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Mensch Elmer Der umstrittene Whistleblower über Rache und Reue Bach auf den Boden geholt: Was ein Strassenchor mit Jesus zu tun hat

Kann das was? Besuch beim Armutsbekämpfungsprogramm des Bundes

Nr. 370 | 4. bis 17. März 2016 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Benefiz-Konzert Samstag, 19.03.2016, 19:00, Neuapostolische Kirche Basel Breisacherstrasse 35, 4057 Basel

Der NABENE-Chor unterstützt mit seinen Konzerten gemeinnützige Projekte. Der Erlös des nächsten Konzertes geht an den Surprise Strassenchor.

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BENEFIZKONZERTE Eintritt frei | Kollekte für gemeinnützige Zwecke


Titelbild: Andreas Eggenberger

«Ich will mich nicht mit denen vergleichen», sagte mir Rudolf Elmer beim Interview. Und liess damit natürlich durchblicken, dass er es dennoch tut: mit Nelson Mandela, mit Mahatma Gandhi. Mit dem deutschen Pfarrer und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, der kurz vor Kriegsende auf direkten Befehl Hitlers im KZ umgebracht wurde. Ist Elmer grössenwahnsinnig? Oder unterschätzt man die Tragweite seiner Taten? Es ist diese Unschärfe, die ihn als Mensch so schwer fassbar und als zeitgeschichtliche Figur so menschlich macht. Elmer, ehemaliger Offshore-Banker, verpfiff vor über zehn Jahren seinen damaligen Arbeitgeber, die grosse Zürcher Privatbank Julius Bär. Er war der erste Insider, der im grossen Stil die Machenschaften des globalen Steuervermeidungssystems denunzier- AMIR ALI te. Jener diffusen Allianz aus Bankern, Konzernen und Superreichen, die milliarden- REDAKTOR schwere Vermögen und Gewinne am Fiskus und somit an der Allgemeinheit vorbeischleusen. Elmer diente einst diesem System, und als es ihn fallen liess, verriet er es. Es ging vorerst um Angst, Eigeninteresse, Ehre – Instinkte, die für den antiken griechischen Strategen Thukydides die menschliche Natur ausmachten. Und die kaum einen Vergleich mit den monumentalen Figuren erlauben, zu denen die Geschichte Mandela oder Gandhi gemacht hat. Rudolf Elmer hat wohl einen hohen Preis bezahlt: Job weg, Untersuchungshaft, Psychiatrie. Nach elf Jahren Gerichtsverfahren ist er noch nicht rechtskräftig verurteilt, im Juni geht der Prozess wegen Verletzung des Bankgeheimnisses weiter. Doch er hat auch gewonnen, wie er sagt: Nähe zur Familie, zum Beispiel. Und eine Sache, für die er kämpft. Denn längst geht es ihm nicht mehr um sich selbst, sondern um die Sache. Das ist eine der Lehren aus dem Fall Elmer: Man muss kein Ghandi oder Mandela sein, um irgendwo unterwegs auf den Weg abzuzweigen, den sie gegangen sind. Aus Angst, Eigeninteresse und Ehre können Glaube, Liebe und Hoffnung werden. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre Amir Ali

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 370/16

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BILD: WOMM

Editorial Hat er Gandhi gesagt?


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10 Whistleblower Vom Rächer zum David Lange war es ruhig um Rudolf Elmer, den früheren Bankmanager und ersten Whistleblower der Finanzbranche. Jetzt kommen fast zeitgleich ein Film und ein Buch über ihn heraus – kurz bevor der Prozess gegen ihn weitergeht. Wir haben Elmer zum Gespräch getroffen und mit ihm über Rache, Moral und sein neues Leben als Hausmann gesprochen.

BILD: ANDREAS EGGENBERGER

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Inhalt Editorial Glaube, Liebe, Hoffnung Die Sozialzahl Wie wohnen? Randnotiz Die neue Surprise-Kolumne Vor Gericht Der Griff zur Flasche Leserbriefe Konstruiert oder aufschlussreich? Starverkäufer Mihreteab Asmelash Porträt Junge Männer und das Meer Fremd für Deutschsprachige Sotsialshmarotser! Ausstellung Digitale Schönheit Kultur Wendepunkte des Alltags Piatto forte Des Ochsen bestes Stück Ausgehtipps Ins Hirn gehagelt Fussballer-Porträt Wie der Vater, so der Sohn? Projekt SurPlus Eine Chance für alle In eigener Sache Impressum INSP

14 Sozialpolitik Wie bekämpft man Armut? BILD: ROBERT BEYER

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Berichte, Statistiken und Dutzende neuer Projekte – Armut in der Schweiz war noch nie so sehr im Fokus von Behörden, Politik und Organisationen wie gerade jetzt. Doch die Projekte bleiben hinter den Erwartungen zurück, und gleichzeitig sparen die Kantone Millionen bei den Sozialausgaben. Von einem wirkungsvollen und gemeinsamen Kampf für Armutsbetroffene, sagen die Kritiker, ist die Schweiz immer noch weit entfernt.

BILD: CINÉLIBRE

18 Film Jesus spiegeln

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Heimatlosigkeit und Entsagung von der Welt sind Themen, die den niederländischen Regisseur Ramón Gieling interessieren. Er findet sie verdichtet bei Menschen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. In seinem Dokumentarfilm «Erbarme Dich» lässt er die Mitglieder eines Strassenchors als Spiegel der Leidensgeschichte Jesu Christi auftreten. Sie lauschen Bachs «Matthäus-Passion» und verstehen das Leiden vielleicht besser als das gutbürgerliche Publikum, das sonst auf den Zuschauerplätzen sitzt.

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Ungenügende Wohnversorgung

2012 in Prozent

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

Wohnkosten

Wohnungsgrösse

Wohnqualität

Wohnlage

Gesamtwohnversorgung

Armutsbetrof fene Haushalte Gesamtbevölkerung Haushalte in prekären Lebenslagen Schweiz. Bestandsaufnahme herungen, Wohnversorgung in der 2015. Quelle: Bundesamt für Sozialversic . Forschungsbericht Nr. 15, Bern, slagen Leben ren prekä in und Armut über Haushalte von Menschen in

Die Sozialzahl Angemessen wohnen Ein Dach über dem Kopf zu haben, unter dem man sich wohlfühlt, ist ein Grundbedürfnis. Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum ist deshalb ein zentraler Aspekt der Existenzsicherung und eines der Sozialziele in der Bundesverfassung. Doch wird dieses Ziel in der Schweiz erreicht? Wie ist der Zugang zu angemessenem Wohnraum für armutsbetroffene Haushalte und Menschen in prekären Lebenslagen, die ein Einkommen knapp über der Armutsgrenze erzielen? Für die Beurteilung einer angemessenen Wohnversorgung müssen verschiedene Dimensionen berücksichtigt werden: die Wohnkosten, die Wohnungsgrösse, die Wohnqualität, die Wohnlage und die Wohnsicherheit. Zu den ersten vier Dimensionen gibt es Daten, wer etwas über die Wohnsicherheit erfahren will, muss mit den Betroffenen selber sprechen und Fachleute aus dem Sozial- und Wohnungswesen befragen. Die grundlegende Erkenntnis vorweg: 83,5 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte in der Schweiz und 57,1 Prozent der Haushalte in prekären Lebenslagen weisen keine genügende Wohnversorgung auf. Damit ist die Wohnversorgung bei Armutsbetroffenen viermal häufiger unzureichend als in der Gesamtbevölkerung. Hauptursache der ungenügenden Wohnversorgung sind die zu hohen Kosten. 82 Prozent der Armutsbetroffenen und 48,9 Prozent der Haushalte in prekären Lebenslagen leben,

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gemessen am Einkommen, in einer zu teuren Wohnung. Ihre Wohnkosten übersteigen die kritische Grenze von 30 Prozent des Bruttoeinkommens. Fachkreise plädieren sogar dafür, dass Haushalte mit tiefen Einkommen nicht mehr als ein Viertel ihres Bruttoeinkommens für das Wohnen ausgeben sollten. Gemessen an dieser Regel hätten sogar neun von zehn armutsbetroffenen Haushalten eine übermässig starke Wohnkostenbelastung. Die anderen Dimensionen der messbaren Wohnversorgung spielen eine untergeordnete Rolle. 12,6 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte leben in zu kleinen Wohnungen, 12,4 Prozent von ihnen wohnen in Lagen, die eine gesellschaftliche Teilhabe erschweren, und 7,5 Prozent bewohnen Mietobjekte von schlechter Qualität. Neben dem Mangel an günstigem Wohnraum erweist sich die Wohnsicherheit als zentrale Schwierigkeit auf dem Wohnungsmarkt. Armutsbetroffene haben grosse Probleme, überhaupt eine Wohnung zu finden und diese über längere Zeit zu behalten. Besonders schwer haben es Personen mit Betreibungen. Hier sind dringend neue sozial- und wohnungspolitische Ansätze gefragt, damit auch diese Menschen ihre Chance auf eine angemessene Wohnversorgung wahren können. CARLO KNÖPFEL (C.KNOEPFEL@VEREINSURPRISE.CH) BILD: WOMM

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Randnotiz Ein lebenswertes Leben Ich führte ein Leben auf der Überholspur, es schien perfekt. Ich hatte das Privileg, eine Arbeit zu haben, die von Leidenschaft und Freude genährt wurde. Ich durfte aktiv das jungfräuliche Internet, die neuen Medien und neue Formen der Werbung gestalten. Die Arbeit vereinte meine Interessen, bediente mein Bedürfnis, Entscheidungen treffen zu dürfen und mit Menschen zusammenzuarbeiten, mit denen mich eine Freundschaft verband. Und dann stürzte ich in einen Abgrund, der auf keiner Karte eingetragen war. Es gab keine Vorwarnung, keinen ersichtlichen Auslöser für die körperlichen Beschwerden, die mich von einem Tag auf den anderen lahmlegten. Mein letzter Versuch, zur Arbeit zu fahren, endete in der Notaufnahme. Es folgten medizinische Abklärungen, schlussendlich wurde mein Gehirn gescannt. Man sagte mir, mein Körper sei in Ordnung, es müssten psychische Ursachen sein, die meine Probleme verursachten: Atemnot, Herzrasen, das Gefühl zu sterben. Ich war plötzlich kein funktionierender Teil der Gesellschaft mehr. Ich konnte die Wohnung nicht mehr verlassen und war abhängig von Freunden, die für mich einkaufen gingen. Ich sei zu krank für eine Therapie, sagte ein Psychiater. Letzte Lösung war die Krankenwagenfahrt in die psychiatrische Klinik, wo ich herausfinden musste, ob ich kämpfen kann. Ich arbeitete so viel wie nie zuvor in meinem Leben – und zwar an mir selbst, um den Weg zurück in ein Leben zu finden, das erträglich ist. Nach Monaten konnte ich die Klinik verlassen, blieb aber jahrelang in Behandlung und angewiesen auf Psychopharmaka. Und immer fragte ich mich, wie es dazu kommen konnte. Die Nervenärzte sehen die Ursachen in meiner Kindheit. Es ist, als hätte in mir eine Bombe getickt, die irgendwann hochgehen musste. Ich bin jeden Tag dankbar. Dank meinen Freunden, meiner Familie und den staatlichen und privaten Sozialversicherungen endete mein Leben nicht auf der Strasse oder im Freitod. Und heute lebe ich, trotz ausgeprägter psychischer Störungen, ein lebenswertes Leben. Aber ich habe schmerzhaft erlebt, wie es ist, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Florian Burkhardt war Model, Internetpionier und PartyVeranstalter. Sein Leben ist im Film «Electroboy» dokumentiert. Diese Kolumne wird einmal monatlich hier zu lesen sein.

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Vor Gericht Promille und Glück Es sei nicht gut für den Menschen, allein zu sein, heisst es. Und so sucht er immer wieder das Du, seine körperliche und seelische Entsprechung, und sei die Verbindung noch so unvollkommen. Irgendwas ist immer noch besser als nichts. Herr Vulnet H.* zögert bei der Beschreibung seines Verhältnisses zu Frau Zorica D. «Wir kennen uns lange», sagt er, «freundschaftlich.» Dem Denken und Fühlen Worte zu geben fällt ihm schwer. Herr Vulnet ist 42, ledig, er war mal Küchenhilfe, jetzt ist er arbeitslos und bezieht Sozialhilfe. Zweimal ist er vorbestraft. Zupacken kann er bestimmt, er ist ein Fester, Kerniger, mit schlichtem, teddybärhaftem Aussehen. Aber an jenem Abend nahm er plötzlich eine Flasche vom Tisch, schlug sie Frau Zorica ins Gesicht und tobte: «Du böses Weib. Ich bring dich um, ich bring deinen Hund um, ich mache den Fernseher kaputt.» Blinde, ohnmächtige Wut. Was war der Grund dafür? Herr Vulnet weiss es nicht. Davor war eine Feier beim Ex-Mann von Frau Zorica, der wiederum ein guter Freund von Vulnet ist. Es gab zu trinken, Rakija, aber nichts zu essen. Nach der Feier begleitete Herr Vulnet Frau Zorica zu deren Wohnung. Was später in der Wohnung passiert ist, kann er nicht mehr sagen. «Wir müssen uns gestritten haben.» Der Geschiedene habe angerufen, ob Frau Zorica gut angekommen sei. «In dem Moment bin ich ausgerastet.» Der Richter will wissen, worum es im Streit ging. «Weiss nicht, um Bagatellen.» Vielleicht Eifersucht, Verlassensangst, Verzweiflung, Hass. Ein Seelendrama, für das er kei-

ne Worte fand, nur die absurde Drohung und die Flasche. Diese zersprang, Splitter drangen ins Auge, die Frau fiel ohnmächtig zu Boden. Eine Operation war nötig, zum Glück konnte das Augenlicht gerettet werden. Herr Vulnet muss zum Zeitpunkt der Tat 3,9 Promille Alkohol im Blut gehabt haben. «So einen Wert haben wir hier selten», sagt der Richter beeindruckt. Ein psychiatrisches Gutachten bescheinigt Herrn Vulnet Alkoholabhängigkeit. «Das stimmt nicht. Ich trinke nur, wenn ich eingeladen bin.» Er hatte bereits in einem früheren Fall zur Flasche gegriffen und zugeschlagen. Der Staatsanwalt geht von einem erheblichen Verschulden aus und verlangt wegen schwerer Körperverletzung zwei Jahre unbedingt und eine stationäre Suchttherapie. Der Pflichtverteidiger setzt sich vergeblich für einen bedingten Freiheitsentzug von 18 Monaten ein: «Ein Entzug bringt nichts, wenn er nicht will.» Zudem habe Frau Zorica seinem Klienten mittlerweile verziehen. Auch wenn sie auf Betreiben ihres Rechtsvertreters weiterhin an der Anklage und der Forderung nach Schadenersatz und Genugtuung in der Höhe von 25 000 Franken festhalte. Der Richter verurteilt den Mazedonier schliesslich wegen qualifizierter einfacher Körperverletzung und Drohung zu 18 Monaten unbedingt und einer stationären Therapie, um sein Alkoholproblem zu lösen. «Es ist höchste Zeit, dass wir das mal versuchen!», sagt er. Für Beziehungsprobleme hingegen ist der Richter nicht zuständig. * alle Namen geändert

ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 370/16


Leserbriefe «Danke, Frau Dietiker!» Den Artikel von Claudia Spinnler habe ich mit gemischten Gefühlen gelesen; mit den ähnlich gemischten Gefühlen, mit denen ich einen Einzahlungsschein ausfülle oder wegschmeisse, jemandem auf der Strasse etwas gebe oder eben nicht. Eine Irritation ergibt sich daraus, dass ich misstrauisch bin: Werde ich angelogen? Geht die Spende an die «Bedürftigen»? Und: Wer bin ich, zu entscheiden, wo die Grenze zur «Bedürftigkeit» liegt? Da habe ich die Entscheidungsgewalt, und die ist willkürlich. Oft stelle ich mir die Frage: Werde ich mit dieser Spende ärmer? Werden die Empfangenden mit dieser Spende reicher? Kann ich zweimal mit Nein antworten, ist es für mich in Ordnung. Barbara Roth, Reinach Nr. 368, «Alles für die Kuh», Porträt über Armin Capaul, der die Hornkuh-Initiative gestartet hat Der Ausdruck im Bericht über Herr Capaul sagt schon alles: «Postkarten-Schweiz». Klar, da gehören richtige Hörner dazu. Und eben auch Kuhglocken, schliesslich muss die Kuhglocke für das Postkarten-Sujet der Touristen herhalten. Wenn es aber um die Gesundheit der Kühe gehen würde, dann müsste man konsequenterweise nicht nur das Wegbrennen der Hörner verbieten, sondern auch die Kuhglocken. Jüngst hat eine ETH-Studie festgehalten, dass die Glocken einen Einfluss auf die Kühe haben. Insofern ist die Initiative durchschaubar, es geht nicht um die Gesundheit, sondern um die Postkarten-Idylle. Andreas Steiner, Winterthur Nr. 368, «Die Schafmacher», Schwerpunkt zu den Auswirkungen der Durchsetzungsinitiative auf das Sozialwesen Wie immer, tolle Themen und profunde journalistische Arbeit für wirklich erhellende Momente! Das Editorial von Amir Ali, das Porträt über Armin Capaul, das Interview mit Mano Khalil und last but not least auch die Frontpage: wieder eine gelungene Surprise-Ausgabe!

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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Wir bedanken uns ganz herzlich beim Redaktionsteam, aber natürlich auch bei unseren Verkäufern im Coop Riehen: immer herzlich und mit einer grossen Geduld ausgestattet! Familie Hilbe, Riehen Beim Durchlesen der Ausgabe Nr. 368 verspürte ich alles andere als eine erhellende Lektüre. Einerseits ist im Editorial folgender Satz zu lesen: Wer unrechtmässig Geld aus der Sozialhilfe oder aus Sozialversicherungen bezieht, macht sich strafbar und kann ausgeschafft werden. Andererseits werden im Heft drei Fallbeispiele über mögliche Ausweisungen geschildert, die derart konstruiert sind, dass sie sich jeglicher Praxis entziehen. Ich kann nicht nachvollziehen, wie sich diese fiktiven Geschichten an realen Fällen orientieren sollen. Es kann nicht sein, dass Sie versuchen, auf Kosten von motiviertem Verkaufspersonal die politische Meinung zu beeinflussen. Sandra Tschanz, Pfäffikon SZ Ein deutliches, interessantes und aufschlussreiches Interview zwischen Amir Ali und Anwalt Pierre Heusser, wofür man nur danken kann. Idamaria Tudora, Zürich Surprise allgemein Mit stoischer Ruhe steht sie da, die Surprise-Verkäuferin im Untergeschoss des Bahnhofs Olten, hält die Zeitschrift in die Höhe und wartet auf eine Käuferin, einen Käufer. Sie lässt sich von der Kälte, dem hektischen Pendlerstrom und den Menschen, die in Gedanken durch die Unterführung hetzen, nicht abschrecken. Ich mache kehrt, wende mich der Verkäuferin zu und bitte um ein Exemplar. Marlis Dietiker, wie ich dem Namensschild entnehme, schaut mich mit aufmerksamen, offenen Augen an, lächelt mich sehr freundlich an, streckt mir eine Zeitschrift entgegen und nimmt das Geld. Es ist, als ob eine neue Welt aufgehen würde. Das Morgenlächeln steckt mich an und macht mich froh. Danke, Frau Dietiker, für unsere kurze Begegnung! Johanna Bucheli Stocker, Mühlethal

BILD: ZVG

Nr. 365, «Eigentlich dient es ja einem guten Zweck», Erfahrungsbericht mit einer Kinderpatenschaft

Starverkäufer Mihreteab Asmelash Stéphanie Cecillon aus Wabern schreibt: «Mihreteab Asmelash ist ein Sonnenschein. Er hat immer ein Lächeln auf dem Gesicht! Wir reden über die Familie, das Wetter, mein Ursprungsland Frankreich und seine Heimat Eritrea. Ich freue mich immer, ihn zu sehen!»

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Porträt Auf Törn mit schweren Jungs Sozialpädagoge Jonathan Reist lebt seit neun Jahren auf dem Meer: Er kreuzt mit dem Jugendschiff Salomon über den Atlantik. VON CLAUDIA LANGENEGGER (TEXT UND BILD)

liebten wir ‹Muna› – kleine Käfer, die in der Saison zu Tausenden herumschwirrten», erzählt Reist lachend. «Wir fingen sie ein, kochten sie über dem Feuer und assen sie wie Popcorn.» So paradiesisch man sich das Dschungelleben vorstellen mag, idyllisch war es nicht: Viele Stämme lagen im Streit miteinander, die Situation war angespannt. Es gab Überfälle, Racheakte und Vergeltungsmassnahmen, immer wieder landete ein Giftpfeil in ihrer Siedlung. Reist konnte mit dem gewalttätigen Verhalten der Menschen und der Brutalität, die er dort erlebte, nicht gut umgehen. Aus dem lebensfrohen Kind wurde ein jähzorniger Junge, er haute immer wieder ab. Zudem konnte er nicht mehr akzeptieren, dass ihn seine Mutter daheim unterrichtete. Er kam in ein Kinderheim in der nächstgelegenen Stadt und zwei Jahre später in ein Internat, das von einem evangelischen Missionar geführt wurde. Von christlicher Nächstenliebe spürte er dort wenig: Seelische Gewalt, fehlende Liebe, Willkür und Bekehrungsversuche waren an der Tagesordnung. Die Schüler hätten oft zu wenig zu essen bekommen, und manchmal hätten sie für ein halbes Glas Wasser eine

Seine Kajüte ist klein, Privatsphäre hat er kaum, Freiraum ebenso wenig. Und das seit neun Jahren. Und doch möchte er sein Leben gegen kein anderes eintauschen: Jonathan Reist lebt auf hoher See, auf dem Segelschiff Salomon. Der Berner arbeitet aber nicht als Seemann. Er ist Sozialpädagoge – «die Salomon» ist ein schwimmendes Erziehungsheim. Sie nimmt Jugendliche auf, die sonst nirgendwo mehr unterkommen. Junge Männer, die kein Heim mehr wollte und die sonst in der Psychiatrie oder im Knast gelandet wären. Die schweren Fälle also. «Es war Zufall, dass ich hier gelandet bin», sagt Reist, der vor neun Jahren die Ausbildung an der Fachhochschule für Soziale Arbeit in Bern abgeschlossen hat. Ein Freund erzählte ihm damals, dass der Verein Jugendschiffe Betreuungspersonal suchte. «Ein paar Tage später war ich hier», erinnert sich Reist. Heute ist er Co-Geschäftsleiter und leitet die Arbeit an Bord. Derzeit laufen Verhandlungen um die weitere Betriebsbewilligung, denn der Verein wurde kürzlich in die Stiftung Jugendschiffe Schweiz umgewandelt und das Kon«Ich selbst hatte es in den Heimen nicht gut», sagt Jonathan Reist. «Ich will zept neusten sozialpädagogischen Ansprüden Jungs etwas Besseres bieten.» chen angepasst. Die Gespräche laufen gut und das Konzept des Jugendschiffs wurde vom Kantonalen Jugendamt Bern durchweg positiv beurteilt. Aber Reist will Stunde in der Bananenplantage arbeiten müssen, erzählt Reist. «Ich nicht vorgreifen – noch sind die Details der definitiven Zusage nicht unselbst hatte es in den Heimen gar nicht gut», sagt der Sozialpädagoge. ter Dach und Fach. «Ich will den Jungs hier etwas Besseres bieten.» «Ich liebe meine Arbeit», sagt er, während er auf dem Achterdeck Seine Erfahrungen helfen ihm heute: «Ich weiss, dass man es schafsitzt und das Meerwasser an die Bordwand plätschert. Ein Strahlen liegt fen kann, auch wenn man Schlimmes erlebt hat. Man kann das überauf seinem Gesicht. Die Jugendlichen leben während mindestens vierstehen und etwas Positives rausholen.» zig Wochen auf dem Schiff – abhauen geht nicht. Hier gilt: anpacken, Reist war 15, als seine Familie in die Schweiz zurück zog. Der KulSchulstoff nachbüffeln und die Kunst des Segelns lernen. Auf dem Schiff turschock war massiv. «Die Schweizer waren nicht sehr offen gegenüist Reist rund um die Uhr für die Jugendlichen da: «Es ist nicht einfach ber Andersartigem.» Während der schwierigen Akklimatisation hatten ein Job, es ist eine Aufgabe.» er und seine Geschwister aber auch Spass – etwa im Warenhaus: «Die Der Raum, auf dem sie leben, ist eng. Die Jungs leben zusammen in Rolltreppen waren unglaublich faszinierend, ich spielte mit meinem Viererkojen, die Erwachsenen in Kojen, die kaum grösser sind als ihr Bruder stundenlang dort», erzählt er und lacht. Bett. Bis zu 16 Jugendliche finden auf der «Salomon» Platz sowie sechs Heute kann den 32-Jährigen so schnell nichts mehr erschüttern. Sein bis acht Leute Besatzung: der Kapitän, die Bordmechaniker und die PäAlltag ist geprägt von schwierigen Biografien: Auf dem Schiff leben Judagogen. Sie leben das ganze Jahr über auf See und steuern regelmäsgendliche mit drogensüchtigen, psychisch angeschlagenen oder gewaltsig die Kanaren, Kap Verde und die Azoren an und machen Überfahrten tätigen Eltern, Jungs, die als Kinder total vernachlässigt wurden. Ihre in die Karibik. Etwa alle zwei Jahre führt ihre Route via Portugal und seelischen Wunden sind tief, das Selbstwertgefühl oft ebenso. «Für vieSüdengland in die Werft in Norddeutschland zur Revision des Schiffes. le ist das Schiff die letzte Chance.» Meist ankert die «Salomon» jedoch vor einer Insel, wie jetzt in der Seinem sonnigen Gemüt kann das alles nichts anhaben. Reist sprüht weiten Bucht vor dem Fischerdorf Arrieta im Nordosten von Lanzarote. vor Energie und positiver Lebenseinstellung. «Es ist unglaublich schön Denn wichtiger als das aktive Segeln und die Fahrten auf hoher See ist mitzuerleben, wie Jugendliche es schaffen», erzählt er. «Wie etwa unser der tägliche Schulunterricht für die Jugendlichen auf dem Schiff. Viele Schiffskoch Simon. Er kam vor sieben Jahren aufs Schiff und war ganz haben ein grosses Manko, was ihre Bildung betrifft. unten, sah keine Perspektive. Heute führt er ein selbständiges Leben.» Dass es Jonathan an seinem ungewöhnlichen Arbeitsort so gut geNatürlich muss Reist auch Abstriche machen: Regelmässige soziale fällt, erstaunt nicht. Sein ganzes Leben ist fernab gewöhnlicher Bahnen Kontakte oder in einem Club Fussball zu spielen, sind unmöglich. Und: verlaufen. «Ich bin in Papua-Neuguinea aufgewachsen», erzählt er. SeiEs fehlt an Freiraum. Acht Wochen pro Jahr ist Reist an Land, macht Fene Eltern waren in der Entwicklungshilfe tätig und bauten dort Schulen rien oder geht anderen Verpflichtungen für die Stiftung Jugendschiffe und Krankenstationen auf. «Wir lebten an verschiedenen Orten, grössnach. Doch das Leben an Land falle ihm heute schwer, sagt er: «Wenn tenteils im Urwald weit weg von jeder Zivilisation.» Ihr Zuhause waren ich an Land bin, zieht es mich spätestens nach zwei Wochen aufs Schiff Bambushütten, Klein-Joni und seine drei kleineren Geschwister spielten zurück.» ■ draussen mit den Einheimischen, gingen mit ihnen jagen. «Als Kinder

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Whistleblower «Ich war einer von den Piraten» Rudolf Elmer war der erste Whistleblower der Bankenwelt. Er hat den Job, das Ansehen und fast den Verstand verloren – und vieles dazugewonnen. Ein Gespräch über Schuld, Sühne und die Werte eines Arbeiterkindes.

VON AMIR ALI (INTERVIEW) UND ANDREAS EGGENBERGER (BILDER)

einmal fehlten Kundendossiers. Als diese wieder auftauchten – sie waren falsch abgelegt worden –, war Elmer bereits unehrenhaft entlassen. Und er fühlte sich verraten. Zurück in der Schweiz fand er in seinen Sachen eine Sicherheitskopie von Kundendaten, wie er sie als Banker regelmässig anfertigen musste. Gleichzeitig setzte der Streit mit der Bank um eine Abgangsentschädigung und andere Zahlungen ein. Die Bank setzte Privatdetektive auf Elmer an, Frau und Tochter wurden drangsaliert, das Haus der Familie demonstrativ überwacht. Elmer der Rächer besann sich auf seine «Lebensversicherung», wie er die Kundendaten im Gespräch nennt. Er verschickte Informationen über Bär-Geschäfte an Steuerbehörden und Medien. 2005 muss er erstmals in Untersuchungshaft.

Für die Justiz war Rudolf Elmer eine leichte Beute. Der Mann, der als erster Insider die Geheimnisse der Bankenwelt mittels elektronischer Daten öffentlich machte, sass in den letzten zehn Jahren 220 Tage in Untersuchungshaft. Der Whistleblower Elmer hatte nie versucht zu fliehen. Die Person Elmer hingegen ist schwer zu fassen. Als Elmer im Jahr 2008 erstmals öffentlich als Whistleblower in Erscheinung trat, hatten er und sein ehemaliger Arbeitgeber, die Zürcher Privatbank Julius Bär, bereits einen jahrelangen Streit hinter sich. Für einige war Elmer ein David, der sich gegen das System stellte, dem er selbst jahrzehntelang gedient hatte. Für die meisten aber war er ein Datendieb, ein eitler Rächer, der Bankkundeninformationen als Druckmittel gegen seine eins«Der moralische Konflikt war unterschwellig immer da. Ich glaube, das ist tigen Chefs einsetzte. Dass er wohl beides ist, unvermeidlich für jemanden, der eine vernünftige Erziehung hatte.» macht die Sache nicht einfacher. Der Zahlenmensch Elmer, geboren 1955, 2008 beginnt Elmer über die damals völlig unbekannte Plattform Wiaufgewachsen als Sohn eines Bähnlers im Zürcher Kreis 5, steigt mit eikileaks Daten zu veröffentlichen. Im Juli 2011 wird er zum zweiten Mal nem Praktikum bei der damaligen Kreditanstalt ins Bankenwesen ein, für über sechs Monate in Haft genommen, zwei Tage nachdem er Wikimacht die Ausbildung zum Wirtschaftsprüfer und wird schliesslich 1987 leaks-Gründer Julian Assange in London vor versammelter Weltpresse interner Revisor bei der Bank Julius Bär – dort, wo seine Mutter jahrezwei CDs übergeben hatte. Elmer war zum heldenhaften David geworlang als Putzfrau gearbeitet hatte. den, sein Goliath das globale Steuervermeidungssystem. 1994 schicken ihn seine Chefs auf die Cayman Islands, wo er zur Im Januar 2015 wurde Elmer vom Bezirksgericht Zürich für die VerNummer zwei der Bär-Filiale aufsteigt. Er betreut sogenannte Trusts, juöffentlichung auf Wikileaks im Jahr 2008 der mehrfachen Verletzung ristische Konstrukte, mit denen Reiche ihre Vermögen anonym verwaldes Bankgeheimnisses sowie der Urkundenfälschung für schuldig beten lassen – und keine Steuern zahlen. Später baut er auf Cayman für funden. Sowohl Elmer als auch die Staatsanwaltschaft fochten das Urdie Bank Hedge Funds auf. Diese Investitionsvehikel sind heute gang teil an. und gäbe – und auch sie dienen vor allem der Steuervermeidung. «CayIm Juni, fast elf Jahre nach der ersten Verhaftung, geht der Prozess man ist eine Pirateninsel. Und ich war einer von den Piraten», sagt Elvor dem Obergericht weiter. Rechtzeitig dazu erschien Mitte Februar das mer im Gespräch. Zeitweise machten er und seine wenigen Mitarbeiter Buch «Elmer schert aus», in dem der Wirtschaftsjournalist Carlos Hani40 Prozent des Jahresumsatzes der Julius Bär Holding. mann den Fall als «wahren Krimi zum Bankgeheimnis» aufrollt. Und am 17. März läuft der Dokumentarfilm «Offshore – Elmer und das BankgeVom Rächer zum David heimnis» von Werner Schweizer an. Rudolf Elmer, der mittlerweile mit Nach der Jahrtausendwende ging einiges schief im Paradies. Statt seiner Familie als Hausmann im Zürcher Unterland lebt, scheint wieder weiter aufzusteigen, bekam Elmer einen amerikanischen Chef vor die in die Offensive zu gehen. Nase gesetzt. Der strich Jobs, die Mitarbeiter wurden unsicher, und auf

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Herr Elmer, es war lange ruhig um Sie. Jetzt kommen praktisch gleichzeitig ein Dokumentarfilm und ein Buch über Sie und Ihre Geschichte heraus. Zufall? (schweigt lange). Da müssten Sie die Autoren fragen. Aber für mich ist es natürlich ideal, dass Film und Buch gerade jetzt erscheinen, kurz vor dem Prozess vor dem Obergericht. Es war Zeit, dass man die andere Seite des Charakters Elmer sieht und die Geschichte dahinter. Haben Sie das Gefühl, dass Sie in der Öffentlichkeit zu kurz kamen? Die Berichterstattung war einseitig und die meisten Medien zielten rasch unter die Gürtellinie. Da ging es nicht mehr um die Sache, die Machenschaften der Banken und die Steuerhinterziehung der internationalen Superreichen. Man griff mich persönlich an, stellte mich als krank und kriminell dar und versuchte mich zu isolieren. Was typisch ist für Whistleblowing-Fälle. Über die Sache will niemand sprechen. aus Abenteuerlust und guter Gesinnung. Nachträglich merkte ich: Ich Ihnen ging es anfangs ja auch nicht um das Gemeinwohl. Sie waren war ein Süsswasserfisch im Haifischbecken. Der moralische Konflikt wegen der Entlassung als Person verletzt. Deshalb gingen Sie mit den Bankkundendaten an die Öffentlichkeit. Das spielte bei mir eine wichtige Rolle. Ich «Es dauert, bis man realisiert, was wirklich läuft. 80 Prozent der Banker hatte das Vertrauen verloren in das Managesind anständige Leute, davon bin ich nach wie vor überzeugt.» ment der Bank und fühlte mich missbraucht. Ich war als Compliance Officer verantwortlich war unterschwellig immer da. Ich glaube, das ist unvermeidlich für jedafür, dass wir im Rahmen des Rechts handelten, ich war das rechtlimanden, der eine vernünftige Erziehung hatte. Ich wurde mir dieses che Gewissen der Bank. Und man hatte mir über Jahre wichtige InforKonfliktes dann irgendwann bewusst. Und gleichzeitig realisierte ich, mationen vorenthalten. dass die Bank mich fallen lässt. Was für Informationen? Sie gaben vertrauliche Daten weiter, um zu Ihrem Recht zu kommen. Dass wir Gelder von Kriminellen wie dem mexikanischen General Cha(seufzt) Das ist richtig. Als ich mich nach der Kündigung hier in der paro verwalteten. Dass man intern wusste, dass es sich um Schwarzgeld Schweiz mit dem Management zu einigen versuchte, sagte man mir: handelt, und sich Gedanken machte, wie man sich verhalten soll, damit Wenn du die Bank wegen deiner Kündigung vor Gericht bringst, dann zum Beispiel die US-Behörden nicht dahinterkommen. Ich erfuhr das almachen wir dich fertig. Da merkte ich: Die ticken hier genau gleich wie les erst nach meiner Kündigung, als ich die Daten sichtete, die ich bei die Piraten auf Cayman. mir fand. Und da wurde mir auch das Risiko bewusst, das ich hatte. Ich flog damals regelmässig in die USA, und wenn die etwas davon mitbeDa kamen die Bankkunden ins Spiel? kommen hätten, wäre ich ins Gefängnis gegangen. Ich realisierte, dass die Daten meine Lebensversicherung waren. Und als man mir drohte, wollte ich mich wehren. Ich war frustriert, und gleichSie haben für Julius Bär auf den Cayman Islands Hedge Funds aufzeitig haben sich mir die Augen geöffnet, was die Bankenwelt und mulgebaut, die vereinfacht gesagt dazu dienen, Geld anzulegen, ohne tinationale Konzerne der Gesellschaft für einen Schaden zufügten. auf die Gewinne Steuern bezahlen zu müssen. Sie haben mitgespielt. Ich kann nicht sagen, ich sei unschuldig gewesen. Ich wusste, dass wir Früher war die Verschwiegenheit Ihr Geschäft, und mit einem zum Beispiel auf mehreren Millionen von Gewinnbeteilungen und WertSchlag wurden Sie zur öffentlichen Person. Was haben Sie für ein schriftengewinnen keine Steuern zahlen. Die Cayman Islands sind ein Verhältnis zur Öffentlichkeit? Piratennest, und ich war einer von den Piraten. Sie gab mir Schutz, gerade zu der Zeit, als Julius Bär Privatdetektive auf mich und meine Familie ansetzte. Und wie fühlten Sie sich dabei? Ich wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Meine Eltern wussten noch, was Was muss die Öffentlichkeit aus dem Fall Elmer lernen? Recht ist und was nicht, und das haben sie uns auch mitgegeben. Und Weder die schweizerischen Steuerbehörden noch die schweizerische dann kommen Sie in eine Bankenkarriere hinein, steigen auf und merJustiz gingen gegen die Leute vor, deren Kontodaten ich veröffentlicht ken gar nicht, ob das, was Sie tun, moralisch richtig ist oder kriminell. habe. Die Begründung lautete, es gebe keinen Bezug zur Schweiz. Ich hingegen kam dran für die Veröffentlichung der Daten. Begründung: Die Sie müssen doch gewusst haben, dass das System dazu dient, Geld Daten hätten einen Bezug zur Schweiz. Das zeigt: Was dem System vor dem Staat zu verstecken. nützt, wird in Ruhe gelassen. Wer ihm schadet, wird verfolgt und jurisWer etwas wissen will, muss es erfahren haben. Es dauert, bis man retisch gekreuzigt. Das gilt nicht nur für die Schweiz. alisiert, was wirklich läuft. 80 Prozent der Banker sind anständige Leute, davon bin ich nach wie vor überzeugt. Man muss eine Zeit lang daWas wollen Sie erreichen, indem Sie das öffentlich machen? bei sein und auf eine gewisse Stufe kommen, um das Unanständige zu Ich will aufzeigen, wie das System zwischen Superreichen, multinatiosehen. Man versteht erst, wenn man wie ich aufgestiegen ist und in dinalen Unternehmen und den Banken und nun auch der Justiz funktioversen Konzerngesellschaften international gearbeitet hat. niert. Die Öffentlichkeit muss dann entscheiden, wie sie das bewertet. Und noch etwas ist mir wichtig: Meine Tochter soll wissen, wer ihr VaWas ist Ihre Schuld dabei? ter war und was er getan hat. Es geht um die Zukunft ihrer Generation, Dass ich mich dazu habe benutzen lassen. Da bin ich selbst schuld. Ich viel mehr als um meine. Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen, ging mit einer Art Pfadfindermentalität nach Cayman, eine Mischung

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und eigentlich wäre genügend Geld vorhanden, um zum Beispiel der Flüchtlingskrise innerhalb Europas beizukommen. Und um einen grossen Teil der Armut in der Welt zu bekämpfen. Was erhoffen Sie sich vom Erscheinen des Buchs und des Films? Es zwingt das Gericht, die Sache beim Prozess im kommenden Juni ganz genau anzuschauen. Der Film zeigt, wie ich von der Bank unter Druck gesetzt wurde. Ich litt in der Folge an einer posttraumatischen Belastungsstörung, bin ausgeflippt und drohte gewissen Leuten in der Bank. Das sieht man im Film, und das rückt gewisse Dinge, die ich getan habe, in ein anderes Licht.

Sie waren Topbanker, kamen in Haft, wurden in der Presse verrissen. Jetzt sind Sie Hausmann. Macht Ihnen dieser Statusverlust Mühe? Ich wollte immer ein spannendes Leben haben. Das habe ich erreicht, und ich bin dabei nie nach dem Geld gegangen. Ich durfte in der Karibik, in den USA, in England und in Mauritius arbeiten. Das war eine grosse persönliche Bereicherung. Sie wurden Wirtschaftsprüfer, weil sie ein spannendes Leben wollten? Als Revisor sind Sie in so vielen unterschiedlichen Unternehmen, und Sie sehen hinter die Kulissen und begreifen das System. Ich war in multinationalen Konzernen und sah da rein, das war absolut grossartig.

Am Ende landeten Sie in der Psychiatrie. Ich habe meine Armeewaffe im Safe meiner Mutter eingeschlossen, damit ich keinen Blödsinn mache, gegen mich selbst oder gegen andere. Es war wirklich eine heikle Phase.

Als Banker wären Sie besser angesehen als jetzt als Whistleblower. Wahrscheinlich wollte ich weniger Schein und mehr Sein. Ich spüre heute jedenfalls eine tiefe Befriedigung über das, was ich getan habe. Das gleicht das verlorene Ansehen bei Weitem aus.

Wie haben Sie aus dieser Phase wieder rausgefunden? Abgesehen von meiner Frau und meiner Tochter, ohne die ich es nicht geschafft hätte, ist mein Glaube und meine Beziehung zu Gott sehr wichtig. Die hat sich in dieser Zeit intensiviert. Durch die Bibel habe ich vieles verstanden.

Was sind die Vorteile? Hätte ich meine Karriere weiterverfolgt, sässe ich heute die ganze Zeit im Flugzeug. Vielleicht muss man die Geschichte auch als glückliche Fügung sehen. Ich bin präsent im Leben meiner Tochter und meiner Frau. Die Beziehung zu meiner Tochter ist, wie in diesem Alter normal, nicht immer einfach. Aber wir haben eine, ich setze mich mit ihr auseinander. Das sind andere Werte. Reichtum hat seinen Preis. Ich glaube, ich habe heute mehr von dem, was mir wichtig ist.

Was ist zu tun? Es wäre relativ einfach, das globale Finanzsystem so zu reformieren, dass es der Allgemeinheit nützen würde. Banker, die Steuerbetrüger oder -hinterzieher unterstützen, müssten zur Verantwortung gezogen werden. Man muss die Leute streng bestrafen, die solche Konstrukte aufsetzen. Das würde das Bankenwesen schon gewaltig verändern. In gewissen Staaten zahlt man enorm viel Steuern. Könnte man die Zahlungsmoral erhöhen, wenn man die Steuern senken würde? Es ist genau umgekehrt. Die Steuern gingen wegen der Steuervermeidung hoch. Die Steuerlast musste auf die Mittelschicht verteilt werden, weil die Superreichen und multinationale Konzerne sich aus der Verantwortung stahlen. Jetzt muss man zuerst dafür sorgen, dass die Steuern bezahlt werden, danach kann man schauen, ob man sie senken kann. SURPRISE 370/16

Und was ist Ihre wichtigste Eigenschaft als Hausmann? Dass meine Frau und meine Tochter sehr gut und viel lachen können. ■ BILD: ZVG

Die Schweiz schafft ihr Bankgeheimnis gegenüber dem Ausland faktisch ab und tauscht bald Kontoinformationen mit anderen Ländern aus. Ist das, wofür Sie gekämpft haben? Ich bin nicht gegen das Bankgeheimnis, ich finde Privatsphäre wichtig. Aber ich bin gegen den Missbrauch des Bankgeheimnisses, und der wird ja weitergehen. Ich kämpfe gegen Verdunkelung und Verschleierung. Der Automatische Informationsaustausch ist hilfreich, aber so wie er jetzt aufgesetzt ist, greift er die Strukturen mit Strohmännern und zwischengeschalteten Firmen überhaupt nicht an. Die Superreichen und multinationale Konzerne werden genauso weiterfahren können wie bisher. Die einschlägigen Konstrukte werden sogar noch attraktiver für sie und somit noch lukrativer für die Banken.

Was war Ihre wichtigste Eigenschaft als Banker? Meine Hartnäckigkeit. Ich wollte den Dingen immer auf den Grund gehen und verstehen, wie sie funktionieren.

Offshore – Elmer und das Bankgeheimnis Ein Dokumentarfilm von Werner Schweizer, Schweiz 2016, 102 Minuten. Ab 17.3. im Kino. Vorpremieren und Premieren in Anwesenheit von Regisseur und Protagonist: So, 13. März, 11 Uhr, Bourbaki Luzern; Mo, 14. März, 12.15 Uhr, Lunchkino-Special, Le Paris Zürich, Moderation: Carlos Hanimann; Mo, 14. März, 20 Uhr, Lido 2 Biel, Moderation: Sabine Reber; Di, 15. März, 20 Uhr, cineMovie Bern, Moderation: Rudolf Strahm; Do, 17. März, 20 Uhr, Neues Kino Freienstein, Moderation: Anne-Catherine Lang; Fr, 18. März, 19 Uhr, Kinok St. Gallen, Moderation: Carlos Hanimann; So, 20. März, 11 Uhr, kult.kino atelier Basel.

Surprise verlost 3 × 2 Tickets für eine Vorstellung Ihrer Wahl. Senden Sie bis am 10. März ein Mail mit Betreff «Verlosung OFFSHORE» an redaktion@strassenmagazin.ch

BILD: ZVG

Was denn? Jesus hat rohe Gewalt angewandt, um Händler und Geldwechsler in Jerusalem aus dem Tempel zu vertreiben. Er griff zur Peitsche. Ich erkannte darin meine Wut auf das System. Ich erkannte auch den Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, der aus den sicheren USA zurück nach NaziDeutschland in den Widerstand ging. Wenn Sie ein System bekämpfen wollen, müssen Sie dahin gehen, wo das System ist. Mandela tat das in Südafrika, Gandhi in Indien. Ich will mich nicht mit denen vergleichen, aber ich habe verstanden, dass ich den Kampf in der Schweiz führen und mich der Justiz stellen muss. Nur so konnte ich aufzeigen, wie systematisch Milliarden am Staat vorbeigeschleust werden.

Carlos Hanimann: Elmer schert aus. Ein wahrer Krimi zum Bankgeheimnis, Echtzeit Verlag, 2016. 144 Seiten, 29 CHF.

Die Surprise-Leserschaft kann das Buch zum Vorzugspreis von CHF 26.– inkl. Porto direkt beim Verlag bestellen unter www.echtzeit.ch/surprise

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Diese Teilnehmerin am Berner Projekt Tages-AuPairs hat einen Traum: Irgendwann selber fĂźr sich sorgen kĂśnnen.

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Sozialpolitik Darüber reden reicht nicht Jahrelang ignorierte die Schweiz die Armut im eigenen Land. Jetzt ist das Thema bei den Behörden angekommen. Doch es gibt noch viel Klärungsbedarf.

VON SIMON JÄGGI (TEXT) UND ROBERT BEYER (BILDER)

Die Schwierigkeiten der Debatte beginnen bereits mit der Terminologie. Wenn Politiker oder Behörden über Armut in der Schweiz sprechen, ist nicht immer klar, was sie damit meinen. Gemäss der Weltbank gilt als arm, wer pro Tag von weniger als 1,25 US-Dollar leben muss. Gemäss dieser Definition gäbe es in der Schweiz tatsächlich keine Armut. Ist also von der relativen Armut die Rede, die im Verhältnis zum landesspezifischen Wohlstandsniveau steht? Sind all jene Menschen gemeint, die Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben? Oder jene, die unterhalb des Existenzminimums leben? Dieses liegt in der Schweiz derzeit bei rund 2200 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 4050 Franken pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern. Darauf bezieht sich beispielsweise die Armutsstatistik des Bundes: Gemäss der letzten Erhebung sind 7,7 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung von Armut betroffen. Somit fehlen rund 590 000 Personen die finanziellen Mittel, um ihre Grundbedürfnisse finanzieren zu

Bern, Tscharnergut, an einem kalten Wintermorgen. Der Wind treibt vereinzelte Schneeflocken an den Hochhäusern vorbei, während sich im Café der Siedlung eine Gruppe von 30 Frauen versammelt. Manche sind seit wenigen Monaten in der Schweiz, andere seit vielen Jahren. Für sie alle ist Deutsch eine Fremdsprache, ihre Chancen auf eine Arbeitsstelle tendieren gegen null. Hier, in den Hinterzimmern des Cafés, wollen sie ihre Sprachkenntnisse verbessern und Anschluss finden an das gesellschaftliche Zusammenleben in der Schweiz. «Ich komme aus der Schweiz, woher kommst du?», fragt die Lehrerin die junge Frau zu ihrer Rechten. «Ich komme aus Sambia, woher kommst du?», fragt diese ihre Sitznachbarin, und so geht es rund um den grossen Tisch. Die halbe Welt ist an diesem Morgen hier versammelt, die Frauen kommen von der Elfenbeinküste, aus den USA, dem Irak, aus Tibet, Iran, Sri Lanka oder Peru. Den wöchentlichen Sprachunterricht organisiert der Verein TagesNoch nie wurde in der Schweiz so viel über Armut gesprochen wie jetzt. AuPairs. Daneben vermittelt er die Frauen für Dennoch bezweifeln Forscher und Hilfswerke, dass die Armut wirksamer einen weiteren Tag in der Woche an Schweizer bekämpft wird als früher. Familien. Gegen einen kleinen Stundenlohn helfen die Frauen dort beim Kochen, Einkaufen können. Eine weitere Million Menschen in der Schweiz ist unmittelbar oder kümmern sich um die Kinder. Im Gegenzug unterstützen die Famivon Armut bedroht. lien die Frauen bei der Integration, sprechen mit ihnen deutsch und binden sie in das Familienleben ein. Dekyi M., eine junge Frau aus Tibet, fribap und ping:pong lebt seit drei Jahren in der Schweiz und hat die vergangenen Monate an Gabriela Felder leitet beim Eidgenössischen Departement des Inneren einem solchen Austausch teilgenommen. «Das war eine wunderbare Erdas Nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut, fahrung», sagt sie in sorgfältig formuliertem Deutsch. Sie habe mit der das vor zwei Jahren startete und hohe Erwartungen weckte. Doch mit Familie Weihnachten gefeiert, viel gelernt und, für sie am wichtigsten, einem Budget von gerade einmal neun Millionen Franken über insgeihre Chancen auf eine Ausbildung verbessert. Integration ist das eine samt vier Jahre sind die Möglichkeiten beschränkt. «Als befristetes Ziel des Projektes, das andere ist die Bekämpfung von Armut. Programm können wir Grundlagen schaffen, aber keine langfristigen Regelstrukturen aufbauen oder unterstützen», sagt Gabriela Felder. Bei Etwas für Linke der Definition von Armut zögert selbst sie. «Das ist nicht einfach zu beArmut in der Schweiz: Damit hatten sich bis vor Kurzem vornehmantworten, da ein einheitliches und umfassendes Verständnis fehlt. Arlich Hilfswerke und die politisch Linke beschäftigt. Der grösste Teil von mut beinhaltet verschiedene Dimensionen wie Einkommensarmut, wePolitik, Behörden und Wirtschaft aber behandelte das Thema bestennig soziale Kontakte, fehlende Bildung. Das Programm soll zu einem falls mit stiefmütterlicher Zurückhaltung oder bezweifelte grundsätzklareren Verständnis beitragen.» Kompliziert ist nicht nur die Definition, lich, ob es in der Schweiz überhaupt so etwas wie Armut gibt. Dies auch die Ziele des Programms kurz und verständlich zu formulieren ist begann sich mit der ersten Armutskonferenz zu ändern, die der Bund nicht ganz einfach: Wenn Gabriela Felder über das Programm spricht, 2003 durchführte. Es folgten Vorstösse im Parlament, eine weitere Konbenutzt sie Begriffe wie «Analyse», «Evaluation», «Multiplikatoren» und ferenz, schliesslich beschloss der Bundesrat eine gesamtschweizerische «Dimensionen» – die Sprache der Armutsbekämpfung ist kompliziert. Strategie zur Armutsbekämpfung und lancierte vor zwei Jahren das NaZusammengefasst soll das Programm den Gemeinden und Kantonen tionale Programm zur Bekämpfung und Prävention von Armut. Auch neue Erkenntnisse und Mittel zur Armutsbekämpfung liefern und die die Kantone schauen heute genauer hin, rund ein Dutzend haben in den verschiedenen Stellen stärker miteinander vernetzen. vergangenen Jahren Armutsberichte eingeführt. Noch nie wurde bei den Einen Grossteil des Budgets verwenden die Verantwortlichen zur FörBehörden und in der Politik so viel über Armut gesprochen wie gerade derung von bestehenden Projekten im Armutsbereich. Eines davon ist jetzt. Und obwohl das Thema auf der öffentlichen Agenda angekommen Tages-AuPairs in Bern, andere tragen Namen wie fribap, jobBooster oder ist, bezweifeln Forscher und Hilfswerke, dass die Armut in der Schweiz ping:pong (siehe Seite 17). Besonders im Fokus stehen dabei die Bilheute wirksamer bekämpft wird als in der Vergangenheit. SURPRISE 370/16

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Integration und Armutsbekämpfung konkret: Diese Frauen lernen Deutsch, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen.

Parlamentarier kritisch beobachten. «Ein einheitliches Vorgehen fehlt dungschancen von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen. nach wie vor. Und bei den Kantonen verfolgt jeder seine eigene StrateEin Projekt mit dem Titel «Gemeinsam zum Erfolg» beispielsweise will gie», sagt Knöpfel. Nebst einigen Fortschritten, wie etwa den Armutsdie Zahl von Lehrabbrüchen reduzieren. Das Pilotprojekt findet derzeit an zwei Schulen für Berufe im Bauwesen und in der Gastronomie statt – beides Berufsgrup«Ich möchte arbeiten und spüren, dass ich gebraucht werde.» pen, in denen Lehrabbrüche besonders häufig Dekyi M. Aus Tibet vorkommen. Weil mangelnde sprachliche oder soziale Kompetenzen als Hauptgründe für berichten, entwickelt sich auf kantonaler Ebene manches auch zum Lehrabbrüche gelten, sollen Lehrpersonen gefährdete Jugendliche frühNachteil der Betroffenen, wie die Caritas in einem aktuellen Bericht zeitig entdecken und ihnen professionelle Begleitung zur Seite stellen. schreibt: So beschlossen beispielsweise die Kantone Wallis und Bern Denn in einem Punkt ist sich die Forschung einig: Eine abgeschlossene massive Kürzungen bei der Sozialhilfe, zu Verschärfungen kam es zuAusbildung ist eine der besten Vorkehrungen, um einem späteren Abdem in Zürich und Nidwalden. Auch bei der Prämienverbilligung haben gleiten in die Armut entgegenzuwirken. zahlreiche Kantone die Leistungen gekürzt. Die Beträge in dreistelliger Millionenhöhe, die dabei gespart werden, lassen die Investitionen für Betty Bossi hilft nicht das Nationale Programm äusserst bescheiden aussehen. «All das deutet Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der für mich nicht darauf hin, dass die Schweiz geeint gegen Armut vorFachhochschule Nordwestschweiz sowie Surprise-Kolumnist (Die Sozigeht», sagt Carlo Knöpfel, der selbst viele Jahre in der Caritas-Gealzahl), befasst sich seit vielen Jahren mit Armut in der Schweiz. Er schäftsleitung sass. werde immer wieder nach Lösungsansätzen, Instrumenten und Mitteln gefragt, sagt er. «Doch das ist nicht so Betty-Bossi-mässig, einfache Re«Im Winter warm» zepte gibt es keine.» Wichtig sei insbesondere, dass Kinder aus benachWie wenig im Kampf gegen Armut vom neu gewählten Bundesparlateiligten Familien ausreichend gefördert werden, um der Armut zu ment zu erwarten ist, zeigt zudem eine aktuelle Untersuchung von entkommen. «Wenn das gelingt, hat die Armutsbekämpfung etwas WeSmartvote: Demnach sprechen sich gerade nur 52 von 200 Nationalräsentliches erreicht.» Dem Bundesprogramm gegen Armut bescheinigt er ten für eine Erhöhung der sozialpolitischen Ausgaben aus, 96 Nationalein «gewisses Engagement» bei jungen Erwachsenen, mehr Lob ist von räte möchten diese in Zukunft reduzieren. Wie viel Ignoranz gewisse ihm nicht zu hören. Stattdessen hinterfragt er, ob das Programm überPolitiker dem Thema immer noch entgegenbringen, bewies eine Woche haupt zu einer effektiven Bekämpfung beitrage. «Die Hoffnungen wavor Weihnachten der SVP-Nationalrat Sebastian Frehner anschaulich: In ren, dass der Bund selber aktiver wird. Doch mit diesem befristeten Proeiner Debatte zur Revision der AHV behauptete er vor versammeltem gramm schiebt er die Armutsbekämpfung einmal mehr auf die Kantone Nationalrat, «dass es in der Schweiz keine armen Leute gibt, die legal und die Gemeinden ab.» Eine Tendenz, die auch Hilfswerke und linke

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hier wohnen. Es haben nämlich alle ein Dach über dem Kopf, alle haben genug zu essen, eine obligatorische Krankenversicherung und im Winter warm.» Dabei dürfte auch ihm bekannt sein, dass schweizweit rund 150 000 Personen wegen unbezahlter Rechnungen nur noch in Notsituationen medizinische Versorgung beziehen können und allein in seinem Heimatkanton Basel-Stadt mehrere hundert Personen ohne festen Wohnsitz leben. Dekyi M., die junge Tibeterin im Café beim Tscharnergut in Bern, hat in der Nacht zwar ein Dach über dem Kopf, ausreichend zu essen und

im Winter meistens warm. Armut beinhalte aber noch mehr, sagt sie. Beispielsweise keine Arbeit zu haben und nicht selber für sich sorgen zu können. «Ich möchte arbeiten und spüren, dass ich gebraucht werde.» Deshalb setzt sie alles daran, dass sie eine Ausbildung machen und irgendwann ihr Leben selber finanzieren kann. Diesem Ziel ist sie nun einen grossen Schritt nähergekommen: Dank ihrer Erfahrung als Au-Pair und ihrer Deutschkenntnisse kann sie in wenigen Wochen ein halbjähriges Praktikum in einem Altersheim beginnen. Einen wichtigen Schritt aus der Armut hat zumindest sie damit geschafft. ■

Sozialpolitik Armut ganz konkret Der Bund will herausfinden, mit welchen Mitteln sich Armut in der Schweiz bekämpfen lässt, und finanziert dafür seit einem Jahr rund ein Dutzend befristete Projekte. Wer Armut in der Schweiz erfolgreich bekämpfen möchte, der muss dafür sorgen, dass Kinder aus betroffenen Familien ausreichend gefördert werden, damit sie der Armut entkommen können. Das sagt unter anderem Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Dieses Ziel verfolgt auch ein Grossteil der Projekte, die vom Nationalen Programm gegen Armut finanzielle Unterstützung erhalten. Ob Frühförderung, Unterstützung der Eltern oder Begleitung von Lehrlingen – im Fokus steht meistens Kinder und Jugendliche. Wie Armutsbekämpfung in der Schweiz unter anderem aussieht, zeigt diese Auswahl von Projekten. Appoggio scolastico intergenerazionale Kanton Tessin, August 2015 bis August 2017 Freiwillige unterstützen Kinder im Übergang von der Grundschule in die Oberstufe. Mehrheitlich ältere Menschen helfen Schülern mit Lernschwierigkeiten bei der Bewältigung der Hausaufgaben. Das ausserschulische Angebot findet in einem familiären Rahmen, auf einer persönlichen und individuellen Ebene statt. Lecture Parent-Enfant Kanton Fribourg, Mai 2015 bis Dezember 2017 Lesekurse für bildungsferne Eltern und ihre Kinder: Die Eltern erlangen Grundkompetenzen im Lesen oder verbessern ihre Lesefähigkeiten, während die Kinder sich mit den ersten Büchern vertraut machen und sie spielerisch entdecken. Die Kurse finden wöchentlich statt und werden von Fachlehrpersonen geleitet. PAT – Parents as Teachers Kanton Tessin, Juli 2015 bis Juni 2021 Parents as Teachers oder Mit Eltern lernen: Das Programm hat seinen Ursprung in den USA, wo es entwickelt wurde, um die Schulfähigkeit von Kindern aus sozial benachteiligten Familien zu verbessern. In regelmässigen Hausbesuchen und Gruppentreffen mit weiteren Familien sollen die Erziehungskompetenzen der Eltern verbessert und ihre Bindung mit dem Kind gestärkt werden. Erstmals wird dieses Programm nun im Tessin erprobt. ping:pong Gesamte Deutschschweiz, August 2015 bis Dezember 2017 ping:pong richtet sich an Eltern mit Kindern zwischen drei und sechs Jahren, die eine Spielgruppe, eine Kita oder einen Kindergarten besuchen. Das Projekt hat zum Ziel, die Eltern und Institutionen besser zu vernetzen und den Austausch zwischen den Eltern auf der einen Seite SURPRISE 370/16

und den professionellen Erziehern auf der anderen Seite zu verbessern. In den regelmässigen Gesprächen erhalten die Eltern zusätzliches Wissen und Anregungen, um ihre Kinder auf dem Bildungsweg zu unterstützen. Eltern begleiten den Berufswahlprozess Gesamte Deutschschweiz, Mai 2015 bis September 2018 Bei der Wahl des Berufes sind Jugendliche oftmals auf die Unterstützung der Eltern angewiesen: Sozial benachteiligten oder bildungsfernen Eltern fehlt es häufig an Wissen, um dieses Bedürfnis erfüllen zu können und ihre Kinder in dieser Phase zu begleiten. An Schulen, in Vereinen, Elternmitwirkungsgremien und Berufsberatungsstellen werden Schulungen durchgeführt, um betroffene Eltern zu stärken und in den Berufswahlprozess einzubeziehen. fribap Kanton Fribourg, Januar 2015 bis Dezember 2017 Der Lehrbetriebverbund ist Bindeglied zwischen den Lernenden und den Ausbildungsbetrieben. Ein Coach begleitet Jugendliche aus benachteiligten oder fragilen Familien während ihrer Berufslehre. Er bietet Unterstützung beim Erreichen von Lernzielen, bei Prüfungsvorbereitungen und beim Übergang von der Ausbildung in die Berufswelt. Zudem setzt sich der Verbund für die Schaffung von zusätzlichen Lehrstellen ein. Gemeinsam zum Erfolg Kanton Bern, Juni 2015 bis Juni 2016 Gastronomie und Strassenbau sind zwei Berufsgruppen, in denen Lehrlinge ihre Ausbildung besonders häufig abbrechen. Das Pilotprojekt, welches an zwei Schulen stattfindet, will die Zahl von Lehrabbrüchen reduzieren. Lehrpersonen werden daraufhin geschult, gefährdete Lehrlinge frühzeitig zu entdecken und mit individueller Förderung zu unterstützen. jobBooster Nordwestschweiz, August 2015 bis Juli 2017 Mit jobBooster unterstützt Impulse Basel Jugendliche mit einer Behinderung bei der Lehrstellensuche. Betriebe werden bei der Schaffung von behindertengerechten Lehrstellen und während der Lehrzeit unterstützt. Nachholbildung für alle Region Aargau, September 2015 bis Oktober 2017 Erwachsene ohne Berufsabschluss werden bei einer Nachholbildung unterstützt. Die bildungsfernen Erwachsenen werden dabei gezielt rekrutiert und auf dem Weg zu einem Abschluss begleitet.

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«Die beste Erfindung der Menschheit ist Gott.» (Zitat aus dem Film)

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Film «Ich habe die Matthäus-Passion auf den Boden der Realität geholt» Im Film «Erbarme Dich» wird die Matthäus-Passion geprobt, das Publikum besteht aus Obdachlosen. Der Regisseur Ramón Gieling sieht ihre Gesichter als Spiegel des Leidens, das die Musik vermittelt. INTERVIEW VON BRECHTJE KEULEN

«Jemand singt falsch», murmelt einer der Sänger des Obdachlosenchors «De Straatklinkers» in «Erbarme Dich», einem Film des Amsterdamers Filmemachers Ramón Gieling. Die Chormitglieder haben ein paar Dinge miteinander gemeinsam: Sie sind oder waren alle obdachlos, und sie lieben Musik. Heute üben sie «Oh Haupt voll Blut und Wunden», eine Passage aus der Matthäus-Passion von Bach. Der Chor singt behutsam und noch ein wenig verhalten. Dann ertönt die Stimme des Amsterdamer Strassenpastors Luc Tanja: «Wir sind eingeladen, bei den Chor- und Orchesterproben der Matthäus-Passion dabei zu sein.» Eines der Chormitglieder ruft sofort: «Dürfen wir mitsingen?» Weshalb bedeutet gerade die Matthäus-Passion (siehe Box S. 21) so vielen Menschen so viel? Diese Frage stellte sich Dokumentarfilmer Gieling, als er das Konzept für «Erbarme Dich» ausarbeitete. Anhand von persönlichen Schilderungen – unter anderem der Dichterin Anna Enquist, des Dirigenten Pieter Jan Leusink und der Sopranistin Olga Zinovieva – untersucht er, was die Menschen an diesem Werk so tief berührt. Die Chormitglieder der Straatklinkers sind im Film Zuschauer bei den Proben in der Kulisse einer zerfallenen Kirche. Sie starren in die Ferne, artikulieren bei bekannten Stücken vorsichtig mit, die Gesichter sind grell und mit viel Kontrast ausgeleuchtet. «Es sind Gesichter, die vom Leben gezeichnet sind», sagt Gieling.

Die Gruppe der Obdachlosen sitzt in dieser kalten Kulisse und sieht sich die Probe an. Wie haben Sie entschieden, was ihre Rolle werden soll? Haben Sie sich auch überlegt, einen der Obdachlosen eine Geschichte über die Matthäus-Passion erzählen zu lassen? Das war auf jeden Fall ein Thema, und ich habe auch mehrere Gespräche mit ihnen geführt. Aber die Gespräche, die ich gefilmt habe, liessen sich nicht mit meiner ursprünglichen Idee verbinden. Wenn so etwas nicht funktioniert, dann fällt es im Schnitt halt weg. Ich führe für die Auswahl des Personals meiner Filme ein normales Casting durch. Die Qualität der Geschichten ist für mich ausschlaggebend. Die Geschichten sind in einem gewissen Sinn ja auch «designt». Ich will, dass sie «bigger than life» sind. Sie haben die Matthäus-Passion vom traditionellen Publikum und von der üblichen Location losgelöst. Was macht das mit der Musik? Ich bin mir sicher, dass das eine entscheidende Rolle spielt. Ich habe die Musik aus dem elitären Umfeld befreit und sie auf den Boden der Realität zurückgeholt. Dazu trägt die Reflexion auf den Gesichtern wesentlich bei. Aber ich habe auch die Solisten in gewissen Arien schauspielern lassen, was man eigentlich nicht tut, und ich habe den Text neu erzählt. Mir wurde klar, dass ich wegen des abgehobenen alten Sprachgebrauchs zum Teil keine rechte Vorstellung davon hatte, worum es überhaupt ging. Ich glaube, damit hängt stark zusammen, ob der Inhalt zum Leben erwacht. Manche Leute, die meinen Film sehen, sagen nachher zu mir: «Jetzt verstehe ich endlich, worum es geht.» Mein Ziel als Filmemacher ist es, etwas neu zu zeigen, auf eine Weise, die die Leute noch nicht kennen.

Herr Gieling, wie kamen Sie auf die Idee, ausgerechnet den Obdachlosenchor in den Film einzubauen? 2012 hatte ich die Arbeiten zu meinem Film «Home» begonnen. Er handelt von einem Flüchtling von der Elfenbeinküste, der zuerst in einem Das kommt auch in der formalen Umsetzung zum Ausdruck. Zeltlager und danach in der verlassenen Josefskirche in Amsterdam lebIch wollte das Leiden in der Erzählung sichtbar machen, und das gelingt te. Ich hatte die Idee für «Erbarme Dich» bereits im Kopf, und als ich in nur, wenn man ihm Form gibt. Die Obdachlosen sind Schauspieler, sie die Kirche hereinkam, fragte ich mich unwillkürlich, wie es wohl wäre, die Matthäus-Passion für die abgewiesenen Flüchtlinge, die damals hier lebten, aufzufüh«Die Obdachlosen schlafen in einer Szene in Decken gewickelt. Das verweist ren. Das Stück wird meistens einem eleganten direkt auf die abgewiesenen Flüchtlinge, die in dieser Kirche gelebt haben.» Publikum gezeigt, das sich dafür teure Karten kauft. Ich wollte ein anderes Publikum haben. treten in meinem Film nicht als ein Häufchen Elend auf. Sie spielen auch Als ich die Finanzierung des Films beisammen hatte, waren die Flüchtdie Kreuzigung nach, und in einer der Szenen schlafen sie, in Decken linge aber bereits wieder weg. Ich habe mich dann für die Obdachlosen gewickelt. Diese Szene verweist direkt auf die abgewiesenen Flüchtlinentschieden, weil es in der Matthäus-Passion um das Leiden geht, und ge, die in dieser Kirche gelebt haben. All diese Elemente werden zu Teiich wollte, dass die Zuschauer zum Spiegel der Handlung würden. Die len der Erzählung. Gesichter der Obdachlosen – Gesichter, die das Leben gezeichnet hat – sind zum Spiegel geworden, auf dem die Musik widerklingt. Es gibt noch viele weitere Elemente: Spielfilmsequenzen, eine Boxszene, Oper und Tanz. Als Kulisse hat Ihnen die verlassene Josefskirche gedient, die Sie im Die russische Sopranistin, Olga Zinovieva, sagt im Film, dass sich die Studio nachgebaut haben. Hätte es auch eine andere Kirche sein ganze Geschichte um Hass und Totschlag dreht. Wenn man die Leikönnen? densgeschichte auf ihren Kern zurückführt, ist es eine schreckliche Ich glaube nicht. Ich finde, mit ihrer modernen Fünfzigerjahre-ArchiGeschichte. Jesus wird verraten, gefoltert und ans Kreuz genagelt. tektur ist die Kirche sehr speziell. Ihre Raumperspektiven sind gewaltig, Wenn ich solche Dinge thematisiere, muss ich auch über Krieg spreebenso die enorme Tiefe und die Leere des Raums. Eine klassische Kirchen. Man darf hier nicht allzu zurückhaltend sein, sonst dringt die che wäre zu schön gewesen, zu angenehm. Ich brauchte die Kahlheit Gewalt nicht zu den Zuschauern durch. In das Stück von Olga habe und die Kälte des Raumes, aber ich wollte auch sichtbar lassen, dass es ich grauenvolle Bilder von Drohnenangriffen hineinmontiert. Den Teeine Kirche ist. SURPRISE 370/16

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BILDER: CINÉLIBRE

Der Film «Erbarme Dich» nimmt die Matthäus-Passion als Vorlage, um das Leiden der Menschen zu thematisieren.

«Ich fragte mich, wie es wäre, die Matthäus-Passion für die Flüchtlinge, die in dieser Kirche lebten, aufzuführen», sagt Regisseur Gieling.

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Ihr vorheriger Film «Home» handelte von einem Flüchtling, in «Erbarme Dich» geht es um Obdachlose – wie auch in Ihrem nächsten Film. Was fasziniert Sie an ausgegrenzten Menschen? Ich habe schon zuvor zwei Filme über Zigeuner gemacht. Einer meiner besten Freunde ist Zigeuner, und ich kenne diese Kultur daher sehr gut. Nicht die romantische Version des Zigeunerlebens, sondern die harte Kultur, die dazugehört. Was mich immer fasziniert hat, ist die Entsagung und die Heimatlosigkeit. Ich habe einmal jemanden sagen hören, Zigeuner hätten die Verantwortung, nichts zustande zu bringen in der

nor habe ich inszeniert, als ob er in einer Verhörkammer sitzen und gefoltert würde. Das ist ein Versuch, die Erfahrung der Gewalt näher heranzuholen.

Ramón Maria Gieling (1954 in Utrecht geboren) ist Regisseur, Schauspieler und Drehbuchautor. Er besuchte in den Siebzigerjahren die Kunstakademie Arnhem, wo er sich auf Malerei und Film spezialisierte. Er ist sowohl als Spiel- und Dokumentarfilmregisseur tätig als auch als Theatermacher und Redaktor einer Zeitschrift.

«De Straatklinkers» Der Strassenchor «De Straatklinkers» ist eine Initiative des Strassenpastorats der protestantischen Diakonie Amsterdam. «Straatklinker» heisst auf Deutsch «Pflasterstein»/«Klinkerstein»; es handelt sich zudem um ein Wortspiel: «Klinker» heisst auch «Vokal» und bezieht sich auf das Singen, «Straat» (dt. Strasse) auf die Obdachlosen. Seit 2004 probt die Gruppe von (ehemals oder aktuell) Obdachlosen wöchentlich, der Chor tritt regelmässig an Festen, Festivals und in Kirchen auf. Er bietet den Obdachlosen eine Möglichkeit, ihre Geschichten mithilfe der Musik zu erzählen – im gleichen Sinn wie der Surprise Strassenchor. (brk) SURPRISE 370/16

BILD: PIET HERMANS

Glauben Sie, dass Ihr Film vielleicht deshalb heftige Reaktionen auslöst? Ich lese keine Rezensionen, manchmal entkommt man ihnen jedoch nicht. Ich sagte aber, dass ich während des Drehs meinen Mitarbeitern, dass wir den Mut haben müssen, alles auszuprobieren. Ich liebe Dinge, die man nicht nacherzählen kann, die man nicht in eine Geschichte packen kann. Ich «Jesus wird verraten, gefoltert und ans Kreuz genagelt. Wenn ich solche wollte auch eine allzu wortgetreue ReprodukDinge thematisiere, muss ich auch über Krieg sprechen.» tion der Geschichte und der Bilder vermeiden. Das hat vielleicht dazu geführt, dass einige Welt. Das ist es eigentlich, was ich auch bei den Obdachlosen sehe und Leute den Film nicht verstanden haben, aber die Reaktionen sind im Allwas mich interessiert. Dass alle Eitelkeit weg ist. Wenn ich diese Obgemeinen sehr positiv. An der Première in Rotterdam hätte man eine Nadachlosen filmen gehe, sagt keiner von ihnen: Heute sehe ich nicht so del fallen hören können. Um mich herum hörte ich Menschen schluchgut aus. Soweit ich es einschätzen kann, schämen sie sich auch nicht für zen. In den Niederlanden ist die Matthäus-Passion populärer als in anihren Status. Das ist sehr speziell. Ihr «Nichts» interessiert mich. Einige deren Ländern, aber auch im Ausland stösst «Erbarme Dich» auf ein haben sich vom Zusammenleben auf eine Art und Weise losgesagt, dass sehr gutes Echo. sie sich für nichts mehr verantwortlich fühlen. Welche Rolle spielt das Bühnenbild mit den Obdachlosen darin? Was hat die Arbeit an diesem Film über die Matthäus-Passion Sie Dazu fällt mir spontan etwas ein, das ich vor ein paar Jahren in einem selbst gelehrt? Interview mit dem Opernregisseur Peter Sellars gelesen habe, der auch Musik ist das grosse Gegenstück zum Zerstörungsdrang des Menschen. in meinem Film auftritt. Er erzählte, wie er ein anderes Werk von Bach Menschen sind imstande, andere abzuschlachten, und Musik ist die rätin einer Kirche in Amerika hörte, in der Obdachlose und Psychiatrie-Paselhafte andere Seite der Medaille. Musik kann die Menschen mit ihrer tienten, die keine Klinik mehr wollte, Unterschlupf gefunden hatten. Er rätselhaften Schönheit zu Tränen rühren. Musik kann auch eine Art Psysagte – ich zitiere sehr frei: Du hörst Bach ganz anders, wenn dir jechiaterin sein, der du dein eigenes Leiden in seiner tiefsten Intimität anmand, der Selbstmord begehen wollte, gerade zuvor seine Geschichte vertraust. erzählt hat. Es ist schon ein paar Jahre her, aber diese Bemerkung war ■ sehr wichtig für mich. In meinem Film will ich mit den Gesichtern der Obdachlosen die gleiche Erfahrung hervorrufen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Diana Frei und Joel Bisang.

«Erbarme Dich» – der Film Die Matthäus-Passion ist eine oratorische Passion von Johann Sebastian Bach, uraufgeführt 1727. Die Erzählung vom Leiden und Sterben Jesu Christi nach dem Evangelium von Matthäus steht im Zentrum. Ramón Gielings Film «Erbarme Dich» nimmt sie als Vorlage, um das Leiden der Menschen in all seinen Facetten zu thematisieren und über die persönlichen Geschichten seiner Protagonisten die emotionale Kraft von Bachs Musik nachzuempfinden. So erzählen der Dirigent, die Sopranistin und Leute wie der Opernregie-Star Peter Sellars von ihrer Beziehung zum Werk und damit von ihrer Beziehung zu Gott, zu Trauer und Schuld. Das Konzept des Films ist gewagt und sehr artifiziell in seiner Ästhetik. Obwohl ein Obdachlosenchor auftritt, handelt es sich nicht um einen Film über Ausgegrenzte und ihr Schicksal, Gieling wählt vielmehr einen universellen Zugang zum Leiden als Zustand. Die Obdachlosen treten als Publikum und Spiegel des Geschehens in recht passiver Rolle auf und werden zum intellektuell konzipierten Element. Das wirkt einerseits etwas befremdlich, anderseits überrascht Gielings eigener Zugang zur Thematik und stellt die Kraft der Musik ins Zentrum. (dif) Ramón Gieling: «Erbarme Dich – Matthew Passion Stories», NL 2015, 99 Min., mit Peter Sellars, Pieter Jan Leusink, Olga Zinovieva, The Bach Choir and Orchestra of the Netherlands, Obdachlosenchor «De Straatklinkers» u. a. Der Film läuft ab 10. März in Basel, Bern, Zürich und St. Gallen; weitere Spielorte siehe http://www.cinelibre.ch.

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Fremd für Deutschsprachige Schweizer Kinder «Es kann nicht sein, dass Schweizer Kinder ausgeschlossen werden», hiess es neulich in den Medien. Zitiert wurde die Gemeindepräsidentin von Egerkingen, eine energische Dame in gemusterter Bluse, die unbeirrt alles in ihrer Macht Stehende tut, um gegen Ausgrenzung vorzugehen. Der Fall lag so, dass eine Mehrheit von Kindern sich wiederholt unter Hinzuziehung nicht-deutscher Sprachen unterhalten hatte – und das mitten auf dem Pausenplatz! Eine der letzten Bastionen freier Begegnung im strengen Schulalltag. Und diese war nun in Egerkingen bedroht. Rücksichtsloses, ja dominantes Sprachverhalten von Multilingualen hatte dazu geführt, dass Kinder aus sprachärmeren Schweizer Familien nicht mitkamen. Für die Autoritäten höchste Zeit, auf den Tisch zu klopfen. So griff der Gemeinderat durch:

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Auf dem Pausenplatz wie dem Rest des Schulterritoriums soll «Deutsch immer und überall» gesprochen werden. Wer den Erlass ignoriert, wird verwarnt, zwei Mal. Beim dritten Verstoss zahlen die Eltern des devianten Kindes 550 Franken – für einen Deutschkurs. Dieses Vorgehen stellt einerseits nachhaltig klar, dass diese Kinder sich der deutschen Sprache nicht etwa aus Unfähigkeit, sondern aus reinem Unwillen entziehen. Andererseits geht man so direkt die Quelle der diskriminierenden Haltung dieser Kinder an: die Eltern. Die Exekutive schliesslich stellen die Lehrpersonen, wahre Ritter des Schulhofes, die wachen und strafen. Natürlich liess es mich nicht kalt, von all dem zu hören. Denn der Geist der Nichtdiskriminierung im Land berührt mich immer wieder. Ein Geist, den ich einst in der ersten Klasse am eigenen Leib erfahren durfte. Schüchtern und unsicher in der deutschen Sprache, versuchte ich in den Pausen mit der Hauswand zu verschmelzen. Nur nicht die Aufmerksamkeit meiner Schulgspönli auf mich ziehen, wie der Lehrer sie verharmlosend nannte. Das wäre weit schlimmer, als dass ich nicht verstand, worüber sie lachten, oder beim Fangis nicht mitspielen durfte. Doch irgendwann geschah es, sie bemerkten mich. Meine Eltern hatten mir eine Jacke in grün-gelb-pinken Neonfarben gekauft, die ich mir gewünscht hatte. Ein Fehler. Ein Junge rief mir etwas zu, irgendwas über meine Eltern.

Ich verstand nicht. Bald war ich umringt von Kindern, die es wiederholten: «Sotsialshmarotser!» Ich versuchte zu entkommen, erfolglos. Meine Wand liess mich auch im Stich. Da kam plötzlich eine Lehrerin herbeigeritten. Ihre Rüstung glänzte in der Sonne, als sie das Schwert zückte, auf dessen Klinge die Worte prangten: «Kein Schweizer Kind darf ausgeschlossen werden!» Die Gspönli stoben auseinander, als sie sich verteidigend vor mich stellte. Unterdessen hatte die Schulleitung alle Bildungsverantwortlichen der Gemeinde alarmiert, die nun geschlossen auf den Pausenplatz strömten, flankiert von Medienschaffenden und angeführt vom Gemeindepräsidenten. Seine Nasenflügel bebten vor Gerechtigkeit, als er, die Hand auf meiner neongrünen Schulter, verfügte: «Wer ein anderssprachiges Kind ausgrenzt, absolviert ab sofort einen Kurs im Wert von 550 Schweizer Franken – und zwar in der Erstsprache des betreffenden Kindes.» Schön, wie Egerkingen bis heute unerschütterlich an dieser grossen Tradition der Inklusion festhält.

SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 370/16


Ausstellung Der Code ist der Dirigent Das neu eröffnete Museum of Digital Art MuDA im urbanen Westen von Zürich macht die abstrakte Schönheit von Codes und Algorithmen erlebbar.

Manchmal muss man einfach zur rechten Zeit am richtigen Ort sein. Fast auf den Tag genau 100 Jahre nachdem die Schlüsselfiguren der Dada-Bewegung in der Zürcher Altstadt zusammenkamen, hat Mitte Februar das Museum of Digital Art MuDA seine Pforten geöffnet. Dada wird neben Pop Art als einer der kunsthistorischen Wegbereiter der Digital Art betrachtet, weshalb man durchaus sagen kann, dass mit der Eröffnung des ersten Museums in Europa, das sich dieser noch jungen Kunstrichtung annimmt, ein Kreis schliesst. Die Ausstellungsräume befinden sich im Erdgeschoss des Migros-Hochhauses Herdern. Künftig werden hier Arbeiten gezeigt, die auf Codes basieren. Pro Jahr sollen zwei bis drei Ausstellungen stattfinden, und zu jeder Ausstellung wird es eine App mit interaktiver Kunst und Video-Dokumentationen über den jeweiligen Künstler geben. Eingebettet zwischen Technik und künstlerischen Ansätzen wird deutlich, dass Digital Art von Design über Robotik bis hin zu reiner Mathematik ganz unterschiedliche Bereiche verbindet. In der Schnittmenge dieser Einflüsse entsteht und wirkt Digital Art, hinterfragt technologische Entwicklungen und eröffnet neue Zugänge zu Informatik, Programmiersprache oder Algorithmen. «Mit dieser Vielseitigkeit möchten wir gerade auch junge Frauen mit dem Programmieren und anderen technischen Berufen, zum Beispiel in Form von Workshops, vertraut machen», sagt Caroline Hirt, die das Museum zusammen mit dem Gamedesigner Christian Etter leitet. Zum Auftakt verteilen sich auf den 400 Quadratmetern Ausstellungsfläche sechs Arbeiten der beiden Schweizer Künstler Andreas Gysin und Sidi Vanetti. Die augenfälligste ist die ehemalige Fallblattanzeige aus dem Zürcher Hauptbahnhof, die letzten Oktober durch eine digitale Anzeige ersetzt wurde. Nun erwacht dieser blaue, 13,5 Meter breite Koloss, der jahrzehntelang Orientierungspunkt für unzählige Reisende war, zu neuem Leben. Die 452 beweglichen Plastikelemente der mechanischen Tafel erzeugen jedes Mal ein hypnotisches Rauschen, sobald die Informationen alle paar Sekunden wechseln und neue Kombinationen von Zahlen und Buchstaben offenbaSURPRISE 370/16

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VON MONIKA BETTSCHEN

Geben den Nullen und Einsen ein Zuhause: Caroline Hirt und Christian Etter, die beiden Co-Direktoren des neu eröffneten Museum of Digital Art MuDA in Zürich.

ren. «Diese Installation vereint die Merkmale von Digital Art besonders schön. Man wird Zeuge davon, wie der Code als unsichtbarer Dirigent die einzelnen sichtbaren Elemente an der Oberfläche steuert und so eine Komposition erschafft, wie das auch in jedem Computer stattfindet. Codes und Algorithmen schaffen aus dem Verborgenen heraus immer neue Gesetzmässigkeiten», sagt Co-Direktorin Caroline Hirt. «Digital Art ist so reizvoll, weil technische Geräte, die wir sonst nur für einen bestimmten Zweck benutzen, mit neuen Funktionen versehen werden. Ausserdem ist es eine verspielte Kunstform, die die Leute dazu ermutigt, die Schönheit zu entdecken, die Codes innewohnt. It’s all about the numbers.» Ein Beispiel für das Spielerische ist die Arbeit «80 Numbers». Ein drehender Diaprojektor strahlt in Endlosschlaufe mathematische Aufgaben an die Wand. Neben abstrakten Rechenaufgaben laden Fragestellungen aus allen möglichen Lebensbereichen zum Rätseln ein. So führt die Anzahl Zähne oder der Weihnachtstag ebenso zu einer Lösung wie das chemische Element Titanium. Kunst im digitalen Zeitalter galt während ihren Anfängen in den Siebzigern zunächst als

etwas sperrig, war doch der Zugang zu Computern noch einem recht überschaubaren Kreis vorbehalten. Erst als ab den Neunzigerjahren Personal Computer auch für Private erschwinglich wurden, änderte sich der Umgang mit dem Medium entscheidend. Der PC eröffnete einer neuen Generation eine wachsende Anzahl an Möglichkeiten, Software für künstlerische Experimente zu verwenden. Heute spricht man von der Generation Y, den Digital Natives, die als erste von klein auf mit Internet und Multimedia aufgewachsen sind, und so fühlen sich immer mehr Menschen von Digital Art angesprochen. Als Kunstform kann sie nun aus dem Schatten der anderen Sparten heraustreten und ihre rasant wachsende Bedeutung in einer globalisierten Welt verdeutlichen. Digital Art entsteht sehr oft in einer Community, viele Kunstschaffende sind in Gruppen organisiert, sodass auch das etablierte Bild vom isolierten Künstler in Frage gestellt wird. ■

Museum of Digital Art MuDA, Di bis Fr 12 bis 19 Uhr, Sa, So 10 bis 18 Uhr, Pfingstweidstrasse 101, Zürich. www.muda.co

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© PAISELEY PARK, JEAN-BAPTISTE MONDINO: PRINCE, LOVESEXY, 1988 BILD:

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Kultur

Hat jemand «surreal» gesagt?

Hier verschränken sich Seh- und Hörerfahrung.

Buch Verschluckte Brillen

Ausstellung Die Welt ist eine Scheibe

Der erste Prosaband von Lukas Holliger spürt Wendepunkten des Alltags nach.

«Total Records» zeigt prägende Plattencovers der Musikgeschichte.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON BENEDIKT SARTORIUS

Es ist ein seltsamer Titel, den Lukas Holliger, bisher bekannt als Hörspiel- und Theaterautor, für seinen ersten Prosaband gewählt hat: «Glas im Bauch». Auch der Untertitel «Betrachtungen durch verschluckte Brillen» macht die Sache eher noch geheimnisvoller, als dass er sie erhellt. Und doch liegt vielleicht gerade darin der Schlüssel zu den 87 Kurz- und Kürzestgeschichten, unterteilt in acht Kapitel von «Kartoffeln» bis «Theater», die wie zufällig gewählt scheinen. Denn was wäre, wenn man diese Betitelungen wortwörtlich nähme? Wie fühlt sich das an, wenn man Brillen verschluckt? Oder besser, was stellen die Dioptrien mit uns an? Was entsteht aus so einem gastroenterischen Blick auf die Welt? Geschärfte Blicke? Verzerrungen? Auf jeden Fall, so kann man es sich vorstellen, ein anderer Blick aus einer wahrhaft anderen, ungewohnten Perspektive. Dies vorausgesetzt, kann man sich auf die bunte Palette von rätselhaften und wunderlichen, schrägen bis surrealen Kurztexten einlassen, die keinem erkennbaren roten Faden folgen, ausser dem des Unerwarteten, des Ungewohnten, der grossen und kleinen Verschiebungen im Alltäglichen. Lauter Miniaturen, oft kaum mehr als eine Skizze oder ein Fragment, die davon berichten, wie etwas eine Wende nimmt, die alles verändert – oder auch nicht, weil der Rückfall in das Gewohnte den Moment wieder einfängt, dann wenn sich «die kohlrabenschwarze Lücke zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit» wieder schliesst, so als wäre nichts gewesen. Adam und Eva vor dem Sündenfall, ein Frosch, der immer dieselbe Fliege verschluckt, ein hilfloser Bundesrat, Pubertierende, vergeblich Liebende, das Geräusch des Laubs, ein Meer, das verschwindet, ein Mann, der mit einem Baum verwächst, ein anderer, der buchstäblich zerfällt, oder ein unfruchtbar gewordenes Zifferblatt, das zu Silvester keine Zeit mehr hergibt … alles lohnt den Blick durch die einverleibten Brillen. Wer sich ein Bild davon machen möchte, dem seien die Hollidroms des Autors empfohlen (www.lukasholliger.ch), von denen eines das Cover ziert.

Die vor 20 Jahren totgeglaubte Vinyl-Schallplatte feiert derzeit einen Boom – und das in Zeiten, in denen sich die Musik längst in die riesige Cloud der Streamingdienste verflüchtigt hat. Das Timing ist also gut für die Ausstellung «Total Records – Vinyl & Fotografie», die die Beziehung zwischen Musik und Fotografie beleuchtet. Denn ohne die Bilder und die Images der Stars würden die Popmusik und die gesamte Popkultur gar nicht funktionieren oder existieren. Die Schau, die im vergangenen Jahr für das Fotofestival «Les Rencontres de la Photographie» im südfranzösischen Arles konzipiert wurde, rückt die Urheber von prägenden Coverfotografien ins Zentrum. «Vor der Ausstellung in Frankreich hat sich bislang kaum jemand diesem Thema gewidmet», sagt Thomas Seelig, Kurator der Winterthurer Ausstellung. Und das Fotomuseum, das immer schon kulturgeschichtliche Ausstellungen gemacht hat, habe zwar ein grosses Netzwerk im fotografischen Bereich, «doch wenn es um Plattencovers geht, sind andere Leihgeber im Spiel», begründet Seelig die Übernahme der Schau. Zu sehen sind Werke, die von Stars wie Robert Frank, Helmut Newton, Bernd & Hilla Becher oder Annie Leibovitz inszeniert wurden. Die Ausstellung, so Seelig, ziele aufs «Subjektive» und könne Erinnerungen wecken an Zeiten, in denen man selbst im Plattenladen gestanden sei: «Bei mir wirken die Covers von Blondie oder Grace Jones beispielsweise am stärksten, denn für mich wurde dort eine Corporate Identity durch Fotograf, Designer, Musiker und Labels, die gemeinsam an einem Image arbeiten, geschaffen.» So finde jede Generation – ob das Fans der Rolling Stones, von Nirvana oder Madonna sind – ihren Zugang zur Ausstellung. Die Winterthurer Version von «Total Records» wurde mit einigen Schweizer Kapiteln ergänzt: Die Sektion «Punk // Post-Punk» beispielsweise erzählt die Do-it-Yourself-Labelgeschichte des Landes – anhand von Plattencovers natürlich. Zudem beleuchtet das Rahmenprogramm einzelne Kapitel der reichen Geschichte der Scheibe, die auch hierzulande die Popkultur so lange Zeit geprägt hat und noch immer prägt.

Lukas Holliger: Glas im Bauch. Betrachtungen durch verschluckte Brillen.

und 45, Winterthur, Di bis So 11 bis 18 Uhr, Mi 11 bis 20 Uhr, bis zum 16. Mai.

Edition Meerauge 2015. 28.50 CHF

www.fotomuseum.ch

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«Total Records – Vinyl & Fotografie», Fotomuseum Winterthur, Grüzenstrasse 44

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Und wo kommt das Kakaopulver ins Spiel? Lesen Sie zu Ende! 01

Imbach Reisen AG, Wanderreisen, Luzern

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Institut und Praxis Colibri, Murten

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Petra Wälti Coaching, Zürich

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Bachema AG, Schlieren

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Pro Lucce, Eschenbach SG

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Mcschindler.com GmbH, Zürich

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Burckhardt & Partner AG, Basel

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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

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AnyWeb AG, Zürich

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TYDAC AG, Bern

Zubereitungsarten gibt es in der Küche viele. In den meisten Fällen geht es darum, durch die Zufuhr von Wärme ein Lebensmittel geniessbar zu machen. Wärme verwandelt Kaltes in Heisses, Zähes in Geschmeidiges, Hartes in Weiches. Aber nur beim ganz langsamen Schmoren verbinden sich die Aromen auf einzigartige Weise. Und verwandeln ein bestimmtes Stück Fleisch, das oft als minderwertig bezeichnet wird, in eine Delikatesse, die jedes Filet blass aussehen lässt. Um diese wundersame Metamorphose nachzuvollziehen, kümmern wir uns in diesem Piatto forte um einen Ochsenschwanz. Wir tun es mit Hingabe und grosser Vorfreude, trotz oder gerade weil es sich nicht um einen Sonntagsbraten oder ein Ragout handelt. Das Stück Fleisch, dem wir uns widmen, ist das, wonach es benannt ist: die Schwanzwirbel des Rindes. Lassen Sie den Metzger den Ochsenschwanz zwischen den Wirbeln zerschneiden, und wenn Sie ein guter Kunde sind, wird er für Sie auch die Sehnen und etwas vom Fett entfernen. Das Gemüse müssen Sie allerdings selbst rüsten: Eine bewährte Zusammensetzung sind ein halber Lauch, ein Rüebli, eine kleine Petersilienwurzel und ein Stück Sellerie. Das Fleisch in einer ofenfesten Emaille- oder Gusseisenpfanne in etwas Öl oder Bratbutter anbraten. Sobald es Farbe angenommen hat, mit 1 dl Portwein ablöschen. Sobald der Port eingekocht ist, 4 dl Rotwein und 5 dl Rindsfonds und das Saucengemüse hinzufügen. Durch den Fonds sollte bereits genug Salz in der Sauce sein, aber ein paar Pfefferkörner machen sich jederzeit gut. Wer es noch ein bisschen spezieller mag, fügt zwei ganze Sternanis hinzu. Jetzt kommt der Topf abgedeckt für mindestens 4 Stunden in den Ofen, wo der Ochsenschwanz bei 140 °C schmort, die Aromen sich verbinden und das Bindegewebe sich in Gelatine verwandelt. Letzteres führt zu dieser unbeschreiblichen Konsistenz, die nur geschmortes Fleisch hat. Zu einem richtigen Piatto forte wird dieses Gericht, wenn Sie die Sauce – sobald das Fleisch zart ist – durch ein Sieb streichen, separat noch etwas einkochen lassen und einen kleinen Löffel ungesüsstes Kakaopulver darunter rühren. Das Herbe des Kakaos passt wunderbar zu den süssen Aromen dieses Gerichts.

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InhouseControl AG, Ettingen

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Hauswirth Privat-Pflege, Oetwil am See

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Supercomputing Systems AG, Zürich

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Frank Blaser Fotograf, Zürich

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Balcart AG, Therwil

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Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Doppelrahm GmbH, Zürich

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Hofstetter Holding AG, Bern

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CMF Zentrum für Achtsamkeit, Zürich

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Schweizerisches Tropen- und Public Health-

Bezugsquellen und Rezepte: www.piattoforte.ch/surprise

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Piatto forte Geschmort, nicht gekocht Da sind wir mit 007 völlig einig: Nicht nur bei einem Drink kommt es auf die richtige Zubereitung an. Die ideale Temperatur macht aus den Schwanzwirbeln eine Delikatesse. VON TOM WIEDERKEHR

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Institut, Basel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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Ein Tapetenwechsel wäre schön für diese zwei.

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© RENE CASTILLO HASTALOSHUESOS 2001

Ausgehtipps

Mexikanische Tradition neu geformt.

Winterthur Knetwelten Wir kennen zum Beispiel Wallace & Gromit und Pingu und wissen, dass sich aus Knete ganz wundervolle Geschichten formen lassen. Es gibt aber natürlich jenseits des Regensonntagsvergnügens (dies aber natürlich, wenn schon, mit Crackers und Käse) noch ganz andere filmische Anwendungsgebiete des Plastilins. Es gibt modellierte Experimental-, Kurz- und Werbefilme, es gibt Musik- oder Kunstvideos. In der zeitgenössischen Kunst findet sich das wandelbare Material in Installationen, Fotografien, in animierten Videoarbeiten und im Produktedesign, aber Plastilin wird aufgrund seiner technischen Vorteile auch als Vorlage für grafische Gestaltungen verwendet. Knete ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Die Ausstellung «Plot in Plastilin» widmet sich seinem Variantenreichtum in Animation, zeitgenössischer Kunst und Design. Dazu gehören Animationsfilm-Klassiker von Jan Švankmajer oder Bruce Bickford, aber auch die Aardman-Klassiker kommen nicht zu kurz. Und das Rahmenprogramm zeigt uns, wie ein Stop-Motion-Film entsteht, mitsamt der nötigen Handarbeit. (dif) «Plot in Plastilin», 6. März bis 18. Sept, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Do 10 bis 20 Uhr, Gewerbemuseum Winterthur, Kirchplatz 14, Winterthur www.gewerbemuseum.ch

Auf Tour Ganz realer Stoff «Das sind ein paar beschissene Voraussetzungen für eine grosse Liebe. Sie, er und die Umwelt», wusste Rainer Werner Fassbinder und meinte damit die Protagonisten seines Melodrams «Angst essen Seele auf». Die alte Witwe Emmi Kurowski lernt in einer Ausländerkneipe, in die sie vor dem Regen geflohen ist, den 20 Jahre jüngeren Marokkaner Ali kennen. Emmi arbeitet als Putzfrau, Ali ist Gastarbeiter. Ali tanzt mit Emmi. Sie reden miteinander, dann begleitet er sie nach Hause. Später zieht er zu Emmi, und schliesslich heiraten sie. Ali und Emmi werden ein ungleiches Paar. Ungleich alt, ungleich fremd. Für die anderen ist diese Eheschliessung ein Skandal: Emmis erwachsene Kinder schämen sich ihrer Mutter, die Nachbarn tuscheln, der Kolonialwarenhändler weist Emmi aus dem Laden, Emmis Arbeitskollegen verachten sie. Solange sie der Welt suspekt sind, halten sie sich aneinander. Doch schliesslich lässt der äussere Druck auf Emmi und Ali nach, und nun treten ihre inneren Probleme hervor. Fassbinders Film analysiert ohne viel Pathos die Missachtung von Minderheiten und die Mechanismen sozialer Unterdrückung. Regisseur Pakkiyanathan Vijayashanthan, der aus seiner Heimat Sri Lanka in die Schweiz geflohen ist, bringt den Klassiker einmal mehr auf die Bühne. Ein dramaturgischer Stoff, der für viele Menschen reale Alltagserfahrung ist. Und einer, der nie an Aktualität zu verlieren scheint. Oder in Alis Worten: «Angst nix gut. Angst essen Seele auf.» (ami)

Kein Chorknabe: Reverend Beat-Man.

Bern RaBe hat Geburtstag Das alternative Lokalradio Berns gibt es seit 20 Jahren, und das will gefeiert sein: mit einer Fotoausstellung, mit Hörstationen und Musiksessions. Die Fotografin Karin Scheidegger, die auch für Surprise arbeitet, hat die Sendungsmacher in eigenwilligen Schwarz-Weiss-Aufnahmen porträtiert, 20 Künstler haben – für jedes Jahr eins – 20 verschiedene RaBe-Plakate gestaltet, die in der Alten Feuerwehr zu sehen sein werden, in Audioporträts stellt RaBe seine Sendungen vor und kramt Highlights der letzten 20 Jahre hervor. Gäste wie Reverend BeatMan, Greis und Knackeboul werden aufgefahren, und jeden Tag wird live gesendet. Gefiedertes Radiofieber. (dif) «20 Jahre RaBe», Jubiläumsausstellung, bis zum 19. März, Mo bis Sa, 8 bis 19 Uhr, So 13 bis 17 Uhr, Alte Feuerwehr Victoria Bern, www.wahnsinnsradio.ch

Anzeige:

«Angst essen Seele auf» von Rainer Werner Fassbinder: Experi Theater Zürich; Premiere Di, 15. März, 20 Uhr, Kanzlei Club, Kanzleistrasse 56, Zürich. Weitere Spieldaten Mi, 16., Di, 22. und Mi, 23. März, Di, 12. und Mi, 13. April, Zürich. Fr, 25. und Sa, 26. März, Restaurant Zollstübli, Elsässerstrasse 260, Basel. Di, 29. und Mi, 30. März, Werkstatt Chur, Untere Gasse 9, Chur. Fr, 1. April, Kaffeehaus, Linsebühlstrasse 7, St. Gallen. Mo, 4. und Mo, 11. April, Neubad, Bireggstrasse 36, Luzern.

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© HISTORISCHES MUSEUM LUZERN

© TABEA HÜBERLI

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Die Regengötter des Thom Luz.

Den einen helfen Voodoo-Puppen, den anderen Plüschteddys.

Zürich Bühnenstürme

Luzern Gute Besserung!

Im Wetter liegt viel Poesie, besonders wenn es verrutscht. Natürlich meinen wir jetzt nicht Erderwärmung und Tsunamis in Südostasien. Sondern den rückwärts fallenden Regen. Den vierfachen Sonnenuntergang. Und Jahreszeiten in umgekehrter Reihenfolge. Der amerikanische Physiker William R. Corliss katalogisierte in seinem «Handbook of Unusual Natural Phenomena» 1977 solche wissenschaftlich verbürgten, aber selten beobachteten Wetterwunder. Im Vorwort notierte er: «Man versteht die Welt besser anhand ihrer Seltsamkeiten. Erstaunlich, dass vor mir noch niemand auf die Idee gekommen ist, eine vollständige Bibliothek der Ungewöhnlichkeiten aus allen Wissenschaftsgebieten zu erstellen.» Die vollständige Bibliothek gibt es auch heute noch nicht, sonst hätten wir unsere Leser längst mit einem Tipp dorthin geschickt. Dafür lässt es nun der Theaterkünstler Thom Luz auf der Bühne stürmen, und wie es scheint, uns sehr schräg einfallend ins Hirn hageln. Und die Sinne vernebeln. Kein Wunder, schliesslich heisst Luz Licht, und so macht der Regisseur schon allein mit seinem Namen der Sonne Konkurrenz. (Ausserdem ist er Sänger und Gitarrist der Band My Heart belongs to Cecilia Winter, und wir denken: Winter! Herr Luz hat wirklich ein Gespür für Wind und Wetter.) Jedenfalls hat er Corliss’ Beschreibungen musikalisch rekonstruiert: Die vier Musiker Mathias Weibel, Michael Flury, Evelinn Trouble und Mara Miribung verwandeln sich in Wettermacher und installieren auf der Bühne eine sich verselbständigende Wettersymphonie für Posaune, Trompetengeige, Tonband und Lichtmaschine. Eine Verneigung vor allem, was wir nicht verstehen. (dif)

Im katholischen Alpenraum hat sich die Vorstellung gehalten, dass Heiligenbilder, Kreuze und Medaillen magische Kräfte haben. Man hängt sie dem Kranken um oder legt sie auf die leidende Stelle. Man verspricht sich Heilung durch die übernatürlichen Kräfte, die den Symbolen innewohnen. Das Paradoxe daran: Im christlichen Glaubensverständnis kann nur Gott allein den Menschen von einer Krankheit heilen. Trotzdem werden vorab in ländlichen Gegenden Krankheitsheilige angerufen und ihre Verehrungsorte aufgesucht. Bei allen diesen Heiligen handelt es sich im Grunde genommen um Spirits, die nichts anderes sind als vergöttlichte Ahnen. Das hat einiges mit Voodoo zu tun, wie die Ausstellung im Historischen Museum Luzern noch bis Ende März zeigt: Magische Kräfte haben sich in Afrika als Heilmethode fast unverändert erhalten. Mit der Verschleppung und Versklavung von Afrikanern kam das ursprüngliche Wissen spätestens ab 1700 in die neue Welt, wo es durch die Vermischung mit dem Christentum der weissen Kolonialherren neue Formen angenommen hat. In Luzern erfährt man, wie afrikanische, europäische und indianische Elemente miteinander verschmolzen, wie sich die Rolle der Heiligen im Voodoo Louisianas gewandelt hat und wie originale Voodoo-Altäre aus New Orleans aussehen. (dif) «Mysterien des Heilens. Von Voodoo bis Weihwasser», bis zum 28. März, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Historisches Museum Luzern, Pfistergasse 24, Luzern. historischesmuseum.lu.ch

Thom Luz: «Unusual Weather Phenomena Project», mit Michael Flury, Mara Miribung, Evelinn Trouble, Mathias Weibel, Martin Hofstetter u. a., Do, 10., Fr, 11., Sa, 12. März jeweils 20 Uhr, So, 13. März 18 Uhr, Mi, 11., Do, 12., Fr, 13., Sa, 14. Mai, je 20 Uhr, Gessnerallee Zürich, www.gessnerallee.ch

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Strassenfussballer-Porträt «Entscheidend ist nicht zuletzt die Kondition» BILD: MIG

Christian Schweizer (52) ist Anhänger des Grasshoppers Club Zürich, Benni Schweizer (18) ist Fan des FC Basel. Sowohl Vater als auch Sohn lieben den Fussball über alles – und beide spielten mit der Surprise Nationalmannschaft an einem Homeless World Cup. AUFGEZEICHNET VON MICHAEL GASSER

Christian Schweizer: «Die Zeit zwischen meinem 12. und 18. Lebensjahr habe ich in Lausanne verbracht, danach kam ich nach Sissach im Kanton Baselland. Dank den Jahren in der Westschweiz spreche bis heute sehr gut französisch. Da bin stolz darauf. Mit meinem Sohn Benni verstehe ich mich sehr gut, obschon wir natürlich auch schon unsere Differenzen hatten. Was uns sehr verbindet, ist die Liebe zum Fussball und unsere Begeisterung für Surprise Strassensport.» Benni Schweizer: «Ich bin in Basel aufgewachsen. Mein Motto ist einmal Basel, immer Basel. Dazu gehört auch, dass ich an den Spielen des FC Basel in der Muttenzerkurve stehe. Nicht mit meinem Vater, denn der ist unverständlicherweise Anhänger von Grasshoppers Zürich. Eigentlich hätte ich vorgestern mit meinem neuen Job anfangen sollen, aber ausgerechnet jetzt bin ich krank geworden. Ich bin gespannt, was die Stelle so alles mit sich bringen wird. Ich arbeite dann nämlich mit Kleinkindern. Was nicht zuletzt meinen Vater freut. Er war nämlich alles andere als begeistert, als ich meine Lehre zum Haustechniker abgebrochen habe.» Christian Schweizer: «Das stimmt. Ich selbst darf ja nicht mehr arbeiten. Meine Knie sind zu kaputt. Bei einem Fussballspiel hat es mir einen Knochen gespalten, seither kann ich nicht mehr spielen. Deshalb habe ich mich inzwischen auf das Schiedsrichteramt verlegt. Vorher kannte man mich als knallharten Verteidiger. Gearbeitet habe ich unter anderem als Maurer und im Gleisbau. Aktuell lebe ich vom Sozialamt und befinde mich in der Abklärungsphase. Keine ganz einfache Zeit. Da hilft es, gute Freunde zu haben. Und einige von diesen habe ich ja über Surprise Strassensport kennengelernt. Fast täglich tausche ich mich mit einem von ihnen aus.» Benni Schweizer: «Bald geht es ja wieder los mit dem Training bei Surprise Strassensport, und das ist gut so. Allerdings müssen wir noch einen Goalie finden. In erster Linie spiele ich allerdings als Stürmer beim FC Con-

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cordia Basel. Und dort trainiere ich dreimal die Woche. Deshalb kommt es hin und wieder zu einer Terminkollision, sodass ich bei Surprise Strassensport passen muss. Glücklicherweise passiert das nur äusserst selten. Für sonstige Hobbys bleibt mir da kaum Zeit. Sieht man mal davon ab, dass ich gerne mit Freunden am Rheinufer abhänge. Früher habe ich auch Thai- und Kickboxen betrieben. Fasziniert hat mich, dass es dabei auch ein bisschen rauer zugehen durfte. Mein grosses Ziel ist jedoch etwas anderes. Ich will baldmöglichst in der 1. Liga Fussball spielen.» Christian Schweizer: «Obschon mich Benni immer wieder mal fragt, besuche ich keine Trainings mehr, seit ich selbst nicht mehr auf dem Feld stehe. Und das, obschon Surprise Strassensport so etwas wie eine Familie für mich ist. Aber jetzt geht erst mal meine Gesundheit vor, und ich habe ja viele tolle Erinnerungen. Das Projekt ist etwas Intelligentes für Menschen, die im Leben nicht weitergekommen sind. Dass ich 2010 am Homeless World Cup in Rio teilnehmen konnte, war eine

super Erfahrung. Auch, weil sich das Stadion direkt am Meer befand und wir uns nach den Spielen im Wasser erfrischen konnten. Gestört hat mich eigentlich nur, dass es immer Reis gab. Und was kochte meine Freundin, als ich zurückkam? Reis!» Benni Schweizer: «Zu Surprise Strassensport bin über meinen Vater gekommen. Und ich bin froh, dass er mir vom Projekt erzählt hat. Und das nicht nur, weil auch ich an einem Homeless World Cup teilnehmen durfte. Das war 2014 in Amsterdam. Wir haben unglaubliche 126 Tore kassiert, deshalb war ich nicht ganz zufrieden mit dem Turnierverlauf. Wie mein Vater, der unterdessen eine Ausbildung zum Coach absolviert hat, immer betont: Entscheidend ist die Kondition. Und die war wohl nicht ganz bei allen von uns top. Aber am Event teilnehmen zu können, das war genial. Viel von Amsterdam habe ich leider nicht gesehen, doch das wird bald nachgeholt. Denn für meinen nächsten Geburtstag plane ich, wieder in die holländische Hauptstadt zu reisen!» ■ SURPRISE 370/16


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Fatma Meier Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Oliver Guntli Bern

Roland Weidl Basel

Daniel Stutz Zürich

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

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Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

370/16 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 370/16

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Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit einem Netzwerk aus freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der ganzen Deutschschweiz. Sie kämpfen um den Titel des Schweizermeisters und des Weltmeisters beim Homeless World Cup. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen kostenlosen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine einfache und charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren. Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Gönner-Abo für CHF 260.–

Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali und Diana Frei (ami, dif, Co-Heftverantwortliche), Sara Winter Sayilir (win), Simon Jäggi (sim), Thomas Oehler (tom) redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Olivier Joliat, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Robert Beyer, Joel Bisang, Andreas Eggenberger, Michael Gasser, Piet Hermans, Brechtje Keulen, Claudia Langenegger, Benedikt Sartorius Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 21 550, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Fabian Steinbrink Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T +41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 370/16


Eine Tasse Solidarität! Machen Sie mit: Zwei bezahlen, eine spendieren. Café Surprise gibt es hier: In Basel Café-Bar Aktienmühle, Gärtnerstrasse 46 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstrasse 10 Café Restaurant Haltestelle, Gempenstrasse 5 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstrasse 63 Rest. Les Garçons, Schwarzwaldallee 200 Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstrasse 96 In Bern Café Kairo, Dammweg 43 Café Tscharni, Waldmannstrasse 17a Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstrasse 39 Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 Rest. Löscher, Gotthelfstrasse 29 Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstrasse 8 Rösterei Kaffee und Bar, Güterstrasse 4 Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 SURPRISE 370/16

In Biel Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d In Thun Joli Mont, Bälliz 60 In Schaffhausen Kammgarn Beiz, Baumgartenstrasse 19 In Zürich Café Zähringer, Zähringerplatz 11

www.vereinsurprise.ch/cafesurprise Ein Projekt des Vereins Surprise. 31


Gesucht: Der Fan-Schal für die Nati 2016! Die Strassenfussball Nati fährt im Juli an den Homeless World Cup in Glasgow – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler auch in diesem Jahr ihren Gegnern zum Handshake original handgemachte Fanschals. Machen Sie mit! Der Schal sollte ca. 16 cm breit und 140 cm lang sein und – Sie hätten es erraten – in Rot und Weiss gehalten. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht! Die Spieler unserer Nati werden den schönsten Schal küren – der Gewinnerin oder dem Gewinner winkt ein attraktiver Surprise-Überraschungspreis!

Schicken Sie den Schal bis spätestens Donnerstag, 30. Juni 2016 an: Surprise Strassenfussbal, Spalentorweg 20, 4051 Basel.


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