Surprise 369/16

Page 1

Schlauer bauern Wie junge Landwirte ihren Beruf neu erfinden Auf den Strassen von LA: Geschichten aus der US-Obdachlosigkeitskrise

Manager, Botschafter, Sammler: Wie Uli Sigg die chinesische Kunst geprägt hat

Nr. 369 | 19. Februar bis 3. März 2016 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Buch: Standort Strasse Bewegende Lebensgeschichten

Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand 152 Seiten CHF 40.– inkl. Versand- und Verpackungskosten ISBN 978-3-85616-679-3

Die belebten Plätze und Strassen der Deutschschweizer Innenstädte sind bekannt. Die Lebensgeschichten der Surprise-Verkaufenden, die hier arbeiten, jedoch nicht. Das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» rückt diese Personen ins Scheinwerferlicht und zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Das Buch porträtiert zwanzig stolze Menschen, die trotz sozialer Not alternative Lebensentwürfe abseits staatlicher Hilfe gefunden haben. Die Angebote des Vereins Surprise haben ihnen dabei geholfen. Gastbeiträge sowie eine Fotoserie von Surprise-Standorten runden das Buch ab. Erfahren Sie mehr über die Lebensgeschichten unserer Verkaufenden und kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand». Ein Teil des Geldes kommt direkt den Surprise-Verkaufenden zugute. Bestellen bei Verkaufenden oder unter: www.vereinsurprise.ch/shop/


Titelbild: Kostas Maros

Friedliche Kühe auf der Weide und stolze Bauern im Wildheu? Wohl eher: Tiefe Preise und ausländische Konkurrenz, Umweltschutzauflagen und ewiger Subventionskrieg. Man soll nichts beschönigen, aber das Bild von der Schweizer Landwirtschaft in der Öffentlichkeit ist apokalyptisch. Nicht nur vom bildlichen Begriff des Bauernsterbens ist da die Rede, sondern von Suiziden verzweifelter Bauern, die den Weg auf den Hof der Zukunft nicht finden. Die Schweizer Landwirtschaft befindet sich zweifelsohne in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Dass dies vielen Bäuerinnen und Bauern zu schaffen macht, sieht Nicole Amrein, Beraterin am landwirtschaftlichen Zentrum Liebegg, jeden Tag bei ihrer Arbeit. Es komme vor, sagt sie, dass gestandene Männer vor ihr in Tränen ausbrechen. AMIR ALI Amrein sagt aber auch: «Wir können nicht einfach weitermachen wie unsere Eltern.» REDAKTOR Wer als Bauer Geld verdienen wolle, müsse neue Wege gehen. Mein Redaktionskollege Simon Jäggi ist der Frage nachgegangen, wie diese aussehen könnten. Die Reise hat ihn vom luzernischen Beromünster über Trimbach SO bis nach Boudry in den Neuenburger Jura geführt. Gefunden hat er junge Menschen voller Leidenschaft für einen uralten Beruf (Seite 10). «Home of the Brave, Land of the Free», Land der Tapferen und Freien – so besingen die US-Amerikaner in ihrer Nationalhymne sich und ihr Land. Sicher nicht zu Unrecht. Amerika hat, seit es sich die erste demokratische Verfassung der Welt gegeben hat, einiges zustande gebracht, was vielen Menschen nützt. Ich erinnere mich an ein Gespräch in Philadelphia mit einem Mann aus der Zentralafrikanischen Republik, der dort seit ein paar Jahren an einer Tankstelle arbeitete. «In Europa hätte ich diese Chance nie erhalten», sagte er mir. Doch es ist ein schmaler Grat zwischen der Freiheit amerikanischer Prägung und dem Totalabsturz. Amerika funktioniert noch immer weitgehend ohne Sicherungsnetz – anders ist nicht zu erklären, dass allein in Los Angeles, Mekka der Schönen und Reichen, 44 000 Menschen ohne Obdach oder festen Wohnsitz leben. Menschen wie Stacie McDonough, 51, Kriegsveteranin mit College-Abschluss. Menschen, deren Existenz dem «Home of the Brave» eine völlig neue Bedeutung verleiht. Die Fotografin Lucy Nicholson hat sie mit ihrer Kamera besucht (Seite 16). Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre Amir Ali

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 369/16

3

BILD: WOMM

Editorial Leidenschaft und Tapferkeit


06 06 07 08 22 24 26 28 29 30

31

10 Landwirtschaft Die Bauern von morgen Milchkühe, Zuckerrüben, Schweinemast: Die drei Pfeiler der Schweizer Landwirtschaft sind am bröckeln. Überall wird der Ruf laut, Bauern müssten unternehmerisch denken und innovativ sein. Was simpel klingt, kommt für die Branche einer Revolution gleich. Und doch findet ein Wandel statt: Junge Landwirte bauen die elterlichen Betriebe um und denken den Beruf neu. Drei Hausbesuche in Trimbach, Beromünster und Boudry.

16 Obdachlosigkeit Jenseits von Beverly Hills BILD: LUCY NICHOLSON/REUTERS

05

Inhalt Editorial Kein Heim für die Tapferen Basteln für eine bessere Welt Kein Quark – setzen Sie an! Aufgelesen 2,6 Babys pro Sekunde Vor Gericht Pink Panther und die Goldene Himbeere #VendorWeek Zwei Stunden als Surprise-Verkäuferin Porträt Vom Glück, ein Härtefall zu sein Wörter von Pörtner Wo ist dieses Pack? Kultur Ich und mein digitales Ich Ausgehtipps Buben, Mädchen und alles dazwischen Verkäuferinnen-Porträt Nicht klauen, nicht schwarzfahren Projekt SurPlus Eine Chance für alle In eigener Sache Impressum INSP Mehr als ein Magazin Nagmeldin ist nicht mehr da

BILD: KOSTAS MAROS

03

Samuel Cole, 85, lebt seit zwei Jahren in einem Camping-Bus, weil die Miete für seine Wohnung um 100 Dollar stieg. Karen Souza, 55, ist seit zehn Jahren auf der Strasse. Und Stacie McDonough, 51, Kriegsveteranin mit Uni-Abschluss, haust in einem schäbigen Zelt beim Flughafen von Los Angeles. Sie sind drei von 44 000 Menschen, die ohne festen Wohnsitz in der Weltmetropole leben. Die Reuters-Fotografin Lucy Nicholson hat die Krise mit ihrer Kamera dokumentiert.

BILD: KARL-HEINZ HUG/SIGG COLLECTION

23 China Uli, was macht die Kunst?

4

Niemand auf der Welt hat mehr zeitgenössische chinesische Kunst zusammengetragen als Uli Sigg. Die Sammlung des früheren Managers und Botschafters spiegelt die vergangenen Jahrzehnte chinesischen Kunstschaffens aber nicht nur – Sigg hat das Objekt seines Interesses gleich mitgeprägt. Jetzt zeigen das Kunstmuseum Bern und das Zentrum Paul Klee Schätze aus Siggs Schloss.

SURPRISE 369/16


ILLUSTRATION: WOMM

Basteln für eine bessere Welt Joghurt ansetzen Solange es in Ihrer Nähe noch einen Bauernhof gibt, der frische Milch anbietet, nutzen Sie die Gelegenheit, sich einmal selbst als Joghurtmacher auszuprobieren.

1. Sie brauchen: 1 l frische Kuh- oder Ziegenmilch,

2. Erhitzen Sie die frische Milch etwa 10 Minuten

2 EL Naturjoghurt (gleiche Milchsorte und Fettstufe)

auf 90 °C und lassen Sie sie auf 42 – 45 °C abkühlen.

oder Joghurtkulturen in Pulverform (z. B. aus dem Reformhaus), Thermosflasche, Thermometer

3. Füllen Sie die warme Milch in die Thermosflasche, geben Sie den Naturjoghurt oder die Joghurtkulturen (Menge nach Packungsanleitung) hinzu und verschliessen Sie den Deckel.

4. Schütteln Sie das Gemisch gut durch und lassen Sie die «geimpfte» Milch etwa sechs Stunden zum Reifen stehen.

5. Öffnen Sie den Deckel und stellen Sie den Joghurt zum völligen Auskühlen in den Kühlschrank. Vor dem Genuss nach Belieben mit weiteren Zutaten mischen.

SURPRISE 369/16

5


Aufgelesen News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Verurteilt Dortmund. In vielen Freiburger Clubs und Diskotheken müssen Personen ohne definitive Aufenthaltsgenehmigung draussen bleiben. Das haben die Betreiber nach den Übergriffen in Köln bekannt gegeben. Ein Richterspruch aus Hannover zeigt jetzt, wie das mit dem Gesetz kollidiert. Dort wurde vor zwei Jahren einem Dunkelhäutigen der Zugang zu einer Diskothek verwehrt. Das Gericht verurteilte die Betreiber nun zu einer Busse in der Höhe von 1000 Euro. Niemand dürfe aufgrund seiner Herkunft benachteiligt werden.

Vergrössert Kiel. Die Zahl der Menschen, die auf der Erde leben, ist vergangenes Jahr um 83 Millionen gestiegen. Demnach kamen pro Sekunde 2,6 Babys zur Welt. Die Gesamtzahl bezifferte die Stiftung Weltbevölkerung zum Jahresbeginn 2016 auf 7 391068 000 Menschen. Das Wachstum geht fast ausschliesslich auf Entwicklungsländer zurück, wo jährlich 75 Millionen Frauen ungewollt schwanger werden – wegen mangelnder Aufklärung und Verhütung sowie fehlender Gleichberechtigung.

Verfestigt Hamburg. Bürger der Europäischen Union, die länger als sechs Monate in Deutschland leben, haben künftig Anspruch auf Sozialhilfe. Das entschied jetzt das Bundessozialgericht. Hat sich der Aufenthalt verfestigt, muss nun das Sozialamt zumindest Hilfeleistungen bezahlen. Nach Einschätzungen des Gerichts könnten rund 130 000 Menschen von der neuen Regelung profitieren. Noch im Herbst hatte der Europäische Gerichtshof einen pauschalen Anspruch auf Hartz IV für EU-Bürger abgelehnt.

6

Vor Gericht Beeren oder Juwelen? Das müsse ja ein sagenhaftes Geschäft gewesen sein mit diesen Himbeeren, ätzt der Staatsanwalt. Stempel im Pass des Angeklagten belegen Reisen nach Dubai, Athen, Amsterdam und Paris, die er im Rahmen seines Himbeerenhandels getätigt haben will. Eigentlich geht es in diesem Prozess um Raub und organisierte Kriminalität. Himbeeren aber, verrät der Beschuldigte mit sieben verschiedenen Identitäten, seien im Kern der Anlass für seine Delinquenz gewesen. Er habe ein Kühlhaus für die Beeren bauen wollen. Keine Bank gewährte ihm jedoch den nötigen Kredit, und so geriet er an die Falschen. Die Sache mit dem Kühlhaus scheiterte, worauf er von den kriminellen Kreditgebern unter Druck gesetzt worden sei. Er habe nicht anders gekonnt, beteuert der 38jährige Serbe, als bei deren Machenschaften mitzutun. Mit den Behörden hatte er schon reichlich zu tun: Insgesamt sechs teils einschlägige Vorstrafen in ganz Europa sind seit 2004 in seinem Vorstrafenbericht vermerkt. Und Hollywood würde ihm die Goldene Himbeere verleihen, ein Gegen-Oscar, mit dem besonders schlechte Leistungen ausgezeichnet werden. Etwas Glamour ist angebracht, denn vieles weist darauf hin, dass der Angeklagte Mitglied der Pink-Panther-Bande ist. Hinter dem putzigen Namen verbirgt sich ein auf dem Balkan angesiedeltes Netzwerk von mutmasslich mehreren Hundert Dieben. Seit Jahrzehnten schreiben sie mit spektakulären Gold-, Juwelen- und Uhrendiebstählen als dreiste Meisterdiebe internationale Kriminalgeschichte. Ihnen werden Kontakte bis in

höchste Regierungs- und Gesellschaftskreise nachgesagt. Juwelen vertickt man ja nicht an irgendeiner Strassenecke. Ihre Tatorte befinden sich an den feinsten Adressen in Tokio, Dubai, Cannes und Paris. In Saint-Tropez verübten sie in geblümten Shirts einen Millionenraub und entkamen mit einem Rennboot. Bei der Tat in Zürich marschierten 2010 drei Täter vermummt und schwer bewaffnet in die Bijouterie Gübelin an der Bahnhofstrasse. Nach 1 Minute und 14 Sekunden verliessen sie das Geschäft mit 56 Luxusuhren und 46 Schmuckstücken im Wert von 5,5 Mio. Franken. Als Fluchtwagen diente ein gestohlener Porsche Cayenne Turbo. Verhaftet wurde der Angeklagte ein Jahr später während seiner Flitterwochen am Strand von Antalya. Das Obergericht hat für die Geschichte vom in Schwierigkeiten geratenen Himbeerenhändler «kein Verständnis». Der Gerichtspräsident: «Es gibt wenig so professionelle Raubdelikte.» So hätte die Gruppe für die Flucht ja nicht etwa einen Fiat Topolino geklaut. Zur «sehr hohen» Deliktsumme meint er: «Den Stundensatz können Sie sich selbst ausrechnen.» Heute sitzt der Mann, übrigens studierter Ökonom und einstiger Mitarbeiter des serbischen Aussenministeriums, im Gefängnis Affoltern und tütet für 250 Franken im Monat Werbesendungen ein. Dabei bleibt’s vorläufig. Die Oberrichter erhöhen die Strafe von sechseinhalb auf elf Jahre und geben dem Angeklagten eine Botschaft mit: «Grüssen Sie Ihre Kollegen und lassen Sie sie wissen: Es lohnt sich nicht in der Schweiz.» Vielleicht richtet sich die Botschaft auch an jene, die glauben, Schweizer Gerichte betrieben Kuscheljustiz. YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 369/16


#VendorWeek Gemeinsame Erfahrungen

BILD: ANDREA GANZ

BILD: BARBARA KLÄSI

Zahlreiche Interessierte und auch einige Prominente nahmen beim diesjährigen Rollentausch des Vereins Surprise für ein paar Stunden das Heft in die Hand. Neben intensiven Begegnungen ermöglichte die Aktion den Leserinnen und Lesern des Strassenmagazins einen direkten Einblick in den Berufsalltag unserer Verkaufenden. Der Rollentausch war Teil der weltweiten Vendor Week, in der das Internationale Netzwerk der Strassenzeitungen INSP Anfang Februar die Welt der Verkaufenden mit verschiedenen Aktionen in den Mittelpunkt rückte.

BILD: ANNETTE BOUTELLIER

Am Bahnhof Bern verkaufte Leserin Nadja für Surprise-Verkäuferin Haimanot.

BILD: ANDREA GANZ

In Zürich verkaufte Rapper Knackeboul das Strassenmagazin.

Moritz Leuenberger kaufte bei Schauspieler Leonardo Nigro, der für Hans Peter Meier am Bellevue stand.

Tom Wiederkehr tauschte am Tellplatz in Basel die Rolle mit Verkäufer Ahmed. SURPRISE 369/16

BILD: ANNETTE BOUTELLIER

BILD: ZAIRA ESPOSITO

Leser Samuel mit Negussie Weldai am Bahnhof Bern.

Musiker Greis tauschte mit Oliver Guntli im Migros Marktgasse in Bern.

7


Porträt Nächster Halt: Hörsaal Lange hatte Zahra Sarrafzadeh Angst, die Schweiz wieder verlassen zu müssen. Heute studiert die Iranerin Recht an der Universität Zürich. VON HANNA GERIG (TEXT) UND MARKUS FORTE (BILD)

gewachsen in einer streng religiösen Familie, war es für die kleine Zahra schon ein rebellischer Akt gewesen, weisse Socken unter den schwarzen Kleidern zu tragen. Von ihrer Mutter hatte sie gelernt, dass eine Frau einem Mann immer gehorchen müsse. Erst in der Schweiz erlebte sie dann, dass es auch anders geht: Einmal beobachtete sie bei der Arbeit am Fliessband, wie ein Mann einer Frau einen Klaps auf den Hintern gab. Diese blies empört ihren ganzen Brustkorb auf, drehte sich ruckartig um und schrie den Mann vor allen anderen an. Sarrafzadeh war beeindruckt. Sie war als Ehefrau eines iranisch-schweizerischen Manns in die Schweiz gekommen. Nach zwei Jahren ging die Ehe auseinander, und sie verlor ihr Aufenthaltsrecht. Doch sie reichte ein Härtefallgesuch ein. Ihre ausgezeichneten Deutschkenntnisse sowie die Tatsache, dass sie durchgehend gearbeitet hatte, waren mitentscheidend dafür, dass das Gesuch bewilligt wurde. Schwerer wog jedoch Sarrafzadehs Vorgeschichte, über die sie nicht öffentlich sprechen will. Stattdessen verweist die angehende Juristin auf Artikel 3 Absatz 2 des Asylgesetzes, der besagt, dass «frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung zu tragen ist». Als der Professor während der Vorlesung genau auf diesen Absatz zu sprechen kommt, ist Sarrafzadeh anzumerken, dass es sie nicht kaltlässt. Unauffällig wischt sie sich die Tränen weg. Selbstdisziplin und der Wille, sich auf die Menschen hier einzulassen, hätten ihr geholfen, vie-

Zahra Sarrafzadeh zeigt auf die erste Reihe eines Vorlesungssaales im Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich. «Ich sitze immer in der ‹Spuckzone›», sagt die Masterstudentin lächelnd. «Ich kann mich da einfach am besten konzentrieren.» Zahra Sarrafzadeh ist eine zurückhaltende Frau. Sie ist sorgfältig geschminkt und sieht frisch aus, obwohl ihr heute ein bisschen zu warm ist, wie sie sagt. Sie habe immer noch nicht gelernt, sich so anzuziehen, dass sie bei Bedarf etwas ablegen könnte, fügt sie hinzu und lächelt etwas verlegen und gleichzeitig verschmitzt. Vor ihr liegen zwei dicke Skripte zum Schweizer Migrationsrecht, heute hat der Professor mit den Ausführungen zum Flüchtlings- und Asylrecht begonnen. Auf Persisch notiert sie sich Stichworte an den Blattrand. Ungefähr drei Viertel habe sie verstanden, meint die gebürtige Iranerin am Schluss der Vorlesung, als die vielen, meist jüngeren Mitstudierenden aus dem Saal strömen. Manchmal tauchen Begriffe auf, die Sarrafzadeh im Wörterbuch noch einmal nachschlagen muss. Und nicht immer hilft das weiter. Bei Wortungetümen wie «Freizügigkeitsabkommen» braucht es mehr als nur eine einfache Übersetzung. Als sie damals mit ihrem ersten Deutschkurs begann, hatte sie sich zwar die grammatikalischen Grundlagen im Selbststudium schon erarbeitet, sagt die 38-Jährige. Und doch habe sie sich anfangs nicht vorstellen können, die In Zürich angekommen, war Sarrafzadeh begeistert von den Tramchauffeuvielen aufeinanderfolgenden Konsonanten im rinnen, die stolz im Cockpit sassen. «So wollte ich auch werden», sagt sie. Deutschen je richtig aussprechen zu können. Jetzt gehen ihr allerdings auch Wörter wie «Entwicklungspolitik» im Gespräch selbstverständlich über die Lippen. les von dem zu erreichen, was sie sich gewünscht habe, sagt sie. «Seit Das Juristendeutsch zu verstehen, ist für die Studentin aber immer noch ich hier bin, habe ich viel Glück erfahren.» eine Herausforderung. Selbst so zu schreiben traut sie sich nicht zu. Im letzten Frühling entdeckte sie im Internet eine Gruppe, die sich «Das schaffe ich nie», meint sie und lacht. Es wäre nicht das erste Mal, über persische Gedichte und Literatur austauscht. Wie eine Süchtige hadass sie etwas erreicht, was sie vorher als unmöglich ansah. be sie während Monaten ihre ganze Freizeit in diesem Chat verbracht, Obwohl selbst Migrantin, realisiert Sarrafzadeh erst in ihren Vorlepersische Lyrik gelesen, darüber diskutiert und geschrieben. Plötzlich sungen so richtig, wie die gesetzlichen Grundlagen für Ausländer hierwar sie völlig versunken in der Melodie ihrer Muttersprache. «Nach vier zulande aussehen: Dass zum Beispiel auch Menschen, die hier geboren Monaten habe ich mein Profil gelöscht. Es war zu viel. Ich musste mich und aufgewachsen sind, nicht automatisch die Bürgerrechte haben. Eiwieder auf mein Deutsch und mein Leben hier konzentrieren», benes Tages hätte sie daher auch gerne den Schweizer Pass, sagt sie. Zuschreibt sie den Spagat zwischen Sehnsucht und Vorwärtsblicken. nächst sind ihr andere Dinge jedoch wichtiger: Als sie letzten Sommer Ihre Arbeit auf der Bettenzentrale gefällt der Teilzeitstudentin. Hier erfuhr, dass ihr iranischer Rechtswissenschaftsabschluss hier anerkannt kann sie beim Laken auswechseln und Betten herumschieben mit den würde, war ihr ein paar Tage, als schwebe sie über den Wolken vor anderen Frauen lachen und sich austauschen. Immer wieder gibt SarGlück. Seit sieben Jahren lebt sie nun in der Schweiz, arbeitete hier zurafzadeh ihrer Bewunderung für selbständige, starke Frauen Ausdruck. nächst in einer Fabrik, dann in der Pflege und bis heute in der BettenFrisch in Zürich angekommen, sei sie ganz begeistert gewesen vom Anzentrale eines Spitals. Die Zulassung zu einer Schweizer Universität blick der Tramchauffeurinnen. Im Iran hatte sie so etwas noch nie geseglich einem Traum, der in Erfüllung ging. In Teheran hatte sie acht Jahhen: Wie stolz und aufrecht diese Frauen vorne im Cockpit sassen und re lang als Angestellte in einem traditionsreichen Notariat gearbeitet. das lange Gefährt souverän durch den Verkehr lenkten. «So wollte ich Ob sie manchmal Heimweh habe? Sarrafzadeh wird still und ihr auch werden», sagt sie. Tatsächlich schickte sie damals eine Bewerbung schüchternes Lächeln verschwindet für einen Moment. Die Erinnerung an die VBZ, konnte jedoch damals das verlangte C1-Deutschzertifikat, an die Heimat trägt sie immer in sich. Und sie wiegt schwer. Sie musste das praktisch Muttersprachlerniveau bescheinigt, noch nicht vorweisen. fast alle Verbindungen zu ihrer Familie abbrechen. Nur noch mit ihrer Jetzt, wo sie das Zertifikat längst besitzt, fährt sie im Tram lieber gleich Mutter, die alleine in Teheran lebt, telefoniert sie von Zeit zu Zeit. Aufan die Uni. ■

8

SURPRISE 369/16


SURPRISE 369/16

9


Für Anne, Jean-Noé und Christian geht auf ihrem Hof ein «Traum in Erfüllung».

10

SURPRISE 369/16


Landwirtschaft Die Bauern von morgen Jeder zweite Bauer in der Schweiz ist älter als 50 Jahre. Will die nachfolgende Generation in Zukunft von der Landwirtschaft leben, muss sie ihren Beruf neu erfinden.

VON SIMON JÄGGI (TEXTE) UND KOSTAS MAROS (BILDER)

fe für immer schliessen. 10 000 Betriebe sind in den vergangenen zehn Jahren so verschwunden – und die Entwicklung dauert an. Der Umbruch in der Schweizer Landwirtschaft begann vor 20 Jahren. In den Neunzigern löste die Agrarreform einen langsamen Liberalisierungsprozess aus, der bis heute im Gange ist. Übernahmegarantien und feste Preise verschwanden, pauschale Subventionen wurden durch Direktzahlungen ersetzt. Wer vom Bund Gelder erhalten will, muss heute strenge Auflagen bezüglich Ökologie und Tierhaltung erfüllen. Dieser Umbruch fällt zusammen mit sinkenden Lebensmittelpreisen, fallenden Zöllen und einer international wachsenden Konkurrenz. 2015 erwirtschafteten die Schweizer Bauern nach Schätzungen des Bundes 600 Millionen Franken weniger als noch im Jahr zuvor. Am stärksten unter Druck steht dabei der traditionelle Bauernhof, ein Gemischtwarenladen aus Milchkühen, etwas Ackerbau oder Schweinemast. Weil die Preise für Milch, Schweinefleisch und Zuckerrüben fallen und die Bauern davon mehr produzieren, als der Markt verlangt (Seite 14). Am landwirtschaftlichen Zentrum Liebegg im Aargau berät Nicole Amrein jene Landwirte, die den Wandel zum Unternehmer nicht alleine schaffen. Sie unterstützt Bauern bei der Hofübergabe, entwickelt mit ih-

Bei flüchtigem Hinschauen ist auf den Schweizer Bauernhöfen zwischen Rhein und Rhone alles beim Alten: Kühe stehen wiederkäuend hinter Elektrozäunen, in Gewächshäusern spriesst in langen Reihen der Eisbergsalat, und auf den Überlandstrassen stauen Traktoren den Verkehr. Doch in den Köpfen vieler Landwirte findet ein Wandel statt, und wer genauer hinschaut, der sieht ihn auch auf den Feldern und Höfen. Etwa beim luzernischen Beromünster, wo Christian Galliker die Milchproduktion des Vaters aufgibt und den Hof auf Bio umstellt. Oder oberhalb von Trimbach auf den solothurnischen Jurahöhen, wo Jungbäuerin Rebekka Strub asiatische Zebus hält und ziemlich unkonventionelle Ansichten darüber vertritt, wie sich die Landwirtschaft in Zukunft entwickeln soll (Seite 12). Die Bauern, sagt sie, müssten wieder eine Beziehung zur Bevölkerung aufbauen. «Nur dann werden Landwirte auch in Zukunft überlebensfähig sein.» Landauf, landab sind junge Landwirte dabei, die elterlichen Betriebe umzubauen und den Beruf neu zu denken. Wenn sie über ihre Arbeit sprechen, klingt das oftmals wie im Managementseminar: Es geht um Innovation, Markt und Marketing. Die Jungen haben verinnerlicht, was vom Betriebsberater Wenn die jungen Landwirte über ihre Arbeit sprechen, klingt das wie im bis zu Landwirtschaftsminister Johann SchneiManagementseminar: Es geht um Innovation, Markt und Marketing. der-Ammann alle fordern: Ein Bauer soll wie ein Unternehmer denken. Das klingt simpel, nen neue Betriebskonzepte und hilft bei Krisen. Sie berichtet von geist aber eine Revolution für eine Branche, die noch bis vor zwei Jahrstandenen Männern, die vor ihr in Tränen ausbrechen. Weil sie vom eizenten auf Staatskosten am Markt vorbei produzierte. Und es ist zugenen Betrieb überfordert sind, die Ehe in die Brüche geht oder sie nicht gleich ihr kleinster gemeinsamer Nenner. wissen, wie sie ihre offenen Rechnungen bezahlen sollen. «Die Fälle von Die Schweizer Landwirtschaft ist sich in vielem uneinig, vor allem Überlastung nehmen deutlich zu», sagt Amrein. Und zieht von dieser wenn es um die Zukunft geht und die Frage, ob Qualität oder Masse die Entwicklung eine direkte Verbindung zum sich verändernden Markt Schweizer Bauern zum Erfolg führt. Auf der einen Seite stehen die Beund den fallenden Lebensmittelpreisen. Eine Zukunft in der Landwirtfürworter einer industriellen Landwirtschaft: Sie fordern Höfe, die sich schaft sieht sie nur für jene, die sich aus Überzeugung für die Landauf wenige Produkte spezialisieren, mit schweren Maschinen weite Fläwirtschaft entscheiden: «In jedem anderen Beruf erhält ein Arbeiter chen bewirtschaften und dabei möglichst grosse Mengen produzieren. mehr Lohn bei weniger Verantwortung und mehr Freizeit. Bauer ist ein Ihnen gegenüber stehen die Vertreter einer bäuerlichen Landwirtschaft, Beruf für jene, die es wirklich wollen.» die Vielfalt predigen und den Bauern raten, schonend zu arbeiten, NiWer das realisiere und seine Stärken kenne, dem falle die Neuausschen zu besetzen und ihre Lebensmittel als exklusive Qualitätsprodukrichtung leichter. «Wir können nicht einfach weitermachen wie unsere te zu vermarkten. Eltern», sagt Amrein. «Wer als Bauer Geld verdienen will, muss neue Angehende Landwirte stehen vor keiner leichten Aufgabe. Während Wege gehen.» Dazu gehören der Wechsel von der Milchwirtschaft auf die Branche über Grundsätzliches diskutiert, müssen sie sich Tag für Tag Mutterkuhhaltung, die Direktvermarktung, der Anbau von seltenen um den Hof kümmern, für grundsätzliches Nachdenken bleibt dabei Gemüsesorten oder die sogenannte Paralandwirtschaft: Ferienlager wenig Zeit. Oftmals übernehmen sie Betriebe mit veralteten Strukturen, organisieren, Strom produzieren oder schwierige Jugendliche auf dem viele Eltern sind von den heutigen Herausforderungen überfordert, und Hof betreuen. Nicht nur die Herausforderungen sind gross – auch auch die Betriebsberater und Bauernverbände wissen kein Erfolgsredie Möglichkeiten für die Schweizer Bauern sind so vielfältig wie kaum zept. Die Herausforderungen sind gross, zu gross für manche. Das ist eije zuvor. ner der Gründe dafür, weshalb in der Schweiz jeden Tag drei Bauernhö■ SURPRISE 369/16

11


Hin zu den Konsumenten Bald will Rebekka Strub den Hof ihres Vaters bei Trimbach übernehmen – und den Leuten zeigen, woher das Essen kommt.

Wenn die Landwirtin über ihren Beruf spricht, dann klingt das so traditionell, dass es bereits wieder revolutionär ist. Im Baucontainer, der ihr seit dem Brand als Aufenthaltsraum dient, beschreibt sie ihre Vorstellung einer künftigen Landwirtschaft. «Wir müssen wieder lernen, mit der Natur zu arbeiten und nicht gegen sie. Und dabei den Kontakt zu den Konsumenten suchen, zeigen, was wir leisten und uns an den Bedürfnissen unserer Kunden orientieren.» Wichtig ist ihr zudem die Bezeichnung ihres Berufs: Landwirtin statt Bäuerin. «Uns Landwirte», sagt Strub, «muss man nicht am Stallgeruch erkennen.» Zurzeit macht sie die Ausbildung zur Meisterlandwirtin; wenn ihr Vater in zwei Jahren das Pensionsalter erreicht, wird sie voraussichtlich den Bio-Hof übernehmen und mit ihm alles, was die Eltern aufgebaut haben: Die Zucht der asiatischen Zebus und französischen Aubrac-Rinder, die afrikanischen Geissen, die das wuchernde Gestrüpp abfressen und die 200 Hochstammbäume. Mit diesem innovativen Betrieb wäre Rebekka Strub für die Zukunft gut gerüstet, doch sie möchte mehr.

Seit drei Jahren lebt Rebekka Strub wieder im Tal. Wenn sie frühmorgens erwacht, setzt sie sich in ihren Kleinwagen und fährt raus aus dem Nebel hinauf aufs «Horn». Dorthin, wo ihre Herde weidet und wo sie mit ihren Eltern gelebt hat. Bis zu jenem regnerischen Augusttag, als im Stall ein Feuer ausbrach, sie in Unterwäsche aus dem Haus rannte und nur noch zuschauen konnte, wie der Hof in Flammen aufging. Rebekka Strub wollte nie Landwirtin werden, es schreckte sie ab zu sehen, wie viel die Eltern arbeiteten und wie sich die Grenzen zwischen Privatleben und Beruf auflösten. Statt dessen machte sie eine Lehre als Landschaftsgärtnerin, begann ein Studium zur Umweltingenieurin, brach wieder ab, reiste um die Welt, besuchte eine Weiterbildung in Erlebnispädagogik. Und Mit dem innovativen Betrieb ihrer Eltern wäre Rebekka Strub für die entschied sich wenige Tage nach ihrem 30. GeZukunft gut gerüstet, doch sie möchte mehr. burtstag schliesslich doch für eine Zukunft auf dem Hof. «Mit der Natur arbeiten und den BöAus ihrer Sicht sollten Bauernhöfe nebst Produktionsstätten auch Orden, das Leben spüren: Ich merkte, das will ich. Das ergibt für mich te für Begegnungen und Naturerlebnisse werden. «Nur wenn es uns geSinn.» Auch der Brand des Hofes, ein Jahr später, brachte ihren Entlingt, den Austausch zwischen der Landwirtschaft und der Bevölkerung schluss nicht ins Wanken. wieder herzustellen, werden die Landwirte in der Schweiz auch in ZuSelbstbewusst schreitet sie unterhalb der Jura-Gipfel über das Gras kunft überlebensfähig sein.» Direktvermarktung sei eine Möglichkeit, und ruft mit lauter Stimme den Tieren. Statt Milchkühen springen bei Angebote auf dem Hof die andere. «Die Kunden sollen wissen, woher ihr Rebekka Strub Zebus über die Weide – eine Rindersorte, die ursprüngEssen kommt, die Geschichten hinter den Produkten müssen sie wieder lich in Indien beheimatet war.

12

SURPRISE 369/16


erreichen. So kann auch die Wertschätzung für die Lebensmittel und die Landwirtschaft steigen.» Für den eigenen Hof denkt sie über Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien nach: Erlebnisferien, Kurse oder Naturkunde. «Ich möchte die Produktion von Lebensmitteln und die Zusammenhänge in der Natur erlebbar machen. Diese Öffnung ist die Aufgabe unserer Generation.» Zuerst aber muss sie die Schule abschliessen und sich für den Hof bewerben, denn dieser ist im Besitz des Bundes und wird nach der Pensionierung ihres Vaters neu ausgeschrieben. Ihre Chancen stehen gut. Erhält sie den Zuschlag, kann sie in drei Jahren auf dem Horn das neu gebaute Bauernhaus beziehen. Wenn es nicht klappt, will sie einen anderen Hof suchen. Rebekka Strub ist überzeugt: Für Landwirte mit Leidenschaft gibt es immer einen Weg. ■

Einfach sinnvoll leben Vor Kurzem haben Christian Bühler, Anne und Jean-Noé MorierGenoud einen uralten Bauernhof am Eingang zum Val-de-Travers übernommen. Hier wollen sie bleiben, am liebsten bis zur Pensionierung. letzt gemeinsam auf einem therapeutischen Hof oberhalb des GenferEs war an einem sonnigen Mittag im November, als Erika aus dem sees. Dort kam vor sieben Monaten auch ihr Kind, Emile, zur Welt. Fenster sprang. In den Wochen zuvor hatten Anne, Christian und JeanAuf die Frage, weshalb sie Bauern sein wollen, ist es zuerst einen MoNoé den alten Anbindestall zum Freilaufstall umgebaut und ihn am Vorment lang still. «So kann ich Arbeit mit der Natur, dem Muttersein und abend sorgfältig mit Stroh ausgelegt. Doch als die vor Kurzem erworder Freizeit vereinen», sagt Anne. «Ich wollte immer mit der Natur arbenen Kühe erstmals ihr neues Heim betraten, brach Unruhe aus, und beiten», sagt Jean-Noé. «Weil Essen produzieren Sinn macht», sagt ChriErika sprang behende durch den oberen Teil der Stalltür auf den Hofstian. Einig sind sie sich in ihrer Vorstellung einer idealen Landwirtplatz hinaus. schaft: Naturnah, vielfältig und mit sorgfältigem Umgang mit Böden, In der Zwischenzeit hat sie sich an ihr neues Zuhause gewöhnt, und Tieren und Pflanzen. In den nächsten drei Jahren wollen sie den Betrieb mit ihr auch ihre drei Besitzer. «Für uns geht hier ein Traum in Erfülauf biologisch-dynamische Landwirtschaft umstellen. lung», sagt Christian Bühler. Gemeinsam mit Anne und Jean-Noé Morier-Genoud hat er sich für den malerischen Bauernhof in Boudry am Neuenburgersee beBei der Umstellung ihres Betriebs auf biologisch-dynamische Landworben. Der Hof gehört zum Anwesen eines wirtschaft folgen sie einem eng kalkulierten Businessplan. kleinen Schlosses und wird von einer Erbengemeinschaft verpachtet. Auf dem Vorplatz steht Dabei folgen sie einem eng kalkulierten Businessplan. Zu Beginn wolein steinernes Backhaus mit Holzofen, darunter sprudelt die hofeigene len sie ihr Geld mit dem Verkauf von Futtergetreide, Beeren und Fleisch Quelle und dahinter führt eine Allee zwischen mächtigen Kastanienverdienen, sieben der zehn Kühe sind trächtig und werden die Herde im bäumen über die weiten Felder. Frühjahr vergrössern. Weitere Betriebszweige sollen folgen: Schafe, HühDraussen umhüllt dichter Nebel die Bäume, drinnen sitzt man am ner, Spezialkulturen wie Hanf, Leinsamen oder Quinoa. Im Herbst haben Holztisch in der warmen Stube. Anfang Jahr haben die drei ihre Pacht sie bereits 40 Hochstammbäume gepflanzt und mit dem Verkauf von 500 offiziell übernommen. Ein Abenteuer sei das, sagen sie, magisch und Kilo Kastanien das erste Geld verdient. Mit der Direktvermarktung ihrer auch ein wenig verrückt. Während andere Bauern oft viele Jahre lang Produkte wollen sie auch in Zukunft einen Teil ihres Einkommens vereinen eigenen Hof suchen, klappte es für sie mit der ersten gemeinsadienen. Und weil der Bund ökologische Betriebe bevorzugt, profitieren men Bewerbung. sie zudem vom Direktzahlungs-System. Statt Schulden für grosse InveSie sind alle drei keine Anfänger mehr: Christian, mit 35 Jahren der stitionen zu machen, wollen sie vorerst mit dem Vorhandenen arbeiten Älteste, machte nach dem Politologiestudium eine Winzerlehre. Jeanund Erfahrungen sammeln. «Wir wissen, wie man günstig leben kann», Noé, 25, gelernter Schreiner, hat im Sommer seine Lehre als Biolandwirt sagt Christian. Er wohnte zuletzt längere Zeit im VW-Bus, Anne und abgeschlossen, Anne, 23, ist ausgebildete Heilpädagogin und Tochter eiJean-Noé zwei Jahre im Bauwagen. Für sie liegt auch darin der Reiz ihres nes Winzers. Alle drei haben bereits auf unterschiedlichsten Betrieben Lebens auf dem Hof: in der Einfachheit. gearbeitet. Anne und Jean-Noé, die seit vielen Jahren ein Paar sind, zu■ SURPRISE 369/16

13


Abschied von der Milchkuh Christian Galliker will den Betrieb seiner Eltern hinter Beromünster weiterführen. Dabei bleibt kaum etwas, wie es war.

Frühling und zu Soja aus Südamerika. Die Schweiz brauche gut funktionierende bäuerliche Betriebe, die Sorge tragen zu ihren Böden und nicht abhängig von Grosskonzernen seien. Aber Galliker ist kein Romantiker: Wenn auf seinem Hof bald 4000 Hühner flattern und gackern, sagt er, dann werde es ihnen gut gehen, sie werden Auslauf haben und gesund sein. «Aber so idyllisch wie in der Werbung ist das nicht. Schliesslich müssen wir Nahrungsmittel produzieren, damit wir wirtschaftlich überleben.» Während Galliker von seinen Plänen erzählt, sitzt er im Anbau neben dem elterlichen Bauernhaus, wo er mit seiner Frau und dem halbjährigen Sohn lebt. Von einer Zukunft als Landwirt wollte Galliker lange nichts wissen und dachte an eine Zukunft als Musiker. «Ich habe mei-

Vergangenen Herbst holte Christian Galliker die letzte Zuckerrübe aus dem Boden, im März wird er die letzte Milchkuh verkaufen. Und sein Vater, der die vergangenen 35 Jahre den Hof im Luzerner Michelsamt geführt hat, ist jetzt angestellt beim Sohn. Seit Galliker den Betrieb übernommen hat, lässt er nichts beim Alten: biologisch statt konventionell, Mutterkuhhaltung statt unrentabler Milchproduktion, Dinkel statt Zuckerrüben, und als Haupteinkommen fast 4000 MasthühVom eigenen Hof schlägt Galliker den Bogen zu steigenden Nahrungsner. Der junge Landwirt sieht die Umstellung mittelpreisen, zum Arabischen Frühling und zu Soja aus Südamerika. als Chance. Denn Milch, Schweinefleisch und Zuckerrüben sind derzeit die grössten Sorgennen Eltern früh klar machen können, dass ich in der Milch für unseren kinder der Schweizer Landwirtschaft. Und mit zweien davon erzielte die Betrieb wenig Perspektive sehe. Bei den heutigen Milchpreisen hätte Familie in den vergangenen Jahrzehnten ihr Einkommen, das immer sich der Aufwand nicht mehr gelohnt. Dass sie das akzeptiert haben, weniger wurde. war mein Glück.» «Ich bin jung, Unternehmer und richte mich am Markt aus», sagt Auf dem Hofplatz treffen wir auf den Vater, zwischen den Lippen eiGalliker über sich. Während seiner Ausbildung zum Agronom setzte er nen «Knechtstumpen», wie er sagt. «Man muss die Jungen machen lassich in jeder Studienarbeit mit dem Hof auseinander, prüfte verschiesen, das war schon früher so», meint er. Nach anfänglicher Skepsis dene Einkommensmöglichkeiten, erstellte SWOT-Analysen, sprach mit unterstützt er die Pläne seines Sohnes und hilft beim Umbau des Hofes Abnehmern und Verbänden, bis er irgendwann bei den Hühnern anmit. Er sei froh, wenn sein Sohn auch in Zukunft vom Bauern leben könlangte. Weil die Nachfrage nach Bio-Pouletfleisch das Angebot überne, Wehmut spüre er nicht. Christian Galliker steht daneben und schaut steigt, der Neubau für die Ställe vergleichsweise günstig ist und weil seinen Vater mit verschmitztem Lachen an: «Ja ja, bis dann die letzte Bio zu seinen Überzeugungen passe. Vom eigenen Hof schlägt Galliker Milchkuh aus dem Stall geführt wird.» den Bogen zu steigenden Nahrungsmittelpreisen, zum Arabischen ■

14

SURPRISE 369/16


Landwirtschaft «Die Abhängigkeiten sind enorm» Wer als Bauer eine Zukunft haben will, müsse unabhängiger werden von Staat und Industrie, fordert die Denkwerkstatt Vision Landwirtschaft. Geschäftsleiter Andreas Bosshard sagt, die Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik würden den Wandel hemmen.

Herr Bosshard, Sie sind der Ansicht, die Schweizer Bevölkerung habe ein verzerrtes Bild der Landwirtschaft. Was ist falsch? Eine ganze Menge. Beginnen wir bei der Werbekampagne des Bauernverbands für die Schweizer Landwirtschaft. Sie meinen die Hoftiere im Edelweisshemd, die ihren Bauern für den Artenschutz und den grossen Auslauf loben? Genau, oder vom Alpenpanorama erzählen. Mitfinanziert von Steuergeldern wird da ein Bild vermittelt, das kaum noch etwas mit der Realität zu tun hat. Der Konsument soll glauben, dass unsere Bauern immer nachhaltig produzieren, wenig Chemie einsetzen und vorbildlich mit den Ressourcen umgehen. Und das stimmt in Ihren Augen nicht? Es gibt Aspekte, wo wir gut sind. Wir haben immer noch eine funktionierende Berglandwirtschaft. In anderen Bereichen liegen wir aber weit zurück. Bezogen auf die Fläche produzieren wir fast am meisten Ammoniak in ganz Europa. Ammoniak ist in diesen Konzentrationen ein gravierendes Umweltgift. Ursache sind die überhöhten Tierbestände, die wiederum von riesigen Mengen an Futtermittelimporten abhängen und aus deren Mist das Ammoniak entweicht. Ein anderes Beispiel sind die Pestizide, von denen die Schweizer Landwirtschaft oft mehr als nötig einsetzt. Wenn das so ist, weshalb dringt das in der Öffentlichkeit nicht durch? Das liegt vielleicht auch an der landwirtschaftlichen Forschung, die praktisch vollumfänglich von staatlichen oder halbstaatlichen Institutionen bestritten wird. Was erforscht wird und wie die Resultate kommuniziert werden, bestimmt der Staat wesentlich mit. Und der hat wenig Interesse, die eigene Agrarpolitik kritisch zu durchleuchten. In der Öffentlichkeit tritt die Landwirtschaft häufig mit einer Stimme auf. Sind die Bauern tatsächlich so geeint? Die bäuerlichen Medien sind mehr oder weniger im Griff des Bauernverbands. Er benutzt sie, um seine eigenen politischen Ziele zu verfolgen. Wer eine andere Meinung als der BauSURPRISE 369/16

ernverband vertritt, kommt kaum zu Wort oder läuft Gefahr, anschliessend übel durch den Dreck gezogen zu werden. Dass es keine freie bäuerliche Presse gibt, schadet der Schweizer Landwirtschaft enorm. Welches Interesse soll der Bauernverband an dieser Meinungsmache haben? Der Verband vertritt vor allem die Interessen der Industrie und nicht jene der Bauern. Die Schweizer Landwirtschaft ist ein Durchlauferhitzer. Fast alles Geld, das reinfliesst, fliesst gleich wieder raus: zu den Herstellern und Lieferanten von Saatgut und Pestiziden, zu Bauunternehmern und Maschinenimporteuren. Am meisten verdienen die an grossen Betrie-

In der Öffentlichkeit ist oft von der grossen Belastung der Bauern die Rede. Je besser es dem Bauernverband gelingt, die Lage als desaströs darzustellen, desto eher bekommt die Branche vom Staat weiterhin viel Geld. Wir glauben aber nicht, dass diese Strategie der Landwirtschaft hilft, um sie stark und zukunftsfähig zu machen. Ein anderes Problem ist der Nachwuchs. Jedes Jahr verschwinden 1000 Bauernbetriebe. Aber das hat nichts mit fehlendem Nachwuchs oder der wirtschaftlichen Lage zu tun. Für Hofbesitzer ist es schlicht gewinnbringender, die Gebäude umzunutzen und ihr Land zu verpachten oder zu verkaufen, statt den Betrieb

«Was erforscht wird, bestimmt der Staat wesentlich mit. Und der hat wenig Interesse, die eigene Agrarpolitik kritisch zu durchleuchten.» Andreas Bosshard

ben, die mit viel Aufwand möglichst grosse Mengen produzieren. Je mehr Maschinen, Dünger, Ställe, Pestizide und Traktoren nötig sind, desto mehr profitieren sie. Der Bauernverband ist in den Verwaltungsräten jener Unternehmen und in der Politik bestens vertreten. Mit Guy Parmelin und Ueli Maurer sitzen zwei Männer im Bundesrat, die Verwaltungsräte der Fenaco waren, dem grössten Schweizer Agrarmulti, dem etwa Volg und Landi gehören. Die Verflechtungen und Abhängigkeiten zwischen Industrie, Bauernverband und Politik sind enorm. Wie ist eine Landwirtschaft möglich, in der weniger Investitionen nötig sind? Vor allem jene Betriebe stehen wirtschaftlich gut da, die sich einer Industrialisierung widersetzen und nicht um jeden Preis wachsen wollen. Die einen Stall einmal nicht neu bauen, die auf den grössten Traktor und teure Futtermittel verzichten. Jene, die das Messer am Hals haben, weil sie durch ihre zu hohen Investitionen in die Schuldenfalle geraten sind, setzen hingegen alles daran, dass das System wie bisher fortbesteht und ihre Defizite ausgleicht.

einem Nachfolger zu übergeben. Wenn einmal ein Hof ausgeschrieben wird, was so gut wie nie der Fall ist, dann gibt es massenhaft Bewerber, selbst für kleine, abgelegene Betriebe. Für die meisten Jungbauern ohne Hof ist es in der Schweiz unmöglich, selber Bauer zu werden, weil sie keinen Hof finden. Was brauchen junge Landwirte, damit sie in Zukunft als Bauern überleben können? Das Bauern ist ein enorm anspruchsvoller Beruf. Man muss Unternehmer sein, Bodenkundler, Ökonom, Betriebswirt, Tierarzt, Ökologe. Ich finde, es gibt kaum einen interessanteren Beruf. Es braucht ein Verständnis für die vielschichtigen Kreisläufe und Zusammenhänge der Natur, Freude an der Beobachtung und am dauernden Dazulernen. Aber natürlich auch ein Gefühl für den Markt, die Ökonomie des ganzen Betriebs. Wirklich erfolgreich sind letztlich jene Landwirte, die den Betrieb als ökologisch-ökonomisches Gesamtwerk verstehen. ■

Andreas Bosshard ist promovierter Agrarökologe und Geschäftsführer von Vision Landwirtschaft, einer Denkwerkstatt von Landwirtschaftsexperten.

15


Obdachlosigkeit Stadt der gefallenen Engel Die US-Westküste wird von einer veritablen Obdachlosigkeitskrise erschüttert. In Los Angeles leben tausende Menschen in schäbigen Zelten und Wohnwagen. Jetzt rechnen Meteorologen mit den stärksten Stürmen seit fast 20 Jahren.

16

SURPRISE 369/16


Bild links: Karen Souza, 55, wurde vor 10 Jahren obdachlos, nachdem ihr Ehemann verhaftet wurde. «Meine Welt fiel komplett zusammen, meine Teenager gerieten ausser Kontrolle und alles ging einfach den Bach runter», sagt sie. Heute lebt Karen mit ihrem Hund Handsome in einem Zelt unter einer Autobahnbrücke in Los Angeles.

EINE REPORTAGE IN BILDERN VON LUCY NICHOLSON

Einen Notstand ausrufen – das tun Politiker normalerweise nach Naturkatastrophen oder Terroranschlägen. An der US-Westküste haben in den letzten Monaten nacheinander die Städte Los Angeles, Portland und Seattle sowie der Bundesstaat Hawaii die drastische und aussagekräftige Massnahme ergriffen. Der Grund: die steigende Zahl von Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Hollywood, Beverly Hills und Venice Beach: Los Angeles ist eine der wirtschaftsstärksten Metropolen der Welt. Los Angeles ist aber auch: 44 000 Menschen ohne Obdach oder festen Wohnsitz, verteilt über die ganze Stadt, unter Autobahnbrücken und in schäbigen Zeltlagern auf Baubrachen. Oder einfach in Autos und Wohnmobilen, die in gewissen Stadtteilen ganze Strassenzüge säumen. Und es werden immer mehr: In den letzten zwei Jahren ist die Zahl der Wohnungslosen um 12 Prozent gestiegen, jene der behelfsmässigen Behausungen und bewohnten Fahrzeuge gar um 85 Prozent auf über 9000. Auch ganz im Norden, im prosperierenden Seattle, Sitz von Multimilliarden-Konzernen wie Microsoft, Amazon oder Starbucks, rief der Bürgermeister den Notstand aus, nachdem im vergangenen Jahr 66 Menschen auf den Strassen der Stadt gestorben waren. In einer einzigen Nacht wurden im vergangenen Winter 2800 Menschen gezählt, die auf der Strasse schliefen, darunter Frauen und Kinder. Dieses Jahr, so die offizielle Prognose, werden 35 000 Menschen in King County, in dem die Stadt Seattle liegt, ihren festen Wohnsitz verlieren. Betroffen von der Krise sind auch viele Familien mit Kindern. Über 13 000 Schüler des SURPRISE 369/16

Schulbezirks Los Angeles waren 2014 in irgendeiner Form wohnungslos. In Seattle sitzt durchschnittlich in jedem Klassenzimmer ein wohnungsloses Kind. Die Ursachen decken das ganze soziale Spektrum ab, vom landesweiten Anstieg des Drogenkonsums bis zu den Einsparungen der Bundesregierung in Washington, die auch die Programme im sozialen Wohnungsbau treffen. Die Mieten in Seattle sind letztes Jahr um rund 12 Prozent gestiegen, und in Los Angeles geben die Leute einen grösseren Teil ihres Einkommens für die Miete aus als irgendwo sonst in den USA. Eine Studie im Journal of Urban Affairs zeigte, wie eng es für viele ist: Steigt die Medianmiete um 100 Dollar, führt das zu 15 Prozent mehr Wohnungslosen. Mit der Ausrufung des Notstandes können Regierungen zusätzliche Gelder freimachen. Los Angeles will kurzfristig 100 Millionen Dollar in die Bekämpfung der Obdachlosigkeit stecken. Langfristig ist sogar die Rede von einem Zwei-Milliarden-Plan, der auch mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen soll. Doch die nächste grosse Herausforderung dürfte nicht so lange auf sich warten lassen: Das pazifische Klimaphänomen El Niño soll dieses Jahr so stark ausfallen wie seit Langem nicht mehr. In den Wintern 1983 und 1998, als El Niño die Ausmasse eines Klima-Jahrhundertereignisses annahm, fiel in Los Angeles doppelt so viel Regen wie üblich. Die Obdachlosen, warnte ein Klimatologe der University of California in Los Angeles, bräuchten dringend Paletten, um ihre Zelte anzuheben. Und es brauche kurzfristige Unterbringungsmöglichkeiten. Sonst werde El Niño auf den Strassen von Los Angeles Menschenleben fordern. (Amir Ali) ■

17


Der pensionierte Lastwagenfahrer Samuel Cole, 85, zog vor zwei Jahren in einen Camper, nachdem sein Vermieter die Miete um 100 Dollar angehoben hatte. Vandalen haben seinen Generator zerstört, deshalb hat er keinen Strom mehr. Wie viele andere nennt er das Fehlen von fliessendem Wasser als eines seiner grössten Probleme. «Ich wasche mich, so gut es geht», sagt er. «Es ist sehr schwierig.»

18

SURPRISE 369/16


Nathan Allen, 65, vor seinem Wohnmobil. Er lebt auf einem Lagerplatz in der N채he des Flughafens. Allen verlor seinen Job als Handwerker und konnte die Miete f체r seine Wohnung nicht mehr bezahlen.

SURPRISE 369/16

19


Kathleen Fox, 54, mit Hund Pork Chop neben ihrem Zelt unter einer Autobahnbrücke in Los Angeles, wo sie seit gut einem Jahr lebt. Sie sei hierhergezogen, um von den Drogen loszukommen, die 30 Jahre ihres Lebens aufgefressen hätten. «Ich hoffe jetzt, dass ich eine Wohnung finde und mein Leben wieder in den Griff bekomme», sagt sie.

Stacie McDonough, 51, beim Mittagessen neben ihrem Zelt. Die Veteranin der US-Armee und CollegeAbsolventin ist seit Kurzem obdachlos.

20

SURPRISE 369/16


Victor Augustine, 53, ist seit zwei Jahren obdachlos. Er 端bernachtet in seiner Cadillac-Limousine auf einem Wohnwagen- und Zeltplatz f端r Obdachlose. Victor hat seit Kurzem eine Teilzeitstelle als Sicherheitsmann.

Mit freundlicher Genehmigung von INSP News Service www.insp.ngo/Reuters SURPRISE 369/16

21


BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Pakete kommen immer gut an Ein Paket, das zu mir unterwegs war, ist verschwunden. Nichts Wichtiges, ein Bob. Es handelt sich um ein ziemlich grosses Paket. Es geht mir nicht darum, die Post schlecht zu machen. Ich mag die Post. Ich mochte sie noch lieber, bevor sie all ihre Produkte und Dienstleistungen mit schmissigen englischen Namen versah und ihre Mitarbeitenden, die jahreoder jahrzehntelang treu ihre Arbeit geleistet hatten, entliess, um sie danach zu tieferen Löhnen und mit befristeten Verträgen wieder einzustellen. Weil die Post dem Bund, also uns allen, gehört, ist dieses Verhalten besonders stossend, aber das ist eine andere Geschichte. Ich bestelle viel im Internet, nein, keine Bücher, sondern Reiskocher, Druckerpatronen, Fairtrade-Kaffee und Bobs. Bis jetzt ist eigentlich immer alles rasch und zuverlässig angekommen, der Päcklipöstler – wahrscheinlich

22

ein Subunternehmer mit miesen Arbeitsbedingungen – kennt mich längst. Kaum verlässt die Ware das Lager des Händlers, erhält man einen Link, mit dem die Sendung nachverfolgt werden kann. Track&Trace heisst das, ohne Englisch geht es bei der Post einfach nicht. Da kann man sehen, wie das Paket sich bewegt. Es macht mitunter eine Reise kreuz und quer durch die Schweiz. Diese Phase ist spannend. Man ist sozusagen live dabei, kann aber nicht ins Geschehen eingreifen, wie bei einem Skirennen im Fernsehen. Gerne hätte man eine Funktion, mit der man das Paket anweisen könnte, auf sich aufmerksam zu machen. Ich stelle mir das Paketzentrum als riesige Halle vor, mit Laufbändern, Robotern, Gestellen und Menschen, die herumeilen, vieles vollautomatisiert und alles perfekt durchorganisiert. Da hat es etwas Tröstliches, dass ein Paket, ein ziemlich grosses Paket, einfach so verschwinden kann. Ich stelle mir seither vor, was passiert sein könnte. Den simplen Diebstahl will ich ausschliessen. Postangestellte sind keine Diebe. War das Paket zu sperrig? Schlug die Person, die es in Empfang nahm, die Hände über dem Kopf zusammen – schon wieder so ein unförmiges Ding, das einen Haufen Arbeit macht – und brachte es in den Nebenraum eines Nebenraums, um es nie mehr in die Hand nehmen zu müssen? Gerne stelle ich mir vor, das Paket habe gerade die richtige Grösse, um als Tisch zu dienen,

auf dem sich in der Znünipause ein Jass klopfen lässt, irgendwo in einem heimlich gebauten Raum aus anderen Kartons, den die Überwachungskameras nicht erfassen und von dem die Vorgesetzten nichts wissen. Denn die Zeiten, in denen man in der Znünipause Kartenspielen konnte, sind definitiv vorbei. Wurde das Paket in den Raum mit den grossen Paketen gebracht, wo dann ein grösseres Paket davorgestellt wurde, das nun die Sicht auf meins verstellt? Ist es vielleicht beschädigt worden, der Bob herausgefallen? Hat man während der Nachtschicht versucht, damit die Bahnen aus Rollen hinunterzufahren, auf denen die Pakete fortbewegt werden, und ihn dabei unter dem Applaus der gesamten Belegschaft in seine Einzelteile zerlegt? Wo immer der Bob sein mag, sicher ist nur, dass er nicht zum Schlitteln benutzt wird. Denn der Schnee, wie mein Paket, lässt vielerorts noch immer auf sich warten.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT (SAVVE@VTXMAIL.CH) SURPRISE 369/16


China Ein Prophet stellt aus © SIGG COLLECTION, KARL-HEINZ HUG

China ist für viele Menschen im Westen nach wie vor eine unbekannte Grösse, ein Vielvölkerstaat der Superlative, den eigentlich niemand richtig versteht – ausser dem Luzerner Uli Sigg. Zumindest was die Kunst angeht. Und die hat Einiges über ihr Land zu erzählen.

Die grösste Sammlung chinesischer Gegenwartskunst befindet sich nicht etwa in Schanghai oder Peking, sondern tief im Luzerner Mittelland, in einem alten Schloss auf einer malerischen Insel im Mauensee. Dort lebt Uli Sigg, Burgherr und Sammlungsbesitzer, zusammen mit seiner Frau Rita. Zumindest, wenn er nicht gerade auf Geschäftsreise ist. Und reisen muss er viel. Zu wichtig ist Chinas Kunst in den letzten 20 Jahren für den Markt geworden und zu bedeutend Siggs Besitz, den er während dieser Zeit wie ein Wilder angehäuft hat. Der epische Bestand umfasst mehr als 2200 Werke von über 350 Künstlern. Nicht wenige davon sind inzwischen weltberühmt. Der bekannteste ist Ai Weiwei, der dank Sigg 1999 sein internationales Debut an der Biennale von Venedig feiern konnte, sechs Jahre bevor dort der erste chinesische Pavillon eröffnete. Sigg, ein athletischer Mann mit grünen Falkenaugen, Jahrgang 1946, kam über Umwege zum Sammeln. Als 22-Jähriger wurde er im Achter Ruderweltmeister, vier Jahre später hatte er den Doktortitel in Rechtswissenschaften erlangt. 1979 reiste er für den Lifthersteller Schindler nach China, knapp vier Jahre nach Maos Tod. Damals begann die Regierung, wieder ausländische Investoren ins Land zu holen. «Politik der offenen Tür», lautete der Slogan. Eine wachsende Wirtschaft braucht wachsende Städte, wachsende Städte brauchen hohe Häuser, und hohe Häuser brauchen Lifte. So kam es, dass der junge Manager aus Luzern das erste Joint Venture einer chinesischen und einer westlichen Firma auf die Beine stellte. Sigg wurde zu einem gefragten Mann. So gefragt, dass ihn der Bundesrat 1995 als Botschafter nach Peking schickte. Dort traf er auf ein Diplomatenhaus, das zwar voller Kunst war, aber nicht chinesischer, sondern eidgenössischer. Also begab sich Sigg auf die Suche nach der jungen Kunst des neuen Chinas. Eine Kunst, die seit dem Ende der Kulturrevolution zwar im ganzen Land erblühte, für die es allerdings weder eine Öffentlichkeit noch Fördergelder gab. Vor allem aber: keinen Markt. Heute sieht China ganz anders aus. Die Wirtschaft ist liberalisiert, die Ein-Kind-Politik beendet, der Mittelstand holt sich Kaffee bei Starbucks und die TV-Sendung «The Voice» läuft im Abendprogramm. Hunderte von Akademien schwemmen jährlich zehntausende Künstler auf den Markt, und unzählige leerstehende Museen warten darauf, beseelt zu werden. Auch für Uli Sigg hat sich vieles verändert. Er ist nicht mehr Manager eines Konzerns, sondern einer Sammlung, welche die chinesische Kunstgeschichte seit den Siebzigern ebenso spiegelt, wie sie sie mitgeschrieben hat. 1997 gründete Sigg den Chinese Contemporary Art Award, den ersten Preis für Chinas moderne Kunst. Dort stellte er Ai Weiwei der Kuratorenlegende Harald Szeemann vor, welcher den Künstler 1999 an die von ihm kuratierte Biennale brachte und damit einen Sammlerboom auslöste, der das Kunstgeschehen Chinas nachhaltig veränderte. 2005 stellte Ai für das Kunstmuseum Bern eine monumentale Wanderausstellung aus der Sammlung Sigg zusammen. Die Schau war SURPRISE 369/16

BILD:

VON PHILIPP SPILLMANN

Uli Sigg neben dem Gemälde «Moon Rabbit».

so erfolgreich, dass ihr Katalog den Beinamen «Bibel» erhielt. Und Uli Sigg wurde vom Patron zum Propheten. Seither sind zehn Jahre vergangen. Eine neue, globalisierte Künstlergeneration ist herangewachsen. Was diese Generation zu sagen hat und welches Bild der Welt die Künstlergilde der Kollektion Uli Sigg entwirft, zeigt das Kunstmuseum Bern zusammen mit dem Zentrum Paul Klee in der Ausstellung «Chinese Whispers». Sie ist eben eröffnet worden, quasi zeitgleich ist Michael Schindhelms Dokumentarfilm «The Chinese Lives of Uli Sigg» gestartet. Der Film schildert die Geschichte von Chinas neuer Kunst anhand des Mythos ihres grössten Sammlers, der vor dreieinhalb Jahren bekanntgegeben hat, er wolle den Grossteil seines Lebenswerks an das Land zurückgeben. Genauer: nach Hongkong, den ehemals britisch kolonialisierten Flecken Borderline-China, in dem seit 2013 auch die Art Basel eine Messe abhält. 1510 seiner Besitztümer wandern in das Museum für visuelle Künste M+ in Hongkong, das 2019 eröffnet werden soll. Hongkong ist auch deshalb praktisch, weil es jährlich von Millionen Touristen aus China besucht wird. Vor allem aber, weil viele Werke der Sigg-Collection in Festlandchina nach wie vor nicht gezeigt werden können – zu sehr enthüllen sie die Missstände des Mutterlandes. In Hongkong sind sie sicher. Zumindest bis ins Jahr 2047. Bis dahin gelten nämlich die Verträge, die der Sonderverwaltungszone ihren autonomen Status sichern. ■ Chinese Whispers – Neue Kunst aus den Sigg und M+ Sigg Collections, bis So, 19. Juni, Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3, Bern und Kunstmuseum Bern, Hodlerstrasse 8 –12, Bern. www.zpk.org www.kunstmuseumbern.ch Michael Schindhelm: «The Chinese Lives of Uli Sigg», CH 2016, 93 Min.

23


BILD: ZVG

BILD: ZVG

Kultur

Himmel! – Plötzlich verstehen wir das Universum.

Banale Denkanstösse: Amalia Ulmans Selfies sind bald auch im Tate Modern zu sehen.

Buch Einsteins Juwel

Ausstellung Das Internet als Muse

In sieben kurzen Lektionen führt uns der Quantenforscher Carlo Rovelli Schönheit und Abenteuer der Physik vor Augen.

Im Vögele Kultur Zentrum werden die Besucher nicht nur mit Kunstwerken und Fakten konfrontiert – sondern auch mit Fragen, die jeder selbst beantworten muss.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON EVA HEDIGER

Physik ist für viele wohl in erster Linie etwas, von dem sie zwar viel gehört haben, aber nur wenig verstehen. Physik hat irgendwas mit Raumfahrt und Raketen zu tun, mit AKWs und Nobelpreisen, und auch über Quanten, Quarks und Co. erfährt man allerlei, was nicht weniger im Dunkeln munkelt als die ominöse Dunkle Materie. Alles Dinge, die man dankend den Science-Fiction-Filmen überlässt, wo Physik sich im Märchenhaften verliert. Und nun erscheint da ein schmales Büchlein, das sich erdreistet, uns Laien die Physik in nur sieben kurzen Lektionen schmackhaft zu machen – und wird im Land des Autors, in Italien: ein Erfolg! Geschrieben von einem, der an der vordersten Front der Quantenphysik forscht, von Carlo Rovelli, dem Co-Autoren der Schleifen-Quantengravitation (LoopTheorie), die als aussichtsreicher Kandidat zur Vereinigung von Einsteins Relativitätstheorie und der Quantenmechanik gilt. Zwei Theorien, die beide bestens funktionieren, aber sich komplett widersprechen. Und daran, was schon die Profis vor immer neue Rätsel stellt, sollen wir Laien uns wagen? Ja, und es lohnt sich. Vor allem, wenn Rovelli darüber schreibt. Denn ihm gelingt es, uns in eleganten und verständlichen Sätzen die Augen für die Schönheit und das Abenteuer der Physik zu öffnen, für die Rätsel, Geheimnisse und Verheissungen. Da gibt man ihm sogar recht, wenn er Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie als Juwel bezeichnet und mit Mozarts Requiem oder der Sixtinischen Kapelle auf eine Stufe stellt. Und lässt sich gerne von diesem Enthusiasten durch die Fülle der Theorien von Makro- und Mikrokosmos leiten. Bis dorthin, wo sich alles in ein ruheloses Gewimmel auflöst, wo es nur noch ein Hin und Her von Wahrscheinlichkeiten und Zufällen gibt, und wo wir trotzdem behaupten können, ein Ich mit Bewusstsein zu haben. Das mag verwirrend sein. Aber das war es schon, als die Menschen erkannten, dass unsere Welt nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Carlo Rovelli: Sieben kurze Lektionen über Physik. Rowohlt 2015. 14.90 CHF

«Mom! Ich drehe gerade!», kreischt das Mädchen, empört über die elterliche Störung. Später lädt die knapp 12-Jährige das Video auf ihren YouTube-Kanal hoch. Dort wird es von Elisa Giardina Papa entdeckt und Teil von deren Installation «Need ideas!?!PLZ!!.»: Die Künstlerin zeigt Teenager, die mittels kurzen Videoclips verzweifelt nach Ideen für den nächsten Dreh fragen. «Diesen Mädchen ist die Präsenz wichtiger als der Inhalt», erklärt Simone Kobler. Gemeinsam mit Tanja Schlager hat sie die Ausstellung konzipiert. «Wir sind überzeugt, dass die digitale Revolution Chancen bietet, deren Ausmass wir aber nicht immer abschätzen können», so die beiden Frauen. Zwölf Künstlerinnen und Künstler zeigen ihre Werke. Alle sind vom Internet beeinflusst. So postete Amalia Ulman ein knappes halbes Jahr Selfies und Schnappschüsse auf Instagram: Erst unschuldig im rosafarbenen Schlafzimmer, dann als sexy It-Girl mit frisch gemachten Brüsten – und schliesslich als verheiratete Hausfrau in einer Kleinstadt. Kein Bild zeigte die Realität; die Spanierin inszeniert jedes einzelne so, dass es möglichst viele Likes erhält. «Sogar ihre Bekannten glaubten, dass die Fotos echt seien», so Kobler. Bald wird das Projekt im Tate Modern in London ausgestellt. Mit dem Spiel der Identität muss sich auch das Publikum beschäftigen. Eine der sechs Fragen, welche die Ausstellung gliedern, lautet: «Erkennt Ihr Freund Sie in Ihrem Online-Ich?» Kobler meint: «Wir hatten schon immer verschiedene Persönlichkeiten: Wir waren im Sportklub anders als bei der Arbeit. Das Internet ist jetzt ein weiterer Ort, sich zu erfinden.» Doch auch die ungewollte Inszenierung wird thematisiert: Florian Mehnert beauftragte zwei Spezialisten, die Smartphones von Passanten zu hacken. Unbemerkt aktivierten die virtuellen Eindringlinge deren NatelKameras. Was diese festhielten, wird auf mehreren Tablets gleichzeitig gezeigt. «Es sind Banalitäten, aber trotzdem wurde die Privatsphäre verletzt», meint der Künstler. Es ist nur einer von vielen Denkanstössen, welche die Ausstellung bietet – und spätestens bei der letzten Frage, jener nach der digitalen Hinterlassenschaft, überlegt sich das Publikum: Wie geht es weiter? «i.ch _ wie online leben uns verändert», noch bis 20. März 2016, Vögele Kultur Zentrum, Gwattstrasse 14, Pfäffikon SZ.

24

SURPRISE 369/16


BILD: ZVG

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Melodie der Zuneigung: Fünf Schwestern und ihr Schicksal.

Kino Verlorene Freiheit Filmemacherin Deniz Gamze Ergüven erzählt in «Mustang» die Geschichte von fünf Schwestern, die unter die patriachale Herrschaft ihres Onkels geraten. VON SIMON JÄGGI

Die Schultaschen fliegen in den Sand, die Mädchen springen mitsamt den Kleidern ins Meer und ringen mit ihren Klassenkameraden in vergnügtem Spiel. Dieser glückvolle Moment eröffnet das Erstlingswerk der türkischen Filmemacherin Deniz Gamze Ergüven und ist zugleich Wendepunkt für das weitere Schicksal der fünf Schwestern. Als sie zu Hause ankommen, wartet bereits die aufgebrachte Grossmutter und bestraft mit Schlägen ihr sündhaftes Benehmen. Seit die Eltern gestorben sind, kümmert sie sich um die Erziehung. Gemeinsam mit dem Onkel versucht sie, die Kinder auf den rechten Weg zu bringen. Telefone, Computer und Schminksachen verschwinden in einem verschlossenen Schrank, dunkelbraune Überwürfe ersetzen enge Jeans und Oberteile. Im Haus erscheinen Kopftuch tragende Nachbarinnen und unterrichten die Mädchen in Kochen, Nähen, Benehmen – all dem, was eine künftige Ehefrau wissen sollte. Bald schon kommen erste Mütter auf Besuch, die für ihre Söhne eine Partnerin suchen. Währenddem lässt der Onkel die Mauern um das Haus, nicht nur sinnbildlich, immer weiter in die Höhe wachsen. Von hier fort darf nur noch, wer verheiratet ist. Im Kontrast zu seiner Herrschaft steht der Freiheitsdrang der fünf Mädchen, die dem Gefängnis immer wieder zu entkommen suchen – in Fantasiewelten oder ganz real durch das offene Fenster. Ihre Lebensfreude und gegenseitige Zuneigung zieht sich wie eine leise Melodie durch den gesamten Film, der mehr erzählt als den fiktiven Einzelfall. Es ist leicht vorstellbar, dass sich ähnliche Geschichten wie jene von Lale, Nur, Ece, Selma und Sonay in anderen Dörfern der Türkei wiederholen, wo junge Frauen unter patriachalen Strukturen leiden und Jungfräulichkeit mehr zählt als die freie Gestaltung des eigenen Lebens. Der Film lässt sich ebenso als eine Parabel auf die Türkei als Ganzes lesen, wo unter der Führung von Präsident Erdog˘an religiös-konservative Gesellschaftsteile die Oberhand gewinnen. Den Schwestern bleibt am Ende nur noch die Flucht – in ein anderes Leben und darüber hinaus.

01

Petra Wälti Coaching, Zürich

02

Bachema AG, Schlieren

03

Pro Lucce, Eschenbach SG

04

Mcschindler.com GmbH, Zürich

05

Burckhardt & Partner AG, Basel

06

Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

07

AnyWeb AG, Zürich

08

TYDAC AG, Bern

09

InhouseControl AG, Ettingen

10

Hauswirth Privat-Pflege, Oetwil am See

11

Supercomputing Systems AG, Zürich

12

Frank Blaser Fotograf, Zürich

13

Balcart AG, Therwil

14

Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

15

Kaiser Software GmbH, Bern

16

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

17

Doppelrahm GmbH, Zürich

18

Maya-Recordings, Oberstammheim

19

Hofstetter Holding AG, Bern

20

CMF Zentrum für Achtsamkeit, Zürich

21

Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

22

PS: Immotreuhand GmbH, Zürich

23

Bruno Jakob Organisations-Beratung, Pfäffikon

24

Jeker Architekten SIA AG, Basel

25

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Deniz Gamze Ergüven: «Mustang», TR, F, D 2016, 93 Min., mit Günes¸ Nezihe S¸ensoy, Dog˘ a Zeynep Dog˘ us¸ lu, Elit I˙s¸ can u.a. Der Film läuft ab 18. Februar in den Deutschschweizer Kinos. 369/16 SURPRISE 369/16

25


BILD: THOMAS KORRMK

BILD: ZVG BILD: ZVG

Ausgehtipps

Wie «Emil und die Detektive»: Film ist Teamarbeit.

Basel Filmen statt Ferien Giacun Caduff ist der Mann, der uns gezeigt hat, dass Carlos Leal lustig sein kann, und zwar in seinem Spielfilm «20 Regeln für Sylvie», der etwas dämlich, aber sehr lustig war und in dem Leal als ebenso bärtiger wie hinterwäldlerischer Vater auftrat. Caduff war in den USA und hat dort für Grössen wie John Malkovich gearbeitet und ist ein zurückgekehrter, sehr umtriebiger Mensch, der sein Können und seinen Elan aus den USA nach Hause gebracht hat. Hier gibt er es weiter, und zwar an junge Menschen: Seit zwei Jahren veranstaltet er das «Movie Camp», eine Filmwoche, in der Kinder und Jugendliche unter kundiger Anleitung von Profis und ausgerüstet mit professionellstem Equipment ihre Geschichten entwickeln und verfilmen lernen. Der Spass ist nicht ganz billig, aber vermutlich immer noch günstiger als eine Woche Skifahren, und vielleicht bringt es den einen oder die andere dazu, sich die Welt einmal mit anderen Augen anzusehen. Und da Film Teamarbeit ist, bringt es übers Filmemachen hinaus auch einiges Lehrreiches fürs Berufsleben mit sich. (dif)

Mit Wunsch, aber ohne Visum.

Liechti bleibt unverwüstlich. Auch wenn er tot ist.

Basel Schnee in Marrakesch

Zürich Im Sog der Gedanken

Die Berge sind verschneit, die Schweizer Flagge gut kopiert, die Illusion fast perfekt. «Il neige a Marrakech» erzählt die Geschichte eines alten Marokkaners, der sich vor dem Sterben seinen grössten Wunsch erfüllen möchte: einmal Skifahren in der Schweiz. Weil er kein Visum erhält, lässt sich sein Sohn etwas anderes einfallen. Zu sehen ist der berührende Kurzfilm am Basler Cinema Querfeld, das zum elften Mal stattfindet. Zum Thema «Welt im Wandel» zeigen die Veranstalter Filme aus ganz unterschiedlichen Regionen und Kulturen. Eines haben die Geschichten jedoch gemeinsam: Sie zeigen eine Welt, wo nichts bleibt, wie es einmal war. In das Leben des argentinischen Eisenwarenhändlers platzt plötzlich ein junger Chinese, der verzweifelt seinen Onkel sucht. Eine süditalienische Familie nimmt statt Touristen Flüchtlinge in Empfang, und zwei bulgarische Menschenschmuggler holt ihre brutale Vergangenheit ein. (sim)

Der Dokumentar-, Essay- und Kunstfilmer Peter Liechti ist vor fast zwei Jahren verstorben, und wir fassen es immer noch nicht. Das mag daran liegen, dass er uns so vieles dagelassen hat. Und daran, dass sich seine Texte eingraben ins Hirn als sei er mitten in unserem Leben. Der Duktus seiner Sprache liess die Gedanken Strudel bilden und riss uns in den Sog des Lebens hinein. Wir gingen mit Liechti in «Hans im Glück» mit auf seine persönliche Raucherentwöhnungs-Wanderung und wir schauten in «Vaters Garten» zu, wie die eigenen Eltern zu Hasenpupen und die Wirklichkeit zu Literatur wurde. Theater-Altmeisterin Nikola Weisse sprach die Texte seiner Mutter und bestreitet nun den literarischen LiechtiAbend, den das sogar theater zeigt: Zahlreiche seiner Texte sind nicht nur in Filme eingeflossen, sondern auch in Buchform erschienen, und seine Partnerin Jolanda Gsponer hat sie zu einer Lesung verdichtet. (dif)

Cinema Querfeld, Fr, 4. bis So, 6. März, Querfeldhalle

«Ein Abend für Peter Liechti», Fr, 11. März, 20.30 Uhr,

im Gundeldingerfeld, Dornacherstrasse 192.

Sa, 12. März, 17 Uhr, So, 13. März, 17 Uhr, sogar

www.cinema-querfeld.ch

theater, Josefstrasse 106 (im Innenhof), Zürich.

Anzeigen:

www.sogar.ch

«Movie Camp», Mo, 21. März bis Fr, 25. März, Region Basel, für 8- bis 20-Jährige, Kosten 8 bis 12 Jahre: 380 CHF, 13 bis 20 Jahre: 430 CHF; Anmeldeschluss: Fr, 4. März. Weitere Informationen unter: www.movie-camps.ch

26

SURPRISE 369/16


BILD: ZVG

BILD: YOSHIKO KUSANO

Ein bisschen uncool, dieser Kopf.

Wie war das nochmal mit Pink und Blau?

Bern Ausgekugelt

Basel Macht euch frei!

Da will man einigermassen normal sein und nicht weiter auffallen, hat aber eine grosse rote Christbaumkugel als Kopf. Was tun? Zumal sich an Weihnachten alle auf einen stürzen und man nicht mehr Herr der eigenen Lage ist: Man wird ins Schaufenster gestellt und an der Weihnachtsfeier als Discokugel missbraucht. Himmel sei Dank hat auch das Christfest einmal ein Ende. Und siehe da – prompt taucht jemand auf, der in dir mehr sieht als glitzernden Baumschmuck. Total absurd und doch aus dem Leben gegriffen: Es sind Geschichten wie diese, die am Berner Kindertheaterfestival Kicks! im Schlachthaus Theater Bern gezeigt werden. Ziel des Festivals ist es, junge Theaterschaffende im Bereich Kindertheater zu fördern. Und das junge Publikum zu unterhalten und zum Nachdenken zu bringen. (dif)

Was macht einen Jungen zum Jungen, und was ein Mädchen zum Mädchen? Und ginge das auch ganz anders? Im neuen Tanzstück von Tabea Martin geht es um die Besonderheiten des eigenen Geschlechts. Um die Frage, ob Pink nur für Mädchen und Blau nur für Jungs ist. Darum, ob auch die Jungs weinen dürfen oder wirklich nur die Mädchen. Und können nur die Jungs Bäume erklimmen und Mädchen nicht? Tanzend gehen die beiden Darsteller der Frage nach, wo die Trennung anfängt und wann sie zur Ausgrenzung wird. Wie viel Mut braucht es, für seine eigenen Ideen und Bedürfnisse einzustehen? Die Choreografin Tabea Martin geht zusammen mit zwei Tänzerinnen und zwei Tänzern auf die Suche nach der Überwindung der zugewiesenen Rollenbilder der Geschlechter. «Pink for Girls & Blue for Boys» zeigt die Beengung und den Druck, den die Zuweisung aufbauen kann, aber auch die Freude ihrer Entdeckung und dem spielerischen Umgang damit. Setzen wir keine Grenzen! Was geschieht dann? Das Stück fordert dazu auf, dem zu folgen, was zu einem passt, und nicht dem, was andere als passend erachten. Eine Produktion für alle ab sechs Jahren. (sim)

«kicks!», bis So, 28. Feb., Schlachthaus Theater Bern; «Christbaumchugelechopf», Sa, 20. Feb., 16 Uhr, So, 28. Feb., 14 Uhr (ab 8 Jahren); «Ritalina», So, 21. Feb., 16 Uhr, So, 28. Feb., 11 Uhr, (ab 9 Jahren); «Vo Aafang a», Mi, 24. Feb., 17 Uhr, Sa, 27. Feb., 17 Uhr (ab 6 Jahren), «Glaubst du an Elfen?», Fr, 26. Feb., 18 Uhr, Sa, 27. Feb., 16 Uhr (ab 6 Jahren); dazu zahlreiche Schulvorstellungen. www.schlachthaus.ch

«Pink for Girls & Blue for Boys», Vorstadttheater Basel, St. Albanvorstadt 12, Fr, 26. Feb., 18 Uhr und Sa, 27. Feb., 17 Uhr.

Anzeige:

SURPRISE 369/16

27


Verkäuferinnen-Porträt International «Immer Donauwalzer, mit Akkordeon» Carmen, 39, verkauft in Hamburg die Strassenzeitung Hinz&Kunzt. Als sie vor Kurzem einen Herzinfarkt erlitt, wollte sie nicht im Spital bleiben – denn sie ist nicht versichert. Für die Zukunft wünscht sie sich vor allem, dass es ihr zwölfjähriger Sohn einmal besser hat als sie selbst – weshalb sie ihn jetzt in die Schule schickt.

Vor wenigen Wochen ist Carmen nur knapp dem Tod entronnen. Stundenlang stand sie an ihrem Platz, wo sie in Hamburg die Strassenzeitung Hinz&Kunzt verkauft. Ohne Erfolg. Schon auf dem Nachhauseweg ging es ihr schlecht. Doch anstatt eine Pause einzulegen und sich etwas zu trinken zu gönnen, gab sie ihre letzten Cents für ihr ÖV-Ticket aus. Bloss nicht schwarzfahren, dachte sie sich, wie immer. Nachdem sie zuhause angekommen war, konnte sie sich nicht mehr bewegen. Ihr Mann rief einen Krankenwagen, der Notarzt diagnostizierte einen Herzinfarkt. Und das mit 39 Jahren. Ein schwerer Schock für Carmen, schliesslich war Jahre zuvor schon ihr Bruder mit 27 an einem Herzinfarkt gestorben. Trotzdem verliess sie nach ein paar Stunden das Krankenhaus. Sie wollte Ionut, ihren zwölfjährigen Sohn, nicht unbeaufsichtigt zuhause lassen. Und sie hatte Angst vor den hohen Behandlungskosten. Denn Carmen hat keine Krankenversicherung. Sie habe bereits 4000 Euro Schulden, sagt die gebürtige Rumänin. Dabei hat sie sich nie etwas zuschulden kommen lassen: «Ich fahre nicht schwarz und klaue nicht», beteuert sie. Es sind die Rechnungen für die vielen Arztbesuche, die sie nicht begleichen kann. Seit fünf Jahren kämpft Carmen immer wieder mit gesundheitlichen Problemen. Damals verunglückte sie bei einem Autounfall schwer und verlor dabei ihr ungeborenes Kind. «Seitdem ist es mir nie wieder gut gegangen», sagt sie. Carmen hatte auch schon früher kein leichtes Leben. Aufgewachsen ist sie in einem kleinen Dorf im Osten Rumäniens, in einer ärmlichen Region, in der es weder Arbeit noch Hoffnung gibt. An eine Ausbildung war nicht zu denken, nicht einmal einen Schulabschluss hat sie. Als Carmen 14 war, starb ihr Bruder. Seine Kinder kamen zur Oma, und Carmen musste auf sie aufpassen. Wenn sie an ihre Kindheit denkt, steigen ihr noch heute Tränen in die Augen. Als 2008 die Wirtschaftskrise ihren Höhepunkt erreichte, verliess sie Rumänien. In Hamburg versuchte sie ihr Glück anfangs als Strassenmusikerin, «mit Akkordeon». Nur ein Lied habe sie spielen können, «immer Donauwalzer». Carmen lacht. Ein seltener Anblick. Tatsächlich war sie damals glücklich. Sie verdiente ausreichend Geld für ein Zimmer. Mit den gesundheitlichen Problemen wuchsen die Schulden, und mit ihnen die Sorgen. «Nachts kann ich oft nicht schlafen», sagt Carmen. Zum Glück bekam sie einen Verkäuferausweis bei Hinz&Kunzt. Der Zeitungsverkauf sichert ihr den Lebensunterhalt. Doch die Sorgen sind geblieben, vor allem um die Zukunft ihrer Kinder. Zwar hat Tochter Ionela inzwischen eine eigene Familie. Doch auch die 22-Jährige findet keinen festen Job. Dann ist da noch Ionut, ihr ein und alles. Erst seit

28

BILD: MAURICIO BUSTAMANTE

VON JONAS FÜLLNER

Oktober besucht der Zwölfjährige die Schule. Warum? «Ich hatte Angst», sagt Carmen. Davor, dass man ihr den Sohn wegen der Schulden wegnehmen würde oder sie zurück in die Heimat schicken könnte. Bei Hinz&Kunzt wurde ihr geholfen. Carmen schöpft wieder Hoffnung. Ihr grösster Wunsch: «Ionut soll es eines Tages besser haben als ich.» ■

Mit freundlicher Genehmigung von INSP News Service Hinz&Kunzt www.insp.ngo SURPRISE 369/16


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Fatma Meier Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Oliver Guntli Bern

Roland Weidl Basel

Daniel Stutz Zürich

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

Telefon

Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

369/16 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 369/16

29


Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit einem Netzwerk aus freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der ganzen Deutschschweiz. Sie kämpfen um den Titel des Schweizermeisters und des Weltmeisters beim Homeless World Cup. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen kostenlosen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine einfache und charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren. Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Gönner-Abo für CHF 260.–

Geschenkabonnement für: Vorname, Name

Strasse

PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name

Strasse

PLZ, Ort

Telefon

E-Mail

Datum, Unterschrift 369/16

Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

30

Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali und Diana Frei (ami, dif, Co-Heftverantwortliche), Sara Winter Sayilir (win), Simon Jäggi (sim), Thomas Oehler (tom) redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Olivier Joliat, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Mauricio Bustamante, Markus Forte, Jonas Füllner, Hanna Gerig, Eva Hediger, Kostas Maros, Lucy Nicholson, Philipp Spillmann Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 20 650, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T+41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 369/16


Surprise – Mehr als ein Magazin

Surprise Strassenchor Mit dem Mut der Verzweiflung

SURPRISE 369/16

Ich lud ihn auch in den Surprise Strassenchor ein, der für ihn zu einer neuen Familie wurde. Hier knüpfte Nagmeldin Freundschaften. Keine einzige Probe hat er verpasst, obwohl ihm das Singen gänzlich neu war und die Chorlieder aus aller Welt ihm anfangs schwierig vorkamen. Wir alle schlossen ihn ins Herz. Doch dann kam die erneute Ablehnung durch das Bundesverwaltungsgericht als letzte Instanz. Auf dem Amt für Migration kündigte man ihm die Rückschaffung nach Italien an. Das Taschengeld wurde sofort auf Nothilfe herabgesetzt, der geliebte Ausweis wieder entzogen. Plötzlich fragte sich Nagmeldin, ob das Abtauchen in die Illegalität wohl besser sein

könnte – im digital vernetzten Europa des Dublin-Abkommens, wo überall die Abschiebung droht. Die Schweiz wurde für Nagmeldin zum Paradies der Privilegierten. Und Italien hiess für ihn: zurück ins Elend, in die Masse der Flüchtlinge, ins Chaos überforderter Behörden, ins Leben auf der Strasse. Innerhalb weniger Tage verlor der sonst lebensfreudige, intelligente junge Mann alle Hoffnung. Nach einem bewegenden Abschied vom Chor am Vorabend trat Nagmeldin am 20. Januar 2016 mit dem Mut der Verzweiflung seinen Flug nach Rom an. Wir vermissen ihn schmerzlich. ■ Ariane Rufino dos Santos Chorleiterin BILD: TOBIAS SUTTER

Für den 17-jährigen Nagmeldin Ahmed Mohammed aus dem Sudan war der Strassenchor in kurzer Zeit zur zweiten Heimat geworden. Als vierjähriges Kind hatte er durch den Krieg seine Eltern und Brüder sowie sein Heimatdorf verloren. Mit seiner älteren Schwester im Flüchtlingslager aufgewachsen, lebte Nagmeldin ständig in Angst vor weiteren Angriffen. Als Fünfzehnjähriger verschleppten Bewaffnete ihn in ein Kindersoldatencamp. Dort schlief er auf dem Boden im Freien, bekam nur wenig zu essen und musste tagsüber brutalen Drill ertragen. Eines Nachts gelang ihm die Flucht über den Zaun. Ein Jahr dauerte es, bis er mit dem Boot übers Mittelmeer in Italien ankam. Ohne Papiere, hungernd und mit nichts als den Kleidern, die er am Körper trug, war Nagmeldin dort nach seiner Registrierung erneut auf sich selber gestellt. Wie viele Flüchtlinge arbeitete er sich nach Norden vor, wo ihm schliesslich der Grenzübertritt in die Schweiz gelang. Als vorläufig Aufgenommener lebte er ab Juli 2015 in Thürnen bei Sissach. Obwohl die Schweizer Behörden sein Geburtsdatum aufgrund seiner Körpergrösse und einer Handknochenanalyse um drei Jahre raufsetzten, war Nagmeldin froh, endlich und erstmals einen eigenen Lichtbildausweis zu besitzen. Die Schweiz, so sagte er, sei der erste Ort in seinem Leben, wo er sich sicher fühle. Hier spielte er im Sommer Fussball, trainierte Kurzstreckenlauf und besuchte in Basel einen kostenlosen Deutschkurs. Er fand auch Freunde und verbesserte sein Englisch. Im Oktober bekam Nagmeldin dann den Ablehnungsbescheid. Fast zeitgleich lernten wir uns an einem offenen Flüchtlingsnachmittag der Gemeinde kennen und ich half ihm dabei, Beschwerde einzureichen – untermauert von einem fünfseitigen Arztbericht, der Nagmeldin eine schwere mehrfache Traumatisierung sowie körperliche Schmerzen als Folge von Misshandlung attestierte und seine Reisefähigkeit verneinte.

Nagmeldin inmitten seiner Freunde vom Surprise Strassenchor.

31



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.