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Die neuen Neonazis Rechtsradikale in Zeiten der Willkommenskultur 40 Franken für die Notschlafstelle? Geschichte eines Verwaltungsaktes

Solothurner Filmtage: Casting – oder wieso man sich Darsteller auch mal aus der Gefängniszelle holt

Nr. 366 | 8. bis 21. Januar 2016 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Eine Tasse Solidarität! Machen Sie mit: Zwei bezahlen, eine spendieren. Café Surprise gibt es hier: In Basel Café-Bar Aktienmühle, Gärtnerstrasse 46 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstrasse 10 Café Restaurant Haltestelle, Gempenstrasse 5 Rest. Les Garçons, Schwarzwaldallee 200 Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstrasse 96 In Bern Café Kairo, Dammweg 43 Café Tscharni, Waldmannstrasse 17a Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstrasse 39 Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 Restaurant Löscher, Gotthelfstrasse 29 Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstrasse 8 Rösterei Kaffee und Bar, Güterstrasse 4 Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5

In Thun Joli Mont, Bälliz 60 In Zürich Café Zähringer, Zähringerplatz 11

Weitere Informationen: www.vereinsurprise.ch/cafesurprise Ein Projekt des Vereins Surprise.


Titelbild: Patric Sandri

Deutschland brennt. 817 Angriffe auf Flüchtlingsheime registrierte das Bundeskriminalamt bis Anfang Dezember letzten Jahres, mehr als viermal so viele wie 2014. Bundesinnenminister Thomas de Maizière warnt zum wiederholten Male, man müsse aufpassen, dass Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus nicht in die Mitte der Gesellschaft kröchen. Angesichts des Rückhaltes, den der rechte Rand bei Pegida, AfD und Co geniesst, stellt sich jedoch die Frage, ob der Punkt, an dem man hätte handeln müssen, nicht längst vorüber ist. Gleichzeitig erlebt das Land jedoch eine Welle der Solidarisierung mit den Scharen ankommender Flüchtlinge, es wird gespendet, willkommen geheissen, und Kanzlerin Angela Merkel findet nach wie vor: «Wir schaffen das.» Die Flüchtlingsthematik ist in ganz Europa – auch in der Schweiz – derart dominant, dass sich kaum jemand der Politisierung entziehen kann. Die Gesellschaften sind gespalten, und es bleibt unklar, welches der Lager am Ende die Oberhand behält.

BILD: TOBIAS SUTER

Editorial Konfrontation mit rechts

SARA WINTER SAYILIR REDAKTORIN

In der verarmten Ruhrpott-Metropole Dortmund mit ihrer etablierten Neonazi-Szene treffen die beiden Lager direkt aufeinander. Autor Felix Huesmann war dabei, als sich Helfende und Neonazis am Bahnhof direkt gegenüberstanden (Seite 10). In der Schweiz kommt es bisher nicht zu vermehrten Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte. Der Widerstand gegen Flüchtlinge findet subtilere und auf den ersten Blick harmlosere Ausdrucksformen, wie etwa ein Grillfest. Und er schlägt sich in der institutionalisierten Politik nieder: Die grösste Schweizer Partei wurde für ihr fröhliches Spiel auf der rechtspopulistischen Klaviatur gerade erst mit einem zweiten Bundesratssitz belohnt. Das heisst nicht, dass es in der Schweiz keine gewaltbereiten Rechtsextremen gibt. Autor Fabian Eberhard beschreibt ab Seite 13, warum sie in der Schweiz kaum auffallen, aber dennoch gefährlich sind. Dass auch hierzulande die Befürchtung besteht, Asylunterkünfte könnten den Unmut der ansässigen Bevölkerung auf sich ziehen, zeigt die Politik des Kantons Solothurn: Eigens für die Asylunterkunft Gheid in Olten richtete der Kanton eine Hotline ein. Im Gespräch mit Betreiberfirma ORS stellte Autorin Ramona Thommen jedoch fest: Die Ängste der Bevölkerung sind offenbar weit weniger gross, als angenommen. Sie war die Erste, die nach mehr als zwei Monaten anrief. Ich wünsche Ihnen einen guten Start ins neue Jahr, Sara Winter Sayilir

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 366/16

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10 Rechtsextremismus Nazis und Flüchtlinge Dortmund gehört zu den Städten, die zahlreiche Flüchtlinge aufnehmen. Gleichzeitig hat die Stadt seit Jahrzehnten eine sehr aktive Neonazi-Szene. Kann das gutgehen? Bericht aus einer Extremsituation in Deutschland. Und der Vergleich mit der Schweiz – haben wir unsere Neonazis zu lange geduldet?

BILD: FELIX HUESMANN

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Inhalt Editorial Rechte Mitte Die Sozialzahl Parallele Lohnwelten Aufgelesen Das Bankkonto als Menschenrecht Vor Gericht Therapeutisches Putzen Kommentar Eine Lobby für uns alle Starverkäufer Urs Habegger Porträt Tanztherapie Solothurner Filmtage Die Kunst der Besetzung Fremd für Deutschsprachige Wurst an Weihnachten Buch Ferien für Arbeiter Kino Atombombentrauma Piatto forte Mit dem Huhn in die Pfanne Verkäuferporträt Auf dem Weg nach oben In eigener Sache Impressum INSP Rollentausch Surprise-Verkäufer für einen Tag

15 Obdachlosigkeit Geschichte eines Verwaltungsaktes BILD: ROLAND SCHIMD

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Ein Amtsentscheid der Sozialhilfe hätte die Basler Notschlafstelle beinahe zur teuersten der Welt gemacht: 40 Franken pro Nacht hätte zahlen müssen, wer nicht in der Stadt gemeldet ist. Engagierte Gassen-Organisationen konnten diese Absurdität vorerst abwenden. Doch die Geschichte des Verwaltungsaktes zeigt die sozialpolitischen Dynamiken in der Schweiz auf.

18 Asylhotline Einfache Fragen stellen

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BILD: KEYSTONE

Seit September sind in der Oltener Zivilschutzanlage Gheid Asylsuchende untergebracht. Weil der Kanton den Unmut der Anwohner fürchtet, hat er eine Hotline einrichten lassen, bei der anrufen kann, wer eine Frage zum Durchgangszentrum und dessen Bewohnern hat. Betrieben wird diese wie das Zentrum selbst von der ORS Service AG. Unsere Autorin Ramona Thommen hat die Hotline angerufen. Sie war die Erste.

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Bruttomo natslohn im Privats ektor (Okt ober 2014 12 000 , Angaben in

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Bruttolohn 2014 (Umgerec hnet in Vo llzeits

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Quelle: Bu ndesamt fü r Statistik, Lohnstru

Die Sozialzahl Die offene Lohnschere Wie jedes Jahr hat das Bundesamt für Statistik BFS auch Ende 2015 die Zahlen zur Lohnentwicklung in der Privatwirtschaft im Jahr 2014 veröffentlicht. Ein Zehntel der Erwerbstätigen verdiente 2014 (auf Vollzeitstellen hochgerechnet und inklusive dem Anteil aus dem 13. Monatslohn und Bonifikationen) weniger als 4178 Franken brutto, ein Zehnte l mehr als 10 935 Franken. Der sogenannte Medianlohn für eine Vollzeitstelle, der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in zwei Hälften teilt, lag bei 6189 Franken im Monat. Wer mehr verdient, gehört zu den 50 Prozent der Besser verdienenden, wer weniger verdient, zur Hälfte der Schlech terverdienenden. Über die richtige Höhe von Löhnen wird seit Jahren heftig gestritten. Wir hatten die Abzocker-Initiative, die eine Deckelung der Topmanagerlöhne bringen sollte, wir stimmten über einen gesetzlichen Mindestlohn von 4000 Franken ab, und selbst die Frage, wie weit die höchsten und tiefsten Löhne auseinanderliegen sollten, war Gegenstand eines Urnengangs. Mehrheiten gab es nur für die Abzocker-Initiative von Ständerat Minder, die beiden anderen Anliegen wurden überaus deutlich von den Stimmenden abgelehnt. Wie gross ist nun die Öffnung der Lohnschere heute? Die Lohnstrukturerhebung des BFS gibt nur ansatzweise Auskunft, weil die extrem hohen Erwerbseinkommen der Topverdiener nicht eingerechnet werden. Trotzdem ist ersicht lich, dass zwischen den 10 Prozent der am schlechtesten und jenen der am besten bezahlten Erwerbstätigen ein Verhältnis von 1 zu 2,6 besteht. Dazu frohlockte das Bundesamt für Statistik in seiner Medienmitteilung vom 30. November 2015, die

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Unterschiede zwischen den höchsten und den niedrigsten Löhnen hätten in den letzten drei Jahren leicht abgenommen. Erklären lässt sich das nicht, und die Skepsis ist selbst in der Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung spürbar. Ihr Kommentar zu diesen Zahlen trug den zur Jahreszeit wenig passenden Titel: «Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer». In der Tat: Blicken wir etwas weiter zurück, so wird deutlich, dass die hohen Löhne den tiefen seit Jahren enteilen. Zwischen 2006 und 2012 stiegen die untersten 10 Prozent der Erwerbseinkommen um gerade mal 4,5 Prozent oder 173 Franken pro Monat, die obersten 10 Prozent aber um 14,1 Prozent oder 1450 Franken an! Dieses Auseinanderdriften der Löhne bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Zusammenleben. Es entwickeln sich mehr und mehr soziale Parallelwelten, die kaum mehr etwas miteinander zu tun haben, wenn sie nicht gerade über ein Dienstverhältnis untereinander verbunden sind. Es überrascht darum nicht, dass ausgerechnet die Gastronomie und Hotellerie, aber auch die persönlichen Dienstleistungen in und ausserhalb der privaten Haushalte die höchsten Anteile an tiefen Löhnen ausweisen. Zwei Drittel dieser Stellen sind von Frauen besetzt. Nur die Umverteilung über den Steuer- und Sozialstaat vermag dieser Entwicklung etwas entgegenzuhalten. Doch genau hier will die Politik die Schrauben weiter anziehen. Der soziale Friede ist in Gefahr. CARLO KNÖPFEL (C.KNOEPFEL@VEREINSURPRISE.CH) BILD: WOMM

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Aufgelesen News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Eingezahlt Stuttgart. Auslänger sind ein Segen für den Fiskus: Laut einer Studie des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung zahlen Ausländer in Deutschland pro Kopf durchschnittlich 3300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben, als sie an staatlichen Leistungen beziehen und sorgten so im Jahr 2012 für einen Überschuss von 22 Milliarden Euro. Zudem gründen Unternehmer mit Migrationshintergrund jede neunte Firma im Land und beschäftigen über zwei Millionen Menschen.

Ausgesetzt London. Grossbritannien hat dieses Jahr einen traurigen Rekord aufgestellt: Ende 2015 hatten 15 000 junge Menschen an Weihnachten kein festes Zuhause – so viele jugendliche Obdachlose wie nie zuvor. Gemäss einer aktuellen Untersuchung sind viele der Jugendlichen wiederkehrend sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Die Sterberate ist bei ihnen doppelt so hoch wie bei gleichaltrigen Vergleichsgruppen. Und jeder zweite der Betroffenen ist gezwungen, einen Teil seiner Nächte unter freiem Himmel zu verbringen.

Aufgehoben Hamburg. Rund 700 000 Menschen dürfen in Deutschland kein Bankkonto eröffnen. Menschen ohne festen Wohnsitz sowie Asylsuchenden wird dies von Finanzinstituten oftmals verweigert. Das soll sich jetzt ändern: Die Bundesregierung setzt derzeit eine Richtlinie der Europäischen Union um. Sie will die Institute per Gesetz dazu verpflichten, jedem Interessenten ein Konto anzubieten. Einzige Bedingung: ein legaler Aufenthaltsstatus in der EU. Das Konto für alle kommt spätestens im Sommer 2016.

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Vor Gericht Putzen ist seine Rettung Während ihr Ehemann einkaufen ging, wusch die Frau das Geschirr vom Mittagessen ab. Sie hörte Radio dazu. Vom Korridor nahm sie undeutlich ein Geräusch wahr. «Hans, bist du schon zurück?», rief sie. Im Schlafzimmer traf sie auf einen schwarz gekleideten jungen Mann, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. «He, was machen Sie hier?» – «Sie haben die Tür offen gelassen», sagte der Mann und ging seelenruhig davon. Die Dame, 71 Jahre alt, ehemals Chefsekretärin, wurde wütend, lief ihm hinterher. Er zog das Pfefferspray hervor. Dreiundzwanzig Mal ist Bashkim S.* in Wohnungen, Büros, Läden und Keller eingebrochen, vorzugsweise in Zürich Nord und im Limmattal. Fünfmal war er erfolglos, wurde in die Flucht geschlagen, neunmal hat er Pfefferspray eingesetzt. Er stahl Bargeld, Schmuck, Laptops, Digitalkameras, Handys. Bei der älteren Dame nahm er drei Uhren und Schmuck mit, Einkaufswert 17 000 Franken. Der Pflichtverteidiger zeichnet den Lebensweg des 26-Jährigen nach, wie er für straffällig gewordene Kinder von Arbeitsmigranten durchaus typisch sei. Eine vaterlose Kindheit in Kosova, der Papa in der Schweiz, als 11-Jähriger zog Bashkim mit der Mutter und den drei Schwestern nach, doch da fingen die Probleme erst an. Der Vater war streng, erzog ihn mit dem Gürtel und verliess schliesslich die Familie. Die Mutter war überfordert mit den vier Kindern. Bashkim fühlte sich verraten. Ersatzfamilie war die Strasse, die Kumpels. Drogen, Alkohol, Schulschwänzen. Mit gestohlenen Dingen wollte er sich Sympathien

von falschen Freunden erkaufen. Eine Jugendstrafe folgte der anderen. Im Heim war er in seinem tiefsten Inneren glücklich, sagt Bashkim, er machte den Schulabschluss. Aber danach fiel er ins alte Muster. Täglich Cannabis, manchmal Ecstasy, Alkohol. Er brach ein, weil er Geld brauchte für die Drogen. Und unter Drogen sei er nicht der Mensch gewesen, der er wirklich ist, sagt der Angeklagte. Einen Monat nach dem letzten Einbruch wurde er verhaftet. Er hinterliess überall seine DNA-Spuren, als hätte er es darauf abgesehen, gefasst zu werden. «Lieber werde ich mir die Hände abhacken, als nochmals zu stehlen, Herr Richter», schwört der junge Mann und fleht um eine allerletzte Chance. Das Zügel- und Reinigungsunternehmen seines Onkels sei seine Rettung. Er stehe jeden Morgen um halb sechs Uhr auf. Siebenmal die Woche, seit Februar, als er aus der U-Haft entlassen wurde. Er sagt, er sei verlobt. Er sagt, er sei clean. «Herr Richter, ich hab zu viel Energie. Ich wusste nicht, wohin damit. Jetzt kann ich zupacken, Möbel schleppen, putzen.» Der Richter attestiert Bashkim, dass einige Delikte nur dank seinem Geständnis geklärt werden konnten und er sich ohne Wenn und Aber reuig zeige. Gleichwohl liege ein Bedingter nicht mehr drin. Bashkim wird zu einer teilbedingten Gefängnisstrafe von 24 Monaten verurteilt, wovon er ein Drittel in Halbgefangenschaft absitzen muss. Das heisst er kann tagsüber arbeiten und muss abends ins Gefängnis einrücken. «Das packe ich, Herr Richter», sagt Bashkim. «Ehrenwort.» * alle Namen geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 366/16


Kommentar Amtliche Problemverdrängung Für 40 Franken in die Notschlafstelle, und das an einem der stärksten Wirtschaftsstandorte der Schweiz: Der Basler Fall ist ein weiteres Beispiel für den sozialpolitischen Negativwettbewerb in der Schweiz. Er zeigt aber auch: Die Lobby der Armen hilft uns allen.

Für 40 Franken in die Notschlafstelle – klingt absurd, wäre jedoch um ein Haar Realität geworden. Und zwar in Basel, wo das Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt von SP-Regierungsrat Christoph Brutschin diesen Herbst Gassenarbeiter und andere sozial Engagierte aufgeschreckt hat. Dass diese den Verwaltungsentscheid durch beharrliche Lobbyarbeit vorübergehend abwenden konnten, spricht für sie (siehe Bericht Seite 15). Dass er überhaupt zustande kam, muss zu denken geben. Konkret treffen sollte der Tarif jene potenziellen NotschlafstelleKlienten, die nicht in Basel-Stadt gemeldet sind. Die Leiterin der Sozialhilfe machte keinen Hehl daraus, dass der Verwaltungsentscheid auch eine Abwehrmassnahme hätte sein sollen: Basel dürfe «nicht zu attraktiv» werden, sonst ziehe man Menschen aus den umliegenden Kantonen Aargau, Baselland und Solothurn sowie aus dem Ausland an. Längst ist in vielen Bereichen der Schweizer Sozialpolitik ein Negativwettbewerb darum entbrannt, welcher Kanton, welche Gemeinde die Attraktivität am weitesten herunterfahren kann. «Wir schicken die Menschen in eine Notschlafstelle nach Zürich oder sagen ihnen, welche Tiefgaragen schön warm sind», sagte vor einem Jahr die Leiterin eines Badener Sozialwerks gegenüber Radio SRF. Dasselbe bei den Sozialhilfeleistungen: Im Sommer 2014 forderte die Aargauer Gemeinde Riniken Liegenschaftsbesitzer dazu auf, nicht mehr an Sozialhilfebezüger zu vermieten – die Gemeindefinanzen seien über-

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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lastet. Es hagelte Kritik, dabei verwies der Brief auf ein grundsätzliches Problem: Die Kosten sind ungleich verteilt, der Ausgleich funktioniert nicht. Ein Sozialhilfegesetz auf Bundesebene, das den Sozialbereich harmonisieren würde, findet seit Jahren keine politische Mehrheit. Es ist nicht verwunderlich, dass im föderalen Wettbewerb jeder für sich selbst schaut. Der Staat muss sich nicht um alles kümmern. Wichtig wäre aber, dass er seine eigenen Fundamente nicht preisgibt. Artikel 12 der Bundesverfassung garantiert jedem ein Dach über dem Kopf – und zwar unabhängig davon, ob er 40 Franken im Portemonnaie hat oder nicht. Wenn auswärtigen Obdachlosen und Arbeitsmigranten aus der EU via Preispolitik faktisch die Tür der Notschlafstelle vor dem Gesicht zugeschlagen wird, dann handelt es sich im besten Fall um amtliche Problemverdrängung. Gerade in Basel und Zürich – beides Wirtschaftsstandorte, die in höchstem Mass von der Personenfreizügigkeit profitieren – hinterlässt dies einen schalen Nachgeschmack. Hochqualifizierten und Wohlhabenden rollt man den roten Teppich aus. Jenen, die nicht genehm sind, legt man jeden möglichen Stein in den Weg. Der Fall der Basler Notschlafstelle lässt jedoch auch einen positiven Schluss zu: Arme haben eine Lobby. Engagiertes Insistieren von Gassenorganisationen hat den absurden Entscheid zumindest für die Winterzeit auf Eis gelegt. Das nützt vor allem den direkt Betroffenen. Und doch nützt die Lobby der Armen uns allen. Oder wollen Sie, dass im Jahr 2016 Menschen draussen übernachten müssen, weil sie kein Geld haben – im Winter, in der Schweiz? ■

BILD: ZVG

VON AMIR ALI

Starverkäufer Urs Habegger Rahel Heiniger aus Jona schreibt: «Urs Habegger ist mein Starverkäufer, denn seine gute Laune ist jedes Mal, wenn ich in der Unterführung am Rapperswiler Bahnhof an ihm vorbeigehe, regelrecht ansteckend. Er zeigt, dass man jeden Beruf mit Freude machen kann.»

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Porträt Bewegung für das Unsagbare Die einstige Primaballerina Catherine Habasque bringt Menschen in Krisengebieten zum Tanzen. Sie selbst hat damit geschickt den branchenüblichen frühen Karrieretod überwunden. VON MARA WIRTHLIN (TEXT) UND DOMINIK PLÜSS (BILD)

wurden. Zudem ist Ärzte ohne Grenzen in Kambodscha an einem Besuch von Dancers For the World interessiert. Habasque sagt: «Ich bin selbst so froh und dankbar dafür, was mir das Tanzen alles gegeben hat. Das will ich mit anderen teilen.» Als Vierjährige begann Habasque mit Ausdruckstanz. «Später wollten mich meine Eltern ins Ballett schicken, da ich das Tanzen so sehr liebte», erinnert sie sich, «aber das hielt ich für viel zu ernst». Erst als sie als 11-Jährige eine Sendung über die renommierte Ballettschule der Pariser Oper im Fernsehen sah, wagte sie den Versuch. Sie entdeckte sofort ihre Leidenschaft für diese Tanzrichtung: «Die Ernsthaftigkeit im Ballett fand ich plötzlich sehr positiv», sagt Habasque. «Ich genoss es, in der Disziplin meine Freiheit zu finden.» Disziplin ist ein Schlüsselwort: Auch heute beginnen Habasques Arbeitstage im Morgengrauen und enden am späten Abend. Mit dem Verein hat sie sich zusätzliche Arbeit aufgeladen. Dahinter steht der Wunsch, sich «durch neue Erlebnisse und Begegnungen menschlich weiterzuentwickeln», wie sie sagt. In ihrem Leben verhält es sich im Grunde, wie bei einer Ballerina auf der Bühne: Was mit Leichtigkeit daherkommt und elegant aussieht, ist eigentlich harte Arbeit. Auch wenn ihre Zeiten als Primaballerina vorbei sind, Wehmut oder sogar Frust kommen nicht auf: «Als Choreografin hab ich nun eine neue Leidenschaft.» Zudem tanzt sie weiterhin in eigenen Produktionen. Mit

Im Café, in dem wir uns treffen, zieht Catherine Habasque die Blicke auf sich – nicht nur durch ihr strahlendes Lächeln, viele Leute erkennen die Tänzerin, sprechen sie an: «Frau Habasque, Sie haben so schön getanzt letzten Monat in der Elisabethenkirche!» Habasque stammt aus Paris und hat eine erfolgreiche Karriere als Primaballerina hinter sich. Ein Tänzerinnenleben lang war die heute 50Jährige auf den ganz grossen Bühnen der Welt zuhause, zuletzt als Solistin für sechs Jahre am Theater Basel. Hier tanzte sie im Ensemble des renommierten Choreografen Richard Wherlock, der sie im Jahr 2000 direkt aus Madrid mitgenommen hatte, wo sie zuvor viele Jahre als Haupttänzerin angestellt war. Vor einem Jahr gründete Habasque den Verein Dancers For the World mit dem Ziel, die elitäre Welt des Tanzens für weniger Privilegierte zu öffnen. «Menschen in Krisengebieten sollen durch den körperlichen Ausdruck auf andere Ideen kommen, aber auch Traumata bewältigen und mehr Selbstvertrauen entwickeln», wünscht sich Habasque. Wie kommt eine Balletttänzerin dazu, ein Hilfswerk auf die Beine zu stellen? Inspiriert habe sie unter anderem ein langjähriger Freund, der bei Ärzte ohne Grenzen in Kambodscha arbeitet. Zudem störte sich Habasque an der Abgeschiedenheit professioneller Tänzer: «Wir gehen einen harten Weg und «Tanz geht tiefer, als wir denken. Eine einzige richtige Bewegung kann bleiben deshalb viel unter uns. Bei all dem Tanbereits ein ganzes Leben verändern.» zen, vor dem Spiegel stehen und Trainieren kriegen wir kaum etwas von der Welt um uns herum mit!» Diese Abgeschlossenheit bewirke zwar eine grosse kreative ihrem Verein will sie auch anderen Tänzerinnen und Tänzern Mut maVerbundenheit. Gerade weil die Welt des Tanzes schön sei, «finde ich, chen: «Ich will zeigen, dass wir nicht nur nützlich sind, um bis Ende dass sie sich öffnen sollte», erklärt Habasque. dreissig auf der Bühne zu stehen.» Die erste Reise von Dancers For the World führte im September 2015 Denn Habasque ist überzeugt, dass alle vom Tanzen profitieren könin den Kaukasus, nach Georgien. Die Bewohner der kleinen Stadt Tskalnen. Eine Stärke dieser Kunstform liege darin, dass man sehr viel ertubo seien verarmt und hätten kaum Arbeit, der Ort sei «ausgestorben zählen könne, ohne Geheimnisse direkt auszusprechen: «Wir Tänzer wie eine Geisterstadt», so Habasque. Drei Tänzer aus unterschiedlichen haben das alle gemacht, wir haben unsere privaten Erlebnisse und DraGenerationen und Stilrichtungen mischten sich während zwei Wochen men über unsere Rollen und den körperlichen Ausdruck erzählt, zum in den Alltag der Menschen. Habasques Augen strahlen, wenn sie daBeispiel unsere Liebesgeschichten.» Darin sieht sie ein grosses Potenzivon erzählt: «In Georgien haben wir gemerkt, dass unser Konzept funkal auch für Menschen in Krisengebieten, von denen viele Unaussprechtioniert! Das hat uns enorm motiviert, weiterzumachen.» liches erlebt haben. «Tanz geht tiefer, als wir denken. Wir können damit Am meisten haben sie die Kinder berührt: «Sie sagten, das Projekt haunser Unterbewusstsein erreichen und sehr viel auslösen. Eine einzige be ihnen ein Stück Freiheit geschenkt. Das ist das schönste Kompliment, richtige Bewegung kann bereits ein ganzes Leben verändern.» das ich mir für unsere Arbeit vorstellen kann!» Für die Projekte arbeitet Während der Projektreisen arbeitet Habasque vor allem mit Laien. IhHabasque eng mit Organisationen aus der Entwicklungszusammenarren berufseigenen Perfektionismus muss sie also zuhause lassen. Es sei beit zusammen. Die NGOs empfehlen geeignete Projekte und unterstüteine Umstellung gewesen, das Schlussresultat weniger wichtig zu nehzen und beraten die ehrenamtlichen Tänzer während der Umsetzung. men. Gleichzeitig habe ihr genau dies gefallen, es war für sie eine RückPartnerin für die Reise nach Georgien war die Schweizerische Stiftung kehr zur Essenz des Tanzens. Denn Tanz sei Ausdruck und Emotion, ein für Kunst in Konfliktregionen Artasfoundation, im Frühling besuchen Aspekt, der in der Branche oft verloren gehe: «Auf der professionellen die Tänzer ein Projekt der französischen NGO Caméléon auf den PhiBühne zählt die Leistung, wie man sich fühlt ist zweitrangig. Bei den lippinen, das junge Menschen unterstützt, die Opfer sexueller Gewalt Projekten aber steht wieder der emotionale Ausdruck im Zentrum.» ■

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Rechtsextremismus Kann das gutgehen? Brandanschläge, Aufmärsche, Übergriffe: Mit der Ankunft hunderttausender Flüchtlinge in Europa rückt auch die extreme Rechte in den Fokus. Bericht aus einer Extremsituation in Deutschland – und der Vergleich mit der Schweiz.

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VON FELIX HUESMANN (TEXT UND BILD)

Sie haben mehrere tausend Kilometer und unzählige Strapazen hinter sich. Aber auf den Gesichtern vieler Flüchtlinge, die an einem Sonntagmorgen anfangs September am Dortmunder Hauptbahnhof ankommen, liegt ein Lächeln. Nach Wien, Salzburg und München ist der Ausnahmezustand auch in Dortmund angekommen. Die Stadt, Zentrum des Ruhrpotts und damit der grössten Agglomeration Deutschlands, wird Ankunftsort der sogenannten Züge der Hoffnung, die Tausende Flüchtlinge aus Ungarn über Österreich nach Deutschland bringen. Wer hier ankommt, hat nicht nur ein weiteres Etappenziel auf der langen Flucht erreicht. Die Flüchtlinge werden freudig empfangen, Hunderte stehen mit Plakaten an den Gleisen und am Bahnhofsausgang und singen «Refugees are welcome here». Dortmund zeigt sich von seiner freundlichsten Seite. Einige Stunden zuvor war die Stimmung noch wesentlich angespannter. Mehrere hundert freiwillige Helfer empfangen und sortieren im Hauptbahnhof einen scheinbar endlosen Strom an Spenden für die erwarteten Flüchtlinge. Aus den anfänglich chaotischen Haufen wird schnell ein ordentliches Spendenlager am Bahnhofsausgang. Gegen Mitternacht kommt allerdings der erste Dämpfer für die Euphorie der Helfer: Neonazis kündigen sich zum Spontanprotest gegen Flüchtlinge und Willkommenskultur an.

So sehr die spontane nächtliche Hetze der Neonazis die Dortmunder auch verärgert hat, davon überrascht waren die wenigsten. Längst hat man sich hier an die Provokationen und Negativschlagzeilen gewöhnt. Bereits seit den Achzigerjahren ist die Stadt eine Hochburg der rechten Szene in Westdeutschland. Überfälle, Angriffe, mehrere Tote 1982 gründeten rechte Fussballfans die Hooligangruppe Borussenfront, ein «Hauer-Klub ohne Ende», so die Selbstbezeichnung in einem Video aus jener Zeit. Politisch zwar eindeutig positioniert, galt das Interesse der Beteiligten jedoch eher dem Fussball und der Gewalt als dem Umsturz des politischen Systems. Über Jahre hinweg waren die Hooligans nicht nur für Gewalt auf den Strassen der Stadt verantwortlich, sondern hatten auch im Westfalenstadion wenig Gegenwind zu befürchten – im fussballbegeisterten Dortmund ein verheerendes Zeichen. Auch ausserhalb des Fussballkontexts war die rechte Szene in Dortmund stets aktiv. Bis Mitte der Neunzigerjahre war die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei, eine kleine Nazi-Partei, die Gruppe der Wahl für den organisierten Rechtsextremismus in der Stadt. Nach deren Verbot folgte die Kameradschaft Dortmund und schliesslich Mitte der Nullerjahre ein neues Phänomen, das sich schnell in ganz Deutschland verbreitete: Die Autonomen Nationalisten. Diese junge Garde der Neonazis legte die traditionellen Erkennungszeichen der rechten Subkultur der Neunzigerjahre ab, zog die Springerstiefel, Bomberjacken und biederen Braunhemden aus. Stattdessen kopierten sie Stil und Ausdrucksformen ausgerechnet der Antifa und anderer eher linker Subkulturen. Man gab sich mit Turnschuhen und Jeans ein junges und modernes Aussehen,

Hochburg der rechten Szene Bereits als die knapp 25 Aktivisten der rechtsextremem Splitterpartei Die Rechte mit dem Zug am Bahnhof ankommen, kommt es zu ersten Auseinandersetzungen: Nur von wenigen Polizisten begleitet, stürmen die Neonazis aus der Breiter Widerstand liess lange Zeit auf sich warten, heute aber ist der Bahnhofshalle hinaus und greifen FlüchtlingsKampf gegen Neonazis in der Stadtpolitik und bei der Polizei Chefsache. unterstützer an. Knallkörper explodieren, die Situation ist aufgeheizt und unübersichtlich. trat bei Kundgebungen als «Schwarzer Block» auf. Und die neuen Erst als die Polizei Hunde auf die Neonazis loslässt, beruhigt sich die LaRechtsextremen eigneten sich Musikrichtungen wie Hardcore an. Mittge etwas. Am gut 100 Meter entfernten Kundgebungsort wird endgültig lerweile ist ein geübtes Auge nötig, um einen Neonazi am Äusseren zu klar, dass es den Rechtsextremen nicht um eine inhaltliche Debatte um erkennen. In den Medien kam der Begriff des «Nipsters» auf, also einer das Asylrecht geht. Teilweise sichtlich betrunken, begnügen sie sich Mischung aus dem Nazi und dem urbanen Hipster. damit, ihren politischen Gegnern hinter der Polizeiabsperrung obszöne Nicht nur in Dortmund schafften es die Rechten so, ihre in die Jahre Parolen zuzubrüllen. Es geht um Provokation und das Markieren des gekommene Ideologie auch für junge Leute attraktiver zu machen und Reviers. das Überleben ihrer Szene zu sichern. Immer wieder machten die NeoNoch während die Neonazis um ihr Banner versammelt stehen, auf nazis in der Stadt vor allem durch extreme Gewalt auf sich aufmerksam. dem sie «Sicherheit und Ordnung statt Überfremdung und Multikulti» Überfälle auf eine Punk-Kneipe, Angriffe auf Parteibüros und Gewalt gefordern, werden die Flüchtlingsunterstützer und Nazigegner vor dem gen linke Aktivisten waren lange an der Tagesordnung. Zwischen 2000 Bahnhofseingang immer mehr. Zu diesem Zeitpunkt rechnen sie noch und 2006 wurden allein in Dortmund und Umgebung fünf Menschen damit, dass die mehr als tausend Flüchtlinge bereits in der Nacht anvon Neonazis getötet. kommen und nicht erst mit einiger Verspätung am nächsten Morgen. Als die Polizei die Neonazis nach dem Ende ihrer Kundgebung zurück zum Das verdrängte Naziproblem Bahnhof führt, versuchen sie deshalb den Eingang zu blockieren. Ein Trotzdem liess breiter Widerstand gegen den braunen Mob lange Zeit Aufeinandertreffen der Flüchtlinge mit dem fremdenfeindlichen Mob auf sich warten. Vor allem linksradikale Antifa-Gruppen wiesen stets auf wollen sie um jeden Preis verhindern. das Problem mit dem Rechtsextremismus hin. Weite Teile der Lokalpoli«Nazis raus» und «Siamo tutti antifascisti – Wir sind alle Antifaschistik hingegen schwiegen oder versuchten, das Phänomen kleinzureden. ten» rufen sie den Rechten zu. Die antworten mit «Deutschland den Noch vor wenigen Jahren sagte der Dortmunder Oberbürgermeister UllDeutschen, Ausländer raus», wüsten Beschimpfungen und Drohgebärrich Sierau (SPD), die Stadt habe kein Naziproblem. Die regelmässigen den. Trotz der aufgeheizten Stimmung und der grossen Überzahl der Aktivitäten am rechten Rand würden von Leuten ausgehen, «die heranNazigegner versucht die Polizei schliesslich, die Neonazis in den Bahngekarrt werden und die mit Dortmund nichts zu tun haben». Auch Polihof hinein zu ihrem Gleis zu bringen. Von Erfolg gekrönt ist diese Taktik zei und Staatsanwaltschaft mussten sich immer wieder Untätigkeit im nicht: In der Bahnhofshalle kommt es zu erneuten Blockaden, KaffeeKampf gegen rechte Gewalt vorwerfen lassen. Im Jahr 2010 etwa griffen becher und Plastikflaschen fliegen auf die Rechten. Dazwischen das lauNeonazis die Dortmunder Szene-Kneipe «Hirsch-Q» brutal an und verte Gebell der Polizeihunde. Es dauert nicht lange, bis klar ist, dass es an letzten eine Person durch einen Messerstich. Die Ermittlungen der Staatsdieser Stelle nicht weitergeht. Unter dem Jubel der Flüchtlingsfreunde anwaltschaft kamen allerdings erst in Fahrt, nachdem Antifa-Gruppen im und zu den Klängen spontaner kurdischer Live-Musik werden die NeoInternet eine Auswertung der Überwachungsvideos veröffentlicht und nazis wieder aus dem Bahnhof hinauseskortiert. Über einen anderen mehrere der Täter identifiziert hatten. Zugang reisen sie schliesslich ohne Probleme ab. SURPRISE 366/16

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Anfrage in den sozialen Medien stand die kleine Splitterpartei erneut im In den letzten Jahren hat sich einiges geändert: Heute ist der Kampf Licht der Öffentlichkeit. Weltweit wurde über die Dreistigkeit der Neogegen Neonazis sowohl in der Stadtpolitik als auch bei der Polizei Chefnazis berichtet. Alles in allem: Eine geglückte PR-Kampagne. sache. Letztere hat dafür eigens eine Taskforce eingerichtet, die sich ausWeil solche Provokationen mittlerweile zum Hauptbetätigungsfeld schliesslich mit den Rechtsextremen und ihren zahlreichen Straftaten der Dortmunder Neonazis geworden sind, bezeichnete der Journalist beschäftigt. Und nicht zuletzt ist der Kampf gegen Rechts mittlerweile Sebastian Weiermann sie unlängst als «PR-Nazis». «Gewalttätige Übertief in der Dortmunder Zivilgesellschaft angekommen: Es gibt städtische griffe sorgten für Strafverfahren und Prozesse. Diesem Ärger will man Stellen zur Koordinierung des Widerstands gegen die Neonazis und Iniaus dem Weg gehen», schreibt er in der Wochenzeitung Jungle World. tiativen in mehreren Stadtteilen, die den Rechten Paroli bieten. Stattdessen setzten die Neonazis nun vor allem auf lokale Themen und Auch die Regierung des Bundeslands Nordrhein-Westfalen wollte medienwirksame Provokationen. sich den Vorwurf des Nichtstuns nicht länger gefallen lassen und verbot 2012 nicht nur den Nationalen Widerstand Dortmund, sondern auch zwei weitere rechte Einen Tag nach Ankunft der ersten Flüchtlinge richtete sich ein Anführer Kameradschaften in Aachen und Hamm. Neder Partei an die Flüchtlingsunterstützer: Er hoffe, dass die Männer ausben den Gewaltdelikten diente vor allem die geraubt und die Frauen vergewaltigt würden. offensichtliche Nähe zum historischen Nationalsozialismus als Begründung für das Verbot. Diese Provokationen richteten sich im vergangenen Jahr vor allem Für Dortmunds Rechtsextremisten bedeutete das vor allem den Verlust gegen Flüchtlinge und ihre Unterstützer. In der ersten Jahreshälfte 2015 ihrer Infrastruktur: Das «Nationale Zentrum», in dem sie sich bis dahin gingen die Neonazis wöchentlich gegen die Einrichtung neuer Flüchtwöchentlich trafen, wurde geschlossen und Gelder beschlagnahmt. lingsunterkünfte in Dortmunder Stadtteilen auf die Strasse. Als syrische Die Regierung sprach damals von einem «schweren Schlag» gegen die Flüchtlinge in Dortmund ein Protestcamp errichteten, um auf die lange rechte Szene. Diese gab jedoch nicht klein bei. Einige Tage nach dem Dauer ihrer Asylverfahren hinzuweisen, nutzte Die Rechte auch das für Verbot veröffentlichten die Neonazis ein Video im Internet, in dem sie ihre Propaganda. Öffentlich solidarisierten sich die deutschen Neonazis mit Pyrotechnik hantieren und die Flaggen Israels und der USA vermit dem syrischen Machthaber Assad. Einen Tag nach der Ankunft der brennen. Der Titel: «Der Widerstand ist eine Hydra» – jene Gestalt aus ersten «Züge der Hoffnung» anfangs September in Dortmund richtete der griechischen Mythologie, der zwei Köpfe nachwachsen, wenn ihr eisich der stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei auf einer Kundner abgeschlagen wird. gebung an die Flüchtlingsunterstützer am Bahnhof: Er hoffe, dass die Männer unter ihnen von Flüchtlingen ausgeraubt und die Frauen vergeVom Stadion in den Stadtrat waltigt würden. Kurz darauf wurde klar, wie gut die Dortmunder Neonazis auf ein Verbot vorbereitet waren. Einige von ihnen traten der bis dahin bedeuGegenprotest und Willkommenskultur tungslosen Partei Die Rechte bei, die wenige Monate zuvor gegründet So virulent das Nazi-Problem Dortmunds auch ist, eines unterscheiworden war. Schnell wurden ein Landesverband und mehrere Kreisverdet die Stadt sehr deutlich von vielen Orten im Osten Deutschlands, wo bände aus dem Boden gestampft. Der Clou: Parteien geniessen in regelmässig tausende Menschen gegen Flüchtlinge auf die Strasse geDeutschland einen besonderen Schutz. Ihr Verbot kann nur durch das hen. Der harte Kern der Szene besteht hier nur aus wenigen Dutzend Bundesverfassungsgericht erfolgen, die Hürden dafür sind hoch. Aktivisten – auch bei Demonstrationen und Kundgebungen kommen Zur Kommunalwahl 2014 nahmen die erklärten Demokratiefeinde nur selten mehr zusammen. Von einer breiten gesellschaftlichen Basis dann sogar am demokratischen Prozess teil. Als Spitzenkandidaten sind die Neonazis in Dortmund weit entfernt. schickte die Partei Siegfried Borchardt ins Rennen – einen vielfach vorDie Gegenproteste hingegen sind regelmässig bedeutend grösser als bestraften Neonazi, der auch über die Stadtgrenzen hinaus als «SS-Sigdie rechten Aufmärsche selbst. Und die Flüchtlingsunterstützer verfügi» besser bekannt ist. Borchardt war schon in den Achtzigern unter den gen im Gegensatz zu den Neonazis über ein breites Netzwerk in der Gründern des bis heute bestehenden «Hauer-Klubs» Borussenfront. In städtischen Gesellschaft. Die deutliche Willkommensgeste, mit der tauDortmund ist er so etwas wie eine Art Gallionsfigur der rechten Szene. sende Flüchtlinge im September empfangen wurden, war dabei ledigMit einem Prozent der Stimmen wurde «SS-Siggi» im Mai 2014 in den lich der medienwirksame Höhepunkt der Hilfsbereitschaft. Hunderte Stadtrat gewählt, die Dortmunder Legislative. Noch am Abend der Wahl Dortmunder engagieren sich in Initiativen wie dem Verein «Projekt Anzeigte er mit seinen Anhängern, was sich unter dem Deckmantel der lekommen». Der Verein begleitet Flüchtlinge bei der Wohnungssuche und galen Partei verbirgt: Die Parole «Deutschland den Deutschen, Ausländer bei Behördengängen und bietet kostenlose Deutschkurse an. Dazu raus» grölend, zogen sie vor das Rathaus. Als Vertreter verschiedener kommt eine ganze Palette an Freizeitangeboten. «Es gibt immer wieder Parteien sich dem aggressiven Mob in den Weg stellten, griffen die Neoneue tolle Ideen, was man noch machen könnte», sagt Astrid Cramer, nazis sie mit Fäusten und Sektflaschen an. Ein weiteres Mal bescherten die seit dem Anfang dabei ist. Gemeinsam mit Flüchtlingen zu Heimdie Neonazis der Stadt einen zweifelhaften Weltruhm: Sogar die New spielen des BVB zu gehen zum Beispiel. York Times berichtete über den neuen Ratsvertreter von rechts. Auch ein kleiner Fussballverein in der Nachbarschaft einer Notunterkunft engagiert sich. Schon länger haben Flüchtlinge in den reguProvokation und PR lären Mannschaften des «BSV Fortuna» mittrainiert. Weil der Andrang Borchardts Karriere im Stadtrat sollte aber nur von kurzer Dauer sein: so gross war, hat der Verein jüngst sogar eine eigene Flüchtlings-MannBereits zwei Monate später trat «SS-Siggi» von seinem Amt zurück und schaft eingerichtet. Und während des Protestcamps der syrischen liess Dennis Giemsch nachrücken, einen jüngeren Neonazi, der zwei Flüchtlinge verabschiedete der Stadtrat eine Resolution, die sich mit ihJahre zuvor noch an der Spitze des Nationalen Widerstands gestanden ren Anliegen solidarisierte. Beispiele wie diese lassen sich in der Ruhrwar. Im Stadtrat macht Die Rechte seitdem vor allem mit gezielten Progebietsstadt viele finden. Und die Stimmung in der Bevölkerung? «Ich vokationen von sich reden. glaube immer noch eher positiv», sagt Astrid Cramer. Erfahrung mit MiIn einer Anfrage an den Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Siegration hat die Stadt schliesslich auch reichlich: Zur Geschichte der eherau wollte Giemsch beispielsweise wissen, wie viele Juden in den Dortmaligen Industriemetropole, in der heute fast jeder Dritte einen Migramunder Stadtteilen leben. Eine Frage, die Erinnerungen an die dunkelstionshintergrund hat, gehört sie fest dazu. ten Tage der deutschen Geschichte weckt. Nach Bekanntwerden der ■

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Auch die Schweiz hat eine fest etablierte Neonazi-Szene, die als gewaltbereit eingestuft wird. Ăœberwacht werden sie jedoch kaum.

Skins wohnen der 1. August-Feier 2001 auf dem Flugplatz Interlaken bei. SURPRISE 366/16

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Rechtsextremismus Heimlich, still und leise


Erscheinung. Ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist aber gering, sie vermögen die Szene nicht überregional zu bündeln. Die schweizweit aktive Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) nahm an den letzten Nationalratswahlen teil – ohne Erfolg. Ihre Jubiläumsfeier zum 15-jährigen Bestehen blieb trotz internationaler Gäste ohne Resonanz.

VON FABIAN EBERHARD

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Die jungen Männer johlen. Soeben haben sie einen orthodoxen Juden erblickt. Der Gläubige Mitte 40 ist auf dem Heimweg von der Synagoge, als sie sich ihm an einer Strassenkreuzung in Zürich-Wiedikon in den Weg stellen. Es ist der 4. Juli 2015, kurz vor 18 Uhr. Ein Anführer der rund 20-köpfigen Gruppe spuckt dem Gläubigen ins Gesicht und schreit «Scheissjude». Seine Kameraden feuern ihn an, strecken den Arm zum Hitlergruss aus. Jetzt schubst er den Juden, sagt ihm, dass er nach Auschwitz gehen soll. Erst als die von Passanten alarmierte Polizei eingreift, lassen die Männer ihr Opfer in Ruhe. Die Angreifer sind militante Rechtsextreme, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Im Gegensatz zu Deutschland, wo Gewalttaten von Neonazis Alltag sind, hält sich die Szene in der Schweiz bedeckt. Aufmärsche und Attacken wie am 4. Juli sind selten. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) schreibt in seinem aktuellen Lagebericht: «Rechtsextreme suchen nicht den grossen Auftritt, sondern halten sich von der Öffentlichkeit möglichst fern.» Fakt ist aber auch: In der Schweiz ist nach wie vor eine organisierte, gewaltbereite Neonazi-Szene aktiv. Der NDB schätzt die Anzahl gewaltbereiter Fremdenfeinde auf rund 1000 Personen. Ein Viertel davon ist nicht nur gewaltbereit, sondern auch gewalttätig. «Vereinzelt wurde festgestellt, dass Rechtsextreme den Umgang und Kampf mit Waffen trainieren», schreibt der NDB. Schusswaffen würden gesammelt, gehandelt und «gegebenenfalls auch eingesetzt». Und: Es sei anzunehmen, dass es in der Szene vielfach grössere Sammlungen funktionstüchtiger Waffen gebe. Der Grossteil der Aktivisten lebt in den Kantonen Genf, Bern, Zürich, St. Gallen und Aargau. Laut dem NDB ist der Rechtsextremismus immer noch ein «eher ländliches Phänomen». Als wichtigste Organisationen treten seit Jahren Blood & Honour und die Schweizer Hammerskins in

Schweizer Bundesfeier 2003: während der Rede von SVP-Politiker Freysinger.

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Rassisten nicht nur am rechten Rand Die Schweizer Rechtsextremisten beschränken ihre Aktivitäten momentan vor allem auf Propaganda-Aktionen gegen Flüchtlinge und Muslime. In einem kürzlich an Haushalte in der Nordwestschweiz verteilten Flyer schürte die PNOS Angst vor den ankommenden Migranten: «Bitte geht niemals abends alleine auf die Strasse. Speziell Bahnhöfe, Haltestellen und öffentliche Plätze sind Treffpunkt der Flüchtlinge.» Die Partei empfiehlt: «Legt euch Notrationen und Mittel zur ersten Verteidigung zu.» Der Aufruf wäre zum Lachen, würden es die Parteiverantwortlichen nicht ernst meinen. Militante Aktionen gegen Flüchtlinge blieben in der Schweiz bisher weitgehend aus. Keine brennenden Asylunterkünfte, keine Schlägereien, keine Krawalle. Der gravierendste Vorfall waren Hakenkreuz-Schmierereien rund um eine geplante Flüchtlingsunterkunft im thurgauischen Sulgen. Die rassistische Rhetorik gegen Migranten übernehmen andere. Mit Erfolg: Im Sommer rief SVP-Präsident Toni Brunner die Bevölkerung auf, aktiven Widerstand gegen die offizielle Asylpolitik zu leisten. Die Bürger, so rief Brunner an einer Parteiversammlung in den Saal, sollten sich gegen neue Asylzentren wehren. Ziviler Ungehorsam, angestiftet von der grössten Schweizer Partei. Ein Spiel mit den Ängsten der Bevölkerung, ein Spiel mit dem Feuer. Denn wie gross das Misstrauen gegenüber den staatlichen Asyl-Behörden und den Flüchtlingen in gewissen Bevölkerungskreisen bereits ist, zeigen neben rassistischen Kommentaren auf Online-Plattformen auch fremdenfeindliche Aufläufe. «Amden läuft Sturm gegen Asylsuchende», titelte die Zeitung Blick im Mai. Weil in der St. Galler Gemeinde 120 Flüchtlinge untergebracht werden sollten, artete eine Informationsveranstaltung des Kantons in tumultartige Szenen aus. «Die kommen hierher, fressen, saufen und leben in Saus und Braus.» Verschwinden sollen sie, die «Chrüzcheibe», so ein älterer Herr aus dem Dorf. Andere Pensionäre erzählten vor laufender Kamera, wie die Flüchtlinge ihre Frauen «anpöbeln und betatschen». Auch in anderen Gemeinden fanden rassistische Proteste gegen geplante Asylunterkünfte statt. Im Kanton Aargau versammelten sich Hunderte zum «Protestgrillen» in Aarburg und zu Demonstrationen in Bettwil. Offener Hass gegen Asylsuchende. Nicht von kahlrasierten Neonazis, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Hohes Gewaltpotenzial Die Neonazis schafften es bisher nicht, die fremdenfeindliche Stimmung für sich zu nutzen. Was passiert aber, wenn der Migrationsdruck auf die Schweiz wächst, wenn die Anzahl Asylgesuche wie in Deutschland in die Höhe schnellt? Gut möglich, dass dann nicht nur fremdenfeindliches Gedankengut salonfähig wird, sondern auch militante Protestformen zunehmen. Umso wichtiger wäre es, die rechtsextreme Szene scharf zu beobachten. Im Gegensatz zu den deutschen Behörden überwacht der Bund die Fremdenfeinde jedoch nicht. Registriert wird nur, wer Gewalt ausübt oder damit droht. «Wir betreiben keine Gesinnungsschnüffelei», sagt Verteidigungsminister Ueli Maurer. Dies führt dazu, dass Neonazis trotz Hakenkreuz-Tattoos ungehindert Militärdienst leisten können und extremistische Konzerte meist toleriert werden. Ein fataler Fehler? Klar ist: Rassistisches Gedankengut kann schnell in Gewalt ausarten. Das zeigt nicht zuletzt die antisemitische Attacke von Wiedikon. Eine Tatsache, die auch den Behörden bewusst ist. In einem Nebensatz des neusten Entwurfes für einen Sicherheitspolitischen Bericht schreibt der Bundesrat: «In rechtsextremen Kreisen besteht ein terroristisches oder gewaltextremistisches Potenzial, das sich innert kurzer Zeit realisieren kann.» ■ SURPRISE 366/16


Obdachlosigkeit (Doch nicht) für 40 Franken in die Notschlafstelle Eine Schweizer Notschlafstelle wäre beinahe zur teuersten der Welt geworden. Was private soziale Einrichtungen tun können, wenn der Staat nicht will: Ein Beispiel aus Basel und ein Blick nach Zürich.

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VON AMIR ALI (TEXT) UND ROLAND SCHMID (BILD)

den sollten. Bisher konnten Institutionen mit Sitz in Basel-Stadt Übernachtungen für Auswärtige zum Einheimischen-Tarif übernehmen. Wenn zum Beispiel der Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter, die Wärmestube Soup&Chill, die Winterhilfe oder die Gassenküche der Notschlafstelle jemanden zuwiesen und die Kosten dafür übernahmen, bezahlten sie dafür den tieferen Lokaltarif – unabhängig davon, wo der Klient gemeldet war. «Das wurde immer ganz selbstverständlich so gehandhabt», sagt Soup&Chill-Präsidentin Claudia Adrario de Roche und verweist auf Artikel 12 der Bundesverfassung, der jedem Menschen in

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Beinahe wäre dies die Geschichte einer Niederlage geworden. Die Geschichte eines Entscheides, der irgendwo im obersten Stockwerk eines Basler Verwaltungsgebäudes gefällt wurde und unter dem Menschen gelitten hätten, die in einer Schweizer Stadt auf der Strasse leben. Nun ist es eine Erzählung darüber, was Druck von unten bewirken kann. Im Sommer verschickte die Sozialhilfe Basel-Stadt ein Rundschreiben, adressiert an jene niederschwelligen Einrichtungen, die mit Obdachlosen, Süchtigen und anderen Menschen am Rand der Gesellschaft arbeiten. Unter dem «Ein Schlafsack würde so viel kosten wie eine Nacht in der NotschlafBetreff «Neue Tarife in der Notschlafstelle Basel-Stadt» informierte die Amtsleitung über eistelle. Aber damit kommen die Leute länger durch.» ne Preiserhöhung, die per 1. September 2015 Claudia Adrario de Roche, Soup&Chill in Kraft trat. Man sehe sich dazu gezwungen, weil die Tarife der Notschlafstelle «über viele der Schweiz das Recht auf Obdach garantiert – «egal, aus welchem KanJahre» nicht angepasst worden seien, hiess es in dem von Amtsleiterin ton er ist und ob er sich die 40 Franken leisten kann.» Nicole Wagner unterzeichneten Schreiben. Für in Basel-Stadt gemeldete Personen sollte eine Übernachtung neu 7.50 Franken statt wie bisher Schlafsäcke und Zelte als Notmassnahme 6 Franken kosten. Alle anderen sollten 40 Franken pro Nacht zahlen. Die neuen Pläne der Verwaltung sollten damit Schluss machen. Neu Die eigentliche Änderung, über die der Brief der Sozialhilfe inforhätten Auswärtige den Lokaltarif nur noch während einer Woche erhalmierte, lag jedoch nicht in den Tarifen selbst. Auswärtige bezahlen seit ten – und nur noch einmalig. Die Konsequenz, so Tobias Hochstrasser, jeher mehr als Ansässige. «Die Notschlafstelle soll in erster Linie ein AnGassenarbeiter beim Schwarzen Peter: Die «Tour zwischen den Institugebot für Baslerinnen und Basler sein», erklärte Amtsleiterin Nicole tionen», mit der mehrere private Einrichtungen im Turnus obdachlose Wagner den Entscheid gegenüber Surprise. Schliesslich finanziere der Menschen zum günstigeren Tarif durch die kalte Zeit brachten, wäre Kanton – genauer die Sozialhilfe im Departement für Wirtschaft, Sozianicht mehr möglich gewesen. Ohne zu übertreiben: Basel wäre zur teules und Umwelt von SP-Regierungsrat Christoph Brutschin – deren Beersten Notschlafstelle der Welt geworden. triebskosten zu rund 80 Prozent. Die neue Regelung habe man aus administrativen Gründen eingeWas bei den privaten Einrichtungen in Basel-Stadt jedoch für rote führt, sagt Wagner: «Wir wollten eine einheitliche Preisstruktur.» Sie Köpfe sorgte, sind die Bedingungen, zu denen die Tarife gewährt wer-

«Es ist einfach so, dass viele Leute nicht aus der Stadt sind», sagt Sieber-Sprecher Walter von Arburg: Blick in den Pfuusbus.

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gemeldet ist. Falls es im Februar immer noch kalt ist, werde eine Verräumt jedoch ein, dass politische Beweggründe mitspielten und weist längerung geprüft. auch auf die Zentrumsleistungen hin, die Basel-Stadt erbringe. In den Sozialhilfeleiterin Wagner spricht von einem «Wintertarif». Und umliegenden Kantonen Baselland, Solothurn und Aargau gebe es keine macht klar: Der 40-Franken-Plan ist nicht vom Tisch. Man habe eingeähnlich niederschwelligen Angebote. «Basel-Stadt kann nicht die ganze sehen, dass es weniger Aufruhr verursache, wenn man die neue RegeRegion abdecken», sagt Wagner. «Wir können nicht unendlich attraktiv lung auf den Sommer hin einführe. So könnten Erfahrungen gesammelt sein für alle.» werden. Und ohnehin: «Wir gehen nicht davon aus, dass die neue PreisSorgen um einen zu guten Ruf musste sich die Basler Notschlafstelle struktur grosse Auswirkungen haben wird.» Gassenarbeiter Hochstrasallerdings noch nie machen. In einem Monitoringbericht der Gesundser befürchtet, man werde im kommenden Herbst wieder gleich weit heitsdienste wird eine durchschnittliche Auslastung von lediglich 74 sein: «Die Erfahrungen aus dem Sommer werden nicht aussagekräftig Prozent ausgewiesen – und das ist bereits ein Höchstwert. «Wer kann, sein. Das Problem verschiebt sich einfach.» schläft woanders», erklärt Surprise-Stadtführer Markus Christen, der auf einem seiner Rundgänge auch die Notschlafstelle zeigt. Er selbst musste Pfarrer Sieber springt in die Lücke zwar nie dort übernachten. Aus Gesprächen mit Nutzern der NotschlafEin Blick nach Zürich zeigt, wie private Initiativen in die Lücke sprinstelle weiss er aber: «Man kann dort nicht wirklich schlafen.» Die Atmogen können, wenn staatliche Strukturen den Bedarf nicht oder ungenüsphäre sei lärmig und das Potenzial für Handgreiflichkeiten hoch. gend abdecken. Dort richteten die Sozialwerke Pfarrer Sieber im Jahr Ein Blick auf die Zahlen zeigt, was die amtliche Änderung für Folgen 2002 den Pfuusbus mit 30 Gratis-Schlafplätzen ein, weil die städtische hätte haben können: Von Januar bis Ende August machten Auswärtige Notschlafstelle überlastet war. Seither ist der Pfuusbus ein Fixpunkt in laut Amtsleiterin Wagner 31 Prozent der Übernachtenden aus. Der Verein Schwarzer Peter zum Beispiel stellte im Jahr 2014 für Ansässige und Auswärtige insge«Es kommt niemand in die Schweiz, nur weil er bei uns eine Woche samt für 273 Übernachtungen Kostengutspralang auf einer Matratze am Boden schlafen darf.» chen aus. Gutsprachen über 40 Franken dürften mit der neuen Regelung der Sozialhilfe Walter von Arburg, Sozialwerke Pfarrer Sieber häufiger nötig werden, sagt Hochstrasser. Sein Verein könne sich das aber nur in NotsituatioZürichs Gassenleben: «Die Stadt hat auch ein Interesse daran, dass es nen leisten. «Ich befürchte, dass Menschen deswegen draussen werden uns gibt», sagt Walter von Arburg, der Mediensprecher der Sieber-Werschlafen müssen.» Ähnlich klingt es bei Soup&Chill-Präsidentin Adrario ke. Die Zusammenarbeit funktioniere sehr gut. de Roche, deren Einrichtung pro Saison für bis zu 3000 Franken ÜberAuch in der Zürcher Notschlafstelle gibt es Einschränkungen für nachtungen bezahlt. 40 Franken für die Notschlafstelle zu bezahlen finMenschen, die nicht in der Stadt angemeldet sind. Auswärtige bezahlen de sie «absurd», sagt sie. «Da kann man die Leute ja genauso gut in die dort zwar wie die Einheimischen nur 5 Franken pro Übernachtung, dürJugendherberge schicken.» fen das Angebot aber nur für eine Nacht nutzen. «Danach werden sie Die neue Regelung hätte einerseits Leute betroffen, die ihren Lebenszum Beispiel in den Pfuusbus weitergeschickt», sagt von Arburg. Ummittelpunkt zwar in Basel haben, deren Papiere aber nicht mehr gültig gekehrt komme in der Notschlafstelle unter, wer sich im Pfuusbus zum sind oder die sonstige administrative Probleme haben. Andererseits, so Beispiel ein temporäres Hausverbot einhandle. Von Arburg stellt aber Gassenarbeiter Hochstrasser, gehe es um «eine grosse Zahl von Leuten klar: «Es ist einfach so, dass viele Leute nicht aus der Stadt sind, das änaus dem Schengen-Raum», die sich legal wärend drei Monaten in der dern auch die Regeln nicht.» Schweiz aufhalten können – etwa zur Arbeitssuche. Mit der Notunterkunft Iglu haben die Sozialwerke Pfarrer Sieber im Bei den privaten Basler Einrichtungen war man alarmiert. Der EntWinter vor zwei Jahren zudem die erste Einrichtung für Arbeitsmigranscheid sei «nicht umsetzbar, wenn man Artikel 12 der Bundesverfassung ten in Betrieb genommen. Das sei nötig geworden, weil es im Pfuusbus über das Recht auf Hilfe in Notlagen garantieren will», sagte Hochstraszu Konflikten zwischen Schweizer Obdachlosen und EU-Bürgern auf Arser. Sowohl die Wärmestube Soup&Chill als auch der Verein Schwarzer beitssuche gekommen war. «Unsere alteingesessenen Klienten sind von Peter begannen «an Notfallszenarien zu basteln», wie sich Claudia Adrader Gesellschaft Ausgestossene mit psychischen Schwierigkeiten und rio de Roche von Soup&Chill ausdrückte. Beide Organisationen beSuchtproblemen», erklärt von Arburg. «Diese Leute brauchen eine Geschafften Dutzende Schlafsäcke und Zelte. Ein Schlafsack ist zwar auch meinschaft.» Die Arbeitsmigranten hätten ganz andere Bedürfnisse – nicht billig. «Aber damit kommen die Leute länger durch», sagt Adrario Ruhe zum Beispiel. Und schliesslich hätten sich die Eingesessenen von de Roche. den Zuwanderern konkurrenziert gefühlt. Bei der Stadt habe man abgewiegelt: «Man sagte uns, es gebe kein Druck von unten Problem mit obdachlosen Arbeitsmigranten», so von Arburg. Er ist überWährend sie sich und ihre Klientel auf diese spektakuläre Art für zeugt, dass hier wie in Basel befürchtet wurde, mit der Schaffung von den Winter rüsteten, setzten die Organisationen weiterhin auf den poAngeboten steigere man die Nachfrage. Von Arburg sieht mit dem Iglu litischen Weg. den Gegenbeweis erbracht. Die 20 Plätze, die den Leuten für jeweils maAuf Anregung von Claudia Adrario de Roche reichte die CVP-Grossximal eine Woche zur Verfügung stehen, seien manchmal voll belegt. rätin Beatrice Isler eine Anfrage an die Regierung ein. Vertreter mehreDann wieder sei die Unterkunft halb leer. Das zeige: «Es braucht das rer Organisationen, darunter Adrario de Roche von Soup&Chill und Iglu. Aber es kommt niemand in die Schweiz, nur weil er bei uns eine Hochstrasser vom Schwarzen Peter, trafen sich mehrmals mit Vertretern Woche lang auf einer Matratze am Boden schlafen darf.» der Sozialhilfe und des zuständigen Departements – auf allen Stufen. ■ Der Druck von unten zeigte schrittweise Wirkung. Noch am 3. Dezember sagte Amtsleiterin Wagner gegenüber Surprise, man sei entschlossen, die neue Regelung anzuwenden. Später am selben Tag machte das Amt den Einrichtungen gegenüber bereits ein erstes Zugeständnis. Und noch einmal fünf Tage später zog sich das Amt auf Feld eins zurück. Bis Ende Februar gilt die alte Regelung: Jede Übernachtung kostet für Basler Institutionen 7.50 Franken, egal wo die Person SURPRISE 366/16

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Asyl Hotline für besorgte Bürger Seit September sind in der Oltener Zivilschutzanlage Gheid Asylsuchende untergebracht. Weil der Kanton den Unmut der Anwohner fürchtet, hat er eine Hotline einrichten lassen. Wir haben angerufen.

VON RAMONA THOMMEN

Guten Tag. Ich rufe an, um mehr über Ihre Hotline zu erfahren. Wer sind Sie und was machen Sie? Guten Tag, Ralph Spirgi hier. Ich bin der Leiter des Durchgangszentrums Gheid in Olten. Die Nummer verbindet Sie mit unserem Büro, das sich in der gleichen Zivilschutzanlage befindet, in der die Asylsuchenden leben. Wir betreuen die hier untergebrachten Menschen – und stehen nebenbei der Bevölkerung 24 Stunden am Tag telefonisch zur Verfügung. Leute mit Fragen zur Asylunterkunft, die ein Problem melden möchten oder etwas beobachtet haben, können uns anrufen. Mit welchen Anliegen meldet man sich bei Ihnen? Um ehrlich zu sein: Sie sind die Erste, die uns seit September anruft. Damals wurden das Zentrum und auch die Hotline eingerichtet.

te sein, die fahren keine Autos. Uns ist es wichtig, dass wir in der Bevölkerung präsent sind, so dass sich nicht aufgrund von Unklarheiten, Auffälligkeiten oder tatsächlichen, ungelösten Problemen Wut aufstaut. Birgt die Hotline nicht auch eine gewisse Problematik? Immerhin stellen Sie den Einheimischen damit eine Telefonnummer zur Verfügung, bei der sie sich über «die Fremden» informieren können. Uns ist es wichtig, dass Asylsuchende nicht wie Ausstellungsstücke behandelt werden. Wir wollen nicht, dass Leute aus reiner Neugier durch unser Zentrum gehen. Es ist zwar eine Art riesige WG, in der tatsächlich mindestens 80 Personen leben, dennoch ist uns der Schutz der Privatsphäre der einzelnen Bewohner wichtig. Im Normalfall ist es ja auch so, dass wir nicht einfach die Wohnungen von Personen betreten, die wir nicht kennen. Die Hotline hat für mich eine andere Bedeutung, denn aus Erfahrung kann ich sagen, dass es teilweise Dinge gibt, die Asylbewerbende nicht so machen, wie wir das in der Schweiz vielleicht gewohnt sind. In einem Zentrum gab es beispielsweise den Fall, dass sich eine Kassiererin des örtlichen Lebensmittelladens gemeldet hat, weil die Asylsuchenden die Kasse blockierten und lange kleine Münzen zusammensuchten. Das kann ich mir in meinem Alltag gar nicht vorstellen: Wenn ich einkaufe, geht das zackig. Also haben wir die Sache bei einem Hausmeeting im Zentrum besprochen und danach war es gut.

Allerdings rechneten Sie mit Anrufen. Ja, aber wir werten es als sehr positiv, dass uns noch niemand kontaktiert hat. Das kann ein Zeichen dafür sein, dass es bisher mit unseren Leuten, also mit den Asylbewerbern, die im Gheid wohnen, keine Probleme gab. Wir wussten nicht, mit welchen Fragen wir zu rechnen hatten, doch kennen wir die Thematik durch unsere Erfahrung in anderen Zentren: Da gab es einen Fall, bei dem einem Bauern immer die untersten Äpfel an den Bäu«Wissen Sie, als Erwachsener traut man sich oft nicht mehr, die einmen fehlten. Der Bauer wusste nicht, an wen fachsten Fragen zu stellen, die einen beschäftigen.» er sich wenden sollte: an die Polizei oder die Ralph Spirgi, Leiter Asylzentrum Gheid Gemeinde? Schliesslich rief er beim nahegelegenen Asylzentrum an, um nachzufragen. GeDennoch ist mir nicht ganz klar, weshalb es überhaupt eine Anlaufmeinsam stellte man fest, dass es wohl die Kinder aus dem Zentrum wastelle geben muss, wo man Fragen stellen kann. ren, die einfach gerne Äpfel assen. Wir wollen für solche Anliegen eine Wissen Sie, als Erwachsener traut man sich oft nicht mehr, die einfachsdirekte Anlaufstelle bieten. Dabei geht es absolut nicht darum, jemanten Fragen zu stellen, die einen beschäftigen. Gerade die Asylthematik den vorzuverurteilen. wirft doch Fragen auf – das ist ganz normal. Ich wünsche mir, dass man diese stellt und darauf eine Antwort erhält. Sonst laufen wir Gefahr, dass Aber in Zusammenhang mit dem Durchgangszentrum Gheid gab es sich aus dem Unverständnis eine Wut bildet. Selbst wir vom Betreuerbisher keine solchen Probleme? team haben manchmal Fragen. Hier arbeiten neben Sozialarbeitern Zumindest rief niemand aus solchen Gründen an. Wir versuchen aber auch einige aus dem Service, Architekten oder Sozialpädagogen. Was auch, aktiv auf andere zuzugehen: So haben wir beispielsweise beim sie verbindet: Sie interessieren sich für das Asylthema und wollen sich Aldi in der Nähe nachgefragt, ob es etwas zu berichten gäbe – gab es einbringen. Und trotzdem verstehen auch wir nicht alles. Kürzlich hatnicht –, und hinterlegten unsere Nummer. Und mit dem Werkhof der ten wir so einen Fall: Ein Asylbewerber musste seine Kreditkarte im Gemeinde hatten wir eine kleine Geschichte, die aber nicht über die Empfangs- und Verfahrenszentrum den Behörden abgeben. Da tauchte Hotline lief. innerhalb des Teams die Frage auf: «Weshalb hat ein Asylbewerber überhaupt eine Kreditkarte?» Da musste ich erklären, dass ein AsylgeWas ist da passiert? such absolut gar nichts mit den finanziellen Möglichkeiten, dem Status Werkhof-Mitarbeitende meldeten sich, weil ihnen aufgefallen war, dass oder der Bildung einer Person zu tun hat. Ein Asylsuchender muss nicht an sogenannten Hotspots, wo unsere Asylbewerber durchgehen, vermittellos sein. Es gibt durchaus Menschen, die beispielsweise aus polimehrt Abfall herumlag. Wir fragten unsere Leute und fanden bei unsetischen Gründen flüchten und genügend Geld auf dem Konto haben. ren Nachforschungen heraus, dass an den betreffenden Stellen oft Abfall aus Autofenstern geworfen wird. Definitiv können das nicht unsere Leu-

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In Olten ist der Notruf Prävention, an der Expo.02 (im Bild) war er Installation.

Angenommen, jemand riefe bei Ihnen an: Worüber würden Sie keine Auskunft geben? Etwas vom Wichtigsten für uns sind Datenschutz und Privatsphäre. Wir verraten weder die Namen unserer Bewohner noch geben wir Auskünfte zu einzelnen Personen. Wenn jemand beispielsweise wissen will, ob der Mohammed hier wohne, dann sagen wir: Sie können gern vorbeikommen und uns genau erklären, wen Sie weshalb suchen. Es gibt ja immer wieder Asylsuchende, die vor spezifischen Personen geflüchtet sind, beispielsweise aus politischen Gründen. Es wäre deshalb irrsinnig, wenn wir offen über unsere Bewohner sprechen würden. Unsere Bewohner wissen auch, dass der Datenschutz gewährleistet ist und sie diesbezüglich bei uns sicher sind. Wissen die Asylsuchenden aus dem Gheid auch, dass es diese Hotline gibt? Ja. Wir versuchen, alle zu sensibilisieren: mögliche Anrufer und unsere Bewohner. Letztere wissen zum Beispiel, dass sie anders wirken, wenn sie zu dritt durch die Stadt gehen, als wenn sie zu sechzigst sind. Es braucht viel Verständnis und Fingerspitzengefühl von beiden Seiten. Aber ich muss Olten loben: Die Asylbewerbenden fühlen sich hier freundlich behandelt und respektiert. Das ist nicht selbstverständlich. Ist die Akzeptanz in Olten grösser als andernorts? Ich kenne die genauen Verhältnisse andernorts nicht. Womöglich aber schon. Für mich gibt es dafür zwei Gründe: Das Gheid ist zwar in Olten, aber es liegt nicht mitten in der Stadt, sondern etwas ausserhalb. Unsere Nachbarn sind Baufirmen und ein Flugplatz. Das schafft ein wenig Distanz. Zudem hat Olten grosse Erfahrung mit Ausländern. Der Anteil hier ist sehr hoch, und das wirkt sich positiv auf die Akzeptanz aus. SURPRISE 366/16

Es ist immer wieder ein Thema, dass Private Asylbewerbern helfen möchten. Wie gehen Sie damit um? Grundsätzlich stehe ich beispielsweise Einladungen von Privaten skeptisch gegenüber. Wir wollen Enttäuschungen auf beiden Seiten vermeiden. Auch sollen unsere Asylbewerbenden nicht für die schnelle Gewissensberuhigung der Einheimischen herhalten müssen. Wissen Sie, oft sind sich die Leute nicht bewusst, worauf sie sich einlassen, weil sie von Euphorie angetrieben sind. Sie wollen helfen und laden ein kleines, herziges Kind zum Essen ein. Dazu gehört halt auch noch ein grosser Vater und eine Mutter, die womöglich eine laute Stimme hat – das ist den Einladenden oft nicht klar. Ich schliesse solche Anfragen nicht kategorisch aus, und wenn jemand etwas tun will für unsere Bewohner, können wir darüber reden. Mir ist dabei einfach wichtig, dass sie merken, worauf sie sich einlassen. Und dass sie keine Einladungen aus falschen Hoffnungen aussprechen. Aber wir freuen uns immer darüber, wenn Vereine mit unseren Leuten Fussball spielen gehen. Oder sie zu einer Party einladen. Das ist in Olten schon zweimal passiert. Ich danke Ihnen für das Gespräch. Danke auch. Auf Wiederhören.

Ralph Spirgi, 50, ist Leiter des Asylzentrums Gheid in Olten. Er arbeitet seit zehn Jahren im Asylwesen und seit fünf Jahren bei der ORS Service AG. Das gewinnorientierte Unternehmen ist spezialisiert auf die Betreuung von Asylsuchenden und Flüchtlingen und arbeitet mit Bund, Kantonen und Gemeinden zusammen.

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Birgit Minichmayr als Marlies in Elisabeth Scharangs «Jack».

Solothurner Filmtage Varianten, die in einer Geschichte stecken

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Die Solothurner Filmtage werfen ein Schlaglicht auf die Schauspielerbesetzung. Dabei erklären europäische Casterinnen, wie man mit verschiedenen Schauspielern die gleiche Geschichte ganz anders erzählen kann. Und gehen der Frage nach, wieso ihr Beruf so frauenlastig ist.

VON DIANA FREI

auch Andrea Štakas «Cure – The Life of Another» und Thomas Imbachs «Mary Queen of Scots» besetzt hat. «Meistens ist der Job schlecht bezahlt, und berühmt wirst du nicht damit.» Trotzdem hat sie auch eine These für die Frauenlastigkeit, die weniger sexistische Gründe in den Raum stellt: «Beim Casting braucht es Kriterien, die auf einer feinstofflichen Ebene liegen. Voraussetzung ist ein enger Bezug zu Menschen, und es braucht Einfühlungsvermögen – Eigenschaften und Soft Skills, die vielen Frauen vermutlich einfach liegen.» Aber das Feinstoffliche und die Intuition treffen sehr schnell auf Zeit und Geld. Dann steht die Langeweile, wenn man immer die fünf gleichen Schauspieler auf der Leinwand sieht, der Tatsache gegenüber, dass es sich mit Leuten, die viel Erfahrung mitbringen, effizienter arbeiten lässt. «Produzenten sind oft für letztere Variante, weil es für die Finanzierung besser funktioniert», sagt Lisa Oláh. «Wenn du eine Ko-Produktion machst und im jeweiligen Land einen Star an Bord hast, ist es einfacher, die Fördergelder zu bekommen.»

Als letztes Jahr der neue Bond-Film «Spectre» startete, unterhielten wir uns beim Nachtessen mit Freunden darüber, ob Daniel Craig zu wenig Gentleman sei, wieso die sonst so geheimnisvolle Léa Seydoux ausgerechnet hier erstarre wie das Kaninchen vor der Schlange und ob Christoph Waltz zu klein sei, um böse zu sein, oder vielleicht die falschen Schuhe trage. Und nach langem Tratschen fiel uns irgendwann auf: Wir reden zwar oft und gerne über die Schauspieler, aber von der Person, die alle die Rollen besetzt hat, haben wir meistens nie gehört. Beatrice Kruger? Sie hat für den oben erwähnten Bond die italienischen Schauspieler besetzt und in Petra Volpes «Traumland» sowohl die Prostituiertenszene als auch die heile gutbürgerliche Welt in Fleisch und Blut modelliert. Judith Chalier? Sie hat in Abdellatif Kechiches «La Vie d’Adèle» Léa Seydoux in einer siebenminütigen Sexszene auf uns losgelassen. Laure Cochener? Muss man sich merken, denn sie zeigt in «Keeper» mit Galatea Bellugi an der Seite von Kacey Mottet Klein ein TeenieDer Geist beherrscht den Text nicht Mädchen, das so echt gefühlt vom Leben geohrfeigt wird, dass man fast Dabei ist das Casting ein Spielfeld, das grossen Einfluss auf die Ernicht anders als mitweinen kann. Lisa Oláh? Sie hat einen minderjährizählung haben kann. «Du entscheidest dich mit jedem Schauspieler für gen Kleinkriminellen aus Zürichs Hinterhöfen geholt und in Simon Jaeinen anderen Film», sagt Lisa Oláh. In Solothurn präsentiert Oláh quemets «Chrieg» auf die Leinwand gebracht. «Jack», einen Film über Jack Unterweger – nach dem realen Vorbild des Sie alle werden an den Solothurner Filmtagen Werke präsentieren, österreichischen Mörders und Poeten, der sich 1994 selbst umbrachte. die sie gecastet haben. Aber der Casting Director, wie der Beruf offiziell Johannes Krisch, in Österreich als Filmgrösse und Burgschauspieler beheisst, hat oft einen schweren Stand. Das bildet sich auch in den Preiskannt, spielt den titelgebenden Protagonisten, Birgit Minichmayr («Alle kategorien bei Filmpreisen ab. Seit 2013 hat das Casting Department anderen», «Das weisse Band») die Journalistin Marlies, eine der zentrazwar einen eigenen Sitz in der Academy of Motion Picture Art and len Frauenfiguren. Dass Krisch eine Schauspielerin vom Kaliber MiSciences, die die Oscars verleiht, aber den Preis auch gewinnen können nichmayrs gegenüberstehen musste, war zwingend: Die Frau muss ihm die Casterinnen und Caster noch immer nicht. Man findet die Besetzung das Wasser reichen können, und zwar auf den ersten Blick, für das Puim Gegensatz zu Kamera oder Ausstattung schlicht zu unbedeutend. blikum intuitiv fassbar. Wäre das nicht klar, würde sie für Jack sofort In der Schweiz ist Corinna Glaus die bekannteste Casterin; auch sie zum Love Interest, zum leichten Opfer – was nicht die Absicht der Erkommt nach Solothurn. Immerhin hat sie 2004 den Schweizer Filmpreis gewonnen, aber eine eigene Kategorie fürs Casting gibt es auch hier nicht: Es war der Jury«Wir haben im Umfeld des realen Jack Unterweger preis – ein Spezialpreis, der für ausserordentgecastet. Es gibt im Film einen Darsteller, der sieben liche Leistungen im Schweizer Filmschaffen Jahre lang in der Gefängniszelle neben ihm war.» frei vergeben werden kann. «Es ist ein ständiLisa Oláh, Casting Director ger Kampf darum, dass man überhaupt in den Titeln erscheint», sagt Corinna Glaus, und sie selber hat viel dafür getan, den Beruf hierzuzählung ist. Auch das Milieu wird nicht zuletzt mittels Besetzung auflande aufzubauen. 1997 begann sie selbständig mit einer eigenen Cagebaut. «In vielen Fällen wählt man Schauspieler, die tatsächlich aus sting-Firma, fast parallel dazu hat das Schweizer Fernsehen mit Ruth dem passenden sozialen Umfeld kommen oder eine entsprechende SoHirschfeld den Beruf ebenfalls weiter etabliert. Weil lange Zeit die meizialisierung haben», sagt Lisa Oláh. «Wir haben im direkten Umfeld des sten Filme auf Hochdeutsch gedreht wurden, castete man vorher realen Jack Unterweger gecastet. Es gibt im Film einen Darsteller, der hauptsächlich in Deutschland. Ende der Neunzigerjahre begann man sieben Jahre lang in der Gefängniszelle neben ihm war. Und wir haben sowohl im Fernsehen als auch im Kino vermehrt auf Schweizerdeutsch eine Darstellerin, die tatsächlich eine Ikone der Unterwelt-Szene ist und zu drehen. Unterweger kannte.» Für Andrea Štakas «Cure – The Life of Another» hat Lisa Oláh in den Intuition versus Budgetvorgaben Schulen von Dubrovnik nach der zweiten Hauptrolle gesucht: nach dem Passend zum schwierigen Berufsstatus springt ins Auge, dass meiseinen von zwei Mädchen, einer Art Geist des anderen. «In der Endaustens Frauen das Casting machen. «Früher haben es einfach die Sekretäwahl blieben zwei Teenager übrig. Eine sehr ernst, konzentriert, schnell rinnen oder die Produzenten und Regisseure selbst gemacht», sagt die und sportlich, die ihren Text perfekt beherrschte. Die andere viel weiösterreichische Casterin Lisa Oláh, die in der Schweiz neben «Chrieg» SURPRISE 366/16

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Heidis Filmfamilie – mit Anuk Steffen und Bruno Ganz. Links Regisseur Gsponer.

Johannes Krisch als «Jack», mit Corinna Harfouch.

Lucia Radulovic´ (rechts) als geisterhaftes Mädchen in «Cure – The Life of Another».

Galatea Bellugi und Kacey Mottet Klein in «Keeper».

nen Buchhalter spielt», sagt Corinna Glaus. «Irgendwo trägt man auch cher, unentschieden, die Texte konnte sie sich nicht recht merken», sagt die vorangegangenen Rollen mit und färbt im Kopf des Zuschauers und Lisa Oláh. Es musste dann die zweite sein: weil sie ein Geist ist, der der Regie die Wahrnehmung. Wenn er danach eine andere Hauptrolle Druck auf das lebende Mädchen ausübt. «Es ist eine andere Art von Bespielt, hat er innerhalb des neuen Films eher die Möglichkeit, sich wiedrohung, wenn das eine viel unberechenbarere Gestalt ist, als wenn sie der ein neues Image zu erarbeiten. Spielt er bloss eine Nebenrolle, sehr akkurat daherkommt.» nimmt er sein altes Image viel stärker mit.» Ruth Hirschfeld, die zuDie gegebene Persönlichkeit spielt natürlich immer mit, bei Laien sammen mit Corinna Glaus für das Casting des «Schellen-Ursli» verantund Kindern noch stärker als bei ausgebildeten Schauspielern. Anuk wortlich zeichnet, hat den Goalie als Vater der Titelfigur besetzt, und Steffen, die in Alain Gsponers «Heidi» die Hauptrolle spielte, war schon mit dem Schnauz und der Käserschürze lässt er ein bisschen vergessen, im ersten Casting dabei, und Corinna Glaus wusste damals schon, dass mit welcher Rolle er bekannt geworden ist. sie es sein müsste. Glaus war sowohl an «Heidi» als auch an Xavier Kollers «Schellen-Ursli», die beide Ende letztes Jahr angelaufen sind, als Casterin massgeblich «Man trägt die vorangegangenen Rollen mit. Ein Marcus beteiligt. «Eher aus Zufall», wie sie sagt, hat sie Signer wird immer der Goalie sein, auch wenn er einen sich mit ihrer Firma nebenher auf Kinder und Beamten oder einen Buchhalter spielt.» Jugendliche spezialisiert. Beim Kindercasting Corinna Glaus, Casting Director kommt eine hohe menschliche Verantwortung dazu. Eine Filmhauptrolle ist für ein Kind wie Leistungssport. Das Kind muss nicht nur eine Die Überlegungen, die man sich in Bezug auf die Besetzung machen gewisse Reife und Spielintelligenz zeigen, es muss auch mit Autoritäten kann und muss, sind vielfältig. Die Frage ist letzten Endes: Mag man umgehen können, die weder seine Eltern noch seine Lehrer sind. In der diesem Menschen 90 Minuten lang zuschauen, mit all den Höhen und Entscheidung kommt dann das Ensemble als Ganzes stark zum Tragen: Tiefen, die seine Figur durchlebt? Ist es eine Persönlichkeit, in der man Kinder und Jugendliche haben im Film meistens Eltern, sind Teil einer immer wieder neu suchen muss, die nicht sofort klare Antworten gibt? Familie. Und die muss zusammenpassen. Klar ist: Das Casting ist eine Kategorie, die einen Film massgeblich prägt. Genauso wie Kamera und Ausstattung. Der Goalie mit der Käserschürze ■ Schauspieler können ganze Vorstellungswelten mit sich herumtragen, und sie tragen eine Filmografie mit sich: Bruno Ganz ist immer ein 51. Solothurner Filmtage, 21. bis 28. Januar, Fokustag «Gut besetzt!» mit Talkrunbisschen weise (und vielleicht etwas eigenbrötlerisch, zum Beispiel als den, Di, 26. Januar. «Jack» (A 2015, Regie: Elisabeth Scharang) und «Keeper» Alpöhi in «Heidi»), Roeland Wiesnekker hat etwas von einem Tunicht(CH/BE/FR 2015, Regie: Guillaume Senez) laufen neben anderen Filmen im Rahmen gut (zuletzt in «Rider Jack», Casting: Corinna Glaus). «Ein Marcus Sigdes Casting-Fokus über die gesamte Woche verteilt. «Keeper» läuft ab 25. Februar ner wird immer der Goalie sein, auch wenn er einen Beamten oder eiauch im regulären Kinoprogramm. www.solothurnerfilmtage.ch

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Fremd für Deutschsprachige Eigene Worte Neulich bin ich auf dem Estrich meiner Eltern auf eine Kiste mit alten Aufsatzheften gestossen. Sorgsam hatte meine Mutter diese in Plastiktüten verstaut und vor Staub und Spinnweben geschützt – und so einen wertvollen Einblick in das Inklusionskonzept der Schweizer Primarschulen der Neunzigerjahre konserviert. Auf einem der in Geschenkpapier eingefassten Hefte steht «Schultagebuch 2. Klasse». Darin übten wir, unser Erlebtes in Worte zu fassen. Die Lehrerin dazu immer: Erzählt eure Geschichten in euren eigenen Worten. War es denn möglich, fragte ich mich, in den Worten von jemand anderem zu erzählen? Im Aufsatz vom Mai 1990 lesen wir: «Am Sonntag gingen wir mit der ganzen Familie in den Wald. Wir marschierten auf einen Berg. Und als wir da waren, suchten wir zuerst einSURPRISE 366/16

mal Holz. Als es 12 Uhr war, brätelten wir Würste. Danach wanderten wir wieder nach Hause, wo wir alle ein Eis bekamen.» Wirklich: Würste?! Es ist zwar sehr wahrscheinlich, dass eine Familie in der Schweiz am Sonntag den 20. Mai um 12 Uhr Würste briet – aber ob das die Jasharis waren? Der Verdacht, dass ich an diesem Tag gelernt habe, Märchen statt Geschichten zu erzählen, liegt nahe. Und bestätigt sich weiter hinten im Heft, wo ich, Tochter muslimisch-albanischer Eltern, «Weihnachten bei uns zu Hause» beschreibe – das volle Programm: Geschmückter Baum, fetter Gänsebraten, Berge von Geschenken, Weihnachtslieder. Note: 5,5! Die Aufgaben der Lehrerin passten oft schlicht nicht auf mein Leben. Also passte ich mein Leben den Aufgaben an. Ich wusste ja aus dem Fernsehen und von den Erzählungen anderer Kinder, wie Weihnachten geht, was da so ungefähr vorkommen sollte. Und schrieb daraus das Märchen vom normalen Weihnachtsfest. Doch wo waren die Sonn- und Feiertage, die ich tatsächlich erlebte? War es falsch, am Sonntag etwas anderes zu tun, als im Wald Würste zu braten? Die pädagogisch-didaktischen Konzepte haben sich seit meiner Schulzeit sicherlich ein Stück an die Realitäten angenähert. Auf herkunftsoriginelle Kinder wie mich wird heute stärker eingegangen. Zum Beispiel mit sogenanntem HSK-Unterricht. Dieser beruht auf der Eigen-

initiative verschiedener migrantischer Verbände. Hier lernen die Kinder zum Beispiel die albanische Sprache. Und mehr noch: Wo ihre eigentliche Heimat ist, und wie die dazugehörige Kultur auszusehen hat. Dies ist bereits dem vielsagenden Namen HSK zu entnehmen: Heimatliche Sprache und Kultur. Die Heimat dieser Kinder, die in der Schweiz geboren wurden und zumeist schon die «dritte Generation» bilden, ist also nicht die Schweiz. Und schlägt man das entsprechende Geschichtslehrbuch auf, finden sich dort zwei Doppelseiten zur Diaspora, wo es heisst: «Die Diaspora stellt ein wichtiges und untrennbares Element des Volkes dar. Obwohl in der Migration, haben sie Augen und Herz auf ihr Vaterland gerichtet.» Da bleibt kein Zweifel übrig, wo solche wie wir hingehören – darin scheinen sich obligatorisches wie fakultatives Schulsystem einig zu sein. Und was finden wir Weihnachtslügnerinnen und untrennbare Elemente des Volkes selbst dazu? Nun ja, mittlerweile ist mir jedenfalls klar, wie wichtig die Lektion gewesen wäre, die uns die Lehrerin damals beibringen wollte: Die eigene Geschichte in den eigenen Worten zu erzählen.

SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH)

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Kultur

Auch Büezer dürfen Ferien machen.

Die Krankenschwester gehörte zu den Ersten, die verstrahlte Menschen sterben sah.

Buch Ferien für alle

Kino Schweigen über Hiroshima

«Vorwärts zum Genuss» erzählt die Geschichte der Arbeiterferien und Arbeiterhotels.

Aya Domenig zeigt im Dokfilm «Als die Sonne vom Himmel fiel» anhand der eigenen Familiengeschichte, warum die Erinnerung an Hiroshima auch nach 70 Jahren immer noch wichtig ist.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON THOMAS OEHLER

Manche Errungenschaft, die heute selbstverständlich scheint, ist verblüffend jüngeren Datums. Bekannt dafür ist etwa das Frauenstimmrecht in der Schweiz, das erst 1971 eingeführt wurde (im Kanton Appenzell Innerrhoden gar erst 1990). Kaum anders aber sieht es auch mit dem Recht auf Ferien aus, das nur fünf Jahre früher, 1966, die gesetzlichen Hürden nahm. Ende des 19. Jahrhunderts lag solches für die Arbeiterklasse noch in weiter Ferne. Müssiggang war den Reichen und Adeligen vorbehalten, die in Palasthotels die Bergfrische genossen. Und für die Gewerkschaften hatte der Kampf um die 48-Stunden-Woche oberste Priorität. Erst als diese eingeführt war und den prekären Zuständen der frühen Industrialisierung mit ihren 15-Stunden-Tagen ein Ende gesetzt, kam das Thema Ferien auf die gewerkschaftliche Agenda. Waren dies anfangs nur wenige Tage, abhängig von Dienstalter und Firmenzugehörigkeit, so errichteten die Gewerkschaften dennoch schon bald für ihre Mitglieder die erschwinglichen Einrichtungen dazu: die ersten Arbeiterhotels an einigen der schönsten Orte der Schweiz. In den Fünfziger- bis Siebzigerjahren kam es zu einem regelrechten Bauboom, der allerdings kaum noch reale Bedürfnisse befriedigen musste. Steigende Einkommen, günstige Auslandsferien, wachsende Konkurrenz, Massentourismus und Globalisierung läuteten bereits das Ende dieser Ära ein. Ferien für alle wurden zum Wirtschaftsfaktor und Konsumartikel. Die Arbeiterhotels suchten ihr Heil als Bildungs- und Seminarzentren. Inzwischen wurden die meisten verkauft. Ein von der Gewerkschaft Unia in Auftrag gegebener Sammelband beleuchtet nun in einem Essay die Geschichte der Arbeiterferien, umrahmt von Zeitzeugenberichten, Fotostrecken und Texten von fünf Schreibenden, die einige der ehemaligen Arbeiterhotels vor deren Verkauf besucht haben. Daraus entstanden literarische Schwanengesänge, die in ganz unterschiedlichen Handschriften die verblassenden Spuren der Vergangenheit einfangen. Stefan Keller (Hrsg.): Vorwärts zum Genuss. Von Arbeiterferien und Arbeiterhotels. Rotpunktverlag 2014. 37.90 CHF

Die schweizerisch-japanische Regisseurin Aya Domenig hatte zynisches Glück: Angelegt war ihr Film ursprünglich als persönliche Suche nach den Erlebnissen ihres Grossvaters nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima 1945. Er war als junger Arzt einer der Ersten, der vor Ort den Überlebenden medizinische Hilfe bieten konnte. Erzählt hat er davon nie, weder seiner Frau noch seiner Enkelin. Dieses Schweigen ist symptomatisch für den Umgang der japanischen Gesellschaft mit der Bombe: Eine Verarbeitung blieb aus, das Ereignis wurde totgeschwiegen. Sei es, weil die amerikanische Besatzung verboten hatte, darüber zu sprechen, sei es, weil Strahlenopfer in Japan fürchten mussten, gesellschaftlich und beruflich benachteiligt zu werden. Domenigs Suche nach den Erinnerungen des Grossvaters an die Erlebnisse in Hiroshima führt sie zu beeindruckenden Persönlichkeiten. Vor allem eine ehemalige Krankenschwester und ein damaliger Arzt verblüffen durch ihre Offenheit. Beide verstehen es als ihre Berufung, über die Folgen der atomaren Explosion zu reden. Angehört wurden sie bisher kaum je. Der Film wäre familiäre Trauma-Arbeit geblieben, hätte das Unglück nicht noch während der Dreharbeiten eine Verdoppelung erfahren: die Explosion des Reaktors von Fukushima. Plötzlich schien es in Japan möglich, offen über die negativen Folgen der atomaren Nutzung zu reden und so auch über die gesundheitlichen Langzeitschäden der Verstrahlung. Tausende gingen auf die Strasse, die Schwester und der Arzt fanden endlich Gehör. Aya Domenig verfolgt mit ihrem Filmteam die Entwicklung des Protestes bis zur skandalösen erneuten Verharmlosung durch die Regierung. Der so entstandene Film ist ein glühender Aufruf, die Erinnerung an die atomare Katastrophe hochzuhalten. Im Umgang mit Fukushima den Fehler des Schweigens nicht zu wiederholen. Und letztlich ist er ein Plädoyer gegen die Nutzung der Atomkraft – ohne dabei allzu moralisierend zu werden, denn die Geschichte des Grossvaters gibt dem Schrecken ein Gesicht. Es zeigt, dass hinter Worten und Ereignissen, hinter dem Reden und Schweigen darüber immer Menschen stehen, die betroffen sind. Aya Domenig: «Als die Sonne vom Himmel fiel», CH 2015, 78 Min. Der Film läuft zurzeit in den Deutschschweizer Kinos.

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Dieses Huhn hat viele Eier gelegt. Helfen Sie mit, dass sein Tod nicht umsonst war.

Piatto forte Mit alten Hühnern lernt man kochen Nicht immer ist das zarteste Brüstchen oder das feinste Filet auch das schmackhafteste. Zudem ist die kalte Jahreszeit ideal, um etwas Kräftiges zu kochen: ein Suppenhuhn. VON TOM WIEDERKEHR

Wer Eier isst, zählt darauf, dass eine Legehenne regelmässig ihre Eier legt. Leider tut sie das nach ihrem ersten Lebensjahr nicht mehr so zuverlässig, so dass ihr Leben zu diesem Zeitpunkt meistens ein jähes Ende nimmt. Zwar ist aufgrund neuer Ernährungsgewohnheiten der Konsum von Hühner-Charcuterie gestiegen, dennoch sterben jährlich weit mehr Legehühner, als konsumiert werden. Wenn alle Menschen in der Schweiz, welche Eier verwenden, ein Mal im Jahr ein Suppenhuhn essen würden, dann müsste keine der zwei Millionen Legehennen in der Schweiz mehr zu Biogas verarbeitet werden. Ein Suppenhuhn zu kochen, verlangt auch kein grosses Können, nur etwas Zeit. Zuerst einmal kann es am Geflügelstand auf dem Markt oder auf Vorbestellung beim Metzger gekauft werden. Praktischerweise müssen wir das Huhn heute auch nicht mehr selbst ausnehmen, und auch Kopf, Hals und Füsse sind schon entsorgt. Wobei man just aus dem Hals früher auch eine knusprige Mahlzeit gebraten hat, die jedes Chickennugget blass aussehen lässt – aber das ist eine andere Geschichte. Das Huhn also kurz waschen und am Stück mit drei Liter kaltem Wasser aufsetzen. Je nach Vorliebe grob geschnittenes Wintergemüse wie Rüebli, Lauch, Sellerie, Zwiebeln – für eine schöne Farbe der Brühe am besten mit Schale –, Knoblauch, Wirz und so weiter hinzugeben. Ein Tee-Ei oder Gaze-Säckchen mit Gewürzen wie Pfeffer- und Senfkörner, Thymian, Estragon, Wacholderbeeren füllen und dazu legen. Wer experimentierfreudig ist, kann auch eine Zimtstange und etwas Sternanis nehmen. Gesalzen wird allerdings erst am Schluss. Jetzt alles zugedeckt auf kleinem Feuer für mindestens drei Stunden knapp sieden lassen. Das Huhn danach aus dem Sud nehmen – das Fleisch fällt dabei fast von alleine vom Knochen – die Gewürze entfernen und mit Salz abschmecken. Wer dazu Kohlenhydrate braucht, kocht separat ein paar Suppennudeln. Aber auch alleine mit dem Gemüse und dem zarten Hühnerfleisch erhält man eine wunderbar kräftige und aromatische Suppe, welche auch schon manch beginnender Grippe den Garaus gemacht hat

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Doppelrahm GmbH, Zürich

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Hofstetter Holding AG, Bern

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CMF Zentrum für Achtsamkeit, Zürich

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Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

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PS: Immotreuhand GmbH, Zürich

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Bruno Jakob Organisations-Beratung, Pfäffikon

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Jeker Architekten SIA AG, Basel

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

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Projectway GmbH, Köniz

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Yogaloft GmbH, Rapperswil SG

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Madlen Blösch, geld & so, Basel

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Dr. Charles Olivier, Murten

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Yolanda Schneider Logopädie, Liebefeld

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten

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Netzpilot Communication, Basel

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Balcart AG, Therwil

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Bezugsquellen und Rezepte: www.piattoforte.ch/surprise

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BILD: REUTERS/MAX ROSSI

Mira Weingärtner verkaufte letztes Jahr unter Anleitung von Daniel Binggeli in Bern probehalber Surprise.

Rollentausch Raus aus der Komfortzone Vom 1. bis 4. Februar laden wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, zu einem Perspektivenwechsel ein. Mit der «Vendor Week», der «Verkäuferwoche», lenken Strassenzeitungen weltweit die Aufmerksamkeit auf ihre Verkaufenden. Bei Surprise findet zum zweiten Mal der Rollentausch statt. Das heisst: Leserinnen und Leser tauschen den Platz mit den Strassenverkäufern und verkaufen das Heft selbst. Machen Sie mit!

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Perspektivenwechsel Wie überzeugt man Menschen vom Kauf eines Strassenmagazins? Wer sieht hin und wer schaut weg? Wie verschafft man sich Beachtung, ohne zu aufdringlich zu sein? Mit dem Heft in der Hand auf der Strasse zu stehen, heisst sich exponieren. Seine eigene schwierige Situation sichtbar machen. Damit werden die Verkaufenden ein Stück weit auch zum Stellvertreter von anderen, die nahe daran sind, durchs soziale Netz zu fallen. Aber sie stehen auch auf der Strasse, um sich selbst zu helfen. Und aktiv zu werden, statt sich an den Rand des Gesellschaft drängen zu lassen. Mit der Teilnahme am Rollentausch zeigen Sie ihre Solidarität und Wertschätzung gegenüber armutsbetroffenen Menschen. Der Erlös des Heftverkaufs kommt den Verkaufenden direkt zugute. Sie geben Ihnen vorab auch Tipps, erzählen Ihnen von ihren Arbeitserfahrungen und begleiten Sie zum Verkaufsstandort. Rund 30 Strassenverkäuferinnen und –verkäufer freuen sich darauf, ihre Leserinnen und Leser beim Rollentausch kennenzulernen.

Wie machen Sie mit? Melden Sie sich telefonisch oder per Mail am Standort Ihrer Wahl für einen Rollentausch an und besprechen Sie mit den Surprise-Mitarbeitern Details Ihres Einsatzes wie Länge, Zeit und Ort. Basel: Spalentorweg 20, Tel. 061 564 90 83 oder 85, basel@vereinsurprise.ch Bern: Pappelweg 21, Tel. 031 332 53 93 oder 079 389 78 02, bern@vereinsurprise.ch Zürich: Kanzleistr. 107, Tel. 044 242 72 11 oder 079 636 46 12, zuerich@vereinsurprise.ch Wenn Sie wollen, können Sie uns bei Ihrer Anmeldung ein Selfie und ein paar kurze Infos zu sich zukommen lassen, damit Ihr Tauschpartner Sie vorab etwas kennenlernen kann.

Rollentausch – aber mit wem? Sie sind Fan des HC Davos oder tanzen gerne? Dann finden Sie auf den folgenden Seiten gleichgesinnte Surprise-Verkaufende. Sie können direkt einen Verkäufer angeben, den sie beim Rollentausch gerne kennenlernen würden – wir bemühen uns darum, dass das klappt – oder Sie lassen sich überraschen. Weitere Verkäuferinnen und Verkäufer werden auch auf Facebook vorgestellt: www.facebook.com/VereinSurprise/ Ihr Einsatz Am vereinbarten Termin treffen Sie sich mit «Ihrem» Verkäufer, mit «Ihrer» Verkäuferin in einem der Büros in Basel, Bern oder Zürich. Sie erhalten eine Infomappe, ein Surprise-Käppi sowie einen Verkäuferausweis und natürlich jede Menge hilfreiche Tipps, wie Sie das Heft am besten verkaufen. Am Donnerstag, 4. Februar haben Sie an den Apéros in Basel, Bern und Zürich die Möglichkeit, sich mit anderen Teilnehmern, mit dem Surprise-Team und den Verkäufern über die Erfahrungen und Eindrücke auszutauschen. Die genauen Verkaufszeiten und -orte von Beat Jans, Knackeboul und Greis werden zeitnah auf www.facebook.com/vereinsurprise bekanntgegeben.

Rollentausch Wir machen mit!

Rapper und Moderator Knackeboul wird am Mittwoch, 3. Februar in Zürich Surprise verkaufen. Seine Motivation mitzumachen: «Ich bewundere die Verkäufer, wie sie täglich motiviert ihrer Aufgabe nachgehen. Ich möchte erfahren, wie sich das anfühlt, wie die Passanten sich verhalten und wie ich mit den Reaktionen umgehe.»

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«Ich will den Surprise-Verkaufenden zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen. Sie verdienen unseren Respekt», sagt der Basler SP-Nationalrat Beat Jans, der im Surprise-Vorstand sitzt. Er nimmt in Basel am Rollentausch teil.

Musiker Greis hat für den Rollentausch in Bern zugesagt. «Die Surprise-Verkaufenden machen einen irren Job. Sie sind für mich die wahren Symbole unserer Städte.»

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Name: Nicolas Gabriel Alter: 51 Bei Surprise seit: 2003 Verkaufsstandort: Europabrücke Zürich Über mich: «Für mich ist der soziale Kontakt mit anderen Menschen sehr wichtig. Neben der Altenpflege geniesse ich die Zeit draussen mit dem Verkauf vom Surprise.»

Name: Markus Thaler Alter: 45 Bei Surprise seit: 2008 Verkaufsstandort: Bahnhof Aarau und Zürich Über mich: «Der christliche Glaube ist meine Heimat und mein Anker.»

Name: Peter Conrath Alter: 54 Bei Surprise seit: 2009 Verkaufsstandort: Schaffhausen und Zürich Über mich: «Ich arbeite bei Migros am Take-Away-Stand, Surprise ist mein zweites Standbein und ich fühle mich sehr wohl im Team.»

Name: Maria Stancu Alter: 46 Bei Surprise seit: 2004, immer wieder mit Unterbrechungen Verkaufsstandort: Spalenberg Basel Über mich: «Ich lache gerne und tanze mit den Nachbarn. Nur indem ich Surprise verkaufe, kann ich meinen Kindern helfen.»

Name: Daniel Stutz Alter: 42 Bei Surprise seit: 2008, nach längerer Pause Neubeginn 2011 Verkaufsstandort: Paradeplatz und Rathausbrücke/Niederdorf Zürich Über mich: «Meine Hobbys sind Versteinerungen und Mineralien, frei nach dem Motto ‹Steinreich und trotzdem kein Geld›.»

Name: Haimanot Ghebremichael Alter: 41 Bei Surprise seit: 2009 Verkaufsstandort: Hauptbahnhof bei der Welle Bern Über mich: «Ich verkaufe das Heft und bin bei SurPlus, einem speziellen Förderprogramm von Surprise, das mir gewisse Sicherheiten wie Urlaubsgeld oder Taggeld bei Krankheit bietet. Das macht mir das Leben etwas leichter.»

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Name: Awet Iyasu Alter: 36 Bei Surprise seit: 2008 Verkaufsstandort: Freudenbergzentrum Bern Über mich: «Vor meiner Arbeit bei Surprise habe ich ein Praktikum im Hausdienst und in der Reinigung absolviert. Momentan bin ich auf Stellensuche in diesem Bereich.»

Name: Ramadan Mohamed Alter: 44 Bei Surprise seit: 2013 Verkaufsstandort: Kornhausplatz Bern Über mich: «Beim Verkaufen kann ich meine starken Rückenschmerzen ein wenig vergessen.»

Name: Oliver Guntli Alter: 37 Bei Surprise seit: 2014 Verkaufsstandort: Marktgasse-Migros Bern Über mich: «Der Surprise-Verkauf ist mir wichtig, ich gebe immer vollen Einsatz.»

Name: Ekoevi Koulekpato (Bob) Alter: 47 Bei Surprise seit: 2006 Verkaufsstandort: Marktplatz Basel, vor dem Rathaus Über mich: «Wenn ich nicht Surprise verkaufe, spiele ich Gitarre, koche oder kümmere mich um meine Kinder. Surprise ist für mich eine Arbeit, die mir in vieler Hinsicht hilft.»

Name: Rada Holenweger Alter: 68 Jahre Bei Surprise seit: 2009 Verkaufsstandort: Coop Europe, Clarastrasse Basel Über mich: «Zuhause bin ich traurig, weil ich dort alleine bin. Beim Surprise-Verkauf kann ich mit Leuten sprechen und lachen und ihnen beim Einkaufen zuschauen.»

Name: Anka Stojko Alter: 53 Bei Surprise seit: 2000 Verkaufsstandort: Hauptpost Basel Über mich: «Wenn ich nicht Surprise verkaufe, bin ich zuhause und helfe einer alten Frau aus meiner Familie, die krank ist.»

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Verkäuferporträt «Schritt für Schritt aufwärts» BILD: IMO

Der Druck am Arbeitsplatz und Schicksalsschläge zwangen Ändu Hebeisen (46) in die Knie. Dass Alkohol nicht der richtige Ratgeber war, merkte er zu spät. Heute lebt er abstinent und arbeitet sich zurück ins Leben. AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

«Vor einem Jahr hat mir einer von Surprise erzählt und gesagt, er überlege sich, mit dem Heftverkauf anzufangen. Weil ich in dieser Zeit intensiv Arbeit suchte, um möglichst bald von der Sozialhilfe wegzukommen, meldete ich mich im Büro Bern. Bevor ich anfing, brauchte es jedoch zwei Gespräche mit einem Vertriebsmitarbeiter. Für mich bedeutete das Hinaustreten in die Öffentlichkeit eine ziemliche Hemmschwelle, immerhin war ich mal Abteilungsleiter in einer Baufirma und verantwortlich für die Disposition der Chauffeure und Maschinisten. Weil mir zu Beginn Verkaufsorte zugeteilt wurden, an denen nicht so viele Leute vorbeikamen, war der Anfang doppelt harzig. Aber jetzt, wo ich meinen Platz im Berner Hauptbahnhof habe, läuft es super. Und ich muss sagen, wenn ich einen oder zwei Tage nicht verkaufen gehe, fehlt mir etwas. Viele Leute fragen mich, wie ich es in diesem Menschenstrom aushalte. Ich stehe ja dort, wo es zu den Geleisen geht. Aber mir macht es nichts aus, im Gegenteil, für mich ist das fast wie Meditation. Ich stehe dann dort und gehe meinen Gedanken nach, bis ich das nächste Heft verkaufe. Dadurch, dass mich Leute immer wieder fragen, ob das Heft immer noch fünf Franken koste, habe ich gemerkt, dass ich offenbar frühere Kunden anspreche. Ich habe den Eindruck, die Leute kommen gern zu mir und interessieren sich für mich und meine Geschichte. Es freut mich, wenn sich ein Gespräch ergibt, gleichzeitig versuche ich, nicht allzu lange zu reden, denn erfahrungsgemäss verkaufe ich in dieser Zeit kaum Hefte. Manchmal treffe ich auch alte Bekannte an, die überrascht fragen, was ich denn da mache. Ich erzähle ihnen dann von mir und auch von Surprise, weil ich da wirklich voll dahinterstehen kann. Gelernt habe ich ursprünglich Automechaniker, später bin ich dann übers Militär zum Lastwagenfahren gekommen. Bei der Baufirma, bei der ich zuletzt gearbeitet habe, fing ich als Lastwagenchauffeur an und wechselte nach zehn Jahren in die Disposition. Eines Tages wurde eine Stelle gestrichen, und wir mussten fortan zu zweit bewältigen, was wir vorher zu dritt erledigt hatten. Ich habe versucht mein Bestes zu geben, obwohl ich merkte, dass ich es je länger je weniger schaffte. Stress und Frust spülte ich mit Alkohol hinunter, mit der Zeit sogar während der Arbeit. In der gleichen Zeit starb auch mein Vater, und die Beziehung mit meiner damaligen Freundin ging nach zwölf Jahren in die Brüche. Die Firma bemühte sich anfangs noch um mich und verhalf mir zu einer Therapie, doch ich konnte damals – das war vor fünf Jahren – einfach nicht aufhören zu trinken. ‹Klick› hat es bei mir erst vor einem Jahr gemacht. Seither trinke ich nicht mehr. Das sogenannte kontrollierte Trinken funktioniert bei mir gar nicht. Etwa zur gleichen Zeit, als ich bei Surprise angefangen habe, erhielt ich eine Stelle in einem Arbeitsintegrationsprogramm in Hilterfingen. Die Hauswart- und Gartenarbeiten, die wir für Kunden in der Region ausführen, mache ich sehr gern. Es ist so abwechslungsreich: Wir jäten,

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mähen den Rasen, putzen Treppenhäuser, da ist kein Tag wie der andere. Weil ich dort nur halbtags arbeite, kann ich am Nachmittag in Thun und Bern den Amtsanzeiger vertragen und eben Surprise verkaufen. Ein weiteres, wichtiges Engagement habe ich beim FC Thun, unter anderem als Platzanweiser. Mit dem Fussball und dem Klub bin ich seit meiner Kindheit verbunden. Für 2016 habe ich hauptsächlich zwei Wünsche: Ich möchte den Fahrausweis wieder, der mir wegen meiner Sucht verständlicherweise abgenommen wurde. Damit würden sich die Aussichten auf eine Stelle im Liegenschaftsunterhalt massiv verbessern. Und dann möchte ich wahnsinnig gern eine Woche ans Meer. Die letzten Jahre war an so etwas überhaupt nicht zu denken, aber jetzt, wo es bei mir Schritt für Schritt aufwärtsgeht, werden solche Träume langsam wieder realistischer.» ■ SURPRISE 366/16


Surprise – mehr als ein Magazin Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit einem Netzwerk aus freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der ganzen Deutschschweiz. Sie kämpfen um den Titel des Schweizermeisters und des Weltmeisters beim Homeless World Cup. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen kostenlosen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine einfache und charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren. Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Diana Frei und Sara Winter Sayilir (dif, win, Co-Heftverantwortliche), Simon Jäggi (sim), Thomas Oehler (tom), redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Olivier Joliat, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Fabian Eberhard, Felix Huesmann, Isabel Mosimann, Dominik Plüss, Patric Sandri, Roland Schmid, Ramona Thommen, Mara Wirthlin Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 20 200, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T+41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3

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Buch: Standort Strasse Bewegende Lebensgeschichten

Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand 152 Seiten CHF 40.– inkl. Versand- und Verpackungskosten ISBN 978-3-85616-679-3

Die belebten Plätze und Strassen der Deutschschweizer Innenstädte sind bekannt. Die Lebensgeschichten der Surprise-Verkaufenden, die hier arbeiten, jedoch nicht. Das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» rückt diese Personen ins Scheinwerferlicht und zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Das Buch porträtiert zwanzig stolze Menschen, die trotz sozialer Not alternative Lebensentwürfe abseits staatlicher Hilfe gefunden haben. Die Angebote des Vereins Surprise haben ihnen dabei geholfen. Gastbeiträge sowie eine Fotoserie von Surprise-Standorten runden das Buch ab. Erfahren Sie mehr über die Lebensgeschichten unserer Verkaufenden und kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand». Ein Teil des Geldes kommt direkt den Surprise-Verkaufenden zugute. Bestellen bei Verkaufenden oder unter: www.vereinsurprise.ch/shop/


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