eritrea verlassen. Sein HabilitaGibt es eine Perspektive auf Wandel in Eritrea? tionsprojekt widmet der 41-Jährige daher der Wenn Staatspräsident Isayas Afewerki, der mittlerweile fast 70 ist, stirbt Migration aus Eritrea. Derzeit ist er am Lehroder durch Teile der Armee weggeputscht wird – was immer wahrstuhl Ethnologie der Universität Bayreuth anscheinlicher wird –, dann wird es zu Verteilungskämpfen kommen. Das gestellt. Zuvor lehrte er an den Universitäten wird chaotisch und vermutlich gewaltsam. München und Addis Ababa.


BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Mofa Seit einiger Zeit fahre ich wieder Mofa. Fälschlicherweise wird es Elektrovelo oder gar E-Bike genannt. Das ist falsch. Ein motorisiertes Fahrrad oder Motorfahrrad heisst abgekürzt Mofa. Das UVEK definiert es so: Fahrräder, die zusätzlich mit Elektromotor und Batterie ausgerüstet sind, gelten als Motorfahrräder. Die Bezeichnung Elektrovelo ist nichts weiter als ein Marketingtrick, der Leuten suggeriert, die Fortbewegung auf einem solchen Fahrzeug habe etwas mit Velofahren zu tun. Hat sie nicht. Ich fahre immer noch viel und genügend bergauf Velo, um beurteilen zu können, dass die beiden Fortbewegungsarten höchstens am Rande miteinander zu tun haben. Natürlich muss man beim sogenannten Elektrovelo in die Pedale treten, um vorwärts zu kommen, aber die Kraft kommt fast ausschliesslich vom Motor. Das bisschen Trampen

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ist lächerlich, auch wenn man theoretisch die Motorenleistung auf ein Minimum reduzieren und mehr trampen könnte, aber das macht ja doch keiner, ausser die Batterie ist schwach. Es gibt eine Kategorie dieser Fahrzeuge, für die es eine Mofa-Nummer und -Prüfung braucht, aber auch die normalen fahren etwas über 25 km/h, was von den 30, die fürs Mofa erlaubt sind, nicht weit entfernt ist. In meiner Jugend hatte ich einen Velo Solex, mit dem ich bei Regen die Zürcher Quaibrücke hinauftrampen musste, und die ist gewiss nicht steil. Der Velo Solex wurde Mofa genannt, nicht Benzinvelo, und darum nenne ich das Elektrovelo auch Mofa oder gar liebevoll Möfi. Das Möfi eignet sich für alle Fahrten, für die ich mit dem Velo zu faul bin, das Auto idiotisch und das Tram zu umständlich wäre. Morgens schnell Gipfeli holen im Tal unten oder auf dem Hügel oben. In die Badi runter und wieder zurück, noch immer angenehm gekühlt. Ausflüge zu den weit draussen stattfindenden Festivitäten. Mit dem Anhänger in den Zoo oder auf den Markt, alles fährt sich locker, darum bin ich Fan vom Mofa. Das stösst auf Unverständnis. Die eingefleischten Velofahrer und Gümmeler rümpfen die Nase, zeigen Abscheu und Verachtung. Für sie kommt das Benutzen eines Hilfsmotors einem Verrat gleich. Noch stärker ist die Ablehnung bei den Fussgängern: All die Leute, die zu faul sind zum Velofahren und es darum nie gemacht haben und nicht können und nun mit

ihren Hilfsmotoren viel zu schnell durch die Stadt brettern, werden zu Recht als Plage empfunden. Ich bin der Ansicht, dass alles, was einen Motor hat, auf die Strasse gehört. Oder den Veloweg, nur gibt es Letztere in meiner Stadt praktisch nicht, Velos und Fussgänger werden seit Jahrzehnten trotz unterschiedlicher Tempi und Bedürfnisse als dasselbe oder zumindest kompatibel deklariert und müssen sich den Platz teilen, was für alle Beteiligten mühsam ist. Wie falsch diese Politik ist, bringen die Mofas an den Tag, denn wenn auch sie als Velos gelten und sich auf den Trottoirs breitmachen, ist das gemeingefährlich. Das Schöne am Mofa ist, dass man getrost Umwege fahren kann, auch wenn sie bergauf und -ab führen. Man kommt trotzdem schnell ans Ziel und lernt neue Wege kennen. Das Mofa erweitert den Radius und den Horizont. Solange man nicht der Illusion verfällt, Velo zu fahren.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT (SAVVE@VTXMAIL.CH) SURPRISE 357/15


Ausstellung Kitt der Gesellschaft Im Rahmen der Ausstellung «Zivilcourage – Wenn nicht ich, wer dann?» im Basler Museum für Geschichte öffnet auch die sogenannte «Living Library» ihre Pforten. Nicht Bücher erzählen hier die Geschichten, sondern Menschen.

«Das Böse braucht das Schweigen der Mehrheit», sagte Kofi Annan 2005 anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Der damalige Generalsekretär der UNO brachte damit zum Ausdruck: Zivilcourage ist für jede Gesellschaft essenziell. Dabei zählen nicht nur die grossen Heldentaten – wie die von Paul Grüninger, der Ende der Dreissigerjahre als Schweizer Polizeioffizier rund 3600 jüdische Flüchtlinge vor dem Tod bewahrte –, sondern auch die kleineren Bravourstücke. Mit solchen beschäftigt sich die Ausstellung «Zivilcourage – Wenn nicht ich, wer dann?», die im vergangenen Jahr bereits in Zürich zu sehen war und nun mit neuem Rahmenprogramm nach Basel kommt. Kernstück ist ein interaktives Schattenspiel, bei dem die Besucherinnen und Besucher mit sieben Situationen – wie einer Pöbelei im Tram oder einer Notfallsituation auf dem Trottoir – konfrontiert werden, die möglicherweise Zivilcourage erfordern. Laut den Ausstellungsmachern dreht sich vieles um die Frage: «Soll ich mich einmischen?» «Zivilcourage ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält», ist Anja Kruysse überzeugt, Studienleiterin beim Forum für Zeitfragen – dem Zentrum für Bildung, Gesellschaftsfragen und Kultur der Reformierten Kirche BaselStadt. Dieses trägt mit einer sogenannten «Living Library» zur Zivilcourage-Ausstellung bei und bietet Geschichten aus dem öffentlichen Raum. Dabei bekommen wir Einblick in den Erfahrungsreichtum von Menschen, die man häufig sieht, aber nicht immer wahrnimmt – konkret: ein Friedhofsgärtner, ein Badmeister oder ein Kioskverkäufer. Alles Leute, die einen «riesigen Job zu einem kleinen Lohn» ausüben, für reibungslose Abläufe besorgt sind und nicht zuletzt für Sicherheit und Dienstleistung stehen, so Kruysse. Im Rahmen der «Living Library» erhält man die Chance, die Personen zu ihrem Job und zu ihrer Situation zu befragen. «Damit wollen wir dazu beitragen, dass diese Menschen und ihre Tätigkeiten von der Gesellschaft weniger herabgemindert werden», hofft die ausgebildete Theologin. «Wir sind eine SURPRISE 357/15

BILD: ZVG

VON MICHAEL GASSER

Einmischen oder nicht: Die Schatten des Menschseins.

Konsumgesellschaft. Entsprechend herrscht hierzulande etwa die Erwartungshaltung, dass ein Kiosk immer besetzt und das gewünschte Heft stets vorrätig zu sein hat.» Sollte dem nicht so sein, könne dies mitunter rüde Reaktionen zur Folge haben. Und vereinzelt gar zu Situationen führen, in denen Zivilcourage gefragt ist. Konzipiert ist der dreistündige Event als Bibliothek, in der man statt Büchern eine Person ausleiht – für maximal 30 Minuten. Kruysse selbst wird als Bibliothekarin agieren, sprich: Bei ihr können sich Besuchende über das Angebot an «lebenden Büchern» informieren. Noch steckt man mitten in den Vorbereitungen, und noch haben nicht alle der gewünschten Berufsvertreter zugesagt. Doch Kruysse ist zuversichtlich, Menschen aus zehn bis 15 verschiedenen Jobs präsentieren zu können. «Für uns ist wichtig, dass sich die ‹Bücher› wohlfühlen», sagt Kruysse. Das beinhaltet, dass diese selber Fragen stellen dürfen oder eine Pause einschalten und zur Not ein Gespräch abbrechen können. Die Ausleihe eines Mediums ist kostenlos, jedoch nicht frei von Vorgaben: «Mit den Büchern muss sorgsam umgegangen werden», heisst es.

Die Idee zur «Living Library» stammt aus Dänemark, wo die aus einer Jugendbewegung hervorgegangene Veranstaltungsform erstmals im Jahr 2000 auf dem Musikfestival in Roskilde auf sich aufmerksam machte. Inzwischen wurden die mannigfaltigen Perspektiven, die das niederschwellige Konzept bietet, erkannt und vielerorts adaptiert. Infolgedessen finden sich die «lebenden Bücher» nicht mehr nur an Musikfestivals, sondern zunehmend auch an Buchmessen, Schulen oder Jugendkongressen. Anja Kruysse hatte bis dato noch keine Möglichkeit, selbst eine «Living Library» zu besuchen, entsprechend ist auch sie aufs Ergebnis gespannt. «Das Gebotene muss wie eine Show wirken», sagt sie. Allein schon deshalb müsse die Bibliothek möglichst echt anmuten. «Nur so entsteht eine Atmosphäre, die trägt – und überzeugt.» ■ «Zivilcourage – Wenn nicht ich, wer dann?», Museum für Geschichte, Basel. 11. September bis 31. Januar 2016.

«Living Library», So, 27. September, 11 bis 14 Uhr, in der Café-Bar des Museums für Geschichte, Basel. www.hmb.ch

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© JAN BALEJ BILD:

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Kultur

Was tut denn hier der kleine Schweinehund?

Jan Baley erzählt Die kleine Meerjungfrau als Umweltdrama.

Buch Das süsse Gift der Schummelei

Trickfilm Vom Kopf auf die Leinwand

Das Handbuch der kleinen Sauereien entlarvt den inneren Schweinehund mit Witz und Sachverstand.

Die 13. Ausgabe des Internationalen Festivals für Animationsfilm setzt auf Muskelkraft – und auf die Werke polnischer Künstler aus verschiedenen Generationen.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON EVA HEDIGER

Wer sich in die Irrungen und Wirrungen der Psyche wagt, muss sich auf einiges gefasst machen. Da ist es gut, einen Begleiter wie Matthias Nöllke zu haben, der einen kompetent und mit Humor ermutigt, sich unbequemen Wahrheiten zu stellen. Vor allem, wenn es um so etwas Banales, aber nur zu Bekanntes wie all die scheinbar harmlosen Schummeleien und Mogeleien geht, die gerne als Kavaliersdelikte abgetan werden, aber eben doch kleine oder grössere Sauereien sind. Die ortet der Autor dieses Handbuchs in allen Lebensbereichen: im Strassenverkehr, im Beruf, im Liebesleben und selbst unter Freunden – Stichwort Rote-Ampel-Missachten, Gerüchteküche, Fremdgehen & Co. Die Liste der Missetaten ist lang und trist. Und noch viel beklemmender als die Sündenfälle sind deren Ursachen. Wobei der Lohn für all die Schliche und Tricks, mit denen man sich selbst und andere betrügt, gleich zu Beginn präsentiert wird. Es gibt in der Psychologie sogar einen Begriff dafür: Cheater’s High, die Hochstimmung des Betrügers, die Droge, die so manchen süchtig macht. Zwei Bedingungen sind aber zu erfüllen, um in den Genuss dieses süssen Gifts zu kommen: a. Man darf sich nicht erwischen lassen, und b. Das Betrügen sollte auf Kosten anderer gehen. Keine Frage, dass es wahre Meister in dieser Kunst gibt. Dabei zeigt sich: Geld beflügelt, Macht verführt, und je höher der soziale Status, um so ungezügelter tobt sich der innere Schweinehund aus. Und das Ich, das im Dienste des Über-Ichs dem Es Paroli bieten sollte, erweist sich nur als Pressesprecher, der alles schönredet. Verschont bleibt niemand von den Fallgruben, die im Reiz des Verbotenen liegen. Schuld daran ist auch die Evolution: Denn gerade unsere Widersprüchlichkeit und die Gabe zur Scheinheiligkeit machen uns fit und flexibel für den Überlebenskampf. Doch wer nun hofft, ein gutes Gewissen sei ein sicheres Ruhekissen, der täuscht sich. Denn selbst dieses erweist sich allzuoft nur als Freibrief, als Absolution auf Vorrat für die eine oder andere kleine Sauerei. Autsch! Matthias Nöllke: Man darf sich nur nicht erwischen lassen. Handbuch der kleinen Sauereien. C.H. Beck 2015. 14.90 CHF

«Little From The Fish Shop» erzählt die Geschichte eines Meereskönigs, der wegen der zerstörten Gewässer in der Heimat mit seiner Familie aufs Land ziehen muss. Der Film ist am diesjährigen Fantoche zu sehen – und zeigt, was an Werken dieser Art fasziniert. «Animationsfilme setzen die physikalischen Gesetze ausser Kraft und die Fantasie übernimmt die Herrschaft», sagt Festivaldirektorin Annette Schindler. Diesen September findet das internationale Filmfestival zum 13. Mal statt, begonnen hat alles aber bereits 1995. Wie wird nun das 20-jährige Jubiläum begangen? «Das Festival als solches ist bereits eine sechstägige Feier!», so Schindler. «Doch es werden so viele Langzeitfilme gezeigt wie noch nie – und zum ersten Mal kommt ein Bundesrat an die Eröffnung.» Ebenfalls eine Premiere: Auf dem Bahnhofplatz findet ein Open Air Velo-Kino statt. Wer dort Filme sehen will, muss sich auf das Rad schwingen und mit der eigenen Muskelkraft die Vorstellung am Laufen halten. Seit Beginn des Festivals werden polnische Filme gezeigt, immer wieder gewannen sie Preise. Auch an anderen, internationalen Festivals. «Deshalb macht es absolut Sinn, Polen dieses Jahr als Länderfokus zu präsentieren», erklärt Schindler. Zusammengestellt wurde das Programm ˇ c und Piotr Szczepanowicz. Sie ist Produzentin beim Anivon Anja Soši´ mationsstudio Human Ark in Warschau, er Animationsregisseur und ˇ c letztes Jahr am Fantoche in Special Effects-Supervisor. Während Soši´ der Jury sass, gewann Szczepanowicz mit seinem Produktionsdebüt «Ziegenort» 2012 einen Hauptpreis. «Die beiden Kuratoren lassen handverlesene historische und aktuelle Filme miteinander in Dialog treten», erklärt Schindler. Vier Themenblöcke sind geplant: Innere Welten, Unter Uns, Soziale Rätsel und Unterwegs – alles Motive, welche die polnischen Künstler über Jahrzehnte beschäftigt haben. «Das Reservoir an tollen polnischen Animationsfilmen ist nahezu unbegrenzt», erzählt Schindler. Zu der Auswahl gehören auch die Werke von Jan January Janczak. Der Künstler wurde 1938 in Polen geboren und lebt seit über 25 Jahren in der Schweiz. Jetzt holt er erstmals seit Jahrzehnten seine Trickfilme aus dem Archiv. Fantoche, 13. Internationales Festival für Animationsfilm, Di, 1. bis So, 6. September, Baden. www.fantoche.ch

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BILD: ZVG

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Die Geschichtsschreibung entnebeln: «Die Grosse Schlacht» im Rankhof. 01

VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten

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Netzpilot Communication, Basel

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Balcart AG, Therwil

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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weishaupt design, Basel

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Coop Genossenschaft, Basel

Die Treibstoff Theatertage Basel wurden 2004 ins Leben gerufen, um jungen Performance- und Theaterschaffenden eine Plattform zu bieten. «Bei uns können die Künstler mit Theaterhäusern unter professionellen Bedingungen zusammenarbeiten, was am Anfang der Laufbahn nicht immer einfach ist», sagt Projektleiterin Eva Heller. Mittlerweile gehen die Theatertage in die siebte Runde, neu werden dieses Jahr auch ungewohnte Orte bespielt. «Das Fussballstadion Rankhof wird für eines unserer Projekte zur Bühne», erläutert Heller, in «Die Grosse Schlacht» soll der historische Kampf an der Birs von 1444 nachgestellt werden. Dabei interessiert das Theaterkollektiv «helium x» besonders der Umgang mit der Geschichtsschreibung. Im kollektiven Gedächtnis hat sich die Schlacht als Selbstaufopferung der Eidgenossen verankert, damit Basel verschont wurde. Doch die Geschichte zeigt ein differenzierteres Bild. In «RFID choreographies», einem anderen der sieben Projekte, beschäftigt sich das Duo Blöchle/Fornezzi mit möglichen Zukunftsszenarien. Die beiden präsentieren sich auf der zeitgleich in Basel stattfindenden Technologiemesse «ineltec.» als Startup-Unternehmen. Ihre Dienstleistung ist ein in die Hand implantierbarer Chip, der die Wohnungstür öffnen oder das Auto starten kann. Die Künstler wollen damit die Diskussion anregen, wie weit die Verkoppelung von Mensch und Technik gehen könnte. Die «Happy End Company» widmet sich einem anderen Tabu in unserer Gesellschaft, unserem Verhältnis zum Tod. In «Days of the Dead» holt sie die Toten, inspiriert von dem mexikanischen Ritual der «dias de los muertos», zurück in unsere Mitte. Das Kollektiv «We Ate Lobster» wiederum zeigt in der Ausstellung «Komm auf meine Seite» Stillleben ehemaliger Häftlinge in psychiatrischer Behandlung. Die Bilder, welche Titel wie «Geflügel im Schrank» oder «Halbierter Kater» tragen, werden in Anwesenheit der Künstler und Künstlerinnen zu sehen sein. In «CLAP», einer Performance, die sich dem Phänomen des Applaudierens widmet, untersuchen die Theatermacherinnen von «:objective: spectacle:&L’OUTIL» den Beifall aus gruppendynamischer und choreografischer Sicht. Hier wird zum szenischen Mittelpunkt, was normalerweise das Theatererlebnis umrahmt. In diesem Sinne: Bühne frei und hoffentlich – Applaus, Applaus.

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AnyWeb AG, Zürich

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Burckhardt+Partner AG

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mcschindler.com GmbH, Zürich

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fast4meter, Storytelling, Bern

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Bachema AG, Schlieren

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Ko Schule für Shiatsu GmbH, Zürich

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Schweizerisches Tropen- und Public Health-

Treibstoff Theatertage Basel, Mi, 2. bis Sa, 12. September. www.treibstoffbasel.ch

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Theater Schlachtfeld im Stadion Wenn die Tage wieder kühler werden, heizt «Treibstoff» Theatergängern in Basel ein – auch an aussergewöhnlichen Orten. VON ANNEKATRIN KAPS

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Institut, Basel 21

Lions Club Zürich-Seefeld, Zürich

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Privat-Pflege und Betreuung, Oetwil am See

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Praxis Colibri-Murten, Murten

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Schumann & Partner AG, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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BILD: URSULA SPRECHER UND ANDI CORTELLINI

BILD: ZVG BILD: JUNG-YEUN JANG

Ausgehtipps

Nach «The True Cost» shoppen Sie anders als zuvor.

Deutschschweiz Hinter dem Laufsteg

Huch, bitte nicht aufs Brot streichen!

Liestal Kann Kunst was? Zwölf Künstler werden in den nächsten zweieinhalb Monaten in Liestal die Welt retten. Jedenfalls lautet so der Titel der Ausstellung, und dass es derzeit tatsächlich einiges zu retten gäbe, wissen wir. Griechenland, die EU, die chinesische Börse, Flüchtlinge aus Eritrea und anderswo, unsere humanitären Werte, das Klima und die Umwelt. Wenn nun eine Ausstellung sich selbstbewusst «die Welt retten» nennt, mag das angesichts der Realitäten ironisch erscheinen. Daher muss man den Titel als Frage danach verstehen, was Kunst überhaupt vermag. Kunst zu machen, entzieht sich per se dem Zweck- und Nutzdenken, und gleichzeitig steht der Vorwurf immer wieder still im Raum: dass Kunst ja doch nichts ändern könne. Und wenn sie was ändern will, wird sie schnell auch etwas banal zu einer blossen weiteren Äusserung in der meinungsgeladenen Welt des Facebook-Kommentars. «die Welt retten» heisst in Liestal also, nicht nur über den Zustand der Welt, sondern auch das Vermögen der Kunst nachzudenken. (dif)

«Filme für die Erde» ist ein thematisch ausgerichtetes Festival, das Umweltdokumentarfilme zeigt. Es tut dies mit didaktischer Note und wendet sich mit kollegialem Duzen und mit speziellen Schulvorstellungen (aber nicht nur!) vor allem an junge Menschen, die noch beeinflussbar sind. Es geht um einen gescheiteren Umgang mit der Natur – und es sind schliesslich auch die Jungen, die in Zukunft den ganzen Dreck der Welt ertragen werden müssen. Das klingt ein bisschen abschreckend, soll es aber nicht sein, denn die Filme sind sehenswert. In «The True Cost – Wer bezahlt welchen Preis?» geht der Amerikaner Andrew Morgan der Frage nach, wie der glitzernde Laufsteg mit dem grauen Slum zusammenhängt. Er zeigt eine Geschichte über die Kleidung, die wir tragen, und die Menschen, die sie machen. Und über die weltweiten Auswirkungen der Industrie, die die Preise drückt – auf Kosten von Mensch und Umwelt. Und nachdem Valentin Thurn 2011 mit «Taste The Waste» bekannt geworden ist, hinterfragt er nun, woher die Nahrung in Zukunft kommen soll: von Gentech-Firmen, Biobauern oder Hobbygärtnern? Gibt’s dann künstliches Fleisch, Insekten oder LED-Salat? Wer Matthias von Guntens «ThuleTuvalu» im Kino verpasst hat, lässt sich nochmals vor Augen führen, wie Tuvalu im Meer versinkt, wenn das Eis in Thule schmilzt. Seien Sie sicher: Didaktisch hin oder her, das sind eindrückliche Kino-Erlebnisse. (dif)

Auch Surprisler dinieren weiss. Aber nur fürs Foto.

Basel Nicht so monochrom! Weiss gekleidete Menschen speisen für teures Geld an edel gedeckten Tischen: Die Männer im Anzug, die Frauen mit Perlenkette. So möchten es die Veranstalter des White Dinner, das am 11. September erstmals in Basels Innenstadt stattfinden soll, nachdem es schon in Metropolen wie Paris von den Gutbetuchten abgefeiert worden ist. 80 Franken kostet das Doppelpack Sitzplätze – Einzelpersonen sind unerwünscht. Wer auf solcherart Elitenbespassung keine Lust hat, setzt sich stattdessen an die Tische der Bunten Nacht. Diese findet parallel zum White Dinner an allen Orten der Stadt statt, wo man ungehindert picknicken darf und wo sich bunte Leute und Institutionen zusammenfinden. Die Initiative der Wärmestube Soup&Chill setzt sich für ein farbenfrohes, internationales Basel ohne soziale Schranken und elitäres Klassendenken ein. (win) Die Bunte Nacht, Fr, 11. September, 17 bis 24 Uhr. Musik nur bis 22 Uhr, Teilnahme kostenlos. www.soupandchill.com

Anzeige:

«Filme für die Erde», Fr, 18. September, ganztags, Theater Winterthur, Querfeld Basel, Sternensaal Bümpliz, HTW Chur, Musikschulsaal Südpol Luzern, Haberhaus Schaffhausen, Kugl St. Gallen, Volkshaus

«die Welt retten/Arche», mit Matthias Aeberli,

Zürich und weitere sieben Deutschschweizer Städte.

Elisabeth Heller, Jung-Yeun Jang, Annelies Štrba,

www.filmefuerdieerde.org

Werner von Mutzenbecher u. a., Fr, 28. August (Vernissage ab 18 Uhr in Anwesenheit der Künstler) bis So, 18. Oktober, Di bis Fr 14 bis 18 Uhr, Sa und So 13 bis 17 Uhr, Kunsthalle Palazzo Liestal. www.palazzo.ch

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BILD: STADT ZÜRICH

BILD: ZVG

Lärm für alle: Still aus «Industrial Soundtrack For The Urban Decay».

Wo versteckt sich hier das migrantische Zürich?

St. Gallen Alles Maschine?

Zürich Die Welt vor der Haustür

Wer schon immer mal wissen wollte, wie es sich anfühlen würde, von einem durchgedrehten Laser kleingeschrumpft zu werden und dann im eigenen Computer auf der Festplatte bei 7200 Umdrehungen pro Minute zu meditieren, der fährt am dritten Septemberwochenende nach St. Gallen. Zum zweiten Mal findet dort das A-Synth Fest statt, das zwei Tage lang die Maschine als Instrument zelebriert, oder anders: «Im Grunde genommen zeigte es, wie aggressive Lärmelemente Teil der Populärkultur werden können.» Und der das retrospektiv sagt, muss es wissen, schliesslich war Graeme Revell in den Siebzigerjahren als Mitgründer der stilbildenden Band SPK ein Industrial-Pionier. Das Zitat stammt aus dem Dokumentarfilm «Industrial Soundtrack For The Urban Decay», der den Anfängen dieses Musikstils nachgeht und zu Beginn des A-Synth Fests im Kino des Palace gezeigt wird. Danach gibt es zwei Tage lang den schönsten Lärm, den die Gegenwart zu bieten hat, unter anderem mit dem Berliner Duo Driftmachine oder I Speak Machine aus den USA, die auf der Bühne Synthesizermusik mit Science-Fiction-Filmen zusammenbringen. (ami)

Es ist ja seltsam. Da wird das Wandern als erfüllendes Hobby propagiert, gegen das Einwandern dagegen wird protestiert. Verreisen ist okay, Einreisen aber weniger. Daher stellen wir fest: Die Welt zu sehen ist nur etwas Schönes mit Rückfahrkarte. Nun kann man auch Zürich retour fahren. Und zwar, indem man hier unter kundiger Führung Orte der Migration besucht: In einem zweitägigen Kurs mit dem Titel «Wir waren fast alle auch mal Fremde – Orte der Migration in Zürich» zeigt uns das Zürcher Lehrhaus, woher und wieso die Eingewanderten der Stadt kamen, wie sie hier Teil der Bevölkerung wurden und wie sie zu dem beitrugen und beitragen, was Zürich heute ist. Das Lehrhaus ist ein Ort, an dem sich Menschen verschiedenster Herkunft mit jüdischer, christlicher und islamischer Kultur, Religion, Geschichte und Gegenwart auseinandersetzen. Durch die Strassen vor Ort wandelnd, lehrt es uns jetzt, die Welt neu zu sehen. (dif)

A-Synth Fest, Fr, 18. und Sa, 19. Sept., 20 Uhr, Palace und Grabenhalle St. Gallen.

«Unerwünschte und Willkommene: Die Zuwanderung nach Zürich von 1918 bis

www.asynthfest.ch

heute», Mi, 14. Okt. (Anmeldeschluss Fr, 25. Sept.), 14 bis 16.30 Uhr, CHF 50 pro

«Wir waren fast alle auch mal Fremde», Führung A: «Von den Reformierten aus den katholischen Orten bis zur Gründung der Eidgenössischen Fremdenpolizei 1917», So, 27. Sept., 10 bis 12.30 Uhr (Anmeldeschluss Fr, 11. Sept.), Führung B:

Führung, beide zusammen CHF 85. Anmelden unter www.zuercher-lehrhaus.ch (Tel. 044 341 18 20).

Augusta Raurica Blechkrachkapelle BILD: ZVG

Der Unterschied zwischen Folklore und Weltmusik ist, dass Folklore Tradition zur einzig gültigen Wahrheit verklärt, während Weltmusik Tradition zwar aufgreift, aber damit spielt und Neues schafft. Der Mut zum Grenzübertritt macht auch den Reiz der Berner Balkan-Brass-Band Traktorkestar aus: Seit sechs Jahren entwickeln die 12 Jazzer den traditionellen Bläser-Sound von Ensembles wie Fanfare Ciocărlia in ihren Eigenkompositionen weiter und scheuen auch vor Features mit Musikern anderer Provenienz wie Rapperin Steff La Cheffe nicht zurück. Auch «Vreneli ab em Guggisberg» ist vor den Blechbläsern und ihren Hochleistungsdrummern nicht sicher. Virtuos und in der üblichen halsbrecherischen Geschwindigkeit der Balkan-Bands rattern die Berner mit ihrem «Traktor-Orchester» durch Konzertsäle, über Festivals und Tonträger. Für jede Lebenslage der richtige Sound, zum Tanzen, Lachen, Weinen, Saufen und Spass haben – nur nicht zum Einschlafen. (win) Traktorkestar, Picknick mit Helden, Fr, 4. September, Picknick ab 18 Uhr (Grillgut selbst mitbringen oder vor Ort kaufen), Konzert 20 Uhr (bei jeder Witterung), Theater Augusta Raurica. www.theater-augusta-raurica.ch SURPRISE 357/15

Gleich rattern die Musiker von Traktorkestar los.

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Nachruf Erinnerungen an Peter Gamma

Am Bahnhof Basel ist es nicht mehr, wie es war. Über 15 Jahre lang traf man wochentags in der Schalterhalle auf einen Mann in Schirmmütze und Sandalen – auch im tiefsten Winter ohne Socken –, der langsam und geduldig in der Menschenmasse vor- und rückwärtsgehend den Passantinnen und Passanten Surprise anbot. Am Morgen des 10. August ist Peter Gamma in seinem Bett nicht mehr aufgewacht. Wir sind bestürzt und tief traurig. Eigentlich können wir es noch gar nicht fassen, dass Peter nicht mehr da ist, dass er nicht schon bald wieder am grossen Tisch im Surprise-Büro vor seinem Kaffee sitzen und freundlich grüssen wird. Am 30. September 1997 hielt der damals 41-Jährige, damals noch in der Basler Altstadt, zum ersten Mal als Verkäufer ein Surprise in der Hand – die dritte Nummer der neu gegründeten «Arbetsloosezittig», wie man damals sagte. Peter hat das Datum nie vergessen. Einerseits markierte es für ihn einen Neubeginn: Kurz zuvor hatte er sich definitiv vom Alkohol verabschiedet, bei Surprise hatte der gelernte Maschinenmechaniker seine neue Bestimmung gefunden. Das Verkaufen machte ihm von Beginn weg Spass, auch weil er darin sofort sehr erfolgreich war. Andererseits war Peter ein Mensch der Zahlen. Nicht lange nach seinem Einstieg bei Surprise übernahm er auch die Heftausgabe am Bahnhof. Akribisch führte er Buch über das Geschäft. Die Nummern der über die Jahre bestimmt an die tausend Verkaufenden wusste er auswendig, gerechnet hat er immer im Kopf. In Basel landete der gebürtige Urner eher zufällig: Er übernachtete einmal während der Fasnacht bei Freunden und blieb dann hier hängen. «Eine echte Tour de Suisse» habe er da hinter sich gehabt, erzählte er einmal. Am Rheinknie blieb er, hier fand er neue Freunde und bei Surprise auch eine Art Ersatzfamilie. Mitgebracht aus der Innerschweiz hatte er die Leidenschaft fürs Jassen. Sein phänomenales Zahlengedächtnis kam ihm auch hier zugute: 2001 wurde Peter Gamma Schweizer Meister im Einzelschieber. Peter war ein Gemütsmensch, aber kein Mann der vielen Worte. Er hatte ein äusserst gutmütiges Wesen, war stets freundlich und auch ein bisschen verschmitzt. Kurz: Man musste ihn einfach gern haben. Ohne Unterbruch hat er 18 Jahre lang für Surprise gearbeitet – Peter war ein sehr treuer Mensch und einer, auf den man sich verlassen konnte. Und er war gerne unter Menschen, nicht nur in der Bahnhofshalle bei der Arbeit, sondern auch nach Feierabend, wenn er in seiner Stammbeiz im St. Johann bei einem Orangina sass, oft zusammen mit seiner Frau. Peter war auch ein Genussmensch, der nicht viel zum Glück brauchte. Über alles liebte er die Schwarzwäldertorte, die war ein sicherer Wert, wenn man ihm eine Freude machen wollte. Manchmal, wenn er den vielen Menschen im Bahnhof nachschaute, die gerade verreisten, packte ihn das Fernweh. Für Ferien in der Karibik würde er sich schon begeistern können, sagte er einmal. Doch dafür habe er kein Geld, fügte er damals an, und es klang so, als wäre das für ihn auch ganz in Ordnung so. Immerhin reiste er einmal nach Graz und

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BILD: ZVG

(23. Mai 1956 bis 10. August 2015)

einmal nach Göteborg – als einer der ersten Spieler der Surprise Strassenfussball-Nationalmannschaft. Dies waren bleibende Erlebnisse, von denen er noch Jahre danach schwärmte. In den letzten Jahren häuften sich jedoch die Beschwerden, und Peter musste in seinem Verkäuferehrgeiz etwas zurückstecken. Er habe nicht so viel Ausdauer wie früher, gab er in einem Surprise-Porträt vor drei Jahren zu Protokoll, physisch wie psychisch. Nach zwei, drei Stunden verkaufen sei er müde, und alles tue ihm weh: die Gelenke, der Rücken. In den letzten Monaten hörte man von ihm allerdings kaum Klagen, nach einer schwierigen Phase ging es ihm deutlich besser. Umso mehr schockierte uns die Nachricht von seinem Tod: In der Nacht vom 9. auf den 10. August hörte Peter Gammas Herz auf zu schlagen. Wir werden dich alle sehr vermissen, Peter. (fer) ■ SURPRISE 357/15


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Fatma Meier Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

Telefon

Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

357/15 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 357/15

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Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit einem Netzwerk aus freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der ganzen Deutschschweiz. Sie kämpfen um den Titel des Schweizermeisters und des Weltmeisters beim Homeless World Cup. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen kostenlosen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine einfache und charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren. Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Gönner-Abo für CHF 260.– Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami, Heftverantwortlicher), Florian Blumer (fer), Diana Frei (dif), Mena Kost (mek), Thomas Oehler (tom), Sara Winter-Sayilir (win), redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Olivier Joliat, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Michael Gasser, Eva Hediger, Annekatrin Kaps, Pascal Mora, Roland Schmid, Matthias Willi, Manuela Zeller Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 20 400, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito

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Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T+41 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung) s.roter@vereinsurprise.ch Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 357/15


Ist gut. Kaufen! Trendige Surprise Taschen in bunten Sommerfarben! Gemeinsam mit dem Secondhand-Shop Zweifach aus Basel haben wir diese trendigen Surprise Taschen entworfen! Die Taschen werden umweltfreundlich aus nicht mehr gebrauchten Lastwagenplachen genäht und mit Autogurten versehen. Sie sind geräumig und verfügen innen über ein grosses Zwischenfach. Erhältlich sind sie in den Farben Rot, Blau, Grün, Orange und Schwarz. Je nach Vorrat kann die Lieferung bis zu drei Wochen in Anspruch nehmen. Zweifach ist ein Betrieb der Eingliederungsstätte Baselland und bietet jungen und erwachsenen Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit, im beruflichen Alltag Fuss zu fassen. Tun Sie sich, Zweifach und auch Surprise etwas Gutes und bestellen Sie noch heute ihre Tasche in ihrer Lieblingsfarbe! Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 45.– (exkl. Versandkosten) schwarz orange grün blau rot

Der Surprise Schriftzug soll folgende Farbe haben schwarz weiss silber

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Schön und gut. Im Sommer unverzichtbar! Die Surprise Caps für coole Köpfe. Nur bei uns in Einheitsgrösse erhältlich: zur Auswahl stehen sie in den Farben Schwarz und Beige. Zugreifen! Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Surprise Cap CHF 16.– beige

Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

schwarz

50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

Alle Preise exkl. Versandkosten.

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Wir machen es! Helfen Sie mit! Schon lange haben wir es geplant und jetzt in Angriff genommen: ein Buch über die Lebensgeschichten von 20 Menschen und darüber, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Ergänzt durch Porträts aus achtzehn Jahren Strassenmagazin, zeigen die aktuellen Texte die Entwicklung von selbstbewussten Menschen, die durch ein Angebot des Vereins Surprise die Motivation fanden, einen neuen Weg einzuschlagen oder ein Leben fern staatlicher Hilfe aufzubauen. 20 000 Franken fehlen noch, um das Buch zu produzieren. Helfen Sie mit, damit das Buch bald zu kaufen ist. Werden Sie Teil unseres Supporter-Teams und erwerben Sie auf wemakeit eine der exklusiven Prämien und unterstützen damit unser Projekt. wemakeit ist die grösste Crowdfunding-Plattform der Schweiz und eine der grössten in Europa. Alle Beiträge sind wertvoll und bringen das Projekt weiter. Jetzt mitmachen! wemakeit.com/projects/surprise-standort-strasse

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