Alter Flüchtling Ein Gespräch mit dem Dalai Lama über Religion und Krieg «Auch keine Lösung»: TV-Köchin Sarah Wiener entlarvt die Veganer-Industrie
Aus dem Krisengebiet ins Idyll: Fünf Filmschaffende porträtieren Winterthur
Nr. 361 | 23. Oktober bis 5. November 2015 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.
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Titelbild: Simon Murphy/Camera Press/Keystone
Man kann von ihm halten, was man will – fest steht, dass seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama, eines der grössten spirituellen Vorbilder unserer Zeit ist. Auch für unzählige Nicht-Buddhisten und Areligiöse hat das Wort des geistlichen Oberhaupts der Tibeter Gewicht, ist er eine moralische Instanz. Und danach scheint in der europäischen Öffentlichkeit gerade eine erhöhte Nachfrage zu bestehen. Das Auftauchen der vielen zehntausend Menschen, die in Europa Schutz vor Tod und Verwüstung oder einfach ein besseres Leben suchen, jener Menschen also, die wir in unserem kollektiven Wort- und Gedankenschatz zur «Flüchtlingskrise» komprimiert haben – ihr Auftauchen hat uns in eine Sinnkrise gestürzt. Europa, Kontinent der alten Werte und Gewissheiten, wird sich neu definieren müssen. Unbequeme Fragen liegen in der Luft: Sind wir noch, wer wir waren? Waren wir AMIR ALI überhaupt, wer wir zu sein glaubten? Darf man das noch sagen? Und: Ist das noch REDAKTOR mein Land? Der Dalai Lama, der sich selbst als «alter Flüchtling» bezeichnet, liefert uns auf diese Fragen keine Antworten. Sie werden, im besten Fall, am Ende eines gerade erst einsetzenden kollektiven Prozesses zu finden sein. Was der Dalai Lama tut: Er benennt auf ganz einfache Art Dinge, die wir alle wissen, die wir aber offenbar aus den Augen verloren haben. So sagt er etwa über die blutigen Konflikte, die am Ursprung der Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten stehen: «Im einen Moment sehen sich zwei Gruppen gegenseitig als Feinde an, und der Sinn steht ihnen nicht nach Versöhnung. Aber sie müssen es versuchen. Versuchen. Miteinander reden. Sich treffen. Neun Fehlschläge, neun neue Versuche.» Das erscheint banal, ist aber wohltuend ehrlich verglichen mit dem, was Entscheidungsträger im Osten und Westen sagen und tun. Lesen Sie ab Seite 10 das exklusive Interview, das der Dalai Lama dem Internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen gegeben hat. In den letzten Jahren hat sich vegane Ernährung – der Verzicht auf alles Tierische also – zum massentauglichen Trend entwickelt. Früher musste man sich für den Cappuccino mit Soja- statt Kuhmilch in linksalternative Kollektivbeizen begeben, heute trinken ihn die Models bei Starbucks. Die Welt zu retten gehört heute zum guten Ton, und der Verzicht auf Produkte der Fleisch- und Milchindustrie ist ein Weg dazu. Auf den ersten Blick zumindest. Die erfolgreiche TV-Köchin Sarah Wiener, selbst Teilzeit-Veganerin, hält nichts von Sojamilch und Seitanburger. «Vegane Ernährung ist keine Lösung des Grundproblems. So mancher Veganer baut sich da schlicht eine Parallelwelt auf», schreibt sie. Lesen Sie ab Seite 16, warum auch in Sachen Ernährung die simplen Wahrheiten immer noch die besten sind. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Lektüre Amir Ali
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BILD: WOMM
Editorial Simple Wahrheiten
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10 Dalai Lama «Es gibt keine dunkle Seite» Der 14. Dalai Lama hat dem Internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP, dem auch Surprise angehört, ein exklusives Interview gegeben. Er äussert sich nicht nur zur Lage der Tibeter und zur politischen und gesellschaftlichen Situation in China – der Dalai Lama, auch für viele Nicht-Buddhisten ein grosses spirituelles Vorbild, nimmt darin Bezug auf die Flüchtlingskrise in Europa, auf die Konflikte, die ihr zugrunde liegen – und auf die Rolle der Religion.
BILD: SIMON MURPHY
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Inhalt Editorial Moralische Instanz Basteln für eine bessere Welt Klapp-Identitäten Aufgelesen Keine Subventionen Vor Gericht Abgestürzter Überflieger Leserbriefe Der ganze Mensch Starverkäufer Estifanos Bokretion Porträt Ein grosser Bruch und viele Zufälle Nachhaltigkeit Vegane Ernährungssünden Film Schwere Blicke auf Winterthur Wörter von Pörtner Ich bin doch nicht blöd Musik Der Synthesizer-Pionier Ausgehtipps Amtsschimmel auf der Bühne Kultur In der Ideenschmiede Verkäuferinnenporträt Ein Sack voll Kleider und viele Tränen Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP Surprise – Mehr als ein Magazin Der schönste Schal
14 Theaterevent Soziales Muskeltraining BILD: ZVG
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Es klingt wie eine Idee, auf die man in einer eingeschneiten Berghütte in geselliger Runde kommt: Man sitzt mit anderen mehr oder weniger fremden Menschen an einem Tisch und jeder, der möchte, trägt mit einem Wunsch oder einem Geschenk an die anderen zum Abend bei. Der Social Muscle Club ist seit einiger Zeit eine beliebte Veranstaltung in Berlin. Jetzt etabliert sich der Event zwischen Sozialkompetenz-Training, Theater und Performance auch in der Schweiz.
21 Literatur «Der Dichtung dienen»
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BILD: ZVG
Sie sind aufwendig gestaltet und limitiert verfügbar. Und was nicht verkauft wird, wird vernichtet: Mit ihren sogenannten Mondbüchern versuchen die beiden isländischen Autoren Ragnar Helgi Ólafsson und Dagur Hjartarson eine Nische im Literaturbetrieb zu füllen, von der «die Leute gar nicht wissen, dass es dort etwas geben könnte». Jetzt sind die beiden ersten Ausgaben auf Deutsch erschienen.
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ILLUSTRATION: WOMM
Basteln für eine bessere Welt Der Migrationshintergrund Heidi-Land im Schockzustand: Erstmals seit fünf Jahren sind weniger Ausländer in die Schweiz eingewandert als im Vorjahr. Nur noch knapp über 150 000 Ausländer beantragten 2014 einen Daueraufenthalt im gemütlichen Alpenländli. Zwei Prozent weniger als 2013! Das wirft Fragen auf: Wer dominiert nun das Parteiprogramm der grössten Volkspartei? Frauenverbände befürchten bereits, wieder einmal den Kopf hinhalten zu müssen. Auch die Westschweizer ziehen sich warm an. Wer also findet, die Aufrechterhaltung eines Migrantenanteils von mindestens einem Viertel der Bevölkerung – zwecks Vielfalt und Minderheitensolidarität – sei eidgenössische Bürgerpflicht, bastele sich geschwind einen eigenen Migrationshintergrund. Frei nach Sara Balls Klapp-Bilderbuch «Krogufant» kann man diesen nach Lust und Laune jeden Tag neu gestalten. 1. Sie brauchen drei Passbilder, eine Schere und Kleber. 2. Schneiden Sie Ihren Kopf aus und kleben Sie Ihr Bild auf die dafür vorgesehene Aussparung. 3. Schneiden Sie die Figuren entlang der gestrichelten Linien auseinander und setzen Sie sich Ihre Wunschidentität immer wieder neu zusammen.
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Aufgelesen News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
7,5 Millionen Menschen Dortmund. Die Entwicklungsorganisation Oxfam warnt in ihrem Bericht «Ein Europa für alle»: Nehmen Armut und Ungleichheit weiter zu, sind Demokratie und sozialer Zusammenhalt in Europa bedroht. Demnach fehlte im Jahr 2013 mehr als 50 Millionen Menschen das Geld für die Heizkosten oder für spontane Ausgaben – ein Anstieg um 7,5 Millionen seit 2009. Fast ein Viertel der Europäer lebt an oder unter der Armutsgrenze. Im selben Zeitraum hat sich die Zahl der Milliardäre in Europa mehr als verdoppelt.
35 Milliarden Franken London. Mehr als 70 000 sozial tätige Firmen gibt es in Grossbritannien, 40 Prozent davon werden von Frauen geführt. Entgegen der Annahme, es handle sich dabei vor allem um subventionierte Unternehmen, erwirtschaften 73 Prozent davon ihren Umsatz mit Handel anstelle von Fördergeldern. Umgerechnet mehr als 35 Milliarden Franken tragen sie zur britischen Wirtschaft bei und bieten einer Million Menschen einen Arbeitsplatz.
60 Mal am Tag Kiel. Spielen, telefonieren, Nachrichten übermitteln – Smartphones haben ein hohes Suchtpotenzial, sagt eine Untersuchung von Yahoo. Als süchtig gilt, wer seinen mobilen Internetzugang mehr als 60 Mal am Tag nutzt. Betroffen seien mehr als 280 Millionen Menschen weltweit – ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr um 60 Prozent. Einer anderen Untersuchung zufolge schauen Studenten im Durchschnitt alle zwölf Minuten auf ihr Smartphone oder ihr Tablet.
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Vor Gericht Per Privatjet in die Pleite Eingeklagt war der schöne Straftatbestand der Misswirtschaft. Das ist das Betreiben von «unverhältnismässigem Aufwand», «Verschleudern von Vermögenswerten» oder «arge Nachlässigkeit in der Berufsausübung». Und zwar in einem Ausmass, dass eine Firma darob Pleite geht. Dennoch gibt der erstinstanzlich für schuldig befundene Angeklagte vor Obergericht mit sonorer Stimme den weltläufigen Geschäftsmann. Einer, der täglich mit Hunderten von Millionen Dollar jongliert. Der Mittvierziger redet gewandt von Deals, Bonds und Investitionen, von Obligationen und Portfolios. Meist allerdings im Konjunktiv: hätten, sollten, würden. 2008, auf dieses Jahr geht die Anklage zurück, hätte ein Fünf-Millionen-Deal mit Nike über die Bühne gehen sollen. Das Geschäft, irgendetwas mit Energy Drinks, sollte nun also anlässlich einiger Business-Meetings in den USA unter Dach und Fach gebracht werden. Und da man ja jetzt in einer höheren Liga spielte, sollte die Reise auch standesgemäss vonstattengehen. Der Angeklagte buchte für sich und seine Geschäftspartner einen Privatjet für den Trip ins Spielerparadies Las Vegas und zurück. Kostenpunkt: 240 000 Euro. Eigentlich hätte er bis zum Tag der Abreise eine Vorauszahlung leisten sollen. Doch das klappte irgendwie nicht. Dennoch – und das wird ein Rätsel bleiben für alle, die je versucht haben, sich aus einer Busse fürs Schwarzfahren rauszureden – schaffte es der Angeklagte, die Fluggesellschaft Jet Aviation hinzuhalten. Der Privatjet des Typs Bombardier Global Express hob ab und brachte die Reisegruppe nach Las Vegas. Eine Woche später musste der Angeklagte
feststellen, dass er wohl doch etwas hoch gepokert hatte. Einmal hatte sich die Fluggesellschaft hinhalten lassen. Als aber vor dem Rückflug immer noch keine Anzahlung eingetroffen war, drohte sie damit, ohne die Geschäftsmänner zurückzufliegen. Jet Aviation setzte eine sogenannte Promissory Note auf und der Angeklagte seine Unterschrift darunter. Mit dem Dokument verpflichtete er sich beziehungsweise die Firma, für die er Einzelprokura besass, den Flugpreis zu bezahlen. Mit der Unterschrift sicherte er sich und seinen Mitstreitern zwar den Rückflug, besiegelte aber gleichzeitig das Ende ihrer gemeinsamen Firma. Denn die Aktiven auf deren Konten beliefen sich gesamthaft nie auf mehr als 70.20 Franken. Kein Wunder also, führte die bald eingeleitete Betreibung über den Flugpreis die Firma geradewegs in den Konkurs. Dennoch verlangt der Angeklagte einen Freispruch. Er habe das Papier unter Druck unterzeichnet, sagt er. Zudem sei er Opfer falscher Versprechungen geworden. Noch kurz vor Abflug hätten ihm mehrere Banken grosszügige Kredite zugesagt. Überdies habe ihm ein Kunsthändler eine halbe Million versprochen, so der Angeklagte vor Gericht. Da er aber nichts von alledem schriftlich nachweisen kann, finden die Beteuerungen bei den Oberrichtern kein Gehör. Sie sprechen den Geschäftsmann schuldig und verurteilen ihn zu neun Monaten bedingt. Und verpflichten ihn gerichtlich, der Jet Aviation die 240 000 Euro zu zahlen. Vielleicht klappt’s ja doch noch. Wie der Angeklagte berichtet, erreiche seine neue Firma demnächst die Gewinnzone.
YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 361/15
Leserbriefe «Was für eine Art von Gesellschaft sind wir?» «Die Wurzel des Problems liegt nicht in den Arbeitsbedingungen» Die Debatte um die Legitimation der Tätigkeit und die Arbeitsbedingungen von Frauen in der Prostitution ist an der Oberfläche nicht zielführend. Ich finde es lobenswert, wenn Bestrebungen bestehen, die Arbeitsbedingungen von Menschen zu verbessern. Es erscheint mir aber angebracht, etwas weiter zu blicken. Die allermeisten Frauen in der Prostitution in der Schweiz kommen aus dem Ausland. Warum sind es so oft nicht unsere Töchter, die sich für diese Tätigkeit entscheiden? Weil unsere Töchter eine echte Wahl haben. Im Vergleich zu etlichen anderen Ländern befinden sich hierzulande die Möglichkeiten in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt auf einem anderen Niveau. Die Vermutung liegt also nahe, dass sich eine Person nicht für diese Tätigkeit entscheiden würde, wenn sie eine echte Wahl hätte. Die Wurzel des Problems liegt folglich nicht in den Arbeitsbedingungen, sondern in den Bedingungen des Arbeitsmarktes. Wenn sich nun einige Leute überlegen, dass gewisse Berufsgattungen zwar nicht erstrebenswert, aber für das Funktionieren der Gesellschaft unumgänglich seien, regt sich in mir die Frage: Was für eine Art von Gesellschaft sind wir, wenn wir nur funktionieren können, solange sich Menschen, die keine wirkliche Wahl haben, den Bedürfnissen derer annehmen (müssen), die viele verschiedene Möglichkeiten haben? Hätten letztere nicht auch die Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen? Sonja Burkhalter
Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch
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Ausgabe Nr. 357, Editorial «Mit Eritreern übers Wetter reden». «Menschlichkeit umfasst den ganzen Menschen» Unter Umständen gibt es doch zwingendere Themen als das Wetter, wenn man sich mit einem Eritreer austauscht. Auch Redaktor Amir Ali bemüht in seinem Editorial den abgedroschenen und falsch verwendeten Begriff der Menschlichkeit. Mit Menschlichkeit meint man bloss die guten Eigenschaften des Menschen. Menschlichkeit umfasst doch aber den ganzen Menschen, mit seiner freundlichen und hilfsbereiten Seite, welche jedoch bei vielen von Gier, Hass und Verblendung überlagert wird. Im Weiteren glaube ich nicht, dass durch ein Gespräch «aus Problemen wieder Menschen» erwachsen. Vielmehr plädiere ich dafür, den Staat Eritrea (wie einer der im Heft zitierten Verkäufer sagt: «Man weiss einfach nicht, wem man vertrauen kann. Also misstraut man allen, den Nachbarn, den Eltern, sogar der eigenen Ehefrau. Alle könnten für die Regierung arbeiten.») umzupflügen und neu anzusäen. Christian Scherler
BILD: ZVG
Ausgabe Nr. 358, Gastbeitrag von Shelley Berlowitz von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration.
Starverkäufer Estifanos Bokretion Annemarie Geissbühler-Blaser aus Ittigen schreibt: «Estifanos Bokretion hat mir das neue Heft während meiner Ferien reserviert. Und als ich es bei ihm abholte, brachte er mir meinen Einkaufswagen zu meiner nahe gelegenen Wohnung. Seine Freundlichkeit tut gut.»
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Porträt Wer nicht sucht, der findet Musik, Schauspiel, Zirkus, ein eigener Club: Basil Erny verwirklicht Dinge, von denen nur andere träumen. Die innere Freiheit fand er, nachdem er als junger Mann eine tiefe Krise durchlebt hatte. VON THOMAS OEHLER (TEXT) UND BASILE BORNAND (BILD)
tete sogar fünf Jahre lang – dann, er war etwa 26 Jahre alt, kam die Krise. Erny fühlte sich von all den Ansprüchen überfordert: «Da sind die Eltern, die Vorgesetzten, da ist der Lehrplan, die Kinder und das Kollegium.» Darauf fühlte er sich zu schlecht vorbereitet. Ausserdem wollte er mit den Kindern lieber ein kollegiales Verhältnis haben, und das war als Lehrer nicht möglich. Also brach Erny mit seiner ganzen Lebensweise: Schmiss den Job, trat aus der Freikirche aus, der er seit Kindesbeinen angehört hatte, und beendete gar seine damalige Beziehung – ohne auch nur eine vage Idee davon zu haben, was er tun sollte. Stattdessen begann er, wild auszuprobieren. Schliesslich blieb er für Jahre im Zirkusleben hängen. Ernys Schlüssel zum Glück ist seine Offenheit gegenüber dem, was kommt. Eine Offenheit, die ihn seit dem grossen Bruch begleitet. Dabei garantieren ihm seine zahlreichen Projekte keine grosse Sicherheit. Immer wieder kommt es vor, dass er nicht weiss, wovon er in einem halben Jahr leben soll. Oder ob die AHV einmal reichen wird. Da ist es nicht selbstverständlich, ein gewisses Grundvertrauen zu behalten. Jedoch: «Ich vertraue einfach darauf, dass es schon gut kommt», sagt er und vermutet: «Das ist irgendwie meine Wesensart. Vielleicht habe ich das von meinen Eltern mitbekommen.» Heute hadert Basil Erny denn auch nicht mehr mit seiner Jugend. Im Gegenteil: Rückwirkend scheint sich gar alles zu einem Ganzen zu fügen. Das pädagogische Rüstzeug, das er im Lehrerseminar vermittelt be-
«Das kam einfach», sagt Basil Erny und zeigt auf sein neustes Projekt, das Barakuba. Der Club auf dem Gundeldinger Feld in Basel wirkt gemütlich mit seiner Bar und den Tischchen davor. Mit den dunkelroten Samtvorhängen erinnert er ein wenig an ein Theater. Ein Raum für kleinere Konzerte und mehr: Das Barakuba fungiert auch als Übungslokal für La Familigia Rossi, Basil Ernys Spaghetti-Western-Blues-Band. Der 47-Jährige erinnert sich: «Ein Ort, wo ich mit meinen Projekten fix arbeiten kann und wo ich Veranstaltungen mit Leuten aus meinem Netzwerk verwirklichen kann – das war schon ein wenig mein Traum.» Aber so richtig verfolgt hat er diesen Traum nicht. «Irgendwann, wenn ich älter bin», habe er sich immer gedacht. Als ihn der Vermieter des Raumes bei der eher zufälligen Besichtigung jedoch darauf hinwies, dass Erny nun schliesslich schon an die 50 sei, packte dieser die Gelegenheit beim Schopf. Einen Versuch nennt er das. «So eine Chance hab ich vielleicht nie mehr und ich würde es ewig bereuen, wenn ich es nicht wenigstens probiert hätte.» Nicht nach etwas Bestimmten zu suchen, sondern einfach zu nutzen, was sich ergibt, das kann Basil Erny. Dieser Fähigkeit verdankt er, dass er seine Zeit mit Tätigkeiten verbringt, die viele als Wunschjobs bezeichnen. So war Erny jahrelang mit dem Zirkus Wunderplunder unterwegs. Eine Freundin hatte ihm davon erzählt, und dass da dringend Mitarbeiter gesucht würden. «Es war Zufall, dass ich da reingerutscht bin und merkte: Das Mit 26 schmiss Erny den Job hin, trat aus der Freikirche aus und macht Spass!», so Erny. Dieselbe Freundin beendete seine Beziehung. Dann begann er, wild auszuprobieren. wurde kurz darauf auch seine Partnerin, heute haben sie zwei Kinder zusammen. Als Schauspieler in der freien Theaterszene gestaltete Erny zudem alternative kam, dient ihm bis heute. Die Vielseitigkeit, die ein Primarlehrer an den Stadtführungen und führte die Leute durch die Geschichte der EinwanTag legen muss, konnte er immer gut brauchen: im Zirkus, für das Maderung in Basel. Auch Regiearbeiten hat Erny im Lebenslauf stehen. nagement der Band und heute für den Barakuba-Club, den er im AlÄhnlich verlief es mit der Musik: Als Kind hatte Erny zwar Cello spieleingang führt. len gelernt – ein Instrument, das für Auftritte im Zirkus allerdings zu Auch seine Eltern akzeptieren heute, dass er sich nicht dem urwenig handlich war. Also begann er Handorgel zu spielen und tourte sprünglich vorbestimmten Weg gefügt hat. «Wohin ich gehe, ist ihr am darauf mit einer Strassenband. Seit zehn Jahren ist er jetzt erfolgreich Ende nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie merkt, dass es mir gut geht», mit der Famiglia Rossi unterwegs. Und als deren Sängerin und Bassistin erzählt Erny etwa über seine Mutter, die zusammen mit seinem Vater auf die Gitarre umsattelte und der Platz am Kontrabass frei wurde, lernheute Stammgast ist im Barakuba. te Basil Erny eben auch diesen spielen. Wenn Basil Erny von sich erzählt, lacht er viel. «Wenn ich etwas NeuWährend andere ehrgeizig ihr Leben lang auf etwas Bestimmtes hines gebaut habe, kann ich mich noch lange drüber freuen», sagt er. Und arbeiten, steckt Ernys Leben voll unerwarteter Traumerfüllungen. Das lobt sich scherzhaft selbst: «Toll! Super!» Er wisse zu schätzen, was er war aber nicht immer so. Früher, als Kind und Jugendlicher, stand das habe, und ergänzt: «Die grosse Gefahr ist, dass du das Geniessen verZiel noch fest: Primarlehrer wollte Erny werden, wie sein Vater einer gisst. Das ist enorm wichtig: geniessen und schätzen.» Gefragt, ob er ein war. «Das stellte ich gar nie in Frage», so der studierte Pädagoge Erny. glücklicher Mensch sei, antwortet Erny wie aus der Pistole geschossen: Die Ausbildung fiel ihm nicht schwer, alles lief von selbst. Er unterrich«Ja!» Man glaubt’s ihm gern. ■ SURPRISE 361/15
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Dalai Lama «Wir müssen zusammenleben» Der 14. Dalai Lama ist so etwas wie ein Rockstar der Spiritualität – und eines der grössten globalen Vorbilder unserer Zeit. In London sprach er mit dem Internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP exklusiv über Religion, Krieg – und darüber, was sein wird, wenn er nicht mehr da ist.
VON STEVEN MACKENZIE
Die Bilder Tausender verzweifelter Flüchtlinge, die vor Krieg und blutigen Unruhen fliehen und Schutz in Europa suchen, sind schon fast Alltag geworden. Manche Länder machen die Grenzen dicht, anderen könnte ein böses Erwachen aus dem gemeinsamen Traum der Willkommenskultur drohen. Klar ist: Die Welt braucht eine vereinende Stimme. Könnte der Dalai Lama diese Stimme sein? Auch für viele Nicht-Buddhisten haben die Worte des 80-jährigen Oberhaupts der Tibeter Gewicht, ist er eine moralische Instanz. Als er im Juni mit der US-Sängerin Patti Smith am legendären Glastonbury-Festival auf die Bühne trat, begrüssten ihn Zehntausende mit einem Geburtstagsständchen. Und auf Twitter hat der Dalai Lama 12 Millionen Follower. Man vergisst leicht, dass dieser spirituelle Rockstar selbst ein Flüchtling ist, der den Grossteil seines Lebens im Exil verbracht hat. 1935 in Tibet unter dem Namen Lhamo Dhondrub geboren, wurde er im Alter von zwei Jahren als Reinkarnation des 13. Dalai Lama identifiziert und lebte ab seinem sechsten Lebensjahr bei Mönchen. Mit 15 wurde er zum Oberhaupt Tibets erklärt, 1959 flüchtete er vor der gewaltsamen Unterdrückung des tibetischen Aufstands durch chinesische Truppen nach Indien. Seitdem lebt er in Indien im Exil. Seine aktuelle Welttournee führte den 14. Dalai Lama nach London, wo ihn die Strassenzeitung The Big Issue zum Gespräch getroffen hat. Eure Heiligkeit, Sie sind wohl der berühmteste Flüchtling der Welt. Nachdem Sie vor so langer Zeit vertrieben wurden, haben Sie etwas anderes als einen geografischen Ort zu Ihrer Heimat gemacht? Es gibt ein ziemlich weises tibetisches Sprichwort: «Zu Hause ist, wo du glücklich bist, und deine Eltern sind jene, die gut zu dir sind.» Natürlich habe ich eine besondere Beziehung zu Indien, und ich mag Europa. Da ist es wenigstens sauber! Schau dich um und sieh dir deine Brüder und SURPRISE 361/15
Schwestern an, dann fühlst du dich ihnen nahe. Die Betonung sollte nicht auf «Ich bin Tibeter» oder «Ich bin Buddhist» liegen. Dadurch schafft man selber Distanz. Fühlen Sie sich verbunden mit den Menschen, die aus Syrien und anderen Ländern fliehen? Ja, natürlich. Wenn ich neue Flüchtlinge treffe, erwähne ich immer, dass ich selbst ein alter Flüchtling bin! Es handelt sich um ein vom Menschen verursachtes Problem, das verschiedene Ursachen hat. Früher waren das hauptsächlich politische Gründe – verschiedene Staaten waren gegeneinander negativ eingestellt, und eine grosse Zahl von Menschen wurde zu Flüchtlingen. Heutzutage sind die Ursachen für die Flüchtlingsströme religiöser Art. Wegen unterschiedlicher Glaubensrichtungen zu töten ist unvorstellbar. In allen religiösen Überlieferungen ist die Rede von Mitgefühl, Liebe, Vergebung, Toleranz. Aber diese anderen Auffassungen von Religion spalten die Menschen und führen dazu, dass sie sich gegenseitig umbringen. Das ist schrecklich. Alle Religionen predigen Frieden, werden aber oft dazu benutzt, um Krieg zu rechtfertigen. Haben Religionen eine dunkle Seite, die manche Menschen anzieht? Oder existiert diese dunkle Seite in uns allen? Was die Religion angeht, gibt es keine dunkle Seite. Das Konzept, dass es eine einzige Wahrheit, eine einzige Religion gibt, besteht seit Jahrhunderten. Hier unterscheide ich stets: Für ein Individuum ist das Konzept von der einen Wahrheit sehr nützlich. In Bezug auf die Gemeinschaft ist es jedoch unrealistisch. Dort sollte es das Konzept von mehreren Wahrheiten und mehreren Religionen geben. Heute beläuft sich die muslimische Bevölkerung auf ungefähr eine Milliarde und die christliche auf über eine Milliarde, dazu kommen rund 600 Millionen Hindus und vielleicht 800 oder 900 Millionen Buddhisten. Wir können uns nicht gegenseitig auslöschen.
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BILD: SIMON MURPHY
Das hält einige nicht davon ab, es zu versuchen. Wir müssen zusammenleben. Es ist viel besser, sich gegenseitig zu respektieren, einander zu verstehen und in religiöser Harmonie zu leben. Es ist möglich. Wir müssen daran arbeiten. Ich bin voll und ganz der religiösen Harmonie verpflichtet und engagiere mich dafür.
Papst Franziskus ist jetzt auch auf Twitter. Glauben Sie, er hat es Ihnen nachgemacht? Ich weiss es nicht. Er wird als Reformer gesehen. Glauben Sie, dass Sie die Richtung beeinflusst haben, welche die katholische Kirche eingeschlagen hat? Auch das weiss ich nicht. Der Papst hat Änderungen an der Bürokratie im Vatikan vorgenommen, was sehr gut ist. Er spricht auch mit Nachdruck über Umweltprobleme, was ich wunderbar finde. Ich be-
Sie sagen, man könne von Europa nicht erwarten, dass es alle Flüchtlinge aufnimmt. Dass die Probleme in den Ländern gelöst werden müssten, aus denen die Menschen fliehen. Wie ist das ohne militärisches Eingreifen möglich? Momentan sieht es unmöglich aus. Die vollumfängliche Veränderung einer Situation ist «Was die Religion angeht, gibt es keine dunkle Seite. Das Konzept, unmöglich. Veränderungen geschehen schrittdass es eine einzige Wahrheit gibt, besteht seit Jahrhunderten.» weise. Wir müssen mit einer optimistischen Einstellung daran arbeiten. Im einen Moment wundere ihn dafür, dass er einen deutschen Bischof entlassen hat, der sehen sich zwei Gruppen gegenseitig als Feinde an, und der Sinn steht in der Kirche Genügsamkeit predigte, aber privat selbst sehr teure Möihnen nicht nach Versöhnung. Aber sie müssen es versuchen. Versuchen. bel und derartige Sachen hatte. Wenn dasselbe mit einem abtrünnigen Miteinander reden. Sich treffen. Neun Fehlschläge, neun neue Versuche. tibetischen Mönch geschehen würde, sollte das Oberhaupt den Mund aufmachen und eingreifen! Solches Verhalten würde sich sehr schädSie haben vor Kurzem auf Twitter geschrieben, es sei unrealistisch lich auf die buddhistische Lehre auswirken, und es ist wichtiger, diezu denken, Gebete und Wünsche allein könnten die Zukunft der se aufrechtzuerhalten, als Freundschaften mit bösartigen Leuten zu Menschheit sichern. Es müsse gehandelt werden. Durch soziale Mepflegen. dien kann man leicht gute Wünsche zum Ausdruck bringen, Solidarität zeigen und Unterschriften sammeln – aber vermitteln sie das Erfahren Sie jetzt mehr als in den letzten Jahrzehnten darüber, was falsche Gefühl, man habe Gutes getan? in Tibet passiert, weil die Technologie es den Menschen ermöglicht, Ja, echte Veränderungen werden durch Taten bewirkt, nicht durch fromsich über ihr Leben mitzuteilen? me Wünsche oder Gebete. Wenn wir Gott sehen könnten, würde er Ich sehe mich als freie Stimme der Tibeter. Um sie zu repräsentieren, vermutlich sagen: «Probleme? Ihr habt damit angefangen, ihr müsst sie muss man die Lage vor Ort und die wahren Gefühle und Anliegen der lösen! Ich habe nicht diese Probleme, sondern mitfühlende Menschen Menschen kennen. Vor 1979 kam gelegentlich mal ein Flüchtling, sonst geschaffen!»
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war es ziemlich schwierig. Seit die Politik der offenen Tür 1979 eingeführt wurde, können Tibeter von ausserhalb – wenn auch mit Einschränkungen – nach Tibet reisen und ihre Verwandten treffen, auch wenn dies mit vielen Auflagen verbunden ist.
Wenn Sie das sagen! Der Mensch ist im Grunde genommen von Natur aus mitfühlend. Jedes Kind ist ein unbeschriebenes Blatt. Wenn eine Mutter vor dem Kind ein
«Wenn wir älter werden, wägen wir ab, wie viel wir sagen und wie viel Die chinesische Wirtschaft ist nicht mehr so stark und stabil, wie sie es einmal war. Glauwir verbergen sollen. So entstehen Argwohn und Misstrauen.» ben Sie, dass es eine Krise geben könnte? Ich weiss es nicht. Manche sagen, die momenböses Gesicht zieht, wird es Angst haben. Kinder mögen Lächeln! Glautane wirtschaftliche Krise habe mit dem politischen System zu tun. Mich be, Nationalität, Herkunft sind ihnen egal. Erwachsenen nicht. Man kamen ein paar chinesische Bauern und Arbeiter besuchen. Aus ihren setzt ihnen in den Kopf, Geld, Macht, religiöse Unterschiede und GlauGesichtern konnte ich ablesen, dass sie Probleme hatten. Ich war bebe seien wichtiger. Die Macht dieser grundlegenden kindlichen Natur sonders aufmerksam und habe sie nach ihrer Lage gefragt. Es war wirkwird geschwächt. lich sehr traurig. Das Einzige, was die Beamten vor Ort interessiert, ist Geld. Sie nutzen ihre Stellung aus, um Geld zu machen, und nicht etwa, Also sollten wir öfter lächeln? um sich um die Leute in ihrem eigenen Gebiet zu kümmern – obwohl Die Gefühle und den Verstand zu studieren sollte als akademisches und es ein sozialistisches Land ist. Die kommunistische Partei sollte eine nicht als religiöses Thema betrachtet werden, vom Kindergarten bis zur Partei des Volkes sein. Das chinesische Gerichtswesen sollte in ÜbereinUni. Ich glaube, dass die Generation des 21. Jahrhunderts eine andere stimmung mit internationalen Standards gebracht werden. Das ist sehr Welt sehen wird, wenn wir jetzt etwas dafür tun. wichtig. ■ China hat vor Kurzem Konzerte der Band Bon Jovi abgeblasen, weil diese zuvor ihre Unterstützung für Sie bekundet hatte. Eine engstirnige und kurzsichtige Entscheidung, die eine grössere Perspektive vermissen lässt. Ein weiteres Hindernis ist die Zensur: 1,3 Milliarden Chinesen haben alles Recht der Welt, die Realität zu kennen. Wenn sie die Realität einmal kennen, können sie auch beurteilen, was richtig ist und was falsch. Zensur, verzerrte oder vorenthaltene Informationen, ist komplett falsch. Man kann, angesichts der heutigen modernen Technologien, Informationen sowieso nicht hundertprozentig kontrollieren. Die jüngere Generation hat besseren Zugang zu der Welt da draussen, und sie denken ganz anders. Und dann bringt es die Regierung und die Führer in Ungnade. Es ist unklug. Die Mentalität der älteren Generation hängt sehr stark zusammen mit einer Mentalität aus Kriegszeiten – Heimlichtuerei, Unterdrückung, Verdächtigungen sind zu einem Teil ihres Denkens geworden. Chinas Präsident Xi Jinping scheint zu begreifen, dass dieses Denken veraltet ist, daher ändert sich bestimmt etwas. Wird es nach dem Ende Ihrer Zeit als spirituelles Oberhaupt und vor der Amtsübernahme durch Ihren Nachfolger eine Leere geben? Nein, da mache ich mir keine Sorgen. Ich sagte schon vor 45 Jahren, es liege in der Entscheidung der Menschen, ob das Amt des Dalai Lama fortbestehen soll oder nicht. Ich mache mir darüber keine Gedanken. Die richtige Art und Weise, Buddha Dharma aufrechtzuerhalten, ist studieren und praktizieren. Es gibt zum Beispiel keine Reinkarnation Buddhas, aber er lehrt inzwischen seit mehr als 2000 Jahren. Die jüngere Generation kann unsere Traditionen fortführen, ob es nun einen Dalai Lama gibt oder nicht. Das ist egal. Wenn Sie sich eine grundlegende soziale Veränderung aussuchen könnten, die Sie zu Lebzeiten auf der Welt sehen möchten: welche wäre es? Ich lebe vielleicht noch 15 bis maximal 30 Jahre. Eine grosse Veränderung in den nächsten 30 Jahren halte ich für schwierig. Das moderne Bildungssystem orientiert sich sehr stark an äusseren Werten und kümmert sich nicht um die inneren Werte. Unsere inneren Werte basieren normalerweise komplett auf religiösen Überzeugungen, aber inzwischen sind von sieben Milliarden Menschen mehr als eine Milliarde nicht gläubig. Und unter den Gläubigen gibt es auch ein paar Betrüger – zum Beispiel der deutsche Bischof, den ich erwähnt habe! Wenn wir älter werden, wägen wir ständig ab, wie viel wir sagen und wie viel wir verbergen sollen. Dadurch entstehen Argwohn und Misstrauen, und Misstrauen ist der grösste Feind des Mitgefühls, oder etwa nicht? SURPRISE 361/15
Aus dem Englischen von Julie Mildschlag.
Mit freundlicher Genehmigung von INSP News Service / The Big Issue, Glasgow www.insp.ngo
Ein Leben im Exil Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, wurde am 6. Juli 1935 in einem kleinen Dorf in der chinesischen Provinz Qinghai geboren. Seine Eltern, die ihn Lhamo Dhondrub genannt hatten, waren Bauern. Als er zwei Jahre alt war, erkannte ihn ein Suchtrupp buddhistischer Geistlicher als Reinkarnation des vorherigen, 13. Dalai Lamas. Noch vor seinem vierten Geburtstag wurde er inthronisiert. Danach wuchs er im Kloster auf und erwarb den akademischen Grad Geshe Lharampa, ein Doktorat in buddhistischer Philosophie. 1950, als er 15 Jahre alt war, marschierte die Armee des kommunistischen Regimes unter Mao Zedong in Tibet ein. Der Dalai Lama floh nach Indien und liess sich in Dharamsala nieder, wo heute die tibetische Exilregierung ihren Sitz hat. Etwa 80 000 Tibeter folgten ihm ins Exil. Dort begann der Dalai Lama mit seiner Arbeit, die Kultur der Tibeter zu bewahren und ihre Notlage weltweit bekannt zu machen. Der Dalai Lama befürwortet einen «mittleren Weg» zur Lösung der Tibetfrage, setzt sich also für die Autonomie Tibets innerhalb der Volksrepublik China ein. Er bekennt sich zum gewaltlosen Widerstand und erhielt dafür 1989 den Friedensnobelpreis. Im März 2011 erklärte der Dalai, dass er fortan nicht mehr als politisches, sondern nur noch geistliches Oberhaupt agieren würde. Ein taktischer Schachzug, denn viele Staatschefs fürchten bei Treffen mit dem Dalai Lama die Reaktion der chinesischen Regierung.
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BILD: SOCIAL MUSCLE CLUB/MARTIN ZELLER
So kann eine Weiterbildung in Sachen Sozialkompetenz aussehen.
Theaterevent Raus aus der Komfortzone Der Social Muscle Club ist ein intensives Aufbautraining für das zwischenmenschliche Bindegewebe. Das Kunstprojekt macht mit einem wechselnden Programm aus Performances, Musik und Interaktion seine Gäste fit für den Sprung über den eigenen Schatten.
VON MONIKA BETTSCHEN
Ganz ehrlich, ich weiss nicht, wie es um meine Sozialkompetenz bestellt ist. Um das herauszufinden, besuche ich an diesem Abend Ende August den Basler Social Muscle Club in der alten Markthalle. Wie es sich für ein gutes Training gehört, beginnt die erste Einheit mit einer kurzen Beurteilung meiner persönlichen Kondition. Dies geschieht gleich beim Eingang in einem Holzhäuschen, wo ich einem jungen Mann im dunklen Anzug gegenübersitze. Er fragt nicht nach meinem Ruhepuls, sondern nach Dingen, die selbigen in die Höhe treiben: «Wo-
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vor fürchtest du dich am meisten?», möchte er etwa von mir wissen. Ich fühle mich ein bisschen wie in der Zollabfertigung und gebe schliesslich zu Protokoll, dass ich mich wohl am meisten vor Spinnen fürchte. «Gut, du kannst dich an den Tisch Nummer zwei in die Gruppe Naturängste setzen, viel Spass!», sagt er und stempelt eine blaue 2 auf mein Handgelenk; mein Visum, um mich in dieser schrill und knallbunt dekorierten Begegnungszone frei zu bewegen. Etwas später hat es auch meine gute Freundin Romanie aus Zürich durch die Schleuse geschafft. Da sie sich vor anderen Dingen fürchtet als ich, wird sie einem anderen Tisch zugeteilt. Für die nächsten StunSURPRISE 361/15
den verlieren wir uns aus den Augen, was wir erstaunlicherweise kaum bemerken. Im Gegenteil: Durch die Tischaufteilung sind wir gleich von Anfang an neugierig und bereit, uns auf ungewohnte Situationen und andere Menschen einzulassen und merken nicht einmal, dass wir gerade über den eigenen Schatten gesprungen sind. Die erste Übung ist geschafft, die sozialen Muskeln aufgewärmt. Wir sind gespannt auf das eigentliche Training. Bevor es richtig losgeht, gesellt sich ein Tisch-Host zu jeder Gruppe, um den einzelnen Teams die nächsten Schritte zu erklären. Die Instruktorin an meinem Tisch heisst Sandra und leitet uns mit viel Engagement an, je zwei Zettel und einen Stift zu nehmen. Auf einen Zettel schreiben wir auf, was wir jemandem schenken möchten, auf den anderen, was wir uns wünschen. «Praktisch nichts ist unmöglich. Von Zaubertricks über Sprachkurse bis hin zu Umarmungen war schon alles dabei», ermutigt uns Sandra. Schnell füllt sich das Körbchen auf dem Tisch mit Angeboten.
neu ist. Bereits in den Dreissigerjahren formierte sich im englischen Sheffield ein Arbeiterclub, in dem sich die Mitglieder zur Unterhaltung trafen und sich gegenseitig soziale Hilfe anboten. «Dieser Club ist eine historische Inspiration. Der eigentliche Ursprung liegt aber im Bedürfnis eines Freundeskreises, sich weiterzuentwickeln», sagt Benedikt Wyss. Im Mai feierte der Social Muscle Club in Basel Premiere. Ein 14-köpfiges Kollektiv organisiert seither diese fast immer ausverkauften Anlässe. Alle bringen sie unterschiedliche Fähigkeiten in die Planung mit ein und stellen damit sicher, dass sich der Club laufend weiterentwickelt. Ausserdem hinterfragen die Organisatoren regelmässig, ob sie auch selber wagen, was sie von ihren Gästen fordern. «Abseits der grossen Veranstaltungen treffen wir uns zu spontanen Aktionen mit offenem Ausgang. Eine Art lustvolle Selbstreflexion. So können wir beim Planen unserer Projekte auch die Berührungsängste unserer Gäste besser nachvollziehen und berücksichtigen. Und wir rücken als Gruppe näher zusammen», sagt Benedikt Wyss. Die Vision ist, dass aus den Clubs eine länderübergreifende Bewegung entsteht, die innerhalb der urbanen Räume spielerisch die Kommunikation zwischen Generationen und Schichten anregt. Für 2016 planen Wyss und sein Team, das Konzept aus der Basler Markthalle hinaus und noch näher zu den Leuten zu bringen, zum Beispiel in soziale Institutionen wie Schulen oder Gefängnisse, aber auch in Ausstellungsräume oder Restaurants, in ganz unterschied-
Golfen mit Tim Nur mit dem Wünschen tun wir uns etwas schwer. Wir diskutieren angeregt, warum uns das derartige Schwierigkeiten bereitet, und kommen zum Schluss, dass man halt viel von sich preisgibt, wenn man vor Fremden einen konkreten Wunsch formuliert. Letztendlich füllen sich dann auch diese Zettel, landen bei den Angeboten in der Tischmitte, und nun beginnt der Mit dem Wünschen tun wir uns schwer. Wir kommen zum Schluss, dass eigentliche Spass: In zwei Durchgängen ziehen halt viel von sich preisgibt, wer vor Fremden einen Wunsch formuliert. alle nacheinander einen Zettel und lesen ihn vor. Angebote und Wünsche werden im Minuliche soziale Kontexte. Der Social Muscle Club verkörpere für ihn sehr tentakt vermittelt, Adressen und Handynummern ausgetauscht, damit vieles, was Kunst ist und was Kunst alles sein könne, so Wyss. «Er ist den geschriebenen Worten auch Taten folgen können. So freue ich mich ein umarmendes Kunstprojekt, das die Menschen bewegt, betroffen zum Beispiel auf einen Stadtrundgang und eine Golfstunde mit Tim aus macht und sie gleichzeitig in ihrem Bedürfnis abholt, frei von Zwängen Basel, der mir an diesem Abend gegenübersitzt. «Mir gefällt es, dass andere Menschen zu treffen. Ich wollte Teil davon werden und diese man hier gezwungen wird, seine Komfortzone zu verlassen, um in dieIdee in Basel weitertragen», sagt der Künstler, der auch als Kurator und ser offenen und warmherzigen Atmosphäre neuen Leuten zu begegHistoriker tätig ist. nen», sagt er. Und Romanie, die mich zu diesem Anlass begleitet hat, Wie gut diese Idee, aus Beschenken und Zusammensein eine von findet: «Ich habe ein organisiertes Chaos erwartet, was es auch ist, und Performances und Musik umrahmte Party zu gestalten, funktioniert, zwar in einem sehr positiven Sinn. Man wird aufgefordert, aus sich herwird von Stunde zu Stunde offensichtlicher. Es ist bemerkenswert, wie auszugehen, dies aber auch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit. Das alschnell die einzelnen Gruppen zu kleinen, eingeschworenen Schickles hat Workshop-Charakter: überbordende Ideen, Aktionen und Chaos salsgemeinschaften zusammengewachsen sind. Es scheint, als habe die vermengen sich, und trotzdem ist alles geleitet.» Ich schliesse mich ihTatsache, dass man mit seinen Tischgenossen vergleichbare Ängste rem Urteil an. teilt, schon ein erstes zartes Gemeinschaftsgefühl erzeugt. OrganisatoAngebote, die am Tisch keinen Abnehmer finden, werden in die grosren und Teilnehmer schaffen während der Dauer der Veranstaltung ein se Runde hinausgerufen, und so kommt es schliesslich auch gruppenGesamtkunstwerk, das laufend neue Wendungen nimmt. Das Ganze übergreifend zu zahllosen glücklichen Treffern. Für grosses Aufsehen wird getragen von einer beflügelnden Gruppendynamik. Es wird viel sorgt etwa der Wunsch eines jungen Mannes nach einem neuen Tattoo. gelacht, der Lärmpegel ist dementsprechend hoch. Mitten im Anlass beTatsächlich befindet sich an einem der Tische ein professioneller Tätoschenkt Romanie die Gäste spontan mit Edith Piafs Klassiker «Non, je wierer, der ihm gleich vor Ort seinen Wunsch erfüllt. Und während das ne regrette rien». Auch ich bereue nichts, schon gar nicht, dass ich mich Surren der Nadel den Raum erfüllt, geht das Geben und Nehmen in den auf dieses Training der besonderen Art eingelassen habe. Die soziale Gruppen munter weiter. «Hier finden Leute zusammen, die sich sonst Fitness ist gestärkt, der Sprung über den eigenen Schatten gelingt mir vielleicht nie getroffen hätten», sagt der Künstler Benedikt Wyss, der die immer besser. Idee hinter dem Social Muscle Club (SMC) in Berlin kennengelernt und ■ nach Basel gebracht hat. «Der Social Muscle Club macht das Teilen zum Erlebnis. Er ist ein soziales Experiment mit offenem Ausgang. Die unterschiedlichsten Menschen begegnen sich in einem vorgegebenen, jedes Mal etwas anderen Rahmen. Hier können sie sich frei bewegen.» Arbeiterclub aus den Dreissigern Während eines Auslandsemesters in der deutschen Hauptstadt vor zwei Jahren hat Wyss eine solche Veranstaltung mit einem Freund besucht und war überwältigt. «Auf dem Flyer stand ‹100% Interaktion›. Gerade weil wir beide nicht die Typen dafür waren, wollten wir uns an diesem Abend darauf einlassen», erinnert er sich. Mittlerweile veranstaltet die SMC-Künstlergruppe Berlin-Basel-Bristol in diversen europäischen Städten Social Muscle Clubs. Wobei die Idee dahinter nicht ganz SURPRISE 361/15
Social Muscle Club: Fr, 6. November, 19 Uhr, alte Markthalle Basel. www.socialmuscleclub.ch
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Nachhaltigkeit Vegan ist auch keine Lösung Bio kaufen und vegan essen macht einen noch nicht zum besseren Menschen, findet die erfolgreiche Köchin Sarah Wiener. Die vegane Industrie produziere genauso falsch wie das Fleischsystem. VON SARAH WIENER (TEXT)
nen Verzicht verbessert er auch nichts an den üblen Verhältnissen in der Nahrungsmittelproduktion. Denn: Vegan zu leben fördert weder die Nachfrage nach Produkten aus einer anständigen Tierhaltung noch die nach natürlichen, ökologisch erzeugten Lebensmitteln aus der eigenen Region. Im Gegenteil: Auch vegane Industrieprodukte lassen Böden erodieren, versauen das Klima und vergiften das Wasser. Das System, in dem sie entstehen, ist ebenso grundlegend falsch wie das System der Fleischproduktion. Natürlich gibt es auch unter Veganern Menschen, die auf Fertigprodukte und industrielle Lebensmittel verzichten, die sich biologisch und regional ernähren. Aber auf dem Trendmarkt Veganismus boomen eben auch all die Kunstprodukte von Seitan-Truthahn bis Soja-Hamburger.
Essen ist etwas Kostbares. Ein Genuss! Allerdings haben heute viele das Geniessen verlernt. Weil wir mit unserem Körper, mit unserer Seele nicht mehr verbunden sind, essen wir oft nebenbei. Wir kauen viel zu wenig, wir schlingen. Und denken nicht darüber nach, was wir essen, sondern stopfen uns voll mit hochverarbeitetem Fast Food. So mancher hat zu seinem Auto ein innigeres Verhältnis als zu seinem Körper. Billig-Benzin, das dem Motor schadet, will keiner in sein Fahrzeug pumpen. Aber das Billigindustrieöl im Essen: nur rein damit! Der nächste Punkt ist: Wir essen zu viel Fleisch. In den Industrieländern ist das die grösste Ernährungssünde. Denn dieses Fleisch kommt ganz überwiegend aus tierquälerischer Haltung. Und wir unterstützen so ein Massentierhaltungssystem, das die Würde der Tiere mit Füssen tritt und der Vegane Ersatzprodukte sind ein Tor für die Nahrungsmittelindustrie, Umwelt massiv schadet. Zudem spitzt unser um noch mehr künstliche Lebensmittel auf den Markt zu werfen. hoher Fleischkonsum die globale Ernährungsungerechtigkeit weiter zu. Die Menschen in Ich glaube, dass sich viel Angst und Unsicherheit in unseren EssgeSüdamerika zum Beispiel leiden unter unserem immensen Fleischhunwohnheiten ausdrückt. Nahrung wird uns zur Ersatzreligion. Wir stelger – denn die Felder, auf denen Getreide und Früchte wachsen sollten, len strenge, zum Teil absurde Essensregeln auf, durchleuchten Speisedienen nur dem Anbau von Futtermittel. Machen wir so weiter mit dem pläne bis ins letzte Molekül, unterwerfen uns Verboten für bestimmte Fleischessen, brauchen wir bald eine zweite Erde. Nahrungsmittelgruppen – nur, um zumindest ein bisschen Kontrolle Und trotzdem ist dies kein Aufruf, sich dem Trend zur veganen Erüber unser zunehmend komplexes Leben zu gewinnen. Die Nahrungsnährung anzuschliessen. Denn leider rettet auch sie nicht die Welt. Sie mittelindustrie seziert unser Essen wie Frankenstein seine Leichen. Und garantiert noch nicht einmal eine gesunde und nachhaltige Ernährung. dann baut sie es wieder zusammen und serviert es als sterilisierte In den letzten Monaten habe ich vegetarisch gelebt. Ich esse generell Kunstprodukte, angereichert mit Aromastoffen, Geschmacksstoffen, schon wenig Fleisch, aber zuletzt, während einer Auszeit in SüdameriFarbstoffen und Emulgatoren – um am Ende ein bestimmtes Bissgefühl ka, habe ich ganz auf Tierisches verzichtet. Bis auf den einen oder anund den gewünschten Look zu schaffen. Als Beispiel dafür muss man deren Milchbrei, den ich mir ab und zu gemacht habe. Und hier und da gar nicht so extreme Auswüchse heranziehen wie tierfreie Shrimps oder ein Löffelchen Honig. milchfreien Käse. Es fängt schon bei einer schlichten Sojamilch an. KoWarum mein Verzicht auf Fleisch und Tier-Produkte? Ganz einfach: chen und drücken Sie Sojabohnen einmal aus – die Brühe ist kaum Ich konnte mir nicht sicher sein, dass die Tiere artgerecht gehalten wurtrinkbar, die möchte sich niemand in seinen Latte Macchiato kippen. den. Was sie zu fressen bekamen. Bio steckt in Südamerika noch in den Die Sojamilch, die heute in jedem Supermarkt steht, ist ein hochverarAnfangsschühchen, Transparenz in der Lebensmittelkette ist dort noch beitetes Industrie-Produkt – und in etwa so künstlich wie eine Cola. ein Fremdwort. Für mich ist es kein Genuss, in den Schenkel eines Huhns zu beissen, das weder Sonne noch Wind gespürt hat, dessen Selber kochen mit natürlichen Zutaten Schnabel amputiert wurde und das schon nach wenigen Tagen sein KörDas Schlimme ist: Vor stark industrialisierten Nahrungsmitteln ist pergewicht kaum mehr tragen konnte. In ihrem kurzen Leben bekomman heute in keinem Supermarkt mehr sicher. Auch bei Bio entdeckt men Hähnchen bis zu acht verschiedene Antibiotika – bei einer 40-tägider clevere Stratege, dass man nicht unbedingt Idealist und Überzeugen Mast also statistisch gesehen jeden vierten Tag! Solches Fleisch will gungstäter sein muss, um am Bio-Trend mitzuverdienen. Geld regiert ich nicht essen, aus ethischen Gründen. Und als Köchin würde es mich die Welt. ekeln, es zuzubereiten. Sicher, in Bio-Lebensmitteln sind immerhin viel weniger Zusatzstoffe erlaubt sowie Pestizide und Mineraldünger verboten. AnbauverbänTrendprodukte Seitan-Truthahn und Soja-Hamburger de garantieren hohe Standards. Aber ansonsten: Auch dort steht viel Ich habe Respekt vor Menschen, die aus Achtung vor dem Tier auf Industrielles in den Regalen. Und im konventionellen Handel? Ein GrauFleisch und alles andere Tierische verzichten. Sie sind zu Recht wütend en, das ich nicht als geniessbar bezeichnen würde: Eingeschweisste, über die Zustände in der Landwirtschaft. Was mich aber stört, ist die normierte und schrill verpackte Aufforderungen, die schreien: Kauf Haltung vieler, die glauben, allein der Verzicht auf alle tierischen Promich! Friss mich! Nimm zwei von mir! Vorne drauf ein Bild, das der Redukte sei die richtige Antwort. alität Hohn spottet. Was wirklich drinsteckt, ist so klein aufgedruckt Vegane Ernährung ist auch keine Lösung des Grundproblems. So und ellenlang, dass es kaum zu lesen ist – und wenn doch, versteht man mancher Veganer baut sich da schlicht eine Parallelwelt auf. Er lässt trotzdem nichts. zwar keine Tiere melken, schreddern oder schlachten. Aber durch sei-
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BILD: CHRISTIAN KAUFMANN
Vegane Ersatzprodukte sind ein Tor für die Nahrungsmittelindustrie, um noch mehr künstliche, stark verarbeitete Lebensmittel minderer Qualität auf den Markt zu werfen.
«Ich glaube, dass sich viel Angst und Unsicherheit in unseren Essgewohnheiten ausdrückt»: Sarah Wiener.
Vegane Ersatzprodukte sind ein Tor für die Nahrungsmittelindustrie, um noch mehr künstliche, stark verarbeitete Lebensmittel minderer Qualität auf den Markt zu werfen. Aber je gezielter und selbstverständlicher wir unsere Nahrungsmittel nach unserer Vorstellung kreieren, desto mehr entfernen wir uns von der Natur – und damit von unseren Wurzeln. Für mich stellt sich durchaus die Frage, ob es nicht unser Schicksal ist, auch Tiere zu essen – weil wir Allesfresser sind, weil wir bestimmte tierische Enzyme brauchen, um gesund zu bleiben, und weil der Tierdung unsere Felder düngt. Doch eines muss klar sein: Unsere Bestimmung ist sicher nicht, Tiere wesensfremd zu halten und zu füttern – und ihnen keinen würdevollen Platz als Mitgeschöpfen einzuräumen. Was will ich damit sagen? Es ist nicht einfach mit der richtigen Ernährung in diesen Zeiten. Wir haben alle schon genug Stress zuhause SURPRISE 361/15
und im Job. Wir können nicht alle zu Ernährungsexperten werden. Die Lösung aber ist ganz einfach. Denn die simpelsten Wahrheiten sind immer noch die besten: Kochen Sie selber und mit natürlichen Zutaten. Kaufen Sie saisonal und regional. Und essen Sie nur ab und zu ein Stückchen Fleisch – aus artgerechter Tierhaltung. ■
Sarah Wiener, 52, wuchs in Wien auf und eröffnete 1999 in Berlin ihr erstes Restaurant. Heute führt sie ein Unternehmen mit 100 Mitarbeitenden und bezeichnet sich als «Köchin für nachhaltigen Genuss».
Dieser Beitrag stammt aus dem Magazin «enorm – Wirtschaft. Gemeinsam. Denken.» 03/15 und erscheint mit freundlicher Genehmigung.
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Layla Abyad, Sahera Dirbas, Dymtro Tiazhlov, Naama Noach und Alina Rudnitskaya (v.l.) unter Platanen in der Winterthurer Altstadt.
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Film Nur für kurze Zeit Im November finden in Winterthur die 19. Internationalen Kurzfilmtage statt. Auf dem Programm stehen auch fünf Werke, die erst kurz zuvor entstehen – gedreht und geschnitten von fünf Filmschaffenden aus verschiedenen Krisengebieten. Sie suchen gemeinsam nach einem eigenen Blick auf die Schweiz.
VON EVA HEDIGER (TEXT) UND PHILIPP BAER (BILD)
Kunsthochschulen sowie der Fachschule für Tontechnik in Zürich. Für Recherche, Aufnahmen, Schnitt und Postproduktion steht nur ein Monat zur Verfügung. Der Zeitdruck ist gross: Bei der ersten Durchführung wurde der letzte Streifen erst zwölf Stunden vor der Premiere fertig. «Einen Film innerhalb von fünf Wochen zu realisieren, ist verrückt», sagt Naama Noach. Sie ist die Jüngste in der Gruppe, lebt in Tel Aviv und dreht Dokumentarfilme. Bereits während ihrem Bachelorstudium arbeitete sie mit Choreografen wie Gil Carlos Harush oder Maya Levi zusammen. Oft begleitete Noach Tänzerinnen und Tänzer mit der Kamera. So dokumentierte die Filmerin in diesem Jahr mehrere zeitgenössische Tanzvorstellungen, aber auch Ausstellungen wie «Echo» oder «Between Jaffa and Agripas». Wie die anderen besuchte auch sie am Vortag Zürich. Nach dem Stopp im Toni-Areal – Studierende der Zürcher Hochschule der Künste sind im Projekt involviert – zog Noach mit einer Schweizer Freundin weiter an die Aargauerstrasse. Dort stehen
«Diese Stadt könnte irgendeine im Westen Europas sein», sagt Dymtro Tiazhlov. Am Vortag ist der ukrainische Regisseur in Winterthur angereist, gemeinsam mit vier Damen, Berufskolleginnen, die ebenfalls aus Krisengebieten stammen: Palästina, Israel, Russland, Syrien. Die fünf sollen je einen Kurzfilm zum Thema «Im Exil» drehen. Premiere werden die Werke am 7. November feiern. Bereits 2011 waren fünf internationale Filmschaffende in Winterthur und realisierten in kürzester Zeit ebenso viele Werke. Das Projekt «5×5×5» war ein Erfolg, der Anlass so rasch ausverkauft, dass eine Zusatzvorstellung programmiert werden musste. Jetzt sitzen die diesjährigen Gäste an einem Tisch vor dem Bistro des Kulturzentrums «Alte Kaserne». «Bis auf ein paar Fakten wissen wir noch nichts über die Stadt», meint Sahera Dirbas. Sie staunt, dass Winterthur mit seinen gut 100 000 Einwohnern die sechstgrösste Stadt der Schweiz ist und es hier «Wir müssen an der hübschen Fassade Winterthurs kratzen.» über ein Dutzend Museen gibt. Die 51-Jährige Dymtro Tiazhlov, ukrainischer Filmemacher widmet ihre Filme der palästinensischen Geschichte und den palästinensischen Frauen. seit 2013 die sogenannten Verrichtungsboxen, mit denen die Stadt die Ihnen bringt Dirbas in Workshops die Erzählweise und Technik von DoSituation auf dem Strassenstrich entschärfen will. Von der Lösung ist kumentarfilmen bei. Wie die anderen wurde auch Dirbas von den Verdie Israelin so angewidert wie fasziniert. «Dass käuflicher Sex in der antwortlichen der «5×5×5»-Reihe direkt angefragt. Die Auswahl erSchweiz erlaubt und vor allem so geregelt ist! Für mich ist Prostitution folgte über Recherche und Empfehlungen. gleichzusetzen mit Vergewaltigung», gestikuliert sie wild. «Ich dachte In wenigen Tagen starten die fünf mit den Dreharbeiten. Bis dahin sofort: Das wäre ein Thema für einen Film! Gibt es so etwas auch in müssen die Geschichten recherchiert sein. Unterstützt werden die ReWinterthur?» gisseure von lokalen Mentoren, Studierenden und Dozierenden zweier SURPRISE 361/15
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Ausland oder im Norden des Landes auf. Dort ist die Lage sicherer. NaAlle fünf sind fiebrig auf der Suche nach einer Idee, der sie ihren he der türkischen Grenze arbeiten noch andere Medienschaffende. «Sie Kurzfilm widmen können. Hinter Noach eilt ein Pärchen kopflos über filmen in Syrien, produzieren die Beiträge dann in der Türkei fertig», erdie Strasse. Er ist dunkelhäutig, sie blond. Beide rauchen. «Das wäre eizählt Abyad. Im restlichen Land gebe es kaum mehr professionelle Mene Szene!», ruft Tiazhlov. Die anderen drehen sich um, stimmen zu. dienschaffende, die Berichterstattung werde von Laien übernommen. «Wir müssen an der hübschen Fassade Winterthurs kratzen», so TiAbyad will deshalb junge Journalistinnen und Journalisten ausbilden. azhlov. Er ist 1976 geboren, heimste bereits für seinen ersten Kino-Dokumentarfilm «I am a monument for myself» den Preis für den besten ukrainischen Doku«Es ist schwierig, eine Verbindung zwischen Syrien und der mentarfilm ein. Tiazhlov greift nie in das GeSchweiz zu finden.» Layla Abyad, syrische Filmemacherin schehen ein, verzichtet auf das Interpretieren und Erklären der Szenen. Vor der Abreise hat Ein fast unmögliches Unterfangen: «Wie sollen wir die Realität abbilden, der Ukrainer im Internet recherchiert, aber auch er hat ausser der Stadtwenn wir nicht durch das ganze Land reisen können?» geschichte und ein paar Zahlen nichts gefunden. «Vielleicht werde ich einen Film über die Volière im Stadtpark drehen!», scherzt er. Beim SpaKrieg in der Ferne ziergang hat der Regisseur die eingesperrten Zugvögel gesehen. «Wieso Abyad hat zwei Jahre in England studiert, schloss den Master in Film schliesst man in der kühlen Schweiz Vögel ein, die eigentlich der Wäran der Essex University 2011 ab. Nach dem Studium kehrte die Regisme nachfliegen? Die Tiere haben gefroren. Sie haben mich in ihrer Ausseurin nach Syrien zurück. Dort realisierte Filme wie «Father», «Sawa’s weglosigkeit an syrische Flüchtlinge erinnert.» Alle lachen. Auch die SyArk» und «Bukra Btitawad», die an zahlreichen internationalen Filmfererin, die unter ihrem Pseudonym Layla Abyad Filme dreht. stivals gezeigt wurden. Diese Arbeiten sind nicht nur für das syrische Über die Situationen in und die Beziehungen zwischen ihren HeiPublikum, sondern für die ganze Welt gedacht. «Klar fokussiere ich damatländern sprechen die Filmschaffenden kaum. Alle teilen sich eine bei auf die Lage in Syrien, das ist schliesslich meine Heimat», fügt sie Wohnung, scheinen sich bereits nach wenigen Tagen angefreundet zu an. «Wäre ich in Honolulu geboren, würde ich über die Probleme in Hahaben. «Das zeigt, dass die Konflikte politisch sind und nicht persönwaii berichten.» Abyad ist sich sicher: «Dieser Krieg könnte in jedem lich», so Alina Rudnitskaya. Die Russin besuchte erst die Akademie für Land der dritten Welt passieren. Kroatien und Afghanistan haben das Raumfahrttechnik, wechselte später an die Universität für Kultur und bewiesen.» Bereits als Jugendliche hat sie erlebt, wie ungerecht Krieg Kunst in St. Petersburg. Dort schloss sie 2001 in Filmregie ab. Sie drehist. Vor dem Ausbruch arbeitete Abyad als Volontärin für verschiedene te diverse preisgekrönte Dokumentarfilme, war Jurymitglied an zwei NGOs. «Tausende flüchteten aus Afghanistan zu uns.» Sie spricht über Filmfestivals. Im Gespräch ist die 39-Jährige zurückhaltend, still. die Hilfsgelder, die nie bei den Bedürftigen ankämen, wie sie sagt. «Ein Skandal, der niemanden interessiert.» Layla Abyad will nicht fliehen Auf ihren Reisen rücken die Geschehnisse in der Heimat aus den GeWerden die Kriege und Krisen die Kurzfilme prägen? «Es ist schwiedanken. «Wenn ich ins Flugzeug steige, verlasse ich den Kummer», so rig, eine Verbindung zwischen Syrien und der Schweiz zu finden», so Abyad. «An einem friedlichen und ruhigen Ort wie Winterthur wirkt der Abyad. Falls der Konflikt in den Kurzfilm einfliessen wird, dann auf abKrieg in Syrien fast unwirklich. Doch dann öffne ich Facebook und sestrakte Weise. Die anderen nicken. Sie diskutieren weiter über die he die neusten Einträge meiner Freunde und Familie.» Schweiz, wie aufgeräumt und still das Land wirke. «Es ist fast unmögDie Internationalen Kurzfilmtage Winterthur setzen nicht nur bei lich zu erkennen, ob ein Haus bewohnt ist oder nicht», so Abyad. Plötz«5×5×5» auf internationale Filmschaffende. Wie in der Vergangenheit lich platzt es aus ihr heraus: «Wieso bringen sich hier so viele Menschen hat das Festival auch in diesem Jahr einen sogenannten «Grossen Foum?» Drei Menschen pro Tag nehmen sich in der Schweiz das Leben; kus»: «Arab Encounters – Visions and Realities» vereint acht Kurzfilme das können die Eingereisten nicht verstehen. «Stand in den Medien arabischer Regisseure. «Land im Fokus» zeigt Werke aus Bhutan und Nenicht kürzlich, dass die Schweizerinnen und Schweizer die Glücklichpal und «Person im Fokus» ist das Künstlerduo Christoph Girardet und sten der Welt wären?», fragt Noach. Sie kann fast nicht nachvollziehen, Matthias Müller. Neben diesen Schwerpunkten werden im Schweizer dass Menschen aus persönlichen Gründen den Tod wählen. «Ich kenne und im Internationalen Wettbewerb Gewinner gekürt sowie ein Pronur politisch motivierte Suizide.» Sie denkt nach, fügt an: «Vielleicht gramm für Kinder und Jugendliche gezeigt. sind die Probleme hier weniger offensichtlich, viel persönlicher. Auch ■ wenn in Israel oft Unsicherheit herrscht, bin ich dort glücklich und möchte meine Heimat nie verlassen.» Auch Abyad will nicht fliehen. «Doch ich weiss, dass ich eines Tages vermutlich muss. Ich kann nicht bleiben und all meinen Besitz und meine Hoffnung verlieren.» Seit 2011 zerstört der Bürgerkrieg Land und Leben. Über 220 000 Menschen sind getötet worden, fast zwölf Millionen Syrer sind auf der Flucht. Knapp ein Viertel der Flüchtlinge hat das Land verlassen, so auch die meisten Freunde und Kollegen Abyads. «Für Journalisten ist es im Land besonders gefährlich», berichtet Abyad. Nach dem Abschluss ihres Journalismusstudiums 2007 an der Universität in Damaskus arbeitete sie als Dolmetscherin, Fotografin, Journalistin und Berichterstatterin für verschiedene Sender im arabischen Raum. Mit der Lage im Land habe sich auch der Journalismus verschlechtert. «Die Medien lügen», so Abyad. Die Berichterstattung werde manipuliert, verkomme zur reinen Propaganda: «Ich traue der Sprache nicht mehr.» Aus diesem Grund setzt die Syrerin jetzt auf Bilder, arbeitet als freie Dokumentarfilmerin. «So habe ich nur noch meine eigenen Regeln.» Doch in Damaskus Filme zu realisieren ist beinahe unmöglich und 19. Internationale Kurzfilmtage Winterthur, Di, 3. bis So, 8. November. sehr gefährlich. Deshalb ist die Regisseurin oft auf Reisen, hält sich im www.kurzfilmtage.ch
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«Unsere Bücher sind wie der Mond: schwer definierbar.» Ólafsson (l.) und Hjartarson in Reykjavik.
Literatur «Jeder Buchrücken ist wie ein Grabstein» Die isländischen Künstler Ragnar Helgi Ólafsson und Dagur Hjartarson wollen der Dichtung dienen – und vernichten dafür Bücher. Jetzt tun sie das erstmals auch in der Schweiz.
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VON URSULA GIGER (INTERVIEW) UND LILJA BIRGISDÓTTIR (BILD)
len, Gedichtbände aber doch nicht Gedichtbände, Tagebücher aber doch nicht Tagebücher. Sie sind von einer eigenen Art, nicht zuletzt wegen ihrer Grösse. Die Frage war ja ursprünglich: Was könnten wir tun, um der Dichtung zu dienen, zu helfen. Nicht, wie wir der isländischen Kultur oder Literatur helfen können, sondern der Dichtung.
Island, das ist eine grosse Insel mit einer kleinen Bevölkerung von schrulligen Nordländern. Sie sprechen eine Sprache, die niemand versteht. Sie glauben an Elfen und andere Fabelwesen, nach denen sie sogar den Verlauf ihrer Strassen richten. Ansonsten gibt es auf Island: Der Dichtung helfen – das war der Grundgedanke? Schafe, Geysire und jede Menge schlechtes Wetter. Ólafsson: Ja. Und da beschlossen wir, etwas zu produzieren, das nicht So weit die Klischees. Fakt ist: Island ist mit einer Internetdurchdrinin die gängigen Rahmen passt. Etwas, was bei normalen Verlagen nicht gung von 95 Prozent eines der am stärksten technologisierten Länder herausgebracht wird, weil der Umfang nicht stimmt, das zwischen Stuhl Europas. Über 70 Prozent der Bevölkerung sind zum Beispiel auf Faceund Bank fällt. book (Schweiz: 42 Prozent). Und das soziale Netzwerk hat durchaus Bedeutung: Als nach dem grossen Finanzcrash von 2008 die Regierung Wird denn nicht bereits genug getan für die Dichtung? Müssen Lüstürzte – notabene wegen Protesten, die über das Internet organisiert cken gefüllt werden? worden waren –, beteiligten sich die Bürger via Facebook an der EntHjartarson: Natürlich gibt es eine Lücke. Wenn man Kristín Ómarsdótstehung der neuen Verfassung. tir anruft, die derzeit interessanteste Autorin Islands, und sie hat einfach Das Projekt von Ragnar Helgi Ólafsson und Dagur Hjartarson ist ein wunderbares Manuskript fertig zur Hand, das keiner veröffentlichen auch eine Reaktion auf die Grenzenlosigkeit des Digitalen. Seit gut zwei Jahren geben die beiden isländischen Kunstschaffenden ihre «Mondbücher» heraus – klei«Mondbücher herauszugeben ist ein wenig so, wie den Sicherungsstift ne, aufwendig gestaltete Bände mit Texten von aus der Handgranate zu ziehen. Bumm!» Ragnar Helgi Ólafsson bekannten Autoren und Neuentdeckungen. Die Bücher erscheinen in loser Folge und sind will, weil es nicht reinpasst ins Programm, dann ist da ganz offensichtjeweils an einen sogenannten Vollmondevent geknüpft: Von jeder Auslich eine Lücke. Grosse Verlage überlegen anders. Die Lücke ist natürgabe werden nur genau 69 Exemplare hergestellt, die an dem Abend lich ein kleiner und unsicherer Markt. verkauft werden. Die nicht verkauften werden im Anschluss vernichtet, um die Einzigartigkeit und die Bedeutung der Verbleibenden zu unterEs dreht sich halt doch vieles ums Geld. streichen. Ólafsson: Ausser dem Mond! Der dreht sich nicht ums Geld. Wir haben Im Rahmen des Kulturfestivals Culturescapes findet im Oktober in uns bewusst in Nischen begeben, die es zu beleben gilt. Von denen die Basel der erste Vollmondevent in der Schweiz statt, bei dem die beiden Leute gar nicht wissen, dass es dort etwas geben könnte. Ein Verlag jetzt auch auf Deutsch erschienenen ersten Ausgaben der «Mondbümuss finanziell überleben, wir hingegen legen noch drauf. Wir leisten cher» vorgestellt werden. Für Surprise hat sich Ursula Giger, Übersetzeuns diese Art Hintergehung des Profitdenkens. rin und Redaktorin eines der Mondbücher, mit den beiden Herausgebern zum Gespräch getroffen. (ami) Wie entstand die Idee, die Auflage zu limitieren, die nicht verkauften Bücher zu vernichten? Ragnar und Dagur, ihr führt seit Juni 2013 diese Mondabende durch. Hjartarson: Im Winter bevor wir mit den Mondbüchern begannen, verWas stand am Anfang – der Mond als Symbol oder die Idee, eine öffentlichte ich ein Büchlein, eine Kleinstauflage von 20 Stück. Gleichneue Buchreihe herauszugeben? zeitig kam ein E-Book von mir raus, das ja als Medium unbegrenzt reDagur Hjartarson: Zuerst hatten wir einfach den Wunsch, Bücher herproduzierbar ist. Ich fand diesen Moment der echten Bücher so wichtig, auszugeben. Der Mond kam dann aber ziemlich schnell dazu. das war so bereichernd und einfach viel spannender. Ragnar Helgi Ólafsson: Die Bücher und der Mond gehören zusammen. Ólafsson: Ich komme aus der bildenden Kunst, da haben das Zeitliche Der Mond ist natürlich Symbol für vieles. Einerseits gibt es da den reaund die Ausführung eine ganz andere Bedeutung. Es gibt mehr Raum len Mond am Himmel, der uns wie eine Uhr zeigt, wo wir uns in der Zeit für Spielerei, mehr Freude, mehr Leichtigkeit. Die Frage war, wie man befinden. Wenn der Mond nach Neumond wieder zunimmt, dann wisdas auf die Literatur übertragen kann. Mir wird zum Beispiel schlecht, sen wir, dass wir noch zwei Wochen haben bis Vollmond. Das gibt uns wenn ich in eine Bibliothek gehe. All diese Bücher, das ist wie ein Frieddas Arbeitstempo vor für unsere Büchlein. Und dann sind da auch anhof, da wächst gar nichts. Jeder Buchrücken ist wie ein Grabstein. Die dere Bedeutungen ... Mondbücher sind eine Art geistiger Widerstand gegen die Ewigkeit, geHjartarson: … der Mond steht für das Dichterische. gen die Idee, dass Bücher ewig halten und im Stillen gedeihen. MondÓlafsson: Er ist nicht die Erde, nicht die Sonne, sondern eine Kugel, die bücher herauszugeben ist ein wenig so, wie den Sicherungsstift aus der in der Dichtung das Endliche verkörpert. Handgranate zu ziehen. Bumm! Hjartarson: Es kommt eine unglaubliche Menge an Büchern raus in IsIn deutschen Gedichten kommt der Mond oft vor, zum Beispiel bei land, jeder hier schreibt ein Buch. Das ist eine Art Ticket in die EwigEichendorff oder Goethe. Ich kann mich nicht erinnern, in isländikeit. Alle denken, man müsse sich mit einem Buch verewigen. schen Gedichten oft über den Mond gelesen zu haben. Aber das liegt vielleicht daran, dass hier immer sauschlechtes Wetter ist. Man sieht Was sind das für Leute, die an eure Mondbücher-Abende kommen? ihn nicht so oft. Ist das etwas Elitäres, wo nur euer erweiterter Freudeskreis teilÓlafsson: Der Mond ist ein Symbol von etwas sehr Starkem. Irgendwie nimmt, oder haben tatsächlich alle Zugang? ist er Wasser. Und er ist weiblich in der Bedeutung von kreativ, erschafHjartarson: Es ist sehr gemischt. Wir haben immer ein klein wenig Auffend. Und irgendwie geheimnisvoll, unbenennbar. merksamkeit durch die Medien erhalten, die Öffentlichkeit erfährt also schon davon. Wir hatten schon alle möglichen Leute an diesen Abenden. Eure Mondbücher sind dünn und hochwertig, eigentlich so wie kleiÓlafsson: Es kommen jeweils bis zu 100 Leute, manchmal mehr. Es sind ne Edelsteine. Wieso wolltet ihr nicht etwas Grosses machen? nicht immer dieselben. Wir haben auch oft über die Mischung gesproÓlafsson: Die Büchlein sind eben wie der Mond: schwer definierbar. Sie chen, auch was die Autorinnen und Autoren der Bücher betrifft. Wir sind Romane und doch nicht Romane, Novellen aber doch nicht Novel-
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versuchen jeweils, einen bekannteren Autor «Vielleicht ist das Nordlicht einfach das schwache Licht vom Computerauszuwählen und mit jemand Neuem zu verbildschirm.» Dagur Hjartarson binden, der vielleicht sogar sein erstes Werk herausgibt. Das ergibt eine schöne Synergie. Ólafsson: Das ist der kühle Humor, der schon lange tief in den Isländern Hjartarson: Und wir schliessen die Bücher nicht bei uns ein. Der Schriftsitzt. Eine Art Überlebensstrategie für das eher brutale Umfeld hier, diesteller Pétur Gunnarsson etwa veröffentlicht seinen Text nun auch bei se brutale Natur. Entweder bist du ein Weichei oder du reisst dich zueinem anderen Verlag. Und der Rapper Dóri DNA gibt ein grösseres sammen, um zu überleben, und wirst halt sarkastisch. Und Sarkasmus Buch heraus mit seinem Text. Wir besitzen die Werke ja nicht. Dem ist auch eine Art der Kommunikation. Man kann auch nett sein durch Mond gehört nichts. Sarkasmus, das muss nicht nur schlecht sein. Ólafsson: Das ist die Idee. Wir wollen keine Rechte besitzen, die bleiben bei den Autoren. Wir sind nur eine Art Mittel zum Zweck. Wenn man mit Isländern über Politik spricht, dann beklagen sich alle und wollen ihren Senf dazugeben, aber es ergibt sich nie ein kreEs kommen also über 100 Leute zu den Anlässen, und nur 69 Stück atives Gespräch. Es ist, als wären die Leute beleidigt, wenn man sie werden jeweils verkauft. Prügeln sich die Leute um eure Bücher? nach ihrer politischen Haltung fragt. Ólafsson: Das ist sehr unterschiedlich, manchmal verkaufen wir alle Ólafsson: Die Isländer können über gewisse Dinge nicht reden. Wenn und manchmal nicht. man über Gerechtigkeit als Konzept spricht, dann kommt einer mit der Hjartarson: Wichtig ist: 69 ist die perfekte Anzahl, damit können wir das Geschichte über eine Kuh, die gestohlen wurde. Man geht in Island imWichtigste abdecken. mer vom Grossen ins Kleine des eigenen Umfeldes. Man kennt keine Ólafsson: Der Preis von 2500 Isländischen Kronen (rund 20 Franken, philosophische Art der Diskussion. Es fehlt der grundsätzliche Diskurs. Anm. d. Red.) pro Buch deckt die Druckkosten, alles andere ist umHjartarson: Man weiss, dass es das in Europa gibt: Diskurse, aber auch sonst. Der Druck kostet einiges wegen des speziellen Aussehens, aber Züge, Realitätssinn, Strände, und so etwas wie ein dialogisches Denken. wir verdienen nichts daran. Ólafsson: Ja, es ist total cool, nach Europa zu fahren und in den Zügen über Philosophie zu sinnieren. Und dann fährt man wieder nach Hause. Die Abende sind auch eine Art Gegenstück zur digitalen Welt, wo immer alle mit allen über das Internet in Verbindung stehen. Es geht Habt ihr schon überlegt, die Büchlein in Ausland herauszugeben? darum, sich zu treffen und die Leute zusammenzubringen. Hjartarson: Der Mond wird nicht grösser, wir haben keine Pläne. Hjartarson: Ja, das hat sich an diesen Abenden auch herausgestellt, dass Ólafsson: Wir haben jedes Buch einfach für sich gemacht, nicht als Teil man neue Leute damit verbindet. Zum Beispiel Erpir und Óskar Árni – eines grösseren Konzepts. Wir bringen die Bücher ja auch unregelmäsder schlimmste Gangster-Rapper von Island trifft auf einen der sensisig raus, das war im ersten Sommer schon so. Einfach dann, wenn die belsten Dichter, und die beiden quatschen über Kuba, als wären sie alTexte passen. te Freunde. Dabei waren die beiden davor wahrscheinlich noch nie im selben Haus. Die hatten da einen echten Moment zusammen. Habt ihr euch nie überlegt, Sponsoren zu suchen? Ólafsson: Unsere Veranstaltungen sind eine Reaktion auf diese EntfremÓlafsson: Das würde der Mond nie tun. dung, diese Umwandlung der Kommunikation. Dabei läuft unsere ein■ zige Werbung für die Abende genau über das Internet. Wir annoncieren ein paar Tage vorher auf Facebook. Und das funktioniert sehr gut, wir gelangen so an die Leute, die es interessiert. Island hat das dichteste Internet-Anschlussnetz in Europa. Alle sind online, alle auf Facebook. Gleichzeitig glauben alle an Elfen. Gibt es hier nicht eine Diskrepanz zwischen dem Elfen-Klischee, das im Ausland vorherrscht, und der Tatsache, dass Island wahrscheinlich die am stärksten technologisierte Gesellschaft Europas ist? Ólafsson: Du kannst natürlich auf Facebook sein und gleichzeitig an Elfen glauben. Hjartarson: Elfen sind auf Facebook. Das Nordlichtklischee wird auch immer hochgehalten. Vielleicht ist das Nordlicht einfach das schwache Licht vom Computerbildschirm. Aber was ist denn Island heute für euch? Hjartarson: Wenn es darum geht, zu schreiben, Musik zu machen oder auch Filme, sind die jungen Isländer sehr engagiert und sensibel. Aber im Internet, in den sozialen Medien, ist die jüngste Generation, die in den Achtzigern oder später Geborenen, extrem sarkastisch. Ólafsson: Die sind total erbarmungslos. Ich habe mich auch schon gefragt, woher dieser Sarkasmus kommt. Ist es, dass sie Leute sich langweilen und einfach keine Lust haben, oder wollen sie damit etwas ausdrücken? Ólafsson: Ach, das ist keine neue Erfindung. Lies doch mal die Isländersagas, die sind voll davon! Hjartarson: Ja genau, das ist nichts als totaler Sarkasmus. Skarphéðinn Njálsson aus der Njálssaga ist der Inbegriff von Sarkasmus. SURPRISE 361/15
Ragnar Helgi Ólafsson, Herausgeber der Mondbücher und deren grafischer Gestalter, ist Autor eines der beiden Bücher, die jetzt auf Deutsch erscheinen. Er studierte Philosophie und bildende Kunst in Island und Frankreich. Er hat diesen Herbst den renommierten Tómas-GuðmundssonPreis für seinen ersten Gedichtband erhalten. Dagur Hjartarson, Herausgeber der Mondbücher und deren Lektor, ist selbst Schriftsteller und Dichter. Er studierte Isländische Sprache und Literatur und ist als Mittelschullehrer tätig. Nebenbei ist er in diverse Literaturprojekte involviert. Ursula Giger, Übersetzerin und Lehrbeauftragte für Isländisch an den Unis Basel und Zürich, hat eines der Mondbücher ins Deutsche übertragen. Sie arbeitet zudem seit Jahren als Trekking-Guide in Island und Grönland. Das Kulturfestival Culturescapes läuft noch bis zum 30. November. Zu Gast sind rund 100 isländische Kunstschaffende.
Die Vollmondlesung, an der die Bücher einmalig zu kaufen sind, findet am 27. Oktober um 19 Uhr in der Vollmondbar (Ostquai, Basel) statt.
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BILD: GUIDO SÜESS
Wörter von Pörtner Kauft nicht bei Nazis Zur Lösung der Flüchtlingsproblematik gibt es unterschiedliche Ansichten. Die des jungen Mannes war folgende: Die Australier machen es richtig, alle ins Meer werfen. Genau, bestätigte sein Kollege, da haben wenigstens die Haie etwas davon. Der Kollege war ein unscheinbarer Mann von etwa fünfzig Jahren. Der junge Mann war etwa zwanzig, übergewichtig und trug ein T-Shirt der Marke Londsdale. Die beiden standen neben mir im Eisenwarengeschäft in meinem Quartier, sie arbeiteten dort. Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass das Propagieren von Massenmord während der Arbeit und vor Kundschaft eventuell heikel sein könnte. Ich zögerte. Sollte ich sie zur Rede stellen, den Laden verlassen, den Chef rufen? War der ältere der beiden gar selber der Chef? Ich bezahlte meine paar Schrauben, einen geringen Betrag, und verliess den Laden. Ich werde
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ihn nicht mehr betreten. Was mir leid tut. Ich habe dort viel eingekauft, ihn den billigeren Do-it-yourself- und Elektrogeräteketten vorgezogen, die nächste Filiale einer solchen befindet sich gleich gegenüber. Aber ich kaufe lieber in kleinen Läden, ich bevorzuge Handwerker aus meiner Stadt und Produkte aus der Region. Ich frage nicht nach der politischen Gesinnung der Inhaber und Angestellten der Firmen, die ich engagiere und, von einigen Kollektiven abgesehen, mache ich mir darüber auch wenig Illusionen. Sie brauchen meine Ansichten nicht zu teilen, ich bin froh um unabhängige Betriebe, die nicht nur Service- und Verkaufsabteilungen von Konzernen sind, die Lehrlinge ausbilden und ihre Angestellten fair behandeln. Das hat mit der politischen Einstellung ohnehin nur bedingt zu tun, es gibt auch linke Unternehmer, die derart überzeugt sind, auf der richtigen Seite zu stehen, dass sie sich um Petitessen wie faire Arbeitsverträge nicht zu scheren brauchen, und es gibt traditionelle Patrons, die ihre Leute wie Familienmitglieder behandeln. Natürlich entbehrt es nicht der Ironie, dass jene, die die grössten, meist in China hergestellten Schweizer Fahnen heraushängen, beim Discounter oder gar ennet der Grenze einkaufen, weil sie, wie es einer dieser Elektronikmärkte, die ich bisher gemieden habe, ausdrückt, «doch nicht blöd» sind. Was die Mitarbeitenden dort denken und wählen, weiss ich auch
nicht. Ich will jedoch auf keinen Fall wissen, dass solche Sprüche in einem Laden, vor Kundschaft, geduldet werden. Klar könnte ich es als dummes Geschwätz abtun. Doch die britische Marke Londsdale, deren T-Shirt der junge Mann trug, ist traditionell bei Skinheads und Rechtsextremen beliebt. Natürlich sind längst nicht alle, die Kleider dieser Marke tragen, Nazis, aber wenn einer mit so einem T-Shirt solche Sprüche macht, dann ist er es offensichtlich. Wenn ein Geschäft seinen Angestellten erlaubt, sich am Arbeitsplatz als Rechtsradikale zu erkennen zu geben, kann ich nicht mehr dort einkaufen. Ich möchte diesen Leuten nicht den Lohn mitfinanzieren. Nicht dass es etwas nützen würde. Selbst wenn viele das täten, das Geschäft eingehen und die Leute ihren Job verlieren würden, wären dann am Ende ja doch wieder die Ausländer daran schuld.
STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT (SAVVE@VTXMAIL.CH) SURPRISE 361/15
Pop Rückkehr zur Musik Der Synthesizer-Pionier Jean Michel Jarre überrascht nach einer Lebenskrise mit einem neuen Album und einer neuen Perspektive.
Ein laues Sommerlüftchen weht über die träg dahinfliessende Seine, die Sonne scheint. Bougival, ein modisches Städtchen am Rand von Paris, hat schon immer die Künstler angezogen. Auguste Renoir und Claude Monet haben hier manches Meisterwerk gemalt, Georges Bizet seine Oper «Carmen» komponiert. Die kreative Tradition ist nicht abgebrochen. In einem versteckten Haus am Fluss hat Jean Michel Jarre ein Studio mit Synthesizern aller Jahrgänge vollgestopft. Seit seinem letzten Studioalbum sind acht Jahre verstrichen: «Im gleichen Jahr sind meine Eltern und mein Verleger gestorben», sagt Jarre, «dazu machte ich eine unschöne Scheidung durch. Es war eine schwierige Zeit.» Jetzt aber ist er mit frischen Kräften zum kreativen Leben zurückgekehrt. «Electronica 1: The Time Machine» heisst sein neues Album, ein zweiter Teil ist bereits fertiggestellt. Auch eine Tournee verspricht Jarre. Statt den früheren gigantischen Konzerten mit über einer Million Zuschauern und einem Arsenal von technologischem Feuer- und Blendwerk soll der Rahmen diesmal intim bleiben. «Ich wollte damals elektronische Musik einem grösseren Publikum näherbringen», sagt er. «Aber eine Show, wo ein Mann zwei Stunden hinter einem Turm von Maschinen steht, ist nicht sexy.» Mit der Zeit sei die Musik dabei in den Hintergrund getreten. «Jetzt, wo jeder DJ einen riesigen Klamauk aufzieht, war es für mich an der Zeit, zur Musik zurückzukehren.» Jarre ist inzwischen 67 Jahre alt, sieht aber zwanzig Jahre jünger aus. Seinen Vater, den Filmkomponisten Maurice Jarre, kannte er kaum. Als Kind verbrachte er viel Zeit beim Grossvater, einem passionierten Bastler, Erfinder und Oboisten. Er selber begann schon als Teenager mit Tonbändern, Radios und anderen elektronischen Apparaten zu experimentieren. 1969 trat er der Groupe de Recherches Musicales bei, einem einflussreichen Klanglaboratium, das von Pierre Schaeffer, dem Urvater der Musique Concrète, geführt wurde. Jarre hatte bereits mehrere Soundtracks eingespielt und bei anderen Künstlern als Produzent gewirkt, als er 1976 «Oxygène» einspielte. Das Album bestand aus einer Serie von Instrumentalstücken, bei denen der eigentliche Klang des Synthesizers sowie die repetitiven Maschinenbeats im Mittelpunkt standen – bis dahin hatten die meisten Pop- und Rockmusiker Synthesizer eingesetzt wie konventionelle organische Instrumente. Frappant ist die Ähnlichkeit von «Oxygène Part 5» mit «I Feel Love», dem praktisch ersten mit Synthi eingespielten Disco-Hit, gesungen von Donna Summer, produziert von Giorgio Moroder und im Jahr nach «Oxygène» veröffentlicht. «Später habe ich herausgefunden, dass Moroder im Studio neben mir arbeitete, als ich ‹Oxygène› den letzten Schliff gab», lacht Jarre gutgelaunt: «Wissen Sie, manchmal liegen Ideen einfach irgendwie in der Luft. Sowieso, Diebstahl ist Teil des kreativen Prozesses.» Keine der grösseren Plattenfirmen interessierte sich für «Oxygène», und so erschien das Werk auf einem kleinen französischen Indie-Label. Die erste Pressung von 50 000 Exemplaren war innert Wochen ausverkauft. Heute ist es das weltweit bestverkaufte Album aus Frankreich. Ingesamt ist die süffige, oft ins Orchestrale gehende Synthi-Musik in rund 80 Millionen Exemplaren über die Ladentische gegangen. SURPRISE 361/15
BILD: ZVG
VON HANSPETER KÜNZLER
Kein Klamauk: Jean Michel Jarre im Studio.
Mit «Electronica» nun geht Jean Michel Jarre sein angestammtes Instrument aus einer für ihn gänzlich neuen Perspektive an. «Die meisten anderen Musikformen basieren auf dem Zusammenspiel von mehreren Menschen», sagt er. «Nur die elektronische Musik war immer in sich selber gekehrt.» Einerseits habe er daran endlich etwas ändern wollen. Andererseits habe er das Bedürfnis verspürt, mit anderen wegweisenden elektronischen Musikern zusammenzuspannen, aus Neugier, was beim gemeinschaftlichen Tun herauskommen würde. Die Auswahl der Mitwirkenden reicht von den voraussehbaren Stars der letzten drei Dekaden (Moby, Vince Clarke, Air, Massive Attack) über die Legenden der elektronischen Musik (Laurie Anderson, Tangerine Dream – die letzte Aufnahme des seither verstorbenen Edgar Froese) bis hin zu fürwahr überraschenden Namen: das eher undergroundige englische Duo Fuck Buttons, der Pianist Lang Lang – und Pete Townshend, Gitarrist und Sänger bei The Who. «Pete Townshend brachte den Synthesizer als einer der ersten in die Rockmusik», erklärt Jarre, «ausserdem versuchte auch er, Rock ins Format einer Oper zu stellen.» Wer von Jarre nur die minimalistischen und repetitiven Hitalben der Siebziger- und Achtzigerjahre kennt, wird allerhand Überraschungen erleben: «Electronica» ist äusserst vielfältig, ohne indes in zusammenhangslose Fragmente zu zerfallen. Im zweiten Teil werden übrigens auch Yello in Erscheinung treten: «Die mysteriöse Kombination von Boris Blanks Musik und Dieter Meiers Stimme ist grossartig.» sagt Jarre. «Man weiss vom ersten Ton an, wer es ist. Und neben Dieter Meier klingt Barry White wie Céline Dion.» ■ Jean Michel Jarre, «Electronica 1: The Time Machine» (Sony)
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BILD: SAMMLUNG REA BRÄNDLE
BILD: ISTOCKPHOTO BILD: ZVG
Ausgehtipps
Grosse Attraktion: Echte Inder im Zirkus Knie.
Bern Schweizer Profiteure Hier werden Menschen zu Dossiers.
Basel Behördentheater Womit haben wir eigentlich unseren Schweizerpass verdient? Das fragen sich drei Sozialarbeiterinnen im Theaterstück «Formular: CH», während sie sich durch den Dschungel des Ausländerausweis-ABCs kämpfen. Sie sitzen an ihren Schreibtischen, verarbeiten Menschen und Schicksale zu Dossiers und berechnen Existenzminima. Eigentlich würden sie gern helfen, dabei müssen sie sicherstellen, dass sie selbst nicht untergehen. Kritisch und unterhaltsam erzählt das Ensemble «Das Ventil» aus dem Alltag der Sozialen Arbeit: Geschichten jenseits von medienwirksamen Skandalen und Politikerstatements, inspiriert aus der Praxiserfahrung der Projektinitiantin Kathrin Iten und gespickt mit amüsanten Originalzitaten aus Integrationsblättchen wie «Grüezi Eritrea» oder «Hallo Nachbar». «Formular: CH» bietet einen Einblick in unerhörte Realitäten und leistet gleichzeitig einen Beitrag zur öffentlichen Debatte über den Sozialstaat. (win) «Formular: CH», Fr, 6. Nov., 20 Uhr, Union, Basel. www.dasventil.ch. Tickets unter info@union-basel.ch
Offene Türen: Minarett und Kirchturm in Zürich.
Zürich Bei Allah und anderen Kirchen, Tempel, Synagogen, Moscheen: Für viele haben Gotteshäuser etwas Geheimnisvolles und Unbekanntes – zumindest all jene ausser dem einen, in das man sozusagen hineingeboren wurde. Spiritualität ist etwas Intimes, und es ist verständlich, dass ihren Räumen mit einem gewissen Respekt begegnet wird. Man will ja nicht stören und nicht gestört werden. Schade eigentlich – denn in fremder Götter Häuser gibt es viel zu sehen und zu lernen. Und zwar nicht in erster Linie über die Religion: Wer nur schon die feierliche Opulenz orthodoxer oder katholischer Kirchen mit der nüchternen Funktionalität einer protestantischen vergleicht, der fühlt die verschiedenen Menschenbilder und Wertesysteme, die dahinterstecken. Im Rahmen der schweizweiten Woche der Religionen hat man in Zürich nun drei Tage einen Freipass zur interkonfessionellen Neugierde. Das Festival der Religionen, initiiert vom Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ehemals Stiftung Zürcher Lehrhaus) bietet zahlreiche Einblicke in Kirchen, Moscheen, Tempel, Synagogen und Gemeinschaftszentren. So kann man etwa an Gottesdiensten der verschiedenen Religionen teilnehmen. Teilweise ist eine Anmeldung erforderlich. (ami)
Was hat Sklavenhandel mit der Schweiz zu tun? Mehr, als uns lieb sein dürfte. Eine Ausstellung im Berner Kirchgemeindehaus Johannes durchleuchtet den Dreieckshandel AfrikaAmerika-Europa, der die Weltwirtschaft vom 17. bis ins 19. Jahrhundert prägte – und an dem sich auch Exporteure, Financiers und Militärs aus der Schweiz beteiligten. Insbesondere prominente Schweizer Familien bereicherten sich am grossen Geschäft mit der menschlichen Ware. Die Ausstellung zeigt auf, wie diese frühe Form der Globalisierung auf der sozialen, kulturellen und religiösen Ebene nachwirkt. Damit nicht genug: Die Kirchgemeinde inszeniert den selbstkritischen Blick auch auf der Bühne. Ein Mundartstück des eigenen Theaterensembles erzählt die Geschichte eines aussergewöhnlichen Missionarsehepaars im 19. Jahrhundert – auch darin geht es um die Verstrickung der Schweiz in den Sklavenhandel und um das rassistische Menschenbild der damaligen Wissenschaft. (fer) «Auf den Spuren schwarzer Geschäfte», noch bis 8. November, jeweils Di bis So, 14 bis 18 Uhr; «Da draussen bei den Heiden», Mundartstück des Theaterensembles Johannes, Premiere So, 25. Okt., 17 Uhr, weitere Vorstellungen Fr, 30., Sa, 31. Okt. und Fr, 6. Nov., jeweils 19 Uhr, So, 1. Nov., 17 Uhr und So, 8. Nov., 15 Uhr, Kirchgemeindehaus Johannes, Wylerstrasse 5, Bern. Eintritt frei.
Festival der Religionen, Fr, 30. Okt bis So, 1. Nov. Anmeldungen und genaues Programm: www.festival-der-religionen.ch Woche der Religionen (ganze Schweiz), So, 1. Nov. bis So, 7. Nov., www.iras-cotis.ch/woche-religionen
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Kultur
BILD: MIKE SOMMER, IN-OBJECTIVE
Die 25 positiven Firmen
Ideenschmiede: 2014 fand Museomix im Genfer Musée d’Art et d’Histoire statt.
Ausstellung Das Museum von morgen Das Museum für Kommunikation in Bern verwandelt sich in ein Ideenlabor für innovative Ausstellungskonzepte. VON MONIKA BETTSCHEN
Neue Medien und Technologien verändern unsere Wahrnehmung und beeinflussen damit auch die Art, wie wir kreativen Inhalten begegnen. So reicht es beispielsweise nicht aus, sich als Museum einzig auf die Strahlkraft aussergewöhnlicher Exponate zu verlassen. Es gilt, neben der Qualität der Inhalte auch in die Güte der Präsentation zu investieren, um vor allem auch neue Besucherkreise anzusprechen. Das internationale Event-Format Museomix, das seit 2011 in Museen rund um den Globus gastiert, hat es sich zum Ziel gemacht, gemeinsam mit Menschen aus allen kreativen Sparten innerhalb von drei Tagen neue Ansätze zu entwickeln, wie das Museum von morgen aussehen könnte. Von 6. bis 9. November wird das interaktive Projekt im Museum für Kommunikation in Bern zum ersten Mal in der Deutschschweiz durchgeführt. Im Sommer suchten die Veranstalter mit einer OnlineAusschreibung die passenden Teilnehmer. In sechs Gruppen aufgeteilt, werden diese den Ort temporär in eine Ideenschmiede verwandeln und Präsentationsmöglichkeiten ausloten. Ausgangslage für alle ist die bestehende Sammlung des Museums. Es wird gesägt, gebohrt, gezeichnet, am Bildschirm animiert oder mit dem 3D-Drucker gearbeitet. Als Abschluss der Veranstaltung sind die Besucherinnen und Besucher dazu eingeladen, die zu funktionsfähiger Reife gebrachten Prototypen zu testen. «Die anlässlich von Museomix produzierten Prototypen können Eingang in ein Ausstellungskonzept finden», sagt Myriam Neuhaus, Koordinatorin der Veranstaltung in Bern. «Am Ende stehen diese Ansätze auf der Stufe von Vorprojekten. Ab diesem Zeitpunkt gilt es, diese zu konkretisieren und für eine Ausstellung je nach Bedarf auch anzupassen.» Die Besucherinnen und Besucher können den kreativen Köpfen ungeniert beim Tüfteln und Brainstormen über die Schultern schauen. «Museomix macht den Schaffensprozess sichtbar, das Museum wird zu einem Ideenlabor, in dem vom Elektriker und der Designerin bis hin zum Softwareentwickler alle vernetzt an der Umsetzung ihrer Visionen arbeiten und so frischen Wind in die Museumslandschaft bringen», beschreibt Myriam Neuhaus die Atmosphäre dieser Anlässe.
Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.
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Yolanda Schneider Logopädie, Liebefeld
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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen
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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten
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Netzpilot Communication, Basel
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Balcart AG, Therwil
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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
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weishaupt design, Basel
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Thommen ASIC-Design, Zürich
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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar
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Coop Genossenschaft, Basel
14
AnyWeb AG, Zürich
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Burckhardt+Partner AG
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mcschindler.com GmbH, Zürich
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fast4meter, Storytelling, Bern
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Maya-Recordings, Oberstammheim
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Bachema AG, Schlieren
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Kaiser Software GmbH, Bern
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Ko Schule für Shiatsu GmbH, Zürich
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Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel
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Lions Club Zürich-Seefeld, Zürich
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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen
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Privat-Pflege und Betreuung, Oetwil am See
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.
Museomix, Museum für Kommunikation in Bern, Fr, 6. bis Mo, 9. November www.mfk.ch, www.museomix.ch SURPRISE 361/15
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Verkäuferinnenporträt «Hier kam wieder Freude in mein Leben» BILD: ALFRED MAURER
Tirhas Ghebremichael, 45, ertrug das Leben in ihrem Heimatland Eritrea nicht mehr und flüchtete ins Ausland. In der Schweiz hat sie ein neues, glückliches Leben gefunden – auch wenn es nicht immer einfach ist. AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN
«Am 20. Oktober 2006, also vor genau neun Jahren, bin ich in Basel in die Schweiz eingereist und habe Asyl beantragt. Aus meiner Heimat Eritrea bin ich einige Monate zuvor geflüchtet, weil ich das Leben dort nicht mehr ertrug. Die Probleme fingen vor allem an, als meine Familie und ich begannen, intensiv die Bibel zu lesen und uns mit Gleichgesinnten in einer protestantischen Kirchgemeinde zu treffen, anstatt wie bisher den eritreisch-orthodoxen Gottesdienst zu besuchen. Diese Versammlungen sah der Präsident gar nicht gern. Unsere Kirche wurde deshalb geschlossen und meine Mutter kam vorübergehend ins Gefängnis. Die Regierungsleute haben auch mich verfolgt, doch ich schaffte es, mich einige Zeit zu verstecken. Schliesslich fanden sie mich trotzdem und brachten mich nach Sawa, in das grosse Ausbildungszentrum der Armee, wo ich fortan im ‹National Service› dienen musste. Die Arbeit, das Waschen, Putzen und Kochen, war nicht das Problem – unerträglich wurde für mich das Leben in Unfreiheit. Nichts kann man selbst entscheiden, alles wird immer von oben bestimmt. Sich zu wehren oder etwas Kritisches zu sagen, ist nicht erlaubt. Eines Nachts ergab sich die Möglichkeit, aus dem Militärcamp zu fliehen. Kaum war ich draussen, wusste ich: Jetzt muss ich das Land verlassen, es gibt keinen Weg zurück. Zusammen mit zwei anderen Frauen überquerte ich kurze Zeit später die nahe gelegene Grenze zum Sudan. Weil man dort als Frau allein kaum eine Chance hat, machte ich mich auf in Richtung Libyen, dann weiter über das Mittelmeer nach Italien und in die Schweiz. Hier kam nach einer langen schwierigen Zeit endlich wieder Freude in mein Leben, denn ich hatte auf der Flucht einen Mann kennengelernt und wurde schwanger. Meine Tochter Lydia kam 2007 im Berner Inselspital zur Welt. Der Vater von Lydia und ich sind zwar längst nicht mehr zusammen, aber er lebt auch in der Schweiz. Weil ich alleinerziehende Mutter bin, war es für mich lange Zeit schwierig, hundert Prozent zu arbeiten. Aus diesem Grund habe ich noch immer die Aufenthaltsbewilligung F für vorläufig Aufgenommene. Den B-Ausweis bekomme ich erst, wenn ich ein Jahr ohne Sozialhilfe gelebt habe. Das Problem ist nur: Wenn ich mich um eine Stelle bewerbe – heute, wo meine Tochter in die Tagesschule geht und ich bis zu 80 Prozent arbeiten könnte –, heisst es, wir nehmen nur Leute mit B-Ausweis. Das ist für Arbeitgeber anscheinend administrativ einfacher und sicherer, als jemanden anzustellen mit dem Ausweis F. Im Moment habe ich zum Glück einige Stunden Arbeit bei einer Reinigungsfirma. Da ich in Ostermundigen wohne und die Arbeitsorte zum Teil in Burgdorf sind, ist die Reisezeit hin und zurück meist länger als die Arbeitsstunden. Deshalb hoffe ich, dass ich bald mehr Arbeit in Bern und Umgebung finde. Putz- und Haushaltsarbeiten habe ich übrigens nicht nur zuhause und im National Service gemacht, sondern ich habe schon früher eine Zeit lang bei einer italienischen Familie in Asmara als Haushälterin gearbeitet. Eritrea war ja lange Zeit eine italienische Kolonie.
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Kraft und Zuversicht schöpfe ich nach wie vor aus meinem Glauben. In der Schweiz ging ich anfangs immer in eritreische Gottesdienste, seit ein paar Jahren besuche ich jedoch am Sonntag jeweils eine Kirche in Zollikofen, dort habe ich mittlerweile viele Schweizer kennengelernt. Das tut mir gut. Schön sind auch die Begegnungen und Gespräche mit den Menschen, wenn ich bei der Coop-Filiale an der Bahnhofstrasse in Ostermundigen Surprise verkaufe. Einmal kam eine Frau zu mir und fragte, woher ich komme. Wir unterhielten uns eine Weile, und dann gab sie mir einen Sack voller schöner, neuer Kleider und fing an zu weinen. Ich habe nicht genau verstanden warum, aber auf jeden Fall weinte ich dann auch.» ■ SURPRISE 361/15
SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin
verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!
Elsa Fasil Bern
Kostana Barbul St. Gallen
Ralf Rohr Zürich
Marlis Dietiker Olten
Negasi Garahassie Winterthur
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Emsuda Loffredo-Cular Basel
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Fatma Meier Basel
Haimanot Ghebremichael Bern
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Roland Weidl Basel
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Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken
1/2 Jahr: 3000 Franken
1/4 Jahr: 1500 Franken
Vorname, Name
Telefon
Strasse
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1 Monat: 500 Franken
361/15 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 361/15
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Surprise – mehr als ein Magazin
Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)
Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit einem Netzwerk aus freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.
Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der ganzen Deutschschweiz. Sie kämpfen um den Titel des Schweizermeisters und des Weltmeisters beim Homeless World Cup. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen kostenlosen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine einfache und charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren. Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.
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Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami, Heftverantwortlicher), Florian Blumer (fer), Diana Frei (dif), Mena Kost (mek), Thomas Oehler (tom), Sara Winter Sayilir (win), redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Olivier Joliat, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Philipp Baer, Monika Bettschen, Lilja Birgisdottir, Basile Bornand, Ursula Giger, Eva Hediger, Christian Kaufmann, Hanspeter Künzler, Steven MacKenzie, Simon Murphy, Isabel Mosimann, Sarah Wiener Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 22 400, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.
Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T+41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung) s.roter@vereinsurprise.ch Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 361/15
Surprise – Mehr als ein Magazin
50 Schals wurden dieses Jahr für die Surprise Nationalmannschaft gestrickt, ein Riesenerfolg! Ein grosses Dankeschön an alle Strickerinnen für die einzigartigen und bereits ersehnten Geschenke, die als Zeichen von Freundschaft und Fairplay von den Nationalspielern am Homeless World Cup den Gegnermannschaften und anderen Spielern aus der ganzen Welt, verschenkt werden. Die Siegerin kennt anscheinend den Geschmack von Strassenfussballspielern gut, denn Claire Geisers Schal wurde auch dieses Jahr zum schönsten Schal erkoren und beim Finalspiel von Captain Bruno dem Team Griechenland feierlich überreicht. Claire Geiser aus Tavannes bekommt auch dieses Jahr den von Fussball-Kultfigur Gilbert Gress signierten Fussball, gestiftet von Hauptsponsor Hyundai Suisse. Achtung, fertig, stricken! Lange Winterabende können gern mit Stricknadeln und Wolle in Rot und Weiss verbracht werden. Surprise Strassensport sammelt ab jetzt Schals für den Homeless World Cup 2016. (lbe)
BILDER: ZVG
Surprise Strassensport Die Surprise Schal-Aktion
Die Beschenkten: Team Greece.
Strickanleitung anfordern unter: l.besuchet@vereinsurprise
Bilder und Infos zum Street Soccer Programm finden Sie auf Facebook unter Surprise Strassensport sowie auf www.strassensport.ch und www.homelessworldcup.org
Der Preis: Mit Gilbert Gress’ Signatur geschmückter Ball.
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Die Siegerin: Claire Geiser hat den schönsten Schal gestrickt.
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Eine Tasse Solidarität! Machen Sie mit: Zwei bezahlen, eine spendieren. Café Surprise gibt es hier: In Basel Café-Bar Aktienmühle, Gärtnerstrasse 46 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstrasse 10 Café Restaurant Haltestelle, Gempenstrasse 5 Rest. Les Garçons, Schwarzwaldallee 200 Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstrasse 96
In Thun Joli Mont, Bälliz 60 In Zürich Café Zähringer, Zähringerplatz 11
In Bern Café Kairo, Dammweg 43 Café Tscharni, Waldmannstrasse 17a Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstrasse 39 Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstrasse 8 Rösterei Kaffee und Bar, Güterstrasse 4 Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5
Weitere Informationen: www.vereinsurprise.ch/cafesurprise Ein Projekt des Vereins Surprise.