Surprise 360

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Der Visionär US-Architekt Reynolds baut aus Abfall Öko-Häuser «Kämpfe bis am Schluss»: Schweizer Erfolg am Homeless World Cup

Schandfleck oder Freiraum? Dokfilmer Andreas Berger über die Berner Reitschule

Nr. 360 | 9. bis 22. Oktober 2015 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Buch: Standort Strasse Bewegende Lebensgeschichten

Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand 152 Seiten CHF 40.– inkl. Versand- und Verpackungskosten ISBN 978-3-85616-679-3

Die belebten Plätze und Strassen der Deutschschweizer Innenstädte sind bekannt. Die Lebensgeschichten der Surprise-Verkaufenden, die hier arbeiten, jedoch nicht. Das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» rückt diese Personen ins Scheinwerferlicht und zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Das Buch porträtiert zwanzig stolze Menschen, die trotz sozialer Not alternative Lebensentwürfe abseits staatlicher Hilfe gefunden haben. Die Angebote des Vereins Surprise haben ihnen dabei geholfen. Gastbeiträge sowie eine Fotoserie von Surprise-Standorten runden das Buch ab. Erfahren Sie mehr über die Lebensgeschichten unserer Verkaufenden und kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand». Ein Teil des Geldes kommt direkt den Surprise-Verkaufenden zugute. Bestellen bei Verkaufenden oder unter: www.vereinsurprise.ch/shop/


Titelbild: Patrick Tombola

Editorial Und sie bewegt sich doch BILD: ZVG

«Die Bevölkerung der Welt wächst, die Energie wird knapp, das Wasser, die Rohstoffe. Der Mensch muss sich Gedanken machen. Der Architekt auch. Denn Energie, Wasser, Rohstoffe sind Dinge, die man braucht, um Häuser zu bauen und darin zu leben», sagt Architekt Michael Reynolds in der Reportage über die abgefahrenen Öko-Häuser ab Seite 10. Das klingt aus heutiger Sicht selbstverständlich, in den Siebzigern galt es – in den USA zumindest – noch als Spinnerei. Doch die Welt ist weiser geworden, und so steht der Althippie Reynolds heute nicht mehr als Verrückter da, sondern als anerkannter Experte, auch wenn er in der Wüste New Mexicos immer noch dasselbe tut wie vor 40 Jahren: selbstversorgende Häuser bauen. «Die Autonomen wissen, dass man dem mittlerweile etwas älteren Herrn, der ich DIANA FREI bin, vertrauen kann», sagt ein anderer Mann, der auch seit 30 Jahren das tut, was er REDAKTORIN schon immer tat: Andreas Berger dokumentiert die linke Szene – speziell diejenige um das Berner Kulturzentrum Reitschule – seit den wilden Achtzigern in episch langen Filmen. Auch in Bern haben sich die Einstellungen verändert. Es gibt heute Linksautonome, sagt Berger, «die kein Problem damit haben, sich mit der Polizei an einen Tisch zu setzen und über Sicherheitsprobleme zu diskutieren. Das wäre in den wilden Achtzigerjahren undenkbar gewesen.» Im Interview ab Seite 16 wird klar: Die Welt ist differenzierter geworden. Und die Welt ist besser geworden, ein bisschen zumindest, und zwar für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Homeless World Cup – die Fussball-Weltmeisterschaft der sozial Ausgegrenzten, an die Surprise wie jedes Jahr eine Nationalmannschaft entsandt hat. Auch wenn die Strassenfussball-Meisterschaft eine Randerscheinung ist und bleibt: Für die Spieler bietet sie ein Ziel, das erreichbar ist. Und sie ist für ein paar Tage der Mittelpunkt ihres Lebens, der sie auch im Alltag nach dem grossen Fussballfest beflügelt. Lesen Sie mehr dazu im Spielbericht ab Seite 20. Herzlich Diana Frei

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 360/15

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10 Architektur Der Erdschiff-Kapitän Der US-amerikanische Althippie Michael Reynolds baut Häuser aus Abfall und gebrauchten Materialien. Seit den Siebzigern entwickelt der eigensinnige Architekt sein Konzept von Wiederverwertung, Nachhaltigkeit und Autarkie beständig weiter – nicht zuletzt, um unabhängig vom Grosskapital zu bleiben. Bisher ist er sich damit treu geblieben, auch wenn seine Earthships, wie er seine Häuser nennt, weltweit Absatz finden.

BILD: PATRICK TOMBOLA

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Inhalt Editorial Bewegte Welt Die Sozialzahl Rente retten Aufgelesen Brücke aus Wassereis Vor Gericht «Ich will nicht als Lügner dastehen» Leserbriefe Dekadente Sozialschmarotzer Starverkäufer Abraha Kibrom Porträt Netzhautablösung als Augenöffner Fremd für Deutschsprachige Schwiizertüütsch in Mazedonien Schmalfilmfest Acht Millimeter, die die Welt bewegen Kultur Ami auf Öko Ausgehtipps Stofftanz Verkäuferporträt International Ganz unten in Griechenland Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP Surprise – Mehr als ein Magazin Das Publikum sang mit

16 Berner Reitschule «Heute ist die Polizei kooperativer» BILD: LUCA CHRISTEN

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In den Achtzigerjahren wurde auch die Bundesstadt von Jugendunruhen durchgeschüttelt. Die in dieser Zeit besetzte Reitschule hat sich heute längst als alternatives Zentrum etabliert, das im ganzen deutschsprachigen Raum seinesgleichen sucht. Dok-Filmer Andreas Berger hat ihre Geschichte von Anfang an mit der Kamera dokumentiert, soeben hat er seinen neuesten Film über die Reitschule, «Come to Hell and see the Paradise» fertiggestellt. Wir haben ihn dort getroffen.

BILD: RUBEN HOLLINGER

20 Homeless World Cup Erfolg ganz zum Schluss Die Surprise-Nati blieb am Homeless World Cup in Amsterdam ihrem Motto «Kämpfe bis am Schluss» treu und schaffte nach zehn Niederlagen in Serie den Turnaround. Dank zwei Siegen konnte die Nati am Ende gar vom Cup des International Network of Streetpapers träumen.

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Durchschnittliches

ion)

er (Selbstdeklarat

Pensionierungsalt

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Männer

Die Sozialzahl Flexibel in Rente gehen Das Parlament arbeitet mit Hochdruck an der vom Bundesrat vorgeschlagenen grössten Reform der Alters vorsorge seit Einführung der AHV. Das Projekt läuft unter dem Codenamen «Altersvorsorge 2020». Die Jahreszahl markiert das Datum, an dem diese Reform in Kraft treten soll, ja muss , damit die Renten auch in den folgenden Jahren gesichert und finanziert sind. Eine zentrale Frage in dieser Auseinandersetz ung ist das Rentenalter. Nicht wenige möchten dieses anges ichts der weiter wachsenden durchschnittlichen Lebenserwartung für alle anheben, andere plädieren eher für eine Flexibilisier ung mit sozialer Abfederung und Anreizen zur Erwerbsarbeit über das ordentliche Rentenalter hinaus. Das gesetzlich festgelegte Rentenalter ist das eine, das tatsächliche Rentenalter das andere. Für die siche re Finanzierung der Altersvorsorge ist entscheidend, wie viele Erwerbstätige bis zur ordentlichen Pensionierung im Arbeitsmar kt bleiben (können) und wie viele schon früher mit dem Bezu g einer Rente aus der AHV und der zweiten Säule beginnen. In der Schweiz liegt das gesetzlich festgelegte Rentenalter für Männer seit der Einführung der AHV 1948 bei 65 Jahren. Das Rentenalter für Frauen hat hingegen eine bewegte Geschichte hinter sich. Zunächst lag dieses ebenf alls bei 65 Jahren, wurde dann aber 1957 auf 63 und 1964 auf 62 Jahre gesenkt. Um die Jahrtausendwende drehte der Kurs. 2001 wurde das Rentenalter der Frauen wieder auf 63 und 2005 auf 64 Jahre angehoben. Im Raum steht nun eine erneu te Gleichstellung beider Geschlechter. Blickt man auf die Entwicklung des faktischen Rentenalters, so wird ein hohes Mass an Arbeitsdisziplin sichtb ar. Die Befragung von Rentnerinnen und Rentnern zeigt, dass die Lücke zwischen faktischem und gesetzlichem Pensi onierungsalter in der Schweiz gering ist und im internationalen Vergleich das Land damit einen Spitzenplatz einnimmt. Bei den Männern beträgt die Differenz rund eineinhalb Jahre, bei den Frauen unter Berücksichtigung der Anpassungen des Rente nalters heute so-

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Quelle: Bundesamt

Frauen

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für Statistik

gar weniger als ein Jahr. Frühpensionierungen sind zwar in aller Munde, doch die meisten älteren Erwerbstätigen möchten davon absehen und keine Rentenkürzungen in Kauf nehmen. Nur Gutverdienende können sich solche Kürzungen auch wirklich leisten. Die Gründe für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess sind vielfältig, zeigen aber deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede. 29 Prozent der frühpensionierten Männer geben an, dass dies aus betrieblichen Gründen geschah, 18 führen gesundheitliche und rund 30 Prozent persönliche Gründe an. Bei den Frauen verlassen 17 Prozent aus betrieblichen, 26 Prozent aus gesundheitlichen und 36 Prozent aus persönlichen Gründen frühzeitig den Arbeitsmarkt. Deutliche Unterschiede ergeben sich auch, wenn das Bildungsniveau berücksichtigt wird. Menschen mit einer niedrigen Berufsausbildung hören am häufigsten aus gesundheitlichen Gründen auf zu arbeiten, jene mit einem hohen Bildungsniveau geben hingegen am meisten persönliche Gründe an. Was lässt sich aus diesen Zahlen für die Diskussion um ein höheres Rentenalter für alle ableiten? Zwei Punkte können hervorgehoben werden. Die geringe Lücke zwischen faktischem und gesetzlich vorgesehenem Rentenalter deutet auf einen ungebrochenen Arbeitswillen hin. Entscheidend ist damit die Haltung der Unternehmen gegenüber älteren Arbeitnehmenden. Noch immer zeigt die Schweizer Wirtschaft eine geringe Bereitschaft, Angestellte über das Rentenalter hinaus zu beschäftigen. Lieber holt man junge Erwerbstätige aus dem Ausland. Doch selbst wenn sich diese Haltung in den nächsten Jahren ändern sollte, muss von einer Anhebung des Rentenalters für alle abgesehen werden. Vor allem wenig qualifizierten Arbeitskräften soll es ohne Abstriche möglich sein, mit 65 Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu können. In vielen Fällen sind sie gesundheitlich angeschlagen. Auch ihnen stehen einige Jahre im Ruhestand zu. Auf der politischen Agenda muss eine Flexibilisierung des Rentenalters mit sozialer Abfederung stehen. CARLO KNÖPFE L (C.KNOE PFEL @VEREINSURPR ISE.CH) BILD: WOMM

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Aufgelesen News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Eisbau London. Nach einem Design von Leonardo da Vinci bauen Studenten in Finnland eine 100-Meter-Brücke aus Eis-Papier-Beton, sogenanntem Pykrete. Der günstige Baustoff besteht aus Wassereis sowie zehn bis 15 Prozent Holz- oder Papierfasern. Abwechselnd aufgesprüht, ist das Gemisch dreimal stabiler als normales Eis – für temporäre Bauvorhaben in arktischen Regionen genau das Richtige: Reparaturen können einfach mit Meerwasser ausgeführt werden.

Abbau Kiel. 63 000 Sozialwohnungen weniger gab es 2013 in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr, bei einem Gesamtbestand von 1,48 Millionen. Die deutschen Linken fordern im Bundestag daher 150 000 neue Sozialwohnungen jährlich, der Mieterbund geht sogar von einem jährlichen Neubedarf von 400 000 Wohnungen für einkommensschwache Haushalte aus. 60 000 bis 80 000 Wohnungen seien allein fürs Halten des derzeitigen Bestandes nötig. Die Zahl der Wohnungslosen schätzt die Wohnungslosenhilfe auf 380 000 im kommenden Jahr.

Aufbau Graz. Im schicken 2. Wiener Bezirk kann man jetzt bei Flüchtlingen wohnen. «Magdas Hotel» hat aber nichts zu tun mit der sogenannten Flüchtlingskrise: 20 von 31 Mitarbeitern sind schon anerkannte Flüchtlinge, manche leben seit über zehn Jahren in Österreich. Sie arbeiten von der Reinigung bis zur Rezeption in allen Bereichen des Betriebs, der nach marktwirtschaftlichen Prinzipien geführt wird. Das zeigt: Wer will, dass sich Flüchtlinge integrieren, muss etwas aufbauen – damit sie etwas unternehmen können.

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Vor Gericht Heroin statt Heftli Der Angeklagte hat, wie es Sitte ist, das letzte Wort. «Was soll ich sagen?», sagt er. «Ich habe jede Strafe verdient. Es tut mir leid, dass ich Schande über meine Familie brachte. Und dies nur, weil ich eine Entscheidung traf mit dem Reifegrad eines Kleinkinds.» So viel Reue ist selten vor Gericht. Wobei Reue selten mehr als die Einsicht ist, dass der Gewinn den Preis nicht wert war, den man dafür bezahlen musste. Milan M.*, 36, wurde aus dem Gefängnis Affoltern zugeführt, da sitzt er schon seit anderthalb Jahren. Damit dürfte einiges abgegolten sein. Der in Mazedonien wohnhafte Bulgare ist der qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz angeklagt; er hat gestanden, summa summarum 5831 Gramm Heroin- und 907 Gramm Kokaingemisch gebunkert, gestreckt, portioniert und an diverse Kunden in Stadt und Agglomeration Zürich geliefert zu haben. Zwar kein kleiner Fisch, aber auch kein Boss. Er betätigte sich als Taglöhner im Drogentransportservice, holte und lieferte, was man ihm auftrug. Die Kunden riefen seinen Chef an und dieser schickte ihn los, damit er zu den vereinbarten Treffpunkten fuhr und den Stoff überbrachte. Observiert wurde er als Mitglied einer Balkandrogenbande seit Längerem. Auch das Telefon des Verdächtigen wurde abgehört. Allmählich ergaben die verklausulierten Gespräche, in denen von «Kaffee und Tee» und von «Chabis» (glatzköpfiger Lieferant), «Meister», «Asylant» und «Budapest» (Abnehmer) die Rede war, einen Sinn. Die Anklage geht davon aus, dass der Drogenhandel mindestens von Mai 2013 bis Februar 2014 bestand. Allein in diesem Zeit-

raum wurden ca. ein Dutzend «Vorgänge» getätigt. Die Polizei nahm M. in flagranti fest, als er einem «Rocco» für 2300 Franken Kokain und Heroin verkaufte. M. ist grundsätzlich geständig, aber an jeden einzelnen Deal kann er sich nicht erinnern: «Ich habe keine Buchhaltung geführt.» Dafür hat der Richter Verständnis. «Für Sie war Drogenhandel so alltäglich wie für mich Zmorgenässe. Ich kann mich auch nicht mehr erinnern, was ich mir am 7. Dezember 2013 aufs Brot geschmiert habe.» Herr M. solle aber nicht Deals zugeben, die er nicht gemacht habe, bloss weil sich ein Geständnis positiv auswirke. «Nein, nein, ich gebe alles zu, wie es in der Anklageschrift steht und wie ich es gestanden habe», sagt M. «Ich will nicht als Lügner dastehen.» Bei den Ermittlungen war er kooperativ und gab der Polizei darüber hinaus noch einen Tipp zu einer Hanfplantage. An seine Verhandlung kommt er frisch rasiert und frisiert, in sauberen, dunklen Jeans, das schwarze Poloshirt spannt über seinen Muskeln. In Skopje besitzt er einen Kiosk, verdiente für dortige Verhältnisse ordentliche 1200 Euro pro Monat. «Es gab keinen Grund, weshalb ich Drogen verkaufen sollte, ausser meiner Dummheit.» Das Urteil lautet 36 Monate Freiheitsstrafe, 505 Tage hat er bereits abgesessen. Ein Teil wird ihm wegen guter Führung erlassen. Die 9560 Schweizer Franken und 675 Euro, die man in seinem Zimmer fand, werden beschlagnahmt. Er kann wohl hoffen, alsbald wieder das Licht der Sonne Mazedoniens in Freiheit zu geniessen. * alle Namen geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 360/15


Leserbriefe «Hier wird es für mich dekadent» Nr. 356, «Die Initiative gehört dem Volk», Kommentar von Redaktor Florian Blumer

den. Die Redaktion hat jede Zuschrift individuell beantwortet und im letzten Heft eine Stellungnahme dazu publiziert.

«Linke Selbstbefriedigung» Nicht zuletzt wegen des sympathischen Verkäufers habe ich in Rapperswil zweimal ein Surprise gekauft. Doch das linksextreme Gedankengut eines Florian Blumer stösst mir sauer auf. Den Linken ist das einigende Feindbild der SVP und Blocher ja herzlich zu gönnen. Davon kann ich aber auch in der Woz und im Tagi lesen. Das Surprise macht sich mit dieser linken Selbstbefriedigung überflüssig. Jürg Streuli, Wetzikon

«An Arroganz nicht mehr zu übertreffen» Ihr Heft ist durch die Mitarbeit so vieler verschiedener Menschen enorm ansprechend und interessant geworden. Ein besonderes «Sternchen» verdient für mich der Artikel von Michel Steiner (über das Anbringen von unbequemen Sitzgelegenheiten im öffentlichen Raum, Anm. d. Red.), weil er einen zuerst zum Schmunzeln und dann zum Nachdenken bringt. Einer der anderen Beiträge machte mich allerdings stutzig: David Mühlemann, Jurist bei humanrights.ch, schreibt von einem Klienten. Dieser lebe von Sozialhilfe, hätte in einem Arbeitsprogramm zur Sauberhaltung von Parkanlagen mitarbeiten sollen und habe dies als Zwangsarbeit empfunden. Herr Mühlemann beklagte, dass dieser Sozialhilfebezüger «höchstwahrscheinlich» nicht unentgeltlich einen Anwalt erhalte. Hier wird es für mich dekadent: Da verlangt einer Unterstützung von der Gemeinschaft in Form von Sozialhilfe und ist nicht bereit, seinerseits einen Beitrag zugunsten der Gemeinschaft zu leisten?! Und Herr Mühlemann findet, die Gemeinschaft solle bitteschön noch einen Anwalt zur Verfügung stellen – gratis! Wenn man so etwas liest, versteht man, warum die SVP Emotionen gegen «Sozialschmarotzer» schüren kann. An Arroganz nicht mehr zu übertreffen. Madeleine Beglinger, Rodersdorf

«Freundlich, aber zurückgezogen» Der Thomas Meyer hat mich interessiert. Der Romanautor, der Fragen aufwirft und an Wände klebt, dessen jüdische Vorfahren den Rassismus kennen und der uns zeigt, wie nah schweizerische Vorurteile dem Rassismus verwandt sind. Ihr Editorial: Mit Eritreern übers Wetter reden. Vielleicht gelingt es mir auch einmal. Sie sind immer freundlich, aber zurückgezogen. Das Gespräch von Sara Winter Sayilir mit dem Ethnologen Magnus Treiber bringt sehr viel über die Regierung, die Gefängnisse, die Nachbarländer Äthiopien und Sudan. Wir hören auch gute Nachrichten aus USA und Australien, die Eritreern eine Chance geben und nicht klagen, das Land könne keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, es koste zu viel und man habe Angst vor ihnen. Ihr Vorschlag, aus Problemen Menschen zu machen, verdient es, auch von mir befolgt zu werden. Franz-Peter Schmid, Zug

Nr. 358, «Was braucht die Schweiz?», Sonderausgabe zu den eidgenössischen Wahlen Anmerkung der Redaktion Die zahlreichen Leserreaktionen, die sich auf den Beitrag von Philipp Ruch beziehen, können nicht im Rahmen dieser Seite behandelt wer-

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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«Einfältige Proteste» Surprise wird von Leuten und Gönnern gekauft, um die Verkäufer und die Sache zu unterstützen. Das machen wir auch so. Die Nummer 358 enthält kein Dankeschön, sondern ist ein Ausbund an Vorwürfen und Forderungen an die Adresse der Leser. Mit anderen Worten eine Beleidigung der Gönner, welche vermutlich auch anderweitig wohltätig sind. Ihre Redaktion sollte nicht versuchen, die Welt zu verbessern, wenn sie selbst im Umgang mit ihren Mithelfern total versagt. Vorschlag: Wirken Sie weiter im Kleinen, wo Sie auch Erfolg haben, und lassen Sie die Finger von diesen einfältigen Protesten, mit denen Sie Ihre Freunde vor den Kopf stossen. Marianne und Fritz Peter Stähelin, per Email

BILD: ZVG

Nr. 357

Starverkäufer Abraha Kibrom Marlis Pörtner aus Zürich nominiert Abraha Kibrom aus Eritrea als Starverkäufer: «Er ist immer sehr freundlich und hilfsbereit. Neulich hat er mich netterweise darauf aufmerksam gemacht, dass ich das Heft bereits hatte, das ich gerade kaufen wollte. Ich hatte nicht gemerkt, dass es noch nicht das Neue war.»

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Porträt Den Durchblick gefunden Seit 20 Jahren lebt Akrobat, Artist und Pädagoge Thorsten Meito (43) auf Wagenplätzen. Der Mann ist fest in der Realität verankert – allerdings auf Stelzen und Rädern. VON YVONNE KUNZ (TEXT) UND MARKUS FORTE (BILD)

Option mehr. Zudem war das erste Kind unterwegs. Meito: «Ich musste etwas Neues erfinden. Ich hockte ja eh den ganzen Tag rum und wartete darauf, wieder den Durchblick zu haben.» Während dieser drei Sommermonate im Dunkeln gründete Meito die erste Stelzentruppe der Schweiz. Er trommelte acht Leute zusammen, erdachte die ersten Figuren: Geier. Als er wieder sehen konnte, gingen sie damit auf Festivals und mischten die Leute auf, wie er sagt. Weil es etwas Einzigartiges war, lief es rund. Bis heute betätigt er sich mit seiner Truppe «Gangart» regelmässig als Stelzenläufer. Wenn Meito aus seinem Leben erzählt, durchbricht immer wieder ungestümes Lachen seine Schilderungen. Besonders an Stellen, wo es eigentlich wenig zu lachen gibt. Meito nimmt schwere Dinge leicht. Einmal habe ihm jemand gesagt: «Du hättest Bergführer werden sollen: Du brauchst immer eine Steilwand, dann funktionierst du am besten.» Zuviel Sicherheit, bestätigt Meito, stand ihm bisher eher im Weg. «Immer wenn ich dachte, jetzt weiss ich wo’s lang geht, ging’s schief.» Seine Kinder hätten ihn in dieser Beziehung reifer gemacht, sagt Meito. Inzwischen arbeitet er zusätzlich zu seinen künstlerischen Engagements

Thorsten Meito lehnt im Türrahmen seines Zirkuswagens und überblickt sein Reich: ein Wagenplatz im Zürcher Unterland. Zur einen Seite stehen die Wagen seiner Mitbewohner verstreut auf einer Wiese am Ufer der Töss. Auf der anderen Seite geht es zum Gemeinschaftsraum mit Duschen, vorbei an einem Grillplatz und dem Bewässerungskanal der ehemaligen Spinnerei, auf deren Areal die Wagenburg liegt. «Dort gibt es Biber», sagt Meito, «Bisamratten und Schildkröten.» Besonders für Sohn und Tochter, 15 und 13, die beide im Wagen aufgewachsen sind, sei der Ort ein wahres Idyll. Viel hat sich verändert, seit er den Platz vor zehn Jahren initiiert hat. Meito sagt: «Früher waren wir alle Artisten aus dem Zirkus oder dem Variététheater. Heute wohnen nun auch andere Leute hier, weil es günstig ist. Und herzig, wie ein kleiner Schrebergarten auf Rädern.» Der Multifunktionsartist und Kreativpädagoge Meito erzählt von seinem neuesten Projekt: ein Krippenspiel für die Reformierte Kirche in Bülach. Als Regisseur stellt er klar: «Mein Krippenspiel ist eines ohne Krippe und Hirten.» Die Geschichte beginnt so: Zwei Engel stossen im Flug zusammen und Einmal setzte er sich Kartoffeln schälend ins Tram. «Ich erzählte, bei mir stürzen auf die Erde – in einen Müllhaufen vor zu Hause beginne in einer halben Stunde eine Party und ich müsse noch dem Haus der Familie Schütz. Drinnen hat Pommes machen.» Mutter Schütz soeben bemerkt, dass sie Weihnachten vergessen hat. Weil sie sowieso keine Zeit hat, vertagt sie das Fest kurzerhand auf den Januar. Eine auch als Sportlehrer an verschiedenen Schulen. Ein Diplom als J+SKatastrophe! Nun liegt es an den zwei Kindern, dafür zu sorgen, dass Experte ermöglicht ihm dies. «Anfangs musste ich mir die Kondition Weihnachten doch noch rechtzeitig stattfindet. Meitos Krippenspiel ähfür das Regelmässige erarbeiten», sagt Meito. Inzwischen traut er sich nelt einem Thriller. noch einen Schritt weiter und beginnt ein Master-Studium in TheaterWoher seine unbändige Kreativität rührt, vermag er nicht zu sagen. pädagogik. Als junger Wilder an der Schauspielschule in Zürich ersann er mit KolThorsten Meito ist ein erfolgreicher Vermittler, der zusammenbringt, legen ziellos die kühnsten Projekte und experimentierte mit Drogen. Der was kaum zu vereinen ist. Er nennt sich einen «Hopser zwischen LeuWendepunkt kam, als sich ein Freund das Leben nahm. Da sagte sich ten und Szenen». In seiner Stelzentruppe finden sich brave Bünzlis geMeito: «All diese Träume sind Pipifax, wenn man nichts umsetzt. Es nauso wie Punks mit tätowierten Gesichtern. Sogar mit den Nachbarn muss einfach Hand und Fuss haben, dieses Leben!» Also begann er mit aus dem Dorf hat er es gut. «Unsere Devise heisst: Grüssen!», bläut er Performance-Kunst auf der Strasse, realisierte, wie er meint, «komische seinen Mitbewohnern ein. Vorurteilen ist er bisher kaum begegnet, auch Gedanken». Einmal setzte er sich Kartoffeln schälend ins Tram, mit dem nicht bei den Lehrern und Eltern an der Schule, die seine Kinder besuZiel, dass ihm die Leute helfen. «Ich erzählte, bei mir zu Hause beginne chen. Im Gegenteil: «Alle sind begeistert, wenn ich manchmal die Turnin einer halben Stunde eine Party und ich müsse noch Pommes mastunde übernehme und Zirkusanimation gebe», so Meito. Als der Wachen.» Tatsächlich packten drei Leute mit an. Schon während der Ausgenplatz diesen Sommer sein zehnjähriges Jubiläum feierte, kamen fast bildung zog es ihn zum Körpertheater, und so kam nach dem Abschluss 400 Leute. Und sogar ein ehemals kritischer Beamter sagte bei einem das Engagement beim Zirkus Chnopf genau richtig. Das ist nun 20 JahGlas Wein: «Tipptopp, diese Leute!» re her und markiert den Beginn von Meitos Leben auf Rädern und seiEwig wird der Platz nicht bestehen. Das Hauptgebäude der alten ner Arbeit mit Kindern. Fünf Jahre reiste er mit Pipistrello und Karls Spinnerei wurde bereits zu Loftwohnungen umgebaut. Den VerändeKühner Gassenschau durch das Land. rungen blickt Meito gelassen entgegen, auch wenn er findet: «ManchDann der Schock: Netzhautablösung auf beiden Augen, Notfallopemal habe ich genug davon, mir jede Bequemlichkeit hart erarbeiten zu ration, temporäre Erblindung. «Ich wusste, das Augenlicht würde müssen.» Schon bald kommt sein drittes Kind zur Welt. «Mit einem wiederkommen. Aber keiner konnte sagen, wie gut ich wieder sehen Säugling ist es sehr umständlich, wenn man kein fliessend Warmwasser würde.» Gewiss war: Alles wird anders. Handstände kamen wegen des hat.» Manchmal träumt er von einer grossen Wohnung. Das wichtigste Augendrucks nicht mehr infrage, Jonglieren war auch keine realistische Mobiliar: «Bücher! Die vermisse ich hier am meisten.» ■

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Architektur Der Herr der Müllhäuser Der Amerikaner Michael Reynolds baut in der Wüste New Mexicos seit Jahrzehnten umweltfreundliche Häuser aus Dosen, alten Autoreifen und anderem Abfall. Anfangs hielt man ihn für einen Spinner, aber jetzt exportiert er seine Ideen in die ganze Welt.

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VON FREDERICO SCHNEIDER (TEXT) UND PATRICK TOMBOLA (BILDER)

beliebig fortführen. Tausende Häuser weltweit, sagt Reynolds. Er hat angefangen, sie in Ländern und Gegenden zu bauen, die von Naturkatastrophen heimgesucht wurden. Als schnelle Hilfe für die Bevölkerung und als Schutzräume gegen die Stürme. Und er hat vor ein paar Jahren eine Akademie gegründet, an der junge Architekten lernen, wie man aus Material, das es überall gibt, und mit Abfällen, die es auch überall gibt, Häuser bauen kann, die nichts benötigen ausser Sonne und Regen. «Am Anfang», sagt Reynolds, während er auf dem Hausdach seine Mähne unter eine Schaffellmütze stopft, «als ich Kollegen erzählte, was ich machte, liessen sie mich am Tresen stehen und sagten mir, ich sei eine Schande für den ganzen Berufsstand.» Heute gibt er multinationalen Konzernen, die sich mit ihm zusammentun wollen, gerne einen Korb. Er will sich nicht dreinreden lassen.

Müll stinkt, verschmutzt die Umwelt, stapelt sich auf Halden. Es gibt viel zu viel davon. Also baute Michael Reynolds in der Wüste New Mexicos sein erstes Haus aus alten Bierdosen. Man hielt ihn für einen Spinner. Es war 1971. Im Fernsehen liefen damals Berichte darüber, dass Weissblech-Dosen zum Problem würden. Im Fernsehen hiess es auch, dass grossflächige Rodungen im Norden Amerikas wahrscheinlich negative Folgen für die Umwelt haben könnten. Man war sich nicht sicher, die US-Sender waren der Industrie sehr verpflichtet. Es würde in Zukunft also nicht nur zu viel Müll geben, sondern wahrscheinlich auch zu wenig Holz. So fing alles an. An einem kalten Wintermorgen, mehr als 40 Jahre später, steht ReyGeübte Pose des Visionärs nolds, 69, zerzauste graue Mähne, auf dem Dach eines seiner Häuser. Der Haustyp, auf dessen Dach er steht, ist seine neueste EntwickEarthship nennt er es, Erdschiff. Reynolds nennt es «ein Schiff, das auf lung. Er heisst Global Model Earthship, Reynolds baut es inzwischen in dem stürmischen Ozean der Zukunft nicht untergeht». Ein bisschen bluSerie. Die Landschaft ist von Schnee bedeckt, doch hier auf dem Metallmig, ein bisschen überdreht, das passt zu Reynolds. Deshalb hielt man dach ist nur ein dünner Wasserfilm. Die Dachheizung funktioniert. Und ihn anfangs ja für einen Spinner. Jetzt tut das keiner mehr. aus dem Schnee wird Wasser für das Haus werden. Hier oben, auf diesem Dach, hat Reynolds einen ganz guten ÜberDie Heizung, das ist im Prinzip die Südseite des Hauses: eine einziblick über sein Werk. Gut hundert seiner Häuser ducken sich hier in die ge Fensterfront, auf die die Sonne den ganzen Tag scheint. Über der karge Landschaft New Mexicos. Gebilde aus Glas, Lehm und Autoreifen, Fensterfront hängen die Solarpaneele, die das Haus mit Strom versordie aussehen, als hätten Gaudí oder Hundertwasser sie gebaut, manche gen, daneben ein kleines Paneel, durch das Gefrierschutzmittel zirkusind gross mit Gewächshäusern, einem kleinen Dschungel mit Fischliert und das von der Sonne aufgeheizt wird. Deshalb, sagt Reynolds, teich und Wasserfall, andere sind schlicht und funktional, eingegraben, liegt kein Schnee hier oben. Rohre durchziehen das abschüssige Dach. als suchten sie Schutz vor dem eisigen Winter. Eines haben Reynolds’ Das Gefrierschutzmittel fliesst hindurch und lässt den Schnee schmelHäuser gemeinsam. Sie brauchen kein Stromnetz, keine Wasserversorzen. Das Schmelzwasser läuft dann durch einen ersten groben Filter und gung, keine Heizung, keine Klimaanlage. Sie versorgen sich selber, sie wird schliesslich in Zisternen gesammelt, aus denen es dann in das gerecyceln ihr Abwasser selbst. schlossene System des Hauses gelangt. Reynolds ist Architekt, aber eigentlich trifft es das nicht. Zu konvenHinter den Fenstern, im Innern des Hauses, wachsen in einer Art Getionell. Architekten sind Typen, die zu oft das Falsche tun, so sieht er wächshaus Bananenpalmen und kleine Obstbäume. Sie wurzeln in eidas. Reynolds sagt: «Architektur heute ist Masturbation.» Es gebe die Stars, die als die guten Architekten gälten. Libeskind, Foster und natürlich Frank Gehry, der Reynolds’ Häuser brauchen kein Stromnetz, keine Wasserversorgung, verspielteste von allen, solche Leute, die ihre keine Heizung, keine Klimaanlage. Sie versorgen sich selber, recyceln ihr Ideen verwirklichen, ihre Häuser fast wie Abwasser selbst. Skulpturen bauen, sich aber einen Teufel um die Funktionalität, den Wert für den Bewohner nem mit Gummifolie ausgelegten Becken. Auf dem Beckengrund liegt oder gar die Welt scheren. Und dann gebe es das Heer der anderen. Die eine Schicht Sand, darüber eine Schicht Geröll. Diese bepflanzten Bekämpften ums Überleben und bauten jeden Scheiss, nur weil sie das cken sind die hauseigene Abwasserreinigung. Das Wasser aus Bad, ToiGeld brauchen. lette und Küche wird zuerst von Exkrementen getrennt. Die landen in einem antiseptischen Tank, der neben dem Haus in der Erde vergraben Er gibt Konzernen einen Korb ist. Das Wasser wird in die Pflanzenbecken geleitet. Dort sorgen Sand, Reynolds will damit nichts zu tun haben. Er baut auf seine Art oder Geröll, Erde und vor allem die Wurzeln der Pflanzen dafür, dass das gar nicht, Häuser aus Müll, ohne Kompromisse. Die Bevölkerung der Wasser sauber wird. Es wird dann noch durch drei Filter gepumpt, dann Welt wächst, die Energie wird knapp, das Wasser, die Rohstoffe. Der kann es wieder in den Wasserkreislauf eingespeist werden. Es riecht Mensch muss sich Gedanken machen. Der Architekt auch. Denn Enernicht unangenehm, vor allem die Erde in den Bassins erledigt das. gie, Wasser, Rohstoffe sind Dinge, die man braucht, um Häuser zu bauReynolds steht, Blick in die Ferne, die geübte Pose des Visionärs, und en und darin zu leben. Dass das mal ein Problem sein würde, mag in zeigt mit den Händen ständig auf eine Funktion, die er sich ausgedacht den Siebzigerjahren wie eine Utopie gewirkt haben, die sich ein Verhat. Die Rückwände des Hauses etwa bestehen aus alten, mit Erde gerückter in der kargen Weite New Mexicos ausgedacht hatte. Heute füllten Autoreifen, die wie grosse runde Ziegel auf- und hintereinander glaubt kaum noch wer, dass die Menschheit einfach so gedankenlos gelegt werden. Drei Meter hoch, zwei Meter tief. Innen verputzt mit weiterleben kann wie im letzten Jahrhundert. Es glaubt auch kaum Lehm, nach aussen mit Isolationsmatten abgedeckt und dann mit einem noch wer, dass Reynolds bloss ein verrückter Fantast ist. weiteren Meter Erde bedeckt. «Perfekte Thermalmasse», sagt Reynolds Denn seine Ideen verbreiten sich gerade mit rasanter Geschwindigvoller Begeisterung, «der perfekte Wärmespeicher. Und alte Reifen gibt keit um den Erdball. Seine Earthships stehen in Holland, der Normanes auf der ganzen Welt mehr als genug.» die, in Spanien, Schottland und Brasilien. Die Aufzählung liesse sich SURPRISE 360/15

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Die Earthships funktionieren in Krisengebieten ebenso gut und günstig wie zuhause – hier in der Wüste New Mexicos.

Das Haus funktioniert nach einfachen phyHäuser, so sieht es Reynolds, müssen nicht in erster Linie perfekt aussesikalischen und biologischen Gesetzen. Das hen. Sie müssen perfekt funktionieren. wichtigste: Wärmeenergie wird immer vom ner denken, sie brauchen die. Und wir wollen ja den durchschnittlichen wärmeren zum kälteren Körper hin übertragen. Wenn im Sommer also Hauskäufer überzeugen.» Rund 500 000 Dollar kostet das Global Model die Sonne durch die Fenster scheint und die Luft aufheizt, dann speiEarthship, schlüsselfertig. Die einfachen Ausführungen kann man für chert die gut drei Meter tiefer liegende Hinterfront des Hauses diese knapp 200 000 Dollar bauen. Reynolds’ Kunden sind Leistungssportler, Wärme. Kühlt die Luft in der Nacht ab, gibt sie die Wärme frei. Das ErArchitekten, Schauspieler, Rentner. Er baut in New Mexico durchgebnis ist, dass selbst bei Minusgraden die Temperatur im Haus selten schnittlich drei neue Häuser im Jahr, die er vermietet oder verkauft. Daunter 23 Grad sinkt. Im Sommer sorgen Ventilationsschächte dafür, dass zu mehrere Häuser irgendwo verstreut in den USA. aus dem Erdreich des Reifenhanges, der das Haus umgibt, kühle Luft zieht und durch Dachluken abziehen kann. So kann man auch im WinDas Haus, eine Maschine ter die Temperatur regulieren, wenn man es gerne etwas kälter hat. WarReynolds steigt in seinen braunen 1975er-Mercedes und fährt zu me Luft steigt nach oben und zieht kühlere Luft aus den Schächten. Das einem Gebäude, das an einer Schlucht liegt und aussieht wie eine Nauersetzt die Klimaanlage. tilus-Muschel, die sich in den Himmel windet. Häuser, so sieht es Reynolds, müssen nicht in erster Linie perfekt aussehen. Sie müssen Ohne korrupte Regierungen perfekt funktionieren. Trotzdem, er hat das Design seit den Anfangsta«Du bist vollkommen unabhängig», sagt Reynolds. «Das Haus kümgen verändert. Ist ja nicht so, dass er sich gar nicht nach den Wünschen mert sich um dich.» Es soll die sechs Bedürfnisse des Wohnens befrieseiner Kunden richtet. Seine frühen Häuser hier in New Mexico sind digen, die Reynolds als die wesentlichen ausgemacht hat: Obdach, Abeine Mischung aus traditionellem Pueblo-Lehm-Stil, gemischt mit den wasserversorgung, Strom, Wasser, Nahrung und Müllentsorgung. Alles Visionen Gaudís und Tolkiens. Rund, verrückt und manchmal auch gratis in seinen Häusern. Reynolds wäre nicht Reynolds, würde er jetzt überladen. Sein Global Model, die neueste Entwicklung, wirkt dagegen nicht politisch. «Du brauchst keine grossen Unternehmen oder korrupglatt, funktional, schlicht, für Earthship-Verhältnisse jedenfalls. te Regierungen, die mit den Unternehmen unter einer Decke stecken Die Muschel, vor der Reynolds sein Auto geparkt hat, gehört noch in und dich mit dem versorgen, was du brauchst – oder besser: von dem die alte Zeit. Runde Formen, Türmchen, Aussentreppen. «Ein Scheisssie dir sagen, dass du es brauchst!» Haus», sagt Reynolds, «es bringt nicht besonders viel Leistung, aber die Reynolds steigt die Rückwand des fast fertigen Hauses hinunter und Kunden wollten es so.» Ein reiches Paar hat ihm mehrere Millionen Eugeht hinein. Bohrmaschinen und Kreissägen kreischen. «Da», sagt Reyro gezahlt, gingen dann jedoch pleite. Reynolds kaufte das Haus für nolds, während er durch das Wohnzimmer stapft und auf eine frisch 250 000 Dollar von der lokalen Bank. Jetzt ist es sein Büro. verputzte Wand deutet, «kommen die Flachbildfernseher hin. Amerika-

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Gebilde aus Glas, Lehm und Autoreifen: Reynolds exportiert seine Architektur inzwischen in alle Welt.

Im Jahr 1971, nachdem er im Fernsehen eine Dokumentation über «Das Global Model ist wie eine hoch entwickelte Maschine», sagt das entstehende Müllproblem gesehen hatte, baute er das erste Haus Reynolds, während er in einen pyramidenförmig endenden Turm steigt, aus Dosen und entwickelte von nun an sein Konzept weiter. Immer in dem sein Schreibtisch steht. «Wir können das Global Model an verwenn er in den Medien von neuen Problemen hörte, machte er sich darschiedene klimatische Bedingungen anpassen.» an, eine Lösung zu finden. Energieprobleme, Wasserverschmutzung, Eine Maschine zum Leben. Das ist Le Corbusier, der Urvater der arirgendwann waren Reynolds’ Häuser vollkommen unabhängig und verchitektonischen Moderne. Ein Haus sei eine Maschine zum Leben, sagursachten keinerlei Umweltverschmutzung. te der. Man tritt Reynolds nicht zu nahe, wenn man sagt, dass seine HäuEr lebte in der Wüste und baute sich eine Meditationspyramide, band ser vieles sein mögen, aber eines ganz sicher nicht: elegant. Gemessen sich auf deren Spitze fest, hatte Visionen, sah Zauberer und schrieb Büan den Standards zeitgenössischer Architektur sind sie sogar plump. Sie cher darüber. «Es waren die Siebziger», sagt Reynolds und grinst sein sind nicht geräumig. Sie haben keine klaren Linien, keine Schlichtheit. breites Grinsen. Er nahm gerne Drogen, LSD vor allem. Sie sind, trotz Fensterfront zur Südseite, nicht einmal besonders hell. LSD, ein gutes Stichwort. Der Droge hat er seinen ersten grossen DeReynolds betrachtet die ästhetische Frage aus einer anderen Perspekal zu verdanken. Die Geschichte spielt Mitte der Siebzigerjahre. Er bautive. Er sagt: Die Verschwendung, die mit einem konventionellen Haus einhergeht, macht es hässlich. Die Form der Earthships wird von funktionalen NotwendigMan entzog ihm seine Lizenz und schloss seine Siedlung, da sie nicht keiten diktiert. Das Ergebnis: die Schönheit des den Parzellierungsvorschriften entsprach. Funktionalen. Etwas, das in der Ersten Welt genauso funktioniert wie in der Dritten, in den te damals Häuser auf einer Parzelle. Die Nachbarn mochten das nicht. Tropen oder bei Minusgraden. Ein Welt-Haus, wenn man so will. So Also zog er für eine Weile nach Texas, arbeitete in Austin auf dem Bau was, sagt Reynolds, kann nicht aussehen wie Frank Lloyd Wright. Dass und hielt Vorträge. Und bei einem dieser Vorträge sprach ihn eine Gruper das so sieht, hat viel mit seinen Anfängen zu tun. pe von Frauen an. «Eine Art Lesbenzirkel.» Sie boten ihm an, ihn finanziell zu unterstützen, mit 150 000 Dollar im Jahr. Er solle eine kleine Dank LSD ging’s voran Siedlung bauen und könne dabei so viel experimentieren, wie er wolle. 1969, Reynolds, damals gerade Absolvent der Uni, wollte nicht in den Reynolds lehnte drei Mal ab. Als die Gruppe ein viertes Mal anfragte, Krieg nach Vietnam, er wollte Motorradrennen fahren. Er lebte in Cinsagte er zu. Er baute für sie eine Siedlung namens Rolor. Irgendwann ercinnati. Ein Kommilitone zeigte ihm Bilder aus Taos, einer kleinen Stadt fuhr er, woher das Geld der Gruppe kam. «Sie produzierten und vertriein der Steppe im Norden New Mexicos, Lehmhäuser, qualmende ben LSD in Texas. Sogenanntes Mickey-Mouse-Acid.» Sie machten eine Schornsteine. Motorradrennen wurden dort auch gefahren. Reynolds Menge Geld, einen Teil davon wuschen sie mit seinen Earthships und packte sein Hab und Gut und zog nach Taos. SURPRISE 360/15

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gaben ihm so die Möglichkeit, einen grossen Sprung in der Entwicklung des Konzepts zu machen. Reynolds amüsiert sich bis heute prächtig, wenn er davon erzählt.

abschiedet wurde. Seither baut er wieder. Es gibt jetzt vor den Sangre de Cristo Mountains drei Earthship-Siedlungen. Seine Lizenz hat er allerdings immer noch nicht. Er lässt seine Pläne von befreundeten Architekten unterschreiben. An anderen Orten der Welt ist dies kein Problem. «Mir fiel aber vorher schon irgendwann auf, dass ich in vielen Ländern dieser Welt mehr oder weniger bauen kann, wie ich will», sagt Reynolds und parkt seinen

Kampf um die Experimente Schon seit diesen frühen Jahren scharte sich eine stetig wachsende Gruppe von Aussteigern, Querdenkern und Aktivisten um ihn, die ihre eigenen Earthships bauten und begannen, für ihn zu arbeiten. Ein paar der frühen Mitstreiter «Wir testen Flugzeuge, wir testen Waffen, wir testen Medikamente, wir gehören noch immer zu seinem Team. Mitte testen Atombomben, und bei all dem sterben Leute. Aber Häuser sollte der Neunzigerjahre jedoch beendeten die man nicht testen dürfen?» Stadtverwaltung und die Architektenkammer in Taos Reynolds’ Experimente. «Sie meinten, Wagen vor einem zweistöckigen Haus, das sie hier die Towers nennen meine Gebäude verstiessen gegen alle Bestimmungen und staatlichen und hinter dessen Fensterfront man einen Fischteich sehen kann und Normen.» Man entzog ihm seine Lizenz und schloss seine Siedlung, da ein paar junge Frauen, die rauchend über Bücher gebeugt sitzen. sie nicht den Parzellierungsvorschriften entsprach. In den Achtzigern war Reynolds im Auftrag einer christlichen MisReynolds steigt aus seinem kleinen Büroturm herunter und läuft sionierungsgruppe nach Bolivien gegangen, um eine frühe Form des durch die lichten Räume seines Bürokomplexes. Ein Dutzend FreiwilliEarthships zu bauen. Und als im Dezember 2004 ein Tsunami weite ge sitzen an Tischen. Er sagt: «Meine Lizenz war mir nicht wichtig, aber Landstriche Südostasiens verwüstete, kam ihm eine Idee. Die Menschen ich wollte weiterbauen.» dort brauchten schnell billige Unterkünfte aus vorhandenen MateriaEr beschloss, einfach einmal den offiziellen Weg zu gehen. Setzte lien, und es gab keine Bauregulierung. Da begann Reynolds, seine Häusich mit seinem Anwalt zusammen. Fand eine Abgeordnete, die sich seiser in Krisengebieten zu bauen. In Haiti, auf den Philippinen, in Malaner Sache annahm. Und zusammen brachten sie in Santa Fe, der Hauptwi, in Chile und Honduras. Wo auch immer Not war. stadt New Mexicos, einen Gesetzesentwurf ein, der experimentelles Gerade war er auf den Osterinseln, dann geht es auf die Philippinen, Bauen ermöglichen würde. danach nach Argentinien. Das nächste grosse Projekt sind Häuser für «Es ist absurd», sagt Reynolds, als er das Büro verlässt und in seinen die indigenen Völker Kanadas. «Die Regierung drängt sie immer weiter rostigen Mercedes steigt. «Wir testen Flugzeuge, wir testen Waffen, wir nach Norden, und sie erfrieren dort in ihren Hütten.» Reynolds hat ein testen Medikamente, wir testen Atombomben, und bei all dem sterben Earthship-Modell entwickelt, das selbst bei wenig Licht und AussenLeute. Aber Häuser sollte man nicht testen dürfen?» Er kämpfte fast temperaturen von 20 Grad minus noch Temperaturen über 13 Grad hält. zehn Jahre, bis 2006 der Sustainable Development Testing Sites Act verFrauen auf der Baustelle Reynolds stapft mit seinen weiten Stiefeln durch den Schnee, direkt auf eine Ansammlung von Häusern zu. Er rückt die Schaffellmütze auf seinem Kopf zurecht, zeigt auf die Häuser und sagt: «Das ist die Zukunft.» Sein Campus, eine Ansammlung von Earthships. Seine Produktpalette, wenn man so will. Ein paar seiner simplen Survival-Modelle stehen hier, Kosten: 25 000 Dollar, er hat sie in Afrika entwickelt. Dazu ein paar ältere normale Modelle, ein grosses zweistöckiges Gebäude, gebaut aus Lehm und Glasflaschen, in dessen Böden sich nun die Nachmittagssonne in bunten Farben bricht. Da wohnen seine Studenten drin. Fünf Lehrgänge sind es dieses Jahr, pro Lehrgang werden bis zu 60 Studenten zugelassen. Jahr für Jahr kamen immer mehr Wissbegierige. Reynolds konnte unmöglich allen Praktika oder Freiwilligenstellen anbieten. Er wollte, dass seine Ideen ihm gehören. Aber er wollte auch, dass sie sich verbreiten. Er weiss: Nicht einmal er wird ewig leben. Also hat er vor vier Jahren seine Academy gegründet. Rund 500 Absolventen gibt es bereits. Sie tragen das Wissen um die Earthships in die Welt. Ausserdem bringt die Akademie ihm das Geld ein, das er für seine Auslandsprojekte braucht. Wann immer er und seine Crew irgendwo in den weniger regulierten Teilen dieser Erde ein Haus bauen wollen, schreiben sie fünfzig Freiwilligenstellen aus. Durchschnittlich bewerben sich dann 300 Leute. Die 50, die angenommen werden, zahlen jeweils 1000 Dollar, ihre eigenen Flüge und ihre Unterkunft. Diese 50 000 Dollar finanzieren dann für Reynolds das Projekt. Reynolds findet das okay. Warum auch nicht. «Ich kann meine Crew in Gebiete fliegen, wo sie gebraucht wird. Die jungen Leute lernen etwas, und es laufen massig schöne Frauen auf den Baustellen rum, was wiederum meine Crew freut.» Breites Reynolds’sches Cowboygrinsen.

Architekt und Althippie Michael Reynolds im Innengarten eines seiner Häuser.

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Gute Kompromisse, schlechte Kompromisse Am nächsten Nachmittag sitzt Sara Serodio im Erdgeschoss von Reynolds’ Bürokomplex, in einem Raum, der ein wenig nach Tropenhaus SURPRISE 360/15


All inclusive – Reynolds Häuser sollen sechs Wohnbedürfnisse decken: Obdach, Abwasserversorgung, Strom, Wasser, Müllentsorgung und auch Nahrung.

riecht. Serodio ist Portugiesin, sie hat in Berlin Reynolds hat ein Earthship-Modell entwickelt, das selbst bei wenig Licht studiert, Architektur, an der Universität der und Aussentemperaturen von 20 Grad minus noch Temperaturen über 13 Künste, dann kam sie zu einem von Reynolds’ Grad hält. Lehrgängen. Nun ist sie da, um von Reynolds Baupläne absegnen zu lassen für ein Earthsschen, das sogenannte Windship. «Klar sind auch Regierungen ziemlich hip, das sie im Auftrag eines Paares in Nauen bei Berlin bauen wird. Sefucked up, aber ich gehe mit Leuten ins Bett, wenn es für die Menschen rodio ist die Einzige in Deutschland, die offiziell mit Reynolds zuist. Ich mache es nur nicht, wenn es fürs Geld ist.» Es gibt für ihn also sammenarbeitet. Sie ist diejenige, der er zutraut, Häuser von der Quagute Kompromisse und schlechte Kompromisse. Kompromisse mit dem lität zu bauen, wie sie hier in New Mexico stehen. grossen Kapital waren bisher offenbar schlechte Kompromisse. «Ich bin «Die Leute», sagt Reynolds, «selbst einige unserer Absolventen, nicht reich», sagt er. Seine Firma Earthship Biotecture mache keinen denken, sie könnten das Rad neu erfinden. Wir haben hier 40 Jahre ErProfit. fahrung – wenn wir ein Haus bauen, dann ist garantiert, dass es funkReynolds verkauft meistens nur so viele Häuser wie nötig, um den tioniert.» Er hat sich deshalb den Begriff Earthship schützen lassen. Betrieb am Laufen zu halten und jedem Mitarbeiter ein Gehalt zahlen Ebenso Biotecture, so nennt er seine Form der Architektur. «Die Leute zu können. Reynolds selbst: 4000 Dollar brutto im Monat. Laufende bauen auf der ganzen Welt Häuser wie wir. Aber sie haben keine AhKosten: rund 100 000 Dollar im Monat. nung, wie man es richtig macht.» Er sagt das nebenbei, als müsse man Die Hotel-Earthships bringen im Jahr rund 300 000 Dollar. Verkauft er es eigentlich kaum erwähnen, während er mit Serodio ihre Baupläne erein Haus, sind das 500 000 Dollar. Verkauft er drei, sind das 1,5 Millioörtert. «Sara hat es kapiert», sagt Reynolds. Er will drei Projekte mit ihr nen. In Jahren mit vielen Projekten, bei denen er draufzahlt, verkauft er zusammen in Deutschland machen, bis sie dann ganz offiziell seine halt drei Häuser im Jahr. Dazu kommt noch etwas Geld aus den Tantiedeutsche Repräsentantin wird. In vielen anderen Ländern läuft es schon men der Bücher und dem Verkauf von Bauplänen. Reynolds vergleicht so. Er hat genug Absolventen. In der Schweiz hat Reynolds bisher zwar seine Firma gerne mit einem Heissluftballon: «Wenn man den Ballast abFans, ein konkretes Bauvorhaben wurde jedoch noch nicht realisiert. wirft, dann geht es steil nach oben. Und Profitgeilheit ist nichts anderes Darüber hinaus hat er angefangen, in Hotellerie zu machen. Sieben seials Ballast.» Reynolds sitzt inzwischen wieder im Auto, um zu seinem ner Earthships vermietet er an Touristen. Der Reiseführer Lonely Planet letzten Termin zu fahren. Margaritas im «Taos Inn». Wie jeden Tag. ■ wählte sie in die Top Ten Eco-Stays weltweit. Zudem schreibt Reynolds Bücher und verkauft Baupläne. Zurzeit, sagt Reynolds, rede er mit der philippinischen Regierung, die interessiert daran ist, sein neues Zero Cost Earthship in grossem Stil zu reproduzieren. Ebenso das grosse Modell, ein Taifun-Schutz für 80 MenSURPRISE 360/15

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Andreas Berger: «Die Autonomen wissen, dass man mir vertrauen kann.»

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Kaum einer kennt das alternative Berner Kulturzentrum Reitschule besser als der Dokumentarfilmer Andreas Berger. Seit den Achtzigerjahren hält er die Geschehnisse in der Berner Alternativszene mit der Kamera fest. «Welcome to Hell» heisst sein letztes Jahr erschienenes Filmporträt über die Reitschule, soeben hat er den Zusatzfilm «Come to Hell and see the Paradise» fertiggestellt. Im Interview gewährt er einen Blick hinter die Kulissen und sagt, wann hier das Paradies zu finden ist und wann die Hölle.

Berner Reitschule «Irgendwie findet man immer einen Konsens» VON FLORIAN BLUMER (TEXT) UND LUCA CHRISTEN (BILDER)

Wer in Bern mit dem Zug einfährt, dem bietet sich ein einzigartiges Bild. Das gilt für diejenigen, die links zum Fenster hinausschauen und denen sich das Postkartenbild von Aare, Altstadt und Berner Alpen präsentiert. Vielleicht noch mehr gilt dies aber für diejenigen, die den Blick nach rechts richten: Dort erblickt man nach Überquerung der Aare als erstes ein grosses, altes, fast ganzflächig bespraytes Gebäude, mit gut sichtbar platzierten politischen Parolen: die altehrwürdige Reitschule. Ob man darin wie viele rechtskonservative Politiker den «Schandfleck von Bern» sieht oder einen bunten Freiraum an zentraler Lage – einzigartig ist die Berner Reitschule auf jeden Fall. In ihrer Bedeutung und der Einbettung in die Stadt ist die Reitschule als alternatives Zentrum über die Schweiz hinaus eine Ausnahmeerscheinung. 300 bis 500 «Reitschülerinnen und Reitschüler», wie sie sich selber nennen, verkehren dort, 20 bis 30 Gruppen organisieren Theater, Kino, Restaurant, Frauenchor, Druckerei, Flohmarkt und so weiter. Die Reitschule ist ein Polit-, Begegnungs- und Kulturzentrum, ein basisdemokratisch organisierter Freiraum, der aber von der Stadt unterstützt wird und mit ihr einen Leistungsvertrag vereinbart hat. Sie ist Konzert- und Party-Hotspot in Bern, Zentrum alternativer Kultur und Restaurant und Bar ohne Konsumationszwang, aber auch Ausgangspunkt unbewilligter Demos und Rückzugsort, wenn diese in Scharmützel mit der Polizei ausarten. Seit ihren Anfängen als Autonomes Jugendzentrum (AJZ) 1981 ist Andreas «Ändu» Berger mit seiner Kamera dabei. Der heute 54-jährige Vater dreier Kinder ist so etwas wie der inoffizielle Chronist der Reitschule. In mehreren Filmen, darunter «Berner beben» von 1990, dokumentierte er die Jugendunruhen der Achtzigerjahre und die Entwicklung der Reitschule. Dieser Tage erscheint «Welcome to Hell», sein letztes Jahr fertig gestelltes, fast zweistündiges Porträt der Reitschule als DVD, zusammen mit «Come to Hell and see the Paradise» – ein Update, SURPRISE 360/15

das die Ereignisse von den grossen Sommer-Kulturfesten bis zu den Protesten gegen die Miss-Schweiz-Wahl und die damit verbundenen Auseinandersetzungen mit der Polizei nachzeichnet. Wir haben Andreas Berger im Restaurant «Sous le Pont» in der Reitschule zum Mittagessen getroffen und wollten von ihm wissen, wie es hinter den Kulissen der meistgehassten und meistgeliebten Institution Berns aussieht. Herr Berger, Ihr neuster Film heisst «Come to Hell and see the Paradise». Kann man von hier aus tatsächlich das Paradies sehen? Es ist das Paradies – wenn es so ist wie jetzt gerade. Leute aus verschiedenen Milieus sitzen friedlich zusammen und diskutieren. Es hat hier x Leute, zu denen ich mich hätte dazusetzen können. Die Reitschule ist eben nicht nur der Vorplatz mit den Randalierern, der das Bild in den Medien prägt. Sie ist auch eine Art Familie. Sie zeigen aber auch die andere Seite: An Demos ist man im Film mittendrin im Schwarzen Block, wo Flaschen und Petarden geworfen werden. Autonome genauso wie Polizisten geben Ihnen vor der Kamera bereitwillig Auskunft, auch die Polizei lässt sich in Aktion von Ihnen filmen, zum Beispiel bei Personenkontrollen. Wie kommt es, dass beide Seiten Sie so nahe an sich heranlassen? Die Autonomen akzeptieren, dass der mittlerweile etwas ältere Herr, der ich bin, das schon seit ein paar Jahren macht, und sie wissen, dass man ihm vertrauen kann. Und bei der Polizei arbeite ich regelmässig mit dem Mediendienst zusammen. Ich habe gemerkt: Mit denen kann man auch reden. Es gibt übrigens auch Reitschüler, die kein Problem damit haben, sich mit der Polizei an einen Tisch zu setzen und über Sicherheitsprobleme zu diskutieren. Das wäre in den wilden Achtzigerjahren undenkbar gewesen. Es ist ja geradezu rührend, wenn, wie im Film zu sehen, Manuel Willi, Chef der Regionalpolizei Bern, von Reitschülern ein Buch

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«Freiheit und Anarchie» geschenkt bekommt und dieses in seinen Ferien auch tatsächlich liest. Er hat sich sogar mit dem Leuchtstift Stellen markiert (lacht) – also wirklich versucht nachzuvollziehen, was in den Köpfen auf der anderen Seite vorgeht.

das Gefühl, dass die parlamentarische Demokratie in irgendeiner Weise effizienter wäre (lacht). Ganz im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, die Reitschul-Vollversammlungen, die VVs, sind viel besser strukturiert. Man lässt einander ausreden, während im Stadtrat gepöbelt wird wie an den sogenannten Brüllaffen-VVs in den Anfängen der Reitschule.

Sie beobachten die Polizeiarbeit in der Reitschule und an Demos seit Wie funktioniert die Basisdemokratie in der Reitschule konkret? über 30 Jahren. Wie hat sie sich in dieser Zeit verändert? Es sind mittlerweile gut eingespielte Handlungsabläufe, es gibt regelIn den frühen Achtzigerjahren, wenn unbewilligte Demos aufgelöst mässige Sitzungen in den einzelnen Arbeitsgruppen. Bestimmte Problewurden, warst du mit langen Haaren oder Punkerlook bis sieben, acht me werden in der Koordinationsgruppe besprochen oder in der BeUhr abends Freiwild. Da fuhr die Polizei mit ihren Kastenwagen durch triebsgruppe. An die VV müssen nur noch die grundsätzlichen Sachen. die Stadt und sammelte alles ein, was irgendwie nach Bewegung und Hippie aussah. Unverhältnismässige Einsätze gibt es zwar immer noch – die Toleranz gegen«Jeder kann hier machen, was er will – wenn er die anderen davon überüber unbewilligten Demos ist aber deutlich zeugen kann, dass dies eine gute Sache ist.» grösser geworden. Was sich auch verändert hat: Früher war vielleicht das Schweizer FernAber man muss den Konsens finden, es kann hier nicht jeder einfach sehen vor Ort und dazu noch ein paar Bewegungsfilmer mit VHS-Kamachen, was er will. Das heisst: Jeder kann machen, was er will, wenn meras. Heute hat jeder zweite Demonstrant sein Smartphone dabei, und er die Leute davon überzeugen kann, dass es eine gute Sache ist. Gewenn die Polizei zuschlägt, wird drauflosgefilmt. Ich würde sagen: Die wisse SVP-Stadträte warnen manchmal davor, dass militante Gruppen Polizei ist kooperativer geworden. Aber es ist gut, wenn man ihr ein die Reitschule übernehmen könnten – das ist absolut undenkbar. Es gibt bisschen auf die Finger schaut. hier viel zu viele Leute, die da entgegenhalten würden. War das damals Ihre Motivation, mit dem Filmen anzufangen? SVP-Stadtrat Erich Hess hat diesen Sommer eine Initiative gegen die Ja. Zuerst war das in linken Kreisen noch verpönt. Als im Sommer 1985 Reitschule lanciert, um der Reitschule den Geldhahn zuzudrehen – das Kulturzentrum Zaff geräumt und noch am gleichen Tag abgerissen es ist bereits der dritte Anlauf vonseiten seiner Partei. Sie haben in wurde, waren sie jedoch froh, dass das jemand dokumentierte. Von da Ihrer Arbeit auch regelmässig mit SVP-Politikern Kontakt. Was denan hatte ich meine Rolle in der Bewegung. Zuerst hiess es noch: Eher ken Sie, warum ist das für sie so ein zentrales Anliegen? von hinten und von Weitem filmen, aber das änderte sich mit der Zeit. Das ist Politik für ihre Wahlklientel. Wagenplätze und Reitschule, das Heute darf ich mit meiner Kamera auch in die Hinterräume der Reitwaren schon immer die Themen, mit denen sie ihren Wählern signalischule (lacht). sieren konnten: Wir sind die Einzigen, die etwas dagegen tun, dass die Stadt verslumt. Ich sage Erich Hess von der SVP immer, die Initiativen Sie haben gesagt, die Reitschule sei eine Art Familie. Geht es in dieseiner Partei seien super. Das gibt jedesmal einen riesigen Kreativitätsser Familie immer harmonisch zu und her? schub in der Reitschule und dimmt die innerbetrieblichen Differenzen Nein. Die verschiedenen Gruppen, die hier aktiv sind, haben das Heu herunter. Es gibt Bands, die extra Songs für die Abstimmung aufnehlängst nicht alle auf der gleichen Bühne. Aber das war schon immer so, men, es werden Kulturhappenings durchgeführt und so weiter. Und mit auch in den Anfangszeiten 1981, 82, als die Reitschule noch im kleineder gleichen Argumentation, die die SVP jeweils gegen die Reitschule ren Rahmen als Alternatives Jugendzentrum (AJZ) betrieben wurde. Es bringt, könnte man sagen: Vom Wankdorf-Stadion gehen regelmässig gibt nicht DEN Reitschüler oder DIE Reitschülerin, das will ich in meiAusschreitungen aus, diesen Unruheherd sollte man endlich dichtmanen Filmen zum Ausdruck bringen. So gibt es zum Beispiel die Veganer, chen! (lacht) die es komplett daneben finden, wenn ein ganzes Schwein am Spiess im Innenhof grilliert wird, und es gibt die Fleischfresser, die genau desEs lässt sich aber nicht abstreiten, dass die gewaltsamen Demos in wegen hierherkommen. Bern eigentlich alle von der Reitschule ausgehen. Hier muss ich den Polizeikommandanten zitieren, der in «Welcome to Wo verlaufen die grundsätzlichen Konfliktlinien in der Reitschule? Hell» sagt: Wir haben in Bern 200 bis 300 Demonstrationen pro Jahr, Ein bisschen einfach gesagt: Es gibt die, die hier primär Kultur machen durchschnittlich 196 bis 296 davon sind friedlich. Man muss sich aber wollen, und es gibt die, die hier Politik machen wollen. Im besten Fall schon fragen, ob es verhältnismässig ist, wenn eine Anti-WEF-Demo findet man sich und macht etwas Gemeinsames. Ich finde aber schon aus der Reitschule schon nach 100 Metern von einem Polizeiaufgebot bemerkenswert, dass es immer noch funktioniert mit der Basisdemogestoppt wird, das doppelt so gross ist wie die Demo. Bei den Leuten, kratie, mit all den Gruppen, die mit unterschiedlichen Mitteln an unterdie verhaftet werden und das zum ersten Mal erleben, weckt dies schiedliche Orte kommen wollen. Irgendwie findet man immer wieder zweierlei Reaktionen: Die einen sind eingeschüchtert, auch weil sie zu zu einem Konsens. Hause Ärger mit den Eltern bekommen. Die anderen werden wütend. Das sind dann die, die Farbbeutel gegen den Polizeiposten werfen. Zwischen Schwein am Spiess und veganer Lebensweise kann es aber kaum einen Kompromiss geben. Sie haben eingangs gesagt, die Reitschule sei an Tagen wie heute das Ja, aber sie arbeiten trotzdem zusammen. Und ganz Wurst, wer gerade Paradies – wann ist sie die Hölle? in der Küche arbeitet: Wenn du willst, kannst du hier jeden Tag und zu Die Hölle ist sie oft am Samstagabend, wenn unpolitisches Partyvolk in jeder Mahlzeit vegan essen. Massen hierher strömt. Ich habe dafür durchaus Verständnis: Hier können sie ungestört ihr mitgebrachtes Bier und andere Rauschmittel konWas hat sich ausser den individuellen Differenzen noch aus der Ansumieren, den Ghettoblaster auf voller Lautstärke laufen lassen. Aber fangszeit erhalten? die Abfallwüste, die sie hinterlassen, hat für mich gar nichts mehr mit Die Struktur. Die Reitschule war schon immer basisdemokratisch. Das alternativer Kultur zu tun – reitschulintern trennt man schön sauber den wirkt manchmal etwas schwerfällig, aber wenn man die letzten DebatAbfall. Aber das Partyvolk kümmert sich weder um die Grundsätze der ten im Berner Stadtrat über die Reitschule mitverfolgte, hatte man nicht

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Berger wünscht sich mehr Freiraum für die Jugend: «Mein Traum wäre eine zweite Reitschule, die von Grund auf von den Jungen aufgebaut wird.»

Reitschule noch um die Ideale. Es sind oft auch «Die Polizei ist kooperativer geworden. Aber es ist gut, wenn man ihr ein diejenigen, die sagen: Hurra, ein Streifenwabisschen auf die Finger schaut.» gen, schmeissen wir dem ein Fläschchen nach, das darf man ja hier. Sie missbrauchen das LaSeite der Eisenbahnbrücke zwischen Reitschule und Schützenmatte ein bel Freiraum, um ihren Konsumismus durchzuziehen oder sich vor den Spiegelbild der Reitschule aufstellen würde, wo konsequent U30 gilt. Kollegen zu profilieren. Das ist halt die Kehrseite. Dann könnte man auf dieser Seite ganz offiziell ein autonomes Altersheim einrichten, rollatorgängig und so weiter (lacht). Das wäre mein Bernhard Eicher, Stadtrat der FDP, behauptet in «Come to Hell and Traum: eine zweite Reitschule, die von Grund auf von den Jungen aufsee the Paradise» anlässlich einer Ratsdebatte, dass in der Reitschugebaut wird. Wenn sie dann Tipps bräuchten, hätten sie ja nicht weit, le immer noch «die alte Grosspäpple» das Sagen hätten. Dabei lassen um danach zu fragen. Sie im Film Junge um die 20 zu Wort kommen, die sich begeistert ■ zeigen, wie sie sich in der Reitschule einbringen können. Es ist schon so: Die Reitschule ist heute kein AJZ mehr, es hat verschiedene Generationen im Haus. Im Film sieht man beim Marsch gegen Monsanto zuerst eine Bewegungsfrau der ersten Stunde gegen Monsanto schimpfen und dann den Youngster, der sagt, dass er den Saatgutkonzern vernichten will – das ist der Enkel der Frau. Er gehört der dritten Generation an, die sich nun der Reitschule annähert. Die Reitschule ist ein Haus, das dauernd im Wandel ist. Es kommen dauernd Junge nach, die sich engagieren. «Welcome to Hell» und «Come to Hell and see the Paradise» sind ab 17. Oktober unter www.bernerbewegung.ch als DVD erhältlich Einer der Protagonisten in «Welcome to Hell», schon seit Jahrzenten (beide zusamen CHF 24.90). in der Reitschul-Druckerei engagiert, sagt gegen Ende des Films, dass es in Bern einen Raum brauchen würde, in welchem die JunDas Reitschulkino zeigt im Oktober eine Reihe von Andreas Bergers gen ihre eigene Idee von Freiraum realisieren könnten. Sehen Sie Filmen: «Berner beben», Do, 15.10., 20.30 Uhr; «Zaffaraya 3.0», das auch so? Fr, 16.10, 20.30 Uhr; «Come to Hell and see the Paradise» (Premiere), In «Come to Hell and see the Paradise» habe ich ja eine Umfrage geFr, 16.10., 23 Uhr; «Welcome to Hell», Sa, 17.10, 20.30 Uhr und im macht, was man auf der Schützenmatte vor der Reitschule statt ParkRahmen des jährlichen Reitschulfests am Sa, 23.10., 21 Uhr und am plätzen machen sollte. Mein Traum wäre, dass man auf der anderen So, 24.10., 21 Uhr. SURPRISE 360/15

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Homeless World Cup Geduld versetzt Berge Die Surprise-Nati zeigte, dass am 13. Homeless World Cup in Amsterdam mit Teamgeist der Gotthard überwunden werden kann. Dann lockt sogar ein Titel.

VON OLIVIER JOLIAT, SURPRISE STRASSENSPORT (TEXT) UND RUBEN HOLLINGER (BILDER)

Kopf, wie man nach zehn Niederlagen plötzlich im Finale steht. Wegen des Torverhältnisses? Natürlich nicht. Doch im Modus des Homeless World Cup spielen alle Teams bis zum Ende des Turniers. Nach zwei Qualifikationsrunden spielten die Topteams wie die Ukraine oder Portugal um den Homeless World Cup, während die Schweiz um den sechsten Cup spielte. Im INSP-Finale gegen Griechenland versuchten die acht Nati-Spieler auf der HWC-Spielstätte zwischen Van-Gogh- und Rijksmuseum nochmals gemeinsam schönste Streetsoccer-Kunst zu zelebrieren. Von den Rängen erhielten sie die lautstarke Unterstützung der vielen angereisten Fans aus dem Tessin und Basel und gingen gar mit 2:0 in Führung. Doch dann drehten die Griechen auf und gewannen am Ende 2:6. Die Enttäuschung war gross, aber auch schnell verflogen. «Wer hat schon eine Medaille einer Fussball-Weltmeisterschaft», fand Julien. Sämy sammelte derweil, wie viele der Spieler, Unterschriften auf seinem Trikot, als Souvenir an ein einmaliges Erlebnis. Der HWC als Höhepunkt bedeutet für ihn gleichzeitig das Ende seiner vierjährigen Spielerkarriere in der Strassensport-Liga. Hat er doch nach struben Zeiten nun den Lehrabschluss gemacht, steht wieder voll im Leben und ist damit überqualifiziert für die Surprise-Liga. «Ich will trotzdem weiter aktiv sein, zum Beispiel als Schiedsrichter. Die Zeit hat mir viel gebracht. So hab ich endlich gelernt, geduldig mit anderen zu sein. Noch im Trainingslager nervte ich mich, dass den Tessinern alles übersetzt werden musste und es lange dauerte, bis sie die Anweisungen verstanden. Doch im Sprachengewirr mit all den Nationen hier begriff ich, wie schwierig es

Lange musste die Schweizer Surprise-Nati am Homeless World Cup in Amsterdam leiden. Zehn Spiele in Serie verloren die acht Spieler in den Qualifikationsrunden. Kaum tröstlich, dass ihre Gegner wie die Ukraine oder Portugal zum Turnierende auf dem Podest des Homeless World Cup standen. Ja, selbst der Himmel über Amsterdam regnete nur Tränen. Doch die Spieler blieben guter Laune. Mit dem Schweiss streiften sie nach jeder Niederlage auch die Enttäuschung von der Stirn. Auf der Rückfahrt mit dem Car zum Spielercamp ausserhalb der Grachtenstadt waren die Schweizer gar die Partyanimatoren. Zu den Beats aus der Soundbox von Sämy luden sie Spielerinnen und Spieler der insgesamt 48 Nationen am Homeless World Cup zum Rap-Battle und sangen Schlachtgesänge in diversen Sprachen. Das Sprachenwirrwarr kannten die Spieler schon aus dem eigenen Team. Die Strassensport-Nati bestand dieses Jahr aus vier Baslern, einem eritreischen Surprise-Verkäufer aus Bern und drei Spielern aus dem Tessin. So unterschiedlich wie die Sprachen war auch der individuelle Hintergrund. Während die Basler mehr mit der sozialen Integration in der Gesellschaft zu kämpfen haben, sind es bei den Tessinern mentale und psychische Probleme, die sie oft aussen vor stehen lassen. Im Trainingslager in Tenero hatte das Team die letzten Differenzen im Spiel und neben dem Platz zu überwinden versucht und schwor sich auf das Motto ein: «Kämpfe bis am Schluss». Dass sich das lohnen kann, merkte die Surprise-Na«Noch im Trainingslager nervte ich mich, dass den Tessinern alles übersetzt ti nach den zwei Qualifikationsrunden mit all werden musste. Doch im Sprachengewirr mit all den Nationen hier begriff den Niederlagen. Denn in der letzten Turnierich, wie schwierig es ist, etwas zu verstehen.» phase schlugen sie erst Finnland und am selben Tag im Penaltyschiessen auch Kanada. ist, etwas zu verstehen und dass es mit viel Einsatz und Geduld dann Plötzlich hatte die Schweiz gar die Chance, im Finalspiel gegen Griedoch klappt, sich zu verständigen. Das will ich für mein weiteres Leben chenland den INSP-Cup des internationalen Netzwerks der Strassenzeimitnehmen.» tungen zu holen. In den Finalspielen um die Weltmeistertitel revanchierten sich die Beiderseits war der Gotthard, der als Sinnbild zwischen den zwei Mexikanerinnen gegen Chile für die Finalniederlage im letzten Jahr. Mannschaftsteilen stand, überwunden. Grossen Anteil am Erfolg hatte Auch das Männerteam der mit über 26 000 Spielern weltweit grössten der eritreische Flüchtling Yohannes, der nach den Quali-Niederlagen in Obdachlosen-Liga konnte seinen Finalfluch überwinden und im fünften den beiden Siegpartien weniger nervös als die anderen Schweizer spielte Anlauf den ersten Homeless World Cup-Sieg feiern. und mit engagiertem Einsatz das entscheidende Plus auf dem Platz war. ■ Überqualifiziert für die Surprise-Liga Nun bejubelte das ganze Team auf den Tischen im Spielercamp die Chance, bei der zwölften HWC-Teilnahme der Schweiz den ersten Titel zu holen – ausser der zweite Torwart Julien. Ihm wollte es nicht in den

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Bruno bekommt die Medaille als Erster. Trotz verlorenem Finale freuen sich am Ende alle Schweizer über den 2. Platz im INSP-Cup.

«Kämpfe bis am Schluss», heisst das Motto, und vor dem Spiel herzt man sich. Der Basler Goalie Beni motiviert den Tessiner Stürmer Massimo, und der 2. Torwart Julien hält ihm den Rücken frei.

Flo, Sämi, Yohannes und Beni (von links nach rechts) feiern den ersten Sieg am HWC gegen Finnland (3:2). SURPRISE 360/15

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Fremd für Deutschsprachige Lokalpatriotinnen Ein kleines Mädchen im Ronaldo-T-Shirt drückt sich flink zwischen mir und der Tür zum Schönheitssalon vorbei, durch die ich gerade eintreten wollte. Den Laden betreibt meine Cousine Mirjeta in Kërçova, Mazedonien seit mehreren Jahren, und das ziemlich erfolgreich. Dies auch dank Migration: Sie schneidet hunderten Ausland-Kërçovarinnen während der Sommersaison, die auch die Hochzeitssaison ist, das Haar, drapiert es ihnen in geschwungenen Wellen-, Schleifen- oder Duttformationen auf die Köpfe und schminkt ihre Augen und Münder nach der neuesten Mode. Ohne die Tür hinter mir zuzuziehen, betrete ich den Salon und falle Mirjeta um den Hals – ein Jahr haben wir uns nicht gesehen. Die junge Frau auf dem Frisierstuhl und die beiden, die darauf warten, diesen als Nächste einzu-

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nehmen, werden ungeduldig. Ich störe die Cousine bei der Arbeit, doch da sie täglich von 7.30 bis 20 Uhr hier für schöne Köpfe sorgt, ist sie anders nicht zu treffen. Als sie sich nach einem kurzen Schwatz an die letzten Strähnen der jungen Frau macht, setze ich mich zu den Wartenden. Eine der beiden ruft das RonaldoMädchen wieder in den Laden: Viens chez Maman, Ganja! Als ich die Kleine auf Französisch frage, ob sie Fussballfan sei, schüttelt sie die schwarzen Stirnfransen: Non, j’aime la bicyclette, moi! Da meldet sich die andere Wartende auf Albanisch zu Wort, eine rundliche Schöne mit wachem Blick: Seid ihr alle Franzosen? Maman nickt: Ja, aus der Nähe von Paris. Ich verneine: Schweiz. Die Augen meines Gegenübers leuchten auf: Ah jooo?! I bi o us dr Schwiiz, us Oute! Sie scheint Heimweh zu haben nach Olten, und holt schwärmend aus: Sie sei zwar in Niederbuchsiten geboren, aber in Olten aufgewachsen und kenne dort an jeder Ecke jemanden – ja, sie sei halt so eine richtige Oltnerin! Klar, es sei schon zum Teil etwas langweilig in Olten, aber sie fühle sich dort eifach dahei … Die Tür fliegt auf und eine sehnige kleine Frau mit verschnörkelter Turmfrisur und lila Kaulquappenschminke stürmt herein. In rauester Kettenraucherstimme beschwört sie Mirjeta, eine dramatische Geste Richtung Frisur schickend: Schau, was meine Nachbarin mir angetan hat! Ich bin eine Verzweifelte mit dem Haar einer Zeichentrickfi-

gur! Mirka müsse sie retten, sie unbedingt dazwischenschieben! Da interveniert die Oltnerin: Aber nicht vor ihr – sie müsse noch packen, morgen fahre sie wieder in die Schweiz. Die Kaulquappenfrau pariert auf Züridüütsch: Du chunsch no früeh gnueg uf Olte, Schatzi! Das hier sei ein Notfall. Ganja nimmt ihre Mutter an der Hand, die nach einem kritischen Blick in den Spiegel bezahlt, und die beiden verlassen den Salon. Mirjeta winkt: Komm, wir machen dich zurecht, dann schauen wir uns den Notfall an. Die Oltnerin besteigt triumphierend den Frisierstuhl: 1:0 für Olten! Darauf macht die Kaulquappenzürcherin mit den Fingern ihrer Rechten, zwischen die sie mittlerweile eine Zigarette gesteckt hat, ein Victoryzeichen: Niemaals, Züri isch de beest! Die Oltnerin grinst und wendet sich mir zu: Und wo bist du denn genau her, aus St. Gallen?

SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 360/15


Schmalfilmfest Die Super-8-Männer Die Welt ist digital geworden, aber der Super-8-Film hat in seiner Nische überlebt. Ende Oktober wird seine 50-jährige Existenz mit dem «Global Super 8 Day» begangen – dank der Initiative zweier Basler.

Als im Mai 1965 das neue Schmalfilm-Format von Kodak auf den Markt kam, schien dessen Zweck klar: Super 8 ist in erster Linie dazu gedacht, Familienfeste, Ferien und Privates festzuhalten. Und obschon das Medium am Markt schon in den Achtzigerjahren von der Videotechnik überholt wurde, hat es bis heute eine treue Anhängerschaft. Mitte der Neunzigerjahre fand das Format unvermittelt Eingang in Trendmagazine und steigerte seinen Coolness-Faktor. Das stabilisierte vorerst den Absatz und führte ab 1998 zu einer europaweiten Welle von Super-8-Festivals – und 2005 zum ersten «Global Super 8 Day». Da war das kurze Revival allerdings bereits am Abklingen. «Vor 15 Jahren war die Szene um ein Mehrfaches grösser als heute», sagt Florian Olloz. Nicht zuletzt, weil sich Filmkassetten damals noch problemlos im Laden kaufen liessen, wie David Pfluger, sein Kompagnon von der Basler Aktionsgruppe Mobileskino, ergänzt. Die beiden, die seit 2000 als «Kollektiv für Schmalfilmelektronik» unterwegs sind, wurden Mitte der Neunzigerjahre als Filmkünstler mit Super 8 sozialisiert. «Wir lieben es, uns mit älteren Medien zu beschäftigen und diese mit neuen zu vereinen.» Angetrieben von ihrer Leidenschaft für den analogen Film starteten die beiden im Oktober vergangenen Jahres einen Aufruf zum «Global Super 8 Day 2015». Dies im Hinblick auf das 50-jährige Bestehen des Formats. Rund 50 Mails haben sie an ihr Netzwerk verschickt, in zehn verschiedenen Sprachen. «Sogar auf Lateinisch», erinnert sich Pfluger. Man hätte keine konkreten Erwartungen gehegt, sondern einfach gehofft, dass sich weltweit ähnlich viele Menschen fürs Projekt begeistern würden, wie bei der ersten Durchführung vor zehn Jahren. Während damals rund 40 Super-8-Liebhaber mit von der Partie waren, sind es jetzt über 70 – verteilt auf fünf Kontinente und Städte wie Östersund, Izmir oder La Paz. Unter den Anmeldungen finden sich Filmfreaks ebenso wie Vertreter von UniversitätsinsSURPRISE 360/15

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VON MICHAEL GASSER

Menschen, die jünger sind als der Super-8-Film, wissen es vielleicht nicht: Dies ist ein Projektor.

tituten oder Archiven. Ein Signal dafür, dass das lange ignorierte Kulturgut Super 8 mittlerweile auch von offizieller Seite beachtet wird, meint Olloz. Obschon die Events allesamt auf den 24. Oktober hinzielen, wird auf ein einheitliches und weltumspannendes Programm für den «Global Super 8 Day» verzichtet. In Basel, «dem Epizentrum des Anlasses», erhält der Besucher dank einer zwölfstündigen LiveSchaltung via Skype Einblicke in die Geschehnisse in anderen Teilnehmerstädten. Olloz und Pfluger betonen, dass es sich beim kostenlosen Event in Basel nicht um eine Art Kurzfilmfestival handelt. «Die Veranstaltung spielt sich in erster Linie in der interaktiven und künstlerischen Ecke ab», sagen die beiden Koordinatoren. Nur Sitzen, Sehen und Konsumieren ist nicht angesagt. Stattdessen lädt die Experimentalfilmerin Dagie Brundert zu einem Workshop. Die Berliner Künstlerin demonstriert den Kursteilnehmern, wie sich Filme unter Hinzufügen von Kaffee, Waschsoda und Vitamin-C-Pulver entwickeln lassen. Das ist unterhaltsam, hat aber einen ernstzunehmenden Hintergrund: Der Mix kommt einer Alternative zum herkömmlichen, aber umweltschädlichen Entwickler gleich.

Besuchern steht es offen, eigene Super-8Filme ins Haus der elektronischen Künste Basel mitzubringen und diese dort – mittels einer mit Lichtsensoren ausgestatteten Leinwand – vom Soundperformer Christian Studach live vertonen zu lassen. «Die Idee stammt nicht von uns, sie war aber derart gut, dass wir sie dem Film ‹Kick That Habit› von Peter Liechti abgeschaut haben», gesteht Olloz. Ein Hinweis gebührt auch dem ersten Auftritt des 1994 gegründeten Film-Jockey-Kollektivs Burstscratch in Basel. Die Strassburger werden insbesondere für ihre analogen Visuals geschätzt, die sie über die Leinwände flimmern lassen. Momentan herrscht bei Florian Olloz und David Pfluger Vorfreude, und auf Nachfrage meinen sie: «2025 wieder etwas Vergleichbares auf die Beine zu stellen, wäre sicher von Interesse.» ■

Global Super 8 Day am Sa, 24. Oktober: Haus der elektronischen Künste, Münchenstein/Basel; weitere Deutschschweizer Events: FCZ Museum und Walcheturm Zürich; Künstlerhaus, Solothurn; Lichtspiel, Bern. www.gs8d2015.com www.hek.ch

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Kultur

Der rote Faden der Gedanken entspinnt sich nicht im Hirn allein.

Mitgegangen, mitgehangen: Auch das Kind muss aufs Auto verzichten.

Buch Denken ist Teamwork

DVD Der Versuchung widerstehen

«Warum Einstein niemals Socken trug» von Christian Ankowitsch stellt das Denken vom Kopf auf die Füsse.

Der Dok «No Impact Man» begleitet den US-amerikanischen Autor und Aktivisten Colin Beavan ein Jahr lang beim Versuch, den ökologischen Fussabdruck seiner Familie zu verkleinern.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON MONIKA BETTSCHEN

«Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich.» Die einst revolutionäre Formel des Philosophen René Descartes von 1641 ist als geflügeltes Wort in das kollektive Bewusstsein eingegangen. Und hat nicht ohne Folgen den Kopf säuberlich vom Restkörper getrennt. Doch die Vorstellung des Gehirns als autarkes Organ, das lösgelöst von allem seine Geistesleistungen abliefert, ist längst überholt und widerlegt. Selbst scheinbare Nebensächlichkeiten beeinflussen unsere psychischen Ups und Downs; davon kann jeder ein Lied singen. Ein Lächeln führt zu besserer Laune, eine aufrechte Haltung hebt das Selbstbewusstsein, Wohlgerüche und angenehme Klänge verbessern das allgemeine Befinden, ein Spaziergang endet in Geistesblitzen. Diesen Binsenweisheiten mit Gehalt hat der Sachbuchautor Christian Ankowitsch auf den Zahn gefühlt und dabei Spannendes, Erheiterndes und reichlich Informatives aufgespürt. Davon ausgehend, dass das Gehirn alles andere als unabhängig funktioniert, stellt er sich die Frage: In welchem Verhältnis stehen Kopf und Körper? Und wie können wir den Körper einsetzen, um im Alltag besser zurechtzukommen? Dabei räumt er nicht nur gründlich mit der Gehirnzentriertheit auf, sondern führt auf so unterhaltsame wie kompetente Weise in die Komplexität menschlichen Handelns, Denkens und Fühlens ein. Als Dreh- und Angelpunkt erweist sich tatsächlich immer wieder der Körper. Mit ihm hat sich das Gehirn entwickelt, von ihm ausgehend orientiert es sich und ist Teil eines Gesamtorganismus, der mit der Umwelt interagiert. Mit allen Sinnen erfährt der Mensch die Welt, erinnert er sich und besteht den Alltag. Ohne diesen von der Festplatte des Körpers abrufbaren Erfahrungsschatz läuft gar nichts, denn Denken ist Teamwork, von Kopf bis Fuss. Ankowitsch gewinnt daraus eine anregende Liste von Alltagstipps, deren Tauglichkeit jeder selbst erproben kann – und sei es nur, wie Einstein auf Socken zu verzichten. Den augenzwinkernden Beipackzettel zu diesen Lebensrezepten liefert der Autor gleich mit. Christian Ankowitsch: Warum Einstein niemals Socken trug. Wie scheinbar Nebensächliches unser Denken beeinflusst. Rowohlt 2015. 27.90 CHF

New York in der Weihnachtszeit. Ein hartes Pflaster für jemanden, der sich dazu entschlossen hat, aus dem Hamsterrad des überbordenden Konsums auszusteigen. «Der durchschnittliche Amerikaner verursacht 1600 Pfund Abfall pro Jahr. Ich möchte diese Menge auf Null reduzieren», sagt der Autor – und als «No Impact Man» bekannte Aktivist – Colin Beavan zu Beginn des Films, während in den Schaufenstern die Versuchungen locken. Um dies zu erreichen, beginnen er und seine Familie damit, ihren Abfallberg durch den Verzicht auf Wegwerfwindeln oder in Plastik verpackte Lebensmittel zu reduzieren. Gleichzeitig senken sie ihren CO2-Verbrauch, indem sie auf Taxifahrten und Flugreisen verzichten. In einer nächsten Phase stellt die Familie die Ernährung auf lokale Lebensmittel um, die nicht weiter als 250 Meilen transportiert wurden. Als vielleicht radikalster Schritt verzichten Colin, seine Frau Michelle und die zweijährige Tochter schliesslich auf Elektrizität. Sanftes Kerzenlicht erfüllt die Wohnung anstelle des kalten Flimmerns des Fernsehers. Dieser wurde gleich zu Beginn des Experiments weggegeben, was vor allem Michelle zu schaffen macht. Während der Alltag der drei sich verändert, werden die Medien auf das Projekt aufmerksam. Der «No Impact Man» nutzt diese Plattformen geschickt für seine Botschaft, dass es möglich ist, ein gutes Leben zu führen, ohne dabei wertvolle Ressourcen zu verschwenden. Dieser Aufruf zu mehr Nachhaltigkeit kommt aber nicht nur gut an. Im Online-Blog des Projekts häufen sich gehässige Kommentare. Die Stärke dieses Dokumentarfilms liegt darin, dass gerade auch die Momente des Frusts und des Zweifelns auf dem Weg zu einem umweltverträglicheren Leben gezeigt werden. Dadurch wirkt der Film nahbar und – besonders wohltuend – er verzichtet auf einen belehrenden Unterton. Er anerkennt, dass Veränderungen, vor allem, wenn diese mit Eingriffen in den eigenen Lebensstil verbunden sind, Ängste wecken können. Denn niemand möchte ohne guten Grund auf hart erarbeitete Annehmlichkeiten verzichten. «No Impact Man» macht deutlich, dass der Schutz der Natur ein wirklich guter Grund ist, eingeschliffene Konsumgewohnheiten zu hinterfragen. Laura Gabbert, Justin Schein: «No Impact Man: The Documentary», USA 2009, 93 Min., mit Colin Beavan, Michelle Conlin u. a. Mit freundlicher Unterstützung von Les Videos, Zürich: www.lesvideos.ch

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Blutwurst – eine Tradition, die heute fast zum Tabu geworden ist.

Piatto forte Alles ist gut Wenn getötet wird, fliesst Blut. Hoffentlich nicht vergebens. VON TOM WIEDERKEHR

Wenn es von der Weide zum Schlachthof geht, bleibt niemand davon unberührt. Die einen freuen sich auf die deftigen Delikatessen, andere halten es für sinnloses Töten. Aber egal ob es ein Ochse, Huhn oder Schwein ist: Das Tier besteht nicht nur aus Filet und Brust, sondern auch aus ganz viel weniger zartem Muskelfleisch, Knorpel, Knochen und viel Blut. Wenn getötet wird, ist es also mehr als konsequent, wenigstens alles zu verwenden. Schon Homer beschrieb in seiner «Odyssee» die Vorzüge von mit Blut und Fett gefüllten Ziegenmägen. Und auch unsere Vorfahren wussten um den Wert von Blut als energiereiches Nahrungsmittel und waren einfallsreich in der Herstellung von Blutwurst. Kein Wunder, gibt es fast überall auf der Welt berühmt bis berüchtigte Gerichte auf der Basis von Blut: Black Pudding, Boudin noir oder Morcilla sind ihre Namen. Fast immer wird das Blut mit verschiedenen Gewürzen aromatisiert, mancherorts mit Getreide ergänzt und anschliessend im heissen Wasser gesiedet. Die bei uns vor allem im Herbst während der Metzgete gegessene Rahmblutwurst wird traditionellerweise mit langsam in Schweinefett gebratenen Zwiebeln, Zimt, Nägeli, Koriander, Muskatnuss und Pfeffer und mit Rahm verfeinert. Das Blut, welches jetzt nicht mehr den typischen metallischen Geschmack hat, wird in Därme gefüllt und im 85 Grad warmen Wasser langsam zur Gerinnung gebracht. Erst jetzt hat die Wurst die schnittfähige Konsistenz, die wir kennen. Es liegt an den Tabus und Gewohnheiten heutiger Zeiten, dass eine Blutwurst nicht mehr vorbehaltlos gegessen wird. Dabei schmeckt eine Blutwurst nach Leben, nach Herbst und stimmt mit ihren Aromen von Majoran und etwas Zimt auf kommende, kalte Zeiten ein. So passt sie auch besonders gut zu Birnen, die ja, wenn man Glück hat, ein bisschen nach Marzipan schmecken. Dafür Zwiebeln in Streifen schneiden, Birnen schälen und längs in feine Schnitze schneiden. Die Zwiebeln in Öl mit etwas Salz bei niedriger Hitze anschwitzen, nach etwa 10 Minuten die Birnen dazugeben und unter Rühren dünsten, bis Zwiebeln und Birnen weich und süss sind. Die Blutwurst geschnitten oder am Stück auf kleiner Hitze braten. Mit den Birnen und Rösti oder Kartoffelstock servieren, dazu passt auch noch eine Leberwurst.

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten

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Netzpilot Communication, Basel

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Balcart AG, Therwil

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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weishaupt design, Basel

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Coop Genossenschaft, Basel

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AnyWeb AG, Zürich

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Burckhardt+Partner AG

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mcschindler.com GmbH, Zürich

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fast4meter, Storytelling, Bern

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Bachema AG, Schlieren

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Ko Schule für Shiatsu GmbH, Zürich

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Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

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Lions Club Zürich-Seefeld, Zürich

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Privat-Pflege und Betreuung, Oetwil am See

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Praxis Colibri-Murten, Murten

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Bezugsquellen und Rezepte: www.piattoforte.ch/surprise 360/15 SURPRISE 360/15

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© JOHN KASAWA

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Ausgehtipps

Die Wissenschaft sucht das Gespräch.

Basel Fragen Sie jetzt! Tatort Mitte: Wissenschaftler stellen sich der Öffentlichkeit. Der nationale Forschungsschwerpunkt NCCR Molecular Systems Engineering vereint knapp 100 Biologen, Ingenieure, Chemiker, Physiker, Bioinformatiker und Mediziner, damit sie gemeinsam neue Ideen und Lösungen für Medizin und Chemieproduktion entwickeln. Und weil dieserart Forschungsprozesse und auch deren Ergebnisse in der Öffentlichkeit nicht immer nur Behagen auslösen, möchten die Forschenden zwei Mal im Jahr mit der Gesellschaft in den Dialog treten – gleich von Beginn an. Diesmal lädt der Co-Direktor des Projektes, Daniel J. Müller von der ETH Zürich, den Schweizer Tatort-Kommissar Stefan Gubser, die Basler Ständerätin Anita Fetz und Bischof Felix Gmür zum Gespräch ins Unternehmen Mitte. Die Diskussion ist bewusst offen gehalten, Wortmeldungen aus dem Publikum sind ausdrücklich erwünscht, alles darf hinterfragt werden. Übertragen wird der «Wissens-Talk» von Radio X, Radio RaBe und Kanal K, für musikalische Unterhaltung zwischendurch sorgt der Surprise Strassenchor. (win)

Singen macht glücklich: Der Surprise Strassenchor.

Viele Wege führen zur Schule, auch in Neuseeland.

Basel Gesundheit für alle

Liestal Abenteuer Schulweg

Armut macht krank. Das behauptet nicht nur das Bundesamt für Statistik. Auch die Betroffenen können ein Lied davon singen. Am offenen Mikrofon diskutieren deshalb am Vorabend des UNO-Welttags zur Überwindung von Armut in der Basler Elisabethenkirche Gesundheitsfachleute mit Armutsbetroffenen darüber, wie eine gleichberechtigte Gesundheitsversorgung aussähe. Mit Infoständen und einer Einladung zum Austausch lädt die Organisatorin ATD-Vierte Welt am Folgetag dazu ein, auf dem Theaterplatz mit Armutsbetroffenen ins Gespräch zu kommen und den Surprise Strassenchor zu hören. Wer sich umfassender über Armut und Ausgrenzung informieren möchte, nimmt zudem an einem der Sozialen Stadtrundgänge des Vereins Surprise teil und erfährt, wie das Basel der Randständigen aussieht. (win)

Wir wissen: Bildung ist der Schlüssel zu einer besseren Welt. Zur Bildung führen viele Wege, und einer davon ist – der Schulweg. Ob im Liestaler Stedtli oder in den Strassen des Molochs Neu Delhi, in den philippinischen Monsunfluten oder in der Wüste Pakistans: Zu jeder Zeit geht auf der Erde irgendwo die Sonne auf, und fast überall machen sich dann Millionen von Kindern auf in die Schule. Dabei geht manchmal vergessen: Die Pflicht, sich auf den Weg zur Schule zu machen, ist für viele Kinder der Welt ein Privileg. Der Weg zur Schule ist auch ein Weg aus der Armut und der Start in eine bessere Zukunft. Deshalb riskieren viele Kinder auf dem Schulweg sogar ihr Leben. Und sie machen ihre ersten kleinen Schritte in die Eigenständigkeit. Zu Fuss, mit dem Fahrrad, mit Bus oder Tram lernen sie, sich ohne die Erwachsenen in ihrer Umwelt zurechtzufinden. Unterwegs zwischen Elternhaus und Schule werden Abenteuer erlebt, Streiche gespielt, Konflikte ausgetragen und Freundschaften geschlossen. Das Museum BL in Liestal widmet dem Schulweg eine Fotoausstellung. Unter dem Motto «Weltweit verbindend und doch ganz anders» werden im Foyer des Museums Bilder von Kindern aus unterschiedlichen Regionen der Welt auf dem Weg zur Schule gezeigt – eine Ausstellung wie geschaffen für die verregneten schulfreien Nachmittage, die es sicher noch zur Genüge geben wird. (ami)

«Gesundheit für alle – Armut macht krank», Veranstaltungen der ATD-Vierte Welt zum UNOWelttag zur Überwindung von Armut: Diskussion, Fr, 16. Okt., 18.30 Uhr, Offene Kirche Elisabethen; Standaktion, Sa, 17. Okt., 11 bis 15 Uhr, Theaterplatz, Basel. www.vierte-welt.ch/projekte/17-oktober/

«Schulwege. Zwischen Abenteuer und Alltag»,

Basar Molekular. Der Wissens-Talk: Do, 22. Oktober,

Vernissage Fr, 18. September, 18 Uhr, Ausstellung bis

19.20 Uhr, Unternehmen Mitte, Gerbergasse 30, Basel.

So, 1. November, jeweils Di bis So von 10 bis 17 Uhr,

www.mitte.ch/events/basar-molekular-der-

Museum BL, Zeughausplatz 28, Liestal.

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Wie ging das nochmals im Nähkurs?

Bern Der Stoff, aus dem die Tänze sind Tanz ist eine der abstraktesten und zugleich konkretesten Kunstformen: Die Tänzerinnen und Tänzer materialisieren Befindlichkeiten. Sie bewegen sich – und im besten Fall auch die Zuschauer. Zur Eröffnung des internationalen Tanzfestivals der Dampfzentrale gibt’s ein Erlebnis synästhetischer Art. Jefta van Dinther hat das berühmte Cullberg Ballet in eine Choreografie der Materien verrückt. Darin arbeiten neun Tänzerinnen und Tänzer an einem riesigen Stück Stoff. In einer Kulisse aus Geräuschen und Licht ziehen sie Stricke und befestigen Gewichte, als gelte es, etwas Grosses zu erreichen. Doch nichts ist, wie es scheint. (dif) Tanz in Bern: Mi, 21. Oktober bis Sa, 7. November, Dampfzentrale Bern www.dampfzentrale.ch

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Reif und immer noch rotzfrech.

Auf Tour Gegen die Nostalgie grölen Die Aeronauten boten schon in den Neunzigerjahren intelligente Hymnen zum Mitsingen. «Ich möchte lieber eine Freundin», hiess es da zum Beispiel. Die Single «Ottos Kleine Hardcore Band» pustet einmal mehr Nostalgie mit einem Mitgrölrefrain weg: «Oh Oh! Oh! Fuck!». Der Song ist die erste Auskoppelung aus dem neuen Album der Band. Und es muss gesagt sein: Die Jungs lassen es auch nach mehr als 20 Jahren nicht ruhiger angehen. Noch immer bedienen sie sich mit rotzfrecher Punkattitüde bei allen möglichen Musikstilen. Noch immer macht uns Sänger Guz klar, wo Deutschrock wirklich zuhause ist: nämlich in Schaffhausen. Und da lebt auch dieses Stadtoriginal, dem die Platte ihren Namen verdankt: «Heinz». Ende Oktober geht die Band mit ihr auf Tour. Der Autor dieser Zeilen wird an einem dieser Konzerte ganz vorne zu finden sein. Mitgrölend. (tom) Konzerte: Fr, 23. Oktober, Industriestrasse Luzern; Sa, 24. Oktober, Gaswerk Winterthur; Do, 5. November, Dachstock Bern, Fr, 6. November, Cardinal Schaffhausen, Sa, 7. November, Bogen F, Zürich; Fr, 22. Januar, Eisenwerk Frauenfeld; Sa, 23. Januar, Palace St. Gallen.

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Verkäuferporträt International «Ohne Shedia wäre ich ein Landstreicher» BILD: GIORGOS ARAPOGLOU

Panayiotis Triantafillidis, 35, hat es mit dem Verkauft der Strassenzeitung Shedia in Athen zu einer kleinen Wohnung gebracht. Seit er lesen kann, gehört das Blatt zudem zu seiner Lieblingslektüre. AUFGEZEICHNET VON GIORGOS ARAPOGLOU

Ich stamme aus Istiaia im Norden der Insel Euböa. Ich bin ein griechischer Zigeuner, und das hat mir viele Probleme bereitet im Leben. Mein Vater war ein Marktfahrer, und ich habe ihm viel geholfen. Als er 2008 starb, brach es uns allen das Herz. Es ist so lange her, aber ich kann es immer noch nicht glauben. Ich wollte unbedingt von zuhause weg, aber ich konnte nicht, weil ich mich um meine Mutter kümmern musste. Sie war sehr streng. Sie wollte nicht, dass ich abends auf den Strassen herumlaufe, weil sie Angst hatte, ich könnte Ärger mit der Polizei bekommen. Es ist normal, dass uns Zigeunern Rassismus entgegengebracht wird. Eines Tages hab ich dann gesagt, ich laufe von zuhause weg. Seit ich ein Kind war, träumte ich davon, mein eigenes Daheim zu haben, aber ich konnte es mir nie leisten, weil ich keine geregelte Arbeit hatte. Als ich jung war, habe ich bei einem Unfall alle Zähne verloren. Das machte es für mich schwer, einen Job zu finden, weil die Leute mich sahen und dachten, ich sei ein Drogenabhängiger. Im Arbeiterquartier Renti lernte ich die Nachbarschaft kennen, und die Leute mochten mich. Ich habe mich um Hunde gekümmert, sie gefüttert und den Nachbarn geholfen. Eine Frau liess mich in ihrem Haus wohnen, dort konnte ich schlafen und mich waschen. Später zog ich ins Stadtzentrum. Ich hatte keine geregelte Arbeit, aber eine Aushilfsstelle an einem Kiosk am Syntagmaplatz. Als Lohn gab mir der Besitzer Essen und etwas Geld. Aber ich hatte keine Freunde, ich war sehr einsam. Eines Tages fielen mir ein paar Leute mit roten Westen auf, die ein Magazin verkauften, aber ich wusste nicht, was es war, weil ich nicht lesen konnte. Ich bin nie zur Schule gegangen. Einmal schickte mich meine Mutter hin, aber die anderen Kinder schlugen mich und stahlen mir mein Geld, also ging ich nie wieder hin. Ich fragte einen Verkäufer über die Strassenzeitung aus. Er erzählte mir, was es war und wie es funktionierte, aber ich verstand die Sache nicht ganz. Einmal traf ich eine Gruppe von Polizisten, die mich mochten und mir halfen, aber ihre Haltungen waren ziemlich extrem. Sie beinflussten mein Denken, ich wurde Migranten gegenüber feindlich eingestellt. Glücklicherweise verstand ich schnell, dass das falsch war. Ich bereue meine Aktionen. Ich hatte niemals von mir gedacht, dass ich so sein und denken könnte. Eines Tages, als ich die Hauptstrasse von Athen entlangging, traf ich eine grosse Versammlung vor einem Gebäude. Es war eine Hilfsstelle für Migranten, und als ich fragte, ob ich auch mitmachen könne, sagten sie mir, dass sie alle Menschen akzeptieren. Das war der Zeitpunkt, wo ich meine Einstellung änderte. Ich bemerkte, was ich falsch gemacht hatte und wie viel Gutes dabei verloren gegangen war. Mit der Hilfe eines privaten Lehrers lernte ich schnell lesen und schreiben. Eines Tages sah ich wieder jemanden mit einer roten Weste, auf der «Shedia» stand. Ich fragte wieder nach, und diesmal verstand ich besser. Ich besuchte die Büros, redete mit den Menschen, und alles wurde mir im Detail erklärt. Diesmal war ich richtig wild darauf, anzufangen. Nach zwei Monaten hatte ich eine kleine Summe Geld zusammen und mietete meine eigene kleine Wohnung. Kurz danach halfen mir die Leute vom Strassenmagazin, meine Zähne machen zu lassen. Ich war so glücklich und hatte die Energie, noch mehr Zeitschriften zu verkaufen. Vor dem Einschlafen denke ich an Shedia und die Leute, die mir die-

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se Möglichkeit gaben. Und jetzt, wo ich lesen kann, kann ich nicht aufhören, jede Seite des Magazins zu lesen. Natürlich gibt es auch Leute, die das Magazin nicht mögen und schlecht über uns reden. Das Schlimmste, was mal jemand zu mir sagte, war, dass wir betteln würden. Aber die Leute lernen uns immer besser kennen und ich bin sehr froh darüber. Die Menschen können sehen, wie ich mich verändert habe. Sogar wenn ich eines Tages einen anderen Job finde, möchte ich ein bisschen Zeit haben, um die Zeitung zu verkaufen. Manchmal hab ich Mühe, meine Miete zu bezahlen, aber ich gebe nicht auf. Wenn es Shedia nicht gäbe, wäre ich ein Landstreicher. Durch Shedia habe ich die Träume wahr gemacht, die ich seit meiner Kindheit hatte. Und jetzt kann ich weiter träumen. ■ Aus dem Englischen von Anne Winterhager.

Mit freundlicher Genehmigung von INSP News Service www.INSP.ngo/Shedia SURPRISE 360/15


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Fatma Meier Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Oliver Guntli Bern

Roland Weidl Basel

Daniel Stutz Zürich

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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360/15 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 360/15

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Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit einem Netzwerk aus freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der ganzen Deutschschweiz. Sie kämpfen um den Titel des Schweizermeisters und des Weltmeisters beim Homeless World Cup. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen kostenlosen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine einfache und charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren. Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Gönner-Abo für CHF 260.–

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Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Diana Frei (dif) und Sara Winter Sayilir (win) (Heftverantwortliche), Amir Ali (ami), Florian Blumer (fer), Mena Kost (mek), Thomas Oehler (tom), redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Olivier Joliat, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Giorgos Arapoglou, Monika Bettschen, Luca Christen, Markus Forte, Michael Gasser, Ruben Hollinger, Frederico Schneider, Patrick Tombola Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 21 400, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T+41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung) s.roter@vereinsurprise.ch Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 360/15


Surprise – Mehr als ein Magazin

BILDER: SIMON DREYFUS

Strassenchor Singen verbindet Nationen

«Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, können sie die Welt verändern»: Man singt im gar nicht so kleinen Kreis von 70 Leuten.

Der heisse Sommer hat dem Strassenchor nicht geschadet. Im Gegenteil: Voller Elan sind wir ins zweite Halbjahr gestartet. Fünf Konzerte haben wir seit Anfang August bestritten, beispielsweise in der Psychiatrie Baselland oder am Integra Festival in Liestal. Zuletzt traten wir im Basler Schützenmattpark am One People Day vom 19. September auf. Ziel des Anlasses war, ein Zeichen für den weltumfassenden Frieden zu setzen. Uns war es eine besondere Freude, hier auch einen Beitrag leisten zu dürfen. Der Auftritt des Chors leitete den Höhepunkt des Festes ein. Alle Gäste und Beteiligten formierten sich zu einem grossen Kreis – als Symbol für die Gleichheit aller Menschen. Über 70 Personen haben sich beteiligt: Es entstand ein ziemlich grosser Zirkel. Anschliessend sangen die Zuschauer gemeinsam mit dem Surprise Strassenchor ein Lied im Kanon. Das One-People-Day-Konzert war dieses Jahr die zweite Kooperation des Strassenchors, eine Zusammenarbeit mit den Unitarian Universalists of Basel. Obwohl unsere Gruppe etSURPRISE 360/15

was reduziert war, sangen insgesamt 17 Sängerinnen und Sänger aus 11 verschiedenen Nationen mit. In einem 30-minütigen Konzert haben wir Lieder aus der ganzen Welt gesungen, vor allem Friedenslieder. Dabei haben wir die Zuschauer mit Umarmungen und Küssen überrascht – was sehr gut ankam: Die Leute waren höchst begeistert. (toe) Nächste öffentliche Auftritte Samstag, 17. Oktober, «Tag der Armut», 11 Uhr, Theaterplatz in Basel Donnerstag, 22. Oktober, Basar Molekular, 19.20 Uhr, Unternehmen Mitte, Gerbergasse 30 in Basel, Eintritt frei Samstag, 7. November, Titus Basar, 14 Uhr, Titus Kirche Basel, Im Tiefen Boden 75, 4059 Basel

Und einige kleine Leute schauen zu.

Wir freuen uns auf zahlreiche Besucher!

Weitere Infos unter 061 564 90 40 oder www.vereinsurprise.ch/strassenchor

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