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Sagt Dada! Und werdet selig – eine künstlerische Eiersuche Zum Beispiel Biel: Wie die Zäune aus den Köpfen in die Parks kommen

«Da kommt automatisch Terrorismus dabei raus»: TV-Mann Ulrich Tilgner über unsere verfehlte Nahostpolitik

Nr. 371 | 18. März bis 7. April 2016 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Titelbild: Andrea Ganz

Editorial Sprache verwüsten BILD: WOMM

Liebe Leserinnen, liebe Leser gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori gadjama gramma berida bimbala glandri galassassa laulitalomini gadji beri bin blassa glassala laula lonni cadorsu sassala bim gadjama tuffm i zimzalla binban gligla wowolimai bin beri ban o katalominai rhinozerossola hopsamen laulitalomini hoooo gadjama rhinozerossola hopsamen bluku terullala blaulala loooo Diese Buchstaben, aneinandergereiht zu Silben, scheinbar ohne Inhalt und Zu- AMIR ALI sammenhang, feiern wir gerade ziemlich pompös. 100 Jahre Dada, Zürich ist voll da- REDAKTOR von, das Establishment stolz auf die Irren von einst, die in der Zürcher Altstadt die Sinnentleerung zelebrierten, während rundherum der Erste Weltkrieg tobte. Das Lautgedicht «gadji beri bimba» stammt von Hugo Ball, der es im Juni 1916 erstmals im Cabaret Voltaire rezitierte. Er erklärte zu dieser Art Poesie: «Mit diesem Tongedicht wollen wir verzichten auf eine Sprache, die verwüstet und unmöglich geworden ist durch Journalismus.» Das ist es, was Dada aktuell macht im 100. Jubiläumsjahr. Was die Euphorie im Ersten Weltkrieg mit der Flüchtlingsdebatte, der Eurokrise, den Übergriffen von Köln verbindet: «Es ist die Sprache, die uns letzten Endes zur Mobilmachung bringt. Die uns dazu bringt, zu glauben, dass alle Nordafrikaner Vergewaltiger seien. Und alle Griechen faule Säcke», sagt Adrian Notz, Direktor des Cabaret Voltaire in Zürich, im Gespräch mit meiner Kollegin Diana Frei (Seite 10). Man kann die einfache Formel ableiten: Sprache ist Wissen, und Wissen ist Macht. Unwissen ist Ohnmacht, und Ohnmacht macht Angst. Europas Furcht vor den Einwanderern aus dem Nahen Osten – seien sie Kriegsflüchtlinge oder Armutsmigranten – habe auch damit zu tun, dass wir zu wenig über die Menschen und ihre Kultur wissen. Das sagt Ulrich Tilgner, der uns Schweizern jahrzehntelang als Fernsehkorrespondent den Orient erklärt hat. «Wenn ich irgendwas sagte, was nicht den gängigen Vorurteilen entspricht, dann galt ich sofort als Sprachrohr der Mullahs. Wer etwas anderes sagte, kam nicht durch», erinnert er sich im Gespräch (Seite 18). Ich hoffe, wir verwüsten die Sprache nicht zu sehr, und wünsche Ihnen eine anregende Lektüre Amir Ali

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 371/16

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10 Dada «Alles leere Floskeln und Masken» Dada ist 100 Jahre alt, und man ist sich einig: Einst Ausdruck radikaler Künstler gegen den Krieg und das Establishment, ist Dada auch heute noch aktuell. Aber wieso genau? Was hat Dada für die Kunst geleistet? Und was leistet es für uns Menschen des 21. Jahrhunderts? Ist die grösste Leistung von Dada, dass es gerade nichts leistet? Ein Gespräch mit Adrian Notz, Direktor des Cabaret Voltaire, wo die Bewegung ihren Anfang nahm.

BILD: ANDREA GANZ

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Inhalt Editorial Sprachrohr der Mullahs Basteln für eine bessere Welt Verleihen Sie Ihrem Geld Flügel! Aufgelesen Die Strasse in die Zukunft Vor Gericht Krummer Tourist Nachruf Marika Jonuzi Porträt Herrin der fliessenden Stoffe Wörter von Pörtner Idioten wie ich Film Hoffnung im Trümmerhaufen Kultur Mantikor und der Glaube ans Wissen Ausgehtipps Gemüse unter Strom Verkäuferporträt Anruf für Negussie Weldai Projekt SurPlus Eine Chance für alle In eigener Sache Impressum INSP

14 Aufwertung Geschichte eines Parks ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

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Kameraattrappen, ein schickes Café und ein Zaun: Was im Bieler Heuerpark geschah, mag ein Extremfall sein – er zeigt aber, was in Schweizer Städten längst Alltag geworden ist. Drogenkonsumenten, Trinkerinnen und Obdachlose werden aus dem öffentlichen Raum verdrängt, nicht selten auch mit baulichen Massnahmen. Das Ziel – mehr Sauberkeit und Sicherheit – wird dabei oft verfehlt.

BILD: JOHNY NEMER

18 Islam Herr Tilgner, ist der Islam eine Bedrohung? Die Revolution im Iran, die Kriege in Irak und Afghanistan, der Arabische Frühling: TV-Journalist Ulrich Tilgner hat uns jahrzehntelang den Nahen Osten erklärt. Jetzt ist die Krise in Europa angekommen – und Tilgner immer noch mittendrin. In Talkshows kritisiert er die westliche Politik. Und in Vorträgen erklärt er Muslimen in Europa ihre Rolle bei der Integration.

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ILLUSTRATION: WOMM

Basteln für eine bessere Welt Beflügelt Nie haben wir genug davon, und nicht selten ist es Anlass für Streit: Geld ist doch irgendwie eine unschöne Angelegenheit. Und das, obwohl es so schön bunt ist. Wenn Ihnen also die paar Scheine im Portemonnaie wieder mal keine Flügel verleihen, dann drehen Sie den Spiess doch einfach um: Mit ein bisschen Origami und einem klassischen Pfeifenputzer wird aus zwei Scheinen schnell ein wunderschöner Schmetterling.

1. Sie brauchen einen biegsamen Plüsch-Pfeifen-

2. Legen Sie einen Geldschein quer vor sich, falten

putzer und zwei Geldscheine. Wer es bunt mag,

ihn in der Mitte und dann wieder auf. Knicken

nimmt zwei verschiedene.

Sie alle vier Ecken in die Mitte, sodass sie bündig mit der Mittelfalte sind und sich nicht überlappen.

3. Falten Sie dann den gesamten Schein zu einer klei-

4. Nehmen Sie den Pfeifenputzer doppelt und wickeln

nen Ziehharmonika und verfahren Sie entsprechend

Sie diesen einmal in der Mitte um die beiden zu-

mit dem zweiten Schein.

sammengenommenen Scheine. Formen Sie dann aus den offenen Enden des Pfeifenputzers die Fühler, indem Sie die Enden nach aussen einrollen.

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Aufgelesen News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Am Band Hamburg. Birgit Müller, Chefredaktorin der Hamburger Strassenzeitung Hinz&Kunzt, hat das deutsche Bundesverdienstkreuz am Band verliehen bekommen. Sie wollte die hohe Auszeichnung allerdings nicht alleine entgegennehmen: «Das ist ein Orden, den wir bekommen. Wir, das Team und die Hinz&Künztler», sagte sie in ihrer Dankesrede. Wir gratulieren der Kollegin im Norden und fühlen uns als Mitglied im internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP auch ein wenig mitgeehrt.

Mit Sonne London. 1000 Kilometer Strasse werden in Frankreich zum Stromlieferanten. Solarmodule im Strassenbelag sollen Elektrizität für rund fünf Millionen Menschen liefern. Entwickelt wurden die einen halben Zentimeter dicken Energieproduzenten zum Drüberfahren vom Nationalen Institut für Solarenergie und der Strassenbaufirma Colas. 20 Jahre sollen die sogenannten Wattways halten. In Holland sind bereits 370 Kilometer Fahrradwege mit Solarmodulen gepflastert.

Ohne Sanktionen Dortmund. Wer in Deutschland den Anweisungen der Jobcenter genannten Arbeitsämter nicht Folge leistet, riskiert eine Kürzung der Bezüge. Je nach «Vergehen» werden bis zu 60 Prozent gestrichen. Die Fehlerquote bei der Sanktionierung ist hoch: 43 Prozent aller Rekurse sind erfolgreich. Eine ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin hat nun per Crowdfunding den Solidaritätsfonds «Sanktionsfrei» ins Leben gerufen. Mittels eines Onlineportals sollen Betroffene begleitet und finanziell unterstützt werden.

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Vor Gericht Geschafft! Ausgeschafft! Keine Bange, es folgt an dieser Stelle keine Nachlese zur Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative. Weder das Beispiel eines Härtefalls noch das erste Strichli auf Toni Brunners Ausschaffungsliste. Und schon gar keine Exkurse über rechtsstaatliche Grundsätze. Hier geht’s nicht um Politik, sondern um die Sache: Um den unspektakulären Alltag der Justiz, die in aller Effizienz eines abgekürzten Verfahrens die 0815-Ausschaffung eines 38-jährigen Kosovaren erledigt. Allenfalls ist das leise Seufzen zu erwähnen, das der zuständigen Pflichtverteidigerin entfährt, als ihr einfällt, dass das Theater ja gleich weitergeht, «mit dem Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention». Als nichts anderes will sie nämlich die nächste SVP-Initiative «Schweizer Recht über Völkerrecht» verstanden haben. Das, sagt sie, müsse man den Leuten schon ganz klar sagen. Jetzt aber wirklich genug, zurück zu unserem Kosovaren. Back to business as usual, mit banden- und gewerbsmässigem Diebstahl. Man würde ja zu gerne wissen, wie diese Szene transeuropäischer Kriminalreisender funktioniert. Meist sind es eher ambitionierte Amateure als raffinierte Vollprofis. Und immer hört man ähnliche Geschichten, immer beginnen sie in irgendeinem Café. Dort scheinen sich beim Bier zufällige Männerbünde um den theoretischen Gedanken zu formieren, man könnte sich doch kriminell betätigen. Jemand kennt dann stets einen, der noch jemanden kennt, der mit so was schon praktische Erfahrung hat. Und so gerät man eben in so krumme Sachen hinein. Von selbst kommt da nie einer drauf. Etwa so ver-

hält es sich auch beim vollumfänglich geständigen Angeklagten, der sagt: «Ich bin schuldig, ich habe es verdient, eingesperrt zu werden.» In wechselnden Konstellationen beging er eine Reihe von Einbrüchen, etwa in ein Einfamilienhaus in der Zürcher Agglomeration, wo – bingo! – Schmuck gleich kiloweise in den Nachttischen lagerte. Danach lief es wohl nicht mehr so gut. Einmal stieg er in ein Schrebergartenhäuschen im Limmattal ein, um dort laut Anklageschrift «diverse Kleider im Wert von zirka 150 Franken» zu stehlen. Ein anderes Mal brach er einen Kiosk im Raum Basel auf, wo er mit einem Komplizen 40 Stangen MarlboroZigaretten erbeutete, plus sechs Fläschli Apfelsaft. Irgendjemand erdachte dann wohl einen famosen neuen Plan: Bankomaten! Versuche in Frauenfeld, Lenzburg und Küssnacht am Rigi scheiterten jedoch kläglich. In der Folge setzte sich der Angeklagte ins Ausland ab, seine Kollegen aber wurden geschnappt. Diese kooperierten vorbildlich mit den Behörden und gaben seinen Namen preis. Von da an war der Angeklagte per Interpol zur Verhaftung ausgeschrieben und wurde zwei Jahre nach den Taten in Deutschland gefasst und in die Schweiz überstellt. Jetzt geht er wieder auf Reisen. Der Richter verurteilt ihn zu 30 Monaten Haft, wovon sechs abzusitzen sind. Diese sechs Monate hat der Kosovare bereits verbüsst. «Das heisst», sagt der Richter, «Sie werden sofort aus der Haft entlassen und dem Migrationsamt zugeführt. Sie werden noch heute ausgeschafft.» Dem Angeklagten ist das noch so recht: «Ich will nur noch nach Hause und arbeiten, so wie ich es schon mein ganzes Leben lang getan habe.» YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ @ GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER @ GMX.CH) SURPRISE 371/16


Nachruf Marika Jonuzi (11.3.1962 bis 24.2.2016)

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BILD: ZVG

Marika Jonuzi gehörte zu den dienstältesten Verkäuferinnen von Surprise. Mit ihrem blumenbemalten Einkaufswagen stand sie Tag für Tag an ihren Verkaufsorten in Basel. Eine Frau von kräftiger Statur mit offenem Lachen und scheuem Blick, aus dem immer eine grosse Frage sprach: Kann ich dir trauen? Ihren Mitmenschen begegnete sie meistens mit Vorsicht. Sie fühlte sich von der Gesellschaft ausgeschlossen, oft ungeliebt und missverstanden. «Wie willst du es schaffen, wenn niemand an dich glaubt?», sagte sie einmal in einem Gespräch. Sie musste in ihrem Leben viel Demütigung ertragen, ihre Kindheit und Jugend waren geprägt von schwierigen Heimaufenthalten. Und dennoch hatte sich Marika neben ihrem Kummer eine unbeschwerte Seite bewahrt. Zuweilen konnte sie sich freuen wie ein kleines Kind, etwa über eine Kutschenfahrt, die sie zusammen mit weiteren Surprise-Verkäufern vor einigen Jahren unternahm. Der Welt begegnete sie mit grosser Neugier, stellte Fragen zu allem und jedem. Und hörte nie auf zu träumen, etwa davon, auf einem Bauernhof zu leben. Ein Traum wie andere auch, den sie sich mit grossem Willen und entgegen den Erwartungen ihrer Mitmenschen erfüllen konnte. Ein Leben in einem Heim kam für sie nicht infrage. Zu schlecht waren ihre Erinnerungen an die früheren Aufenthalte. Für Aufsehen sorgte sie auch, wenn sie sich trotz ihrem kleinen Einkommen mit dem Taxi von ihrem Wohnort auf dem Land in die Stadt zum Verkaufen fahren liess. Irgendwie fand sie immer einen Weg, ihr Leben trotz bescheidenen finanziellen Mitteln nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Zeit ihres Lebens war Marika auf der Suche nach Anschluss und Geborgenheit. Gefunden hat sie diese in den vergangenen Jahren unter anderem im Münsterhüsli, einer christlichen Wohngemeinschaft neben dem Basler Münster, wo zwei Nonnen mit weiteren Mitbewohnerinnen leben. Marika war ein regelmässiger Gast, betete und ass mit den Frauen. Und kam ihrem grössten Wunsch ein Stück näher: So akzeptiert zu werden, wie sie ist. Vor drei Wochen ist Marika Jonuzi im Zentrum Passwanghaus in Breitenbach nach langer Krankheit verstorben. (sim) ■

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Porträt Zwei Arten von Schönheit Die Bernerin Ilahije Asani führt seit einem Jahr ein Geschäft für muslimische Damenbekleidung. Seit sie das Kopftuch trägt, reagieren die Menschen anders auf sie. VON MONIKA BETTSCHEN (TEXT) UND ROBERT BEYER (BILD)

ditionen vor», sagte sie. Welchen Weg sie aber gehen wollten und ob die Mädchen Kopftuch tragen wollten, sei ihnen selbst überlassen. Ihre eigene Erfahrung hat Asani auch für andere Formen der Ausgrenzung sensibilisiert. «Eines Tages sah ich draussen eine Frau im Rollstuhl ins Schaufenster schauen», erzählt sie. Sie ging hinaus und fragte, ob sie ihr weiterhelfen könne. «Sie war frustriert, weil es mit ihrer Behinderung bisher sehr schwierig war, Hosen zu suchen, ohne sich blossgestellt zu fühlen.» In der Boutique dann konnte sie ihre Hemmungen ablegen und in Ruhe verschiedene Modelle anprobieren. «Erleichtert darüber, endlich etwas gefunden zu haben, kaufte sie sich auch noch einen Jupe. Am Ende dieser Begegnung hatten wir beide Tränen in den Augen.» Ein kräftiger Nordwind pfeift draussen um die Häuserecken. Drinnen kämpft ein kleiner Heizstrahler gegen die kalte Luft, die von draussen herein zieht. Sich gut kleiden zu wollen und Muslimin zu sein, sei kein Widerspruch, so Asani. Denn im Islam gebe es zwei Arten von Schönheit. «Die sinnliche mit offenem Haar wird mit dem Ehemann und im schützenden Kreis der Familie zelebriert.» Die zweite Form sei das religiöse Selbstbewusstsein der muslimischen Frau, die ihren Glauben durch ihre Verhüllung nach aussen trage. Dies dürfe durchaus mit schönen, fliessenden Stoffen geschehen.

Jenen Samstag im vergangenen November wird Ilahije Asani so schnell nicht vergessen. «Ich ging am Morgen einkaufen und wurde im Tram feindseliger als sonst gemustert. Ein Mann rief: ‹Scheissmuslime, die zerstören hier alles!› Im Laden ging der Spiessrutenlauf weiter. Eine Frau sagte: ‹Schon wieder eine mit Kopftuch.›» Asani wusste sofort, dass etwas passiert sein musste. In den Nachrichten dann erfuhr sie von den Attentaten von Paris am Abend zuvor. Vor sechs Jahren beschloss Asani, ihren Glauben nach aussen sichtbar auszudrücken. Und seit sie den Hijab trägt, wie das Kopftuch auf Arabisch heisst, ist sie für viele eine andere geworden. Eine, die nicht dazugehört, obwohl die gebürtige Albanerin seit ihrem ersten Lebensjahr in Bern lebt. Im Alltag erfährt sie Abneigung in Form von Blicken, Gesten und manchmal auch Worten. «Viele Leute setzen das Kopftuch mit Unterdrückung gleich. Es war aber mein Entscheid, niemand hat mich gedrängt», sagt die 36-Jährige. «Ich bin sunnitische Muslimin. Es fühlte sich nicht mehr richtig an, meine Religion ohne dieses Merkmal zu praktizieren.» Durch das Kopftuch exponiert sich Ilahije Asani, manchmal bis über die Schmerzgrenze hinaus. Aber es hat sie auf ihren eigenen Weg geführt. Mit der Boutique Hijab in Ausserholligen, der ersten für muslimische Damenbeklei«Männer sind im Geschäft auch willkommen, aber jene, die ihre Frauen dung im Kanton Bern, hat sie sich vor einem begleiten, warten meistens lieber draussen.» Jahr selbständig gemacht und eine Marktlücke geschlossen. «Für viele Musliminnen kommen die meisten Läden hier nicht infrage, weil die Schnitte zu körperbetont Sorgfältig streicht Ilahije Asani über eines der langen Gewänder, die sind oder kaum Bewegungsfreiheit lassen», erklärt Asani. «Passende Abdicht an dicht an einer Metallstange hängen. Das weite dunkelblaue ajas oder Hijabs konnte man nur über das Internet bestellen. Ich biete Kleidungsstück ist am Kragen mit einer Reihe Pailletten verziert. «Solden Frauen die Möglichkeit, die Gewänder erst anzuprobieren und bei che Kleider sind bei Frauen aus dem arabischen Raum sehr gefragt. Der Bedarf von mir ändern zu lassen.» Grossteil meiner Kundinnen sind jedoch Frauen aus der Balkanregion Bevor sie ihre Boutique eröffnete, arbeitete Asani zehn Jahre in der oder auch Schweizerinnen, die zum Islam konvertiert sind oder in ein Wäscherei eines Altersheims. Als sie das Kopftuch zu tragen begann, muslimisches Land reisen wollen. Sie bevorzugen schlichte, praktische wurde ihr gekündigt. «Als offiziellen Grund nannten sie ReorganisaModelle», sagt die Geschäftsfrau. Und ergänzt: «Männer sind im Getion.» Asani verzichtete auf juristische Schritte, da sie sich gegen ein schäft übrigens auch willkommen, aber jene, die ihre Frauen begleiten, staatliches Altersheim kaum Chancen ausrechnete. Nach der Kündigung warten meistens lieber draussen.» Ihr eigener Mann unterstütze Asani, wurde tatsächlich das Arbeitsreglement angepasst, sodass dort Angewo er könne, wie sie sagt. «So hat er zum Beispiel das Geschäft renostellte nun offiziell kein Kopftuch tragen dürfen. «Danach war ich deviert und hilft mir bei der Buchhaltung.» primiert, ich wollte diese Geschichte einfach nur hinter mir lassen.» Sie Zusammen mit ihrem Mann, der als Flachdach-Isolateur auf dem Bau bewarb sich auf viele Stellen, wurde aber überall abgelehnt. Und so reifarbeitet, fährt Asani zweimal pro Jahr nach Istanbul in den Textilbezirk te die Entscheidung, sich selbständig zu machen. Bayrampas¸a, um neue Modelle und Stoffe zu kaufen. «Das ist jedes Mal Asani ärgert sich: Immer werde hierzulande die Rolle der Frau im Isein Erlebnis. In diesem Quartier, so gross wie eine Stadt, reiht sich ein lam diskutiert. Dabei gehe vergessen, dass es auch in der Schweiz Geschäft an das andere. Im ersten Stock werden die Kleider genäht und Unterschiede gebe: «Man denke nur an die Lohnungleichheit zwischen im Erdgeschoss verkauft. Man kann die Sachen direkt mitnehmen und Mann und Frau.» Auch sei sie es leid, sich ständig für Gräueltaten rechtdanach zum Schweizer Zoll schicken», erzählt sie, und ihre braunen Aufertigen zu müssen, die im Namen des Islam verübt werden. «Wir ungen leuchten. Es entsteht der Eindruck, als kenne Asani die Bedürfnisse schuldigen Muslime leiden doch am stärksten darunter, wenn so etwas ihrer Kundinnen mittlerweile gut. Manchmal nimmt sie nur ein EinzelSchreckliches passiert, weil wir dann mit den Tätern in einen Topf gestück, bei Kleidern, von denen sie weiss, dass die Nachfrage gross ist, worfen werden und uns ständig wehren müssen», sagt sie. gleich die ganze Serie. Bei der Auswahl achtet sie neben Stoffqualität Für ihre drei Kinder, zwei davon im Teenageralter und kurz vor der und sauberer Verarbeitung auch auf bezahlbare Preise, damit auch FrauBerufswahl, wünsche sie sich, dass sich das Klima gegenüber Muslimen en mit kleinem Budget bei ihr fündig werden. «Wer weiss, wenn das Gehierzulande verbessere und man ihnen mit mehr Akzeptanz begegne. schäft gut läuft, kann ich vielleicht irgendwann eine eigene Ladenkette «Wir leben unseren Kindern zuhause die muslimischen Werte und Traeröffnen», sagt Ilahije Asani und lächelt. ■

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Dada «Was machen wir jetzt?» «Gadji beri bimba» hat Geburtstag: Im 100-Jahr-Jubiläumsjahr des Dadaismus ist die Auseinandersetzung mit der Sprache nötiger denn je, sagt Adrian Notz, der Direktor des Cabaret Voltaire. Und stopft sich dann den Mund mit einem Ei.

VON DIANA FREI (INTERVIEW) UND ANDREA GANZ (BILDER)

Herr Notz, der 5. Februar ist vorbei, über Dada ist in den anderen Medien alles schon geschrieben worden, und nun kommen auf Ostern hin auch noch wir. Haben wir Dada verpasst? Nein, Dada ist zeitlos. Die Bewegung bestand ja nicht nur in der Gründung des Cabaret Voltaire am 5. Februar 1916. Wenn wir jetzt an Ostern vor 100 Jahren wären, stünden wir kurz vor der «unbefleckten Empfängnis» von Dada. Hugo Ball notiert am 18. April, dass man Dada gefunden habe, und auch Richard Huelsenbeck erklärte erst im Frühjahr, dass sie Dada sind und haben. Das Osterei Dada wurde also ziemlich genau jetzt vor 100 Jahren entdeckt. Was wurde bisher zu wenig thematisiert? Jetzt, wo die Oberflächlichkeiten abgeschöpft sind, kann man mehr ins Detail gehen und sich der Frage widmen: Warum ist Dada heute noch aktuell? Ich selbst fand tatsächlich auch erst heute Morgen heraus, weshalb es noch aktuell sein könnte.

Kunst glaubte, denn im Moment wird unsere Welt vor allem von Wirtschaft, Politik, Nationalismus, Wissenschaft und Religion gestaltet. Kunst ist nur noch ein Teil des ökonomischen Systems geworden, es ist eine Handelsware oder eine nette Unterhaltung. Aber nicht mehr Kunst im eigentlichen Sinn? Nicht mehr Kunst als wider- und selbständige, ja schöpferische, obsessive Kraft. Oder, wie Schwitters sagt: «Kunst ist die geistige Funktion des Menschen, mit dem Zwecke, ihn aus dem Chaos (Tragik) zu befreien.» Etwas vom Ersten, wovon man im Zusammenhang mit Dada auch spricht, sind die Lautgedichte. Hugo Ball schrieb dazu: «Mit diesem Tongedicht wollen wir verzichten auf eine Sprache, die verwüstet und unmöglich geworden ist durch Journalismus.» Da habe ich mich als Journalistin gefragt: Wie muss man denn das verstehen? In der Art und Weise, wie wir von bestimmten Ereignissen erfahren, spielt der Journalismus eine starke Rolle. In der Flüchtlingsdebatte, der Griechenland-Debatte, der Köln-Geschichte sind der Journalismus und die Medien eine treibende Kraft, die unser Weltbild prägen. In Hugo Balls Zeit funktionierte das ähnlich in Bezug auf den Ersten Weltkrieg. Es ist die Sprache, die uns letzten Endes zur Mobilmachung bringt. Die uns dazu bringt, zu glauben, dass alle Nordafrikaner Vergewaltiger seien. Und alle Griechen faule Säcke. Ball sagt im Eröffnungsmanifest des ersten Dada-Abends: «Wie kann man alles Aalige und Journalige, al-

Weshalb denn? Ich war im Kunsthaus und habe dort in der Bibliothek Kurt Schwitters «Merzhefte» studiert. Merz ist eine Bewegung, die nach Dada kam, ab 1923. Schwitters redet in seinen «Merzheften» sehr viel über Dada – was es bedeutet, was es ist. Und das Spannende ist: Er sieht Dada als etwas, das sehr viel auflöst und freimacht, vor allem aber auch als ein Spiegelbild, das die Dadais«Es ist die Sprache, die uns letzten Endes zur Mobilmachung bringt. Die ten der Gesellschaft vor Augen hielten. Es geht uns dazu bringt, zu glauben, dass alle Nordafrikaner Vergewaltiger seien.» um eine Selbsterkenntnis der Menschen. Es geht nicht darum, dass die Dadaisten wahnles Nette und Adrette, alles Vermoralisierte, Vertierte, Gezierte abtun? Insinnig sind, sondern dass unsere Gesellschaft wahnsinnig ist. Das Wirtdem man Dada sagt.» Ich glaube, er meint da nicht Journalisten, die unschaftssystem, die Politik, die Medien, die Bildung, in allen gesellabhängig und frei berichten, sondern diejenigen, die eine Ideologie verschaftlichen Systemen herrscht auch heute allgemein eine grosse Vertreten, Partei ergreifen und jemandem zudienen. wirrung und Angst. Als Gesellschaftsanalyse wird aber Dada nicht oft verstanden. Der Teil von Dada, den man sofort annimmt, ist das Absurde, Groteske, Zerstörerische. Die Auflösung aller Werte. Aber es ging eigentlich um Dada als Elan und Obsession, die der Frage nachgehen: Was machen wir jetzt? Ich finde es sehr schön, dass Schwitters stark an die Kraft der

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Sprache ist etwas Abstraktes, das aber letzten Endes bestimmt, was man ist und tut. Es sind ja eigentlich alles leere Floskeln und Masken, die man sich heute aufsetzt. Rollen, die einem gegeben werden. Heute ist alles Verkaufsgespräch, ständig muss man sich selber präsentieren. Das ist schon sehr SURPRISE 371/16


«Velo da bang affalo purzamai lengado tor», hätte Adrian Notz vor 100 Jahren vielleicht gesagt. SURPRISE 371/16

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auffällig, insbesondere in Betriebsorganisationen und im Management, wo man nur mit Coachings, Brainstorming und Workshops zu Resultaten kommen kann. Als die Dadaisten zum Lautgedicht und zum eigenen körperlichen Klang zurückgingen, war eine Grundidee: eine Maske und in dem Sinn eine Rolle zu finden, die aus einem selbst herauskommt. Eine Rolle für sich selbst zu finden, die von unseren Obsessionen angetrieben wird, wie wir es auch mit der Ausstellung «Obsession Dada» versuchen. Wir wollen uns keine Rolle aufsetzen, die wir uns anziehen wie einen schlechtsitzenden Anzug von der Stange. Stellten die Dadaisten in der Zeit des Ersten Weltkriegs einfach fest: So funktioniert die Welt nicht, deshalb stottern wir nun vor uns her, oder boten sie auch konkrete Lösungen an? Lösungen anbieten können. Lösungsorientierendes Denken. Das ist nun diese typische Managerhaltung.

Genau. Eine konkrete Lösung hatten sie natürlich nicht. Dada war ja auch nicht nur eine Sprachzertrümmerung, sondern ein Hinterfragen der Sprache. Das Lautgedicht war auch nicht das Einzige, was sie machten. Sie schrieben viele Manifeste, Texte und Gedichte. Sie zeigten Kunst und Tanz. In dem Sinn sind die Lösungen das, was auch in Schwitters’ Merz steckte. Die Lösung, die Dada anbietet, ist das, was auch Walter Serner in seinem Manifest «Die letzte Lockerung» beschrieb: Dass man gegenüber all den Dingen, die gesagt werden, ein bisschen entspannter ist. Kunst ist ein ernstes Spiel mit Dingen. Denn letzten Endes wollten die Dadaisten nicht viel mehr, als dass die Menschen wieder menschlicher würden. Dass sie nicht nur als Roboter funktionieren. Dass man nicht nur die Wissenschaft als Erklärung der Welt, sondern auch die Kunst oder das Unerklärliche gelten lässt. Der grösste Teil unseres Lebens ist sowieso unerklärlich. Vielleicht stand man 1916 aber noch nicht so unter Druck. 2016 vergeht kein Mitarbeitergespräch, ohne dass man für Dinge eine Lösung präsentieren muss, für die man nicht einmal verantwortlich ist. Damals herrschte der Erste Weltkrieg, das sagen wir immer wieder gerne, um darüber hinwegzutäuschen, dass die heutige gesellschaftliche Situation viel extremer ist als vor 100 Jahren. Es gab damals die Krankheiten, die man heute hat, allerdings auch schon. Neurasthenie, eine Nervenüberforderung. Heute würde man das eher Burn-out nennen. Es ist nicht ganz genau dasselbe, denn der Grund für Neurasthenie ist zu viel Input, beim Burn-out eher ein Zu-viel-reagieren-Müssen. Gerade das Burn-out ist ja ein Zustand, in dem man zugeben muss: Ich kann nicht mehr. Man braucht ein Time-out, man muss in die Klinik, muss sich aus dem Rennen herausnehmen. Ist Dada nicht auch eine Art Auszeit von der Gesellschaft? Richard Huelsenbeck sagte: «Dada bedeutet nichts. Wir wollen die Welt mit Nichts verändern», und ich glaube, dass dieses Nichts auch ein Timeout sein kann, indem man nichts macht. Hugo Ball hat schon 1913, Jahre vor Dada, nach einer «Liga von Menschen» gesucht, «die sich dem Mechanismus entziehen wollen», nach einer «Lebensform, die der Verwendbarkeit widersteht». Er forderte eine «orgiastische Hingabe an den Gegensatz all dessen, was brauchbar und nutzbar ist». Das ist ein Timeout: nicht mehr produktiv sein zu müssen, sondern zu leben. Stecken wir 2016 in einer vergleichbaren Zeit wie 1916? Zurzeit haben wir an sich auch einen Weltkrieg. Er spielt sich einfach nicht mitten in Europa ab, sondern ist viel verzettelter auf der ganzen Welt. Was damit einhergeht, sind die starken nationalistischen Triebe. Und zwar nicht nur in Deutschland oder in der Schweiz, sondern überall in der westlichen Welt. Oder der Sicherheitsdrang eines Donald Trump. Und die Gesellschaft wird immer noch von dem Wirtschaftsfatalismus gesteuert, wie ihn Hugo Ball schon für 1913 beschrieben hat. Das, was in den letzten zehn Jahren an Bankreparaturzahlungen bezahlt worden ist, ist reiner Wirtschaftsfatalismus. Das dritte sind die sozialen Medien, die ganze gebückte Smartphone-Haltung. Vor 100 Jahren sind zum ersten Mal Massenmedien und Werbung in grossem Stile erschienen, die mit ihren vorgefertigten Meinungen, Bildern und Idealen uns vorkauen, wie wir zu sein haben. Es waren zwei Rumänen und deutsche Exilanten, die das Cabaret Voltaire gründeten. Inwiefern spielte es eine Rolle für die Bewegung, dass daran so viele Migranten beteiligt waren? Es waren nur Migranten, ausser Sophie Taeuber-Arp und Friedrich Glauser. Das Spezielle an der Situation von Migranten oder Flüchtlingen ist, dass sie aus einer schlimmen Situation, aus einem Ausnahmezustand herauskommen – in welcher Zeit auch immer. Im Vergleich zum Ausland muss man sich in der Schweiz um nichts Sorgen machen. Das ist ein

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vom SVP-Politiker, der sie schützt, die Sozialisten träumen von der enormer Gegensatz. Man kommt mit einer gewissen Energie, mit seinem Gleichheit und andere wiederum von Freiheit und Gerechtigkeit. Ich Rucksack, und dann ist hier plötzlich dieses Vakuum. Die Energie, die dazu führt, dass man hier nicht einfach auf der faulen Haut liegt, hat viel damit zu tun, dass «Lautgedichte gab es schon bei den Schamanen und in der orthodoxen man aus einem völlig anderen Kontext kommt. Kirche. Sie sind im Grunde Gebete, eine Art von Ur-Klang.» Zürich war am Anfang des 20. Jahrhunderts auch viel internationaler, als es heute ist. Es kaglaube, es ist ein ganz normales menschliches Bestreben, dass man sich men viele Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler in die Schweiz, einer höheren Idee hingibt. Die wurde durch die Aufklärung und dann oder sie waren hier im Exil. Im Cabaret Voltaire gab es Russenabende, weiter durch Nietzsche zerstört. Plötzlich musste man alles wissenholländische Studenten waren hier und französische Literaten. schaftlich definieren, man war selber verantwortlich, das Subjekt wurde wichtig. Der Trick wäre vielleicht, auch heute noch zu sagen: Die Kommen wir zum christlichen Osterfest zurück. Hugo Ball wandte Aufklärung ist zwar gut. Aber sie ist wie eine Brille, durch die wir mit sich in den Zwanzigerjahren dem Katholizismus zu. Wie geht das unseren mittelalterlichen Augen die Welt anschauen. zusammen: Dadaismus und Katholizismus? Das geht wunderbar zusammen. Ball wurde immer von der gleichen Eine letzte Frage: Ich habe Ostereier dabei. Würden Sie die lieber Frage des mentalen Umsturzes geführt, welche er zuerst mit der Philoschälen oder suchen? sophie, mit Nietzsche zu beantworten versuchte, dann im Theater und Was soll ich dann mit den Eiern machen? in der Kunst mit Dada, dann hat er sich politisch in der Freien Zeitung in Bern stark geäussert, und am Schluss suchte er in der Religion nach Wir machen ein Foto. Antworten. Im Sommer 1916 sagte er im ersten Dada-Manifest: «Wie erDann muss vielleicht die Fotografin entscheiden. langt man die ewige Seligkeit? Indem man Dada sagt», und ich glaube nicht, dass er das als Witz meinte. Es ging ihm wirklich darum, mit DaDie Frage gehört zum Interview. da Zugriff zu einer höheren Instanz zu erlangen. Dada hatte für Hugo Am liebsten würde ich eins essen. Ball eine mystische Dimension. Die Religion ist sogar eine zusätzliche ■ Erklärung für die Lautgedichte. Das Lamentieren, das er im Bischofskostüm vorführte, kam aus seiner katholischen Vergangenheit als Ministrant. Lautgedichte gab es schon bei den Schamanen und in der orthodoxen Kirche. Sie sind im Grunde Gebete, eine Art von Ur-Klang. Daher «Obsession Dada: 165 Feiertage» bis zum 18. Juli gehen Dada und Religion gut zusammen. Wir benutzen in unserem Jubiläumsprogramm im Cabaret Voltaire auch sehr viele religiöse Begriffe: «Offizium»: Adrian Notz widmet sich im täglichen Offizium um 6.30 Uhr morgens den 165 Dadaisten und Dadaistinnen Feiertage, Offizien, Krypta. Und wir versuchen dem Ur-Klang mit der Ausstellung und den Performances der «Obsession Dada» nachzugehen. Soiréen mit zeitgenössischen Künstlern täglich um 20 Uhr, bis 15. Mai Kunst und Religion haben gemeinsam, dass sie klar deklariert im metaphysischen Bereich operieren. Mit Magie. Harald-Szeemann-Archiv, bis 15. Mai Dada ist die Suche nach einer höheren Instanz? Ich glaube, es geht nicht um eine Suche, sondern um eine Sehnsucht. Darum, dass wir alle eine Sehnsucht in uns tragen. Die einen träumen SURPRISE 371/16

Krypta: Performances, Lesungen, Manifeste; Lyrik-Konzert der Performance-Gruppe «Blago Bung»: Sa, 9. April Cabaret Voltaire, Spiegelgasse 1, Zürich, www.cabaretvoltaire.ch

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Aufwertung Die dunkle Seite des Parks Was die Stadt und eine Immobilienfirma in einem Bieler Park veranstalteten, erinnert an böse Science-Fiction. Dass Randständige vertrieben werden, ist in Schweizer Städten aber Alltag. Das Ziel – mehr Sicherheit und Sauberkeit – wird oft verfehlt. Doch es geht auch anders.

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VON CHRISTIAN ZEIER (TEXT) UND PRISKA WENGER (ILLUSTRATIONEN)

Zwei Monate später stand Christian Vukasovic, ein schlaksiger Mann um die 40, im Heuerpark vor einem Zaun. «Sollte der Park nicht für alle zugänglich sein?», fragte der Bieler. Es war ein Dienstagnachmittag Anfang August, Vukasovic schaute hinüber auf die andere Seite, sprach ruhig, sachlich, aber mit Nachdruck. Er hatte ein Anliegen, das ihm keine Ruhe liess. Er wollte zeigen, wie der kleine Park verändert wurde. Und was diese Veränderungen mit den Menschen vor Ort anstellen. Mittlerweile war bekannt geworden, dass die Stadt mit der Firma Roth Immobilien eine Nutzungsvereinbarung über fünf Jahre abgeschlossen hatte und dieser bei der Gestaltung des Parks freie Hand

In Biel gibt es einen Park, der hat zwei Seiten. Die eine ist neu, hell, mit Rasen, Spielplatz und Café versehen – im Sommer sollen hier Kinder spielen, schreien und zu ihren Müttern im Bistro drüben rennen. Die andere Seite des Parks ist alt, engräumig, schattig – hier sitzen im Sommer Erwachsene, jüngere und ältere, dichtgedrängt im Schatten der Bäume. Sie diskutieren und trinken Bier. Mittendrin, zwischen den beiden Seiten, stand im vergangenen Sommer ein Zaun. Drei Monate lang. «Man hat uns ausgesperrt und alles verFür die Städte ist es eine Gratwanderung zwischen Sicherheit und Aussucht, damit wir uns im Park nicht mehr grenzung. Was also tun, um diesem Dilemma zu entkommen? wohlfühlen», sagt Christian Vukasovic rückblickend. «Aber wo sollen wir denn sonst hin?» liess. Die Lokalzeitung hatte berichtet – erstmals wurde der Vorwurf Der Bieler steht im Heuerpark, diesem kleinen Rückzugsort inmitten der laut, der Zaun diene der Ausgrenzung der Randständigen. ImmobilienStadt, klein und unscheinbar, umgeben von vier Strassen. Seit 20 Jahren unternehmer Roth wollte sich öffentlich nicht dazu äussern, und er benutzten randständige Gruppen den Park als Treffpunkt. Dann kam die schweigt bis heute. Aufwertung, die Teilung. Begonnen hat alles im Sommer des letzten Jahres. Im Juni wurde beVerschönerung mit Folgen kannt, dass die Bieler Firma Roth Immobilien den Park auf eigene KosSo schaute Christian Vukasovic durch das Gitter und sagte: «Wir ten umgestalten will. Ein Geschenk an die Stadt, liess Firmenchef Ulmöchten einfach nur hinüber auf den Rasen. So wie früher, das wäre rich Roth verlauten. Der sozialdemokratische Stadtpräsident Erich Fehr schön.» Im Heuerpark kenne man sich, könne zu jeder Zeit kommen zeigte sich erfreut über die private Initiative – es sei wünschenswert, und mit jemandem sprechen. «Für viele ist das ein ganz wichtiger Teil dass der Park wieder für verschiedene Gruppen attraktiv werde. «Der öfihres Lebens. Nur hier können wir sein, wie wir sind.» Doch nun war fentliche Raum muss allen zugänglich sein», hielt er in einem Fernsehalles anders. Interview fest. SURPRISE 371/16

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stärkt. «Weil es immer weniger Plätze gibt, wo sich die Gassenleute Die Bäume und Sträucher, die früher als Sichtschutz gedient hatten, aufhalten können, müssen sie enger zusammenrücken», sagt Tobias waren ausgedünnt oder gefällt worden. Eine Überwachungskamera Hochstrasser von der Basler Gassenarbeit Schwarzer Peter. Nicht nur blickte über den Park – erst bei näherer Betrachtung entpuppte sie sich die Gruppen selbst würden unter dieser Konzentration leiden – sonals Attrappe. Und: Im neuen Teil des Parks waren die Sitzgelegenheiten dern auch Passanten, die sich vor grossen und lauten Ansammlungen verschwunden. Sitzen konnte man nur noch im kleinen Bistro – dort, fürchten. wo Konsumationszwang herrschte. So blieben die Randständigen auf der dunklen Seite des Parks sitzen. Die Angst der Passanten Verschiedene Gruppierungen auf engem Raum, Menschen auf der Suche Auf dieses Dilemma sind auch Forscher der Universität Zürich genach sozialem Kontakt, mit oder ohne Suchtkrankheiten. Sie wussten stossen. «Der öffentliche Raum wird immer stärker reglementiert, was nicht mehr, ob sie den neuen Teil des Parks betreten dürften oder ob sie zur Verdrängung randständiger Gruppierungen führt», sagt Corina Sagleich weggewiesen und mit einem Verbot belegt würden. Öfters als frülis Gross, die 2009 eine breit angelegte Studie des Institutes für Suchther kam es zu Reibereien. und Gesundheitsforschung leitete. Hinter dieser Entwicklung stecke ein Im Bieler Heuerpark zeigt sich in aller Deutlichkeit, was in der Bedürfnis nach Sicherheit und Sauberkeit, aber auch die zunehmende Schweiz seit Jahren vor sich geht. Aus zahlreichen grossen Städten der Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes. «In Sachen Gesundheit Deutschschweiz berichten Gassenarbeitende von gezielten Massnahhat die Reglementierung den betroffenen Personen durchaus etwas gemen gegen randständige Gruppierungen. «Es findet vermehrt eine subbracht», so die Forscherin. So würden etwa harte Drogen dank der tile Verdrängung unerwünschter Personen aus dem öffentlichen Raum Schaffung von Anlauf- oder Kontaktstellen vermehrt in hygienischen statt», heisst es vonseiten der Kirchlichen Gassenarbeit Bern. Neben Reund geschützten Räumen konsumiert.«Grundsätzlich führt das Vorgeglementierungen ist immer wieder die Rede von baulichen Massnahmen hen der Städte aber auch zu einem Platzmangel im öffentlichen Raum», – die Beispiele sind zahlreich. so Salis Gross. Durch die Konzentration an wenigen Plätzen komme es In der Bundesstadt wurden 2007 im Rahmen des Bahnhofumbaus vermehrt zu Konflikten, was sich auch auf die Wahrnehmung der PasSitzgelegenheiten bei der Christoffel-Unterführung unzugänglich gesanten niederschlage: Knapp 25 Prozent der in der Studie befragten macht – eine Szene von 40 bis 50 Randständigen musste weichen. In Basel wurde 2009 die Theodorsgraben-Anlage umgestaltet – die Randständigen, die sich dort Trinker und Konsumenten harter Drogen würden am besten getrennt, aufgehalten hatten, wurden verdrängt. Die indem man den Szenen Raum und Alternativen gewährt. Stadt Zürich liess 2011 einige der Sitzbänke und die fest installierten Pingpongtische in der Personen gaben an, beim Anblick von randständigen Gruppierungen Bäckeranlage im Kreis 4 entfernen. Besorgte Eltern hatten sich über Angst oder Wut zu empfinden. Von Lärm und Verschmutzung über Randständige beschwert – die Szenen wurden so weit als möglich geDiebstahl und Bettelei bis hin zu physischer Gewalt reichen die wahrtrennt, ein Teil der Randständigen verschwand. genommenen Belästigungen. «Für die Städte ist das eine GratwandeEs sind drei Geschichten von vielen. Geschichten, die sich hinsichtrung zwischen Vermittlung von Sicherheit und der Vermeidung von lich Lokalität und Protagonisten unterscheiden, die aber stets demselAusgrenzung», sagt Salis Gross. Was also tun, um diesem Dilemma zu ben Erzählstrang folgen: Die Behörden lassen Sitzgelegenheiten abentkommen? montieren, reduzieren Unterstände, entfernen schützendes Gewächs, Die Forscher empfehlen einerseits simple Massnahmen – eine verGratistoiletten, Abfallbehälter und fördern die kommerzielle Nutzung einfachte Umgehung der Treffpunkte etwa, zusätzliche Möglichkeiten des Ortes – wenn möglich inklusive Konsumationszwang. Sauberkeit zur Abfallentsorgung oder kostenlose Toiletten. Aber auch die aufsuund Sicherheit sollen so verbessert werden, Gruppierungen werden verchende Sozialarbeit könne zur Entspannung der Situation beitragen. drängt und die Probleme nicht selten verschoben – manchmal gar ver-

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tisch berichtet hatten, reagierte auch die Immobilienfirma: Sie baute den Und: Trinker und Konsumenten harter Drogen würden am besten geZaun ganz ab und vereinte so die beiden Teile des Parks wieder. trennt, indem man den Szenen Raum und Alternativen gewährt. Seither habe es kaum Gelegenheiten gegeben, den Rasen zu nutzen, Ein Beispiel für eine solche Entwicklung ist die Stadt Luzern. Nach sagt Christian Vukasovic. «Kinder spielen aber hie und da auf der andejahrelangen Konflikten zwischen randständigen Gruppierungen, Bevölren Seite. Das Nebeneinander funktioniert gut», sagt er. So hofft der Biekerung und Behörden ist hier weitgehend Ruhe eingekehrt – nicht durch ler nun auf den Frühling – darauf, dass die Zäune auch in den Köpfen bauliche Massnahmen oder Verdrängung, sondern durch eine erhöhte Polizeipräsenz, die Wiedereinführung der aufsuchenden Sozialarbeit und Investitionen in «Solange sich die Randständigen an die Regeln halten, haben sie das die Kontakt- und Anlaufstelle. An bestimmten gleiche Recht wie alle anderen, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten.» Orten habe die Stadt die Infrastruktur verbesMaurice Illi, Sicherheitsmanager der Stadt Luzern sert und zusätzliche Abfall-Container sowie Spritzenbehälter installiert, heisst es vonseiten der Menschen einbrechen. Denn: Noch immer traut sich kaum einer aus der Kirchlichen Gassenarbeit. «Wir stellen fest, dass ein grosses Verder Gruppe, die dunkle Ecke zu verlassen. Die Teilung des Parks hat ihr ständnis für die Situation unserer Klientinnen und Klienten vorhanden Ziel nicht verfehlt. «Es ist traurig», sagt Christian Vukasovic. «Man hat ist», sagt Gassenarbeiter Mathias Arbogast. Anliegen, die an Austauschden Leuten so lange ein schlechtes Gefühl gegeben, dass sie sich jetzt sitzungen eingebracht würden, fänden bei den Behörden Gehör. selbst als Fremdkörper sehen.» Die Stadt Luzern bestätigt auf Anfrage, dass die Toleranz gegenüber Am meisten stört Vukasovic an der ganzen Sache, dass nie jemand Randständigen relativ hoch sei. Das habe mit dem Engagement der auf die Idee gekommen ist, mit ihnen, den langjährigen Benutzern des Überlebenshilfe und der Kirchlichen Gassenarbeit zu tun, aber auch mit Parks, zu sprechen. Auch in Biel gibt es eine SIP und Institutionen für der guten Zusammenarbeit zwischen der Polizei, der Einsatzgruppe SiMenschen in prekären Lebenssituationen – was aber deren Miteinbezug cherheit Intervention Prävention (SIP) und den sozialen Institutionen. angeht, unterscheidet man sich deutlich von Luzern. «Wir halten auch mal den Druck der Öffentlichkeit aus, um an unserer Dass die Leute vom Heuerpark viel trinken, dass sie ab und zu in die Linie festzuhalten», sagt Sicherheitsmanager Maurice Illi. Denn die HalBüsche urinieren, dass hin und wieder auch harte Drogen konsumiert tung der Stadt sei klar: «Solange sich die Randständigen an die Regeln werden, das streitet Christian Vukasovic nicht ab. Zu Belästigungen von halten, haben sie das gleiche Recht wie alle anderen, sich im öffentPassanten aber komme es kaum je. Man setze sich dafür ein, dass nielichen Raum aufzuhalten.» mand blöd angemacht werde. «Es gibt bei uns nämlich durchaus Leute, die Verantwortung für Sicherheit und Sauberkeit im Park übernehmen Der Zaun im Kopf möchten», sagt der Bieler. «Nur leider scheint das niemanden zu interAuf ein solches Statement der Stadt wartet Christian Vukasovic noch essieren.» immer. Während Wochen hat sich in Biel nichts geändert, der Zaun ■ blieb stehen, die randständigen Gruppierungen hielten sich nur noch auf der dunklen Seite auf. Zusammen mit der Gassenarbeit Biel beschwerten sie sich bei der Stadt, die Gassenarbeit versuchte zudem, alle Parteien an einen Tisch zu bringen. Gekommen jedoch sind nur Vertreter der Stadt und der Gruppierungen vom Heuerpark – die Polizei und die federführende Immobilienfirma blieben dem Gespräch fern. Also nahmen Unbekannte das Heft selbst in die Hand. Im September entfernten sie den Zaun teilweise und stellten hölzerne SitzgelegenheiDieser Beitrag wurde von der unabhängigen Fachgruppe der GassenarbeiterInnen ten in den neuen Teil. Im Winter dann, nachdem mehrere Zeitungen krider Deutschschweiz FaGass in Auftrag gegeben. SURPRISE 371/16

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Islamische Revolution, Irakkriege, Arabischer Frühling: Zwei Generationen von Schweizer TV-Zuschauern hat Ulrich Tilgner den Nahen Osten erklärt. Jetzt ist die Krise in Europa angekommen – und Tilgner immer noch mittendrin. Ein Gespräch über Islam, Integration und unser mangelhaftes Bild vom Orient.

Islam «Wir unterschätzen den Orient» VON SARA WINTER SAYILIR, AMIR ALI (TEXT) UND JOHNY NEMER (BILDER)

Herr Tilgner, was bekommt Ihr muslimisches Publikum heute Abend zu hören? Zum einen werde ich über meine persönlichen Erfahrungen sprechen, die ich die letzten 50 Jahre im Orient gemacht habe. Und zum anderen über die aktuellen Auswirkungen auf Europa in Form der Fluchtbewegungen.

Er benutzt dieses leicht altertümliche Wort, um zu beschreiben, wo er über 30 Jahre lang gelebt und gearbeitet hat: Wenn Ulrich Tilgner «Orient» sagt, klingen Respekt und Neugier und etwas Abenteuerlust mit. Tilgner, 68 Jahre alt, hat den Zuschauern am Schweizer und DeutBeginnen wir bei Ihren persönlichen Erfahrungen. schen Fernsehen jahrzehntelang den Nahen und Mittleren Osten erklärt. Ich habe mich stark verändert durch das, was ich da erlebt habe. Es ist Zu Zeiten der Islamischen Revolution im Iran arbeitete er für verschieja doch eine völlig andere Lebensweise. Und gleichzeitig eine unglaubdene Zeitungen und Radiosender, später berichtete er aus den beiden Irakkriegen von 1991 und 2003. Ab 2002 leitete er zudem das ZDF-Büro in Teheran. «Integration geschieht in den Haushalten von Zuwanderern. Wir sollten Auf die Frage, warum es ihn in diese krieaufhören, so zu tun, als würden wir Europäer das stemmen.» gerische Weltgegend verschlagen habe, erzählt Tilgner eine Anekdote: «Ein Bekannter, ein liche Nähe. Es sind Leute wie du und ich, und gleichzeitig sind sie ganz Professor an der Pariser Sorbonne, sagte mir damals, im Nahen Osten anders. Es ist sehr merkwürdig. werde es immer Krisen geben. Da wusste ich: Hier gibt es für mich immer etwas zu tun.» Können Sie das etwas genauer erklären? Jetzt ist die Krise in Europa angekommen, und Ulrich Tilgner, der Die Menschen dort sind anders durch die Religion und die Kultur, die eimittlerweile wieder in Deutschland und im Tessin lebt, ist immer noch ne grosse Rolle spielen. Und dann kommt es auf die Lebensumstände mittendrin. In der Sendung «Arena» zu den Anschlägen von Paris im an. Ein Städter in Damaskus ist einem Städter in Zürich viel ähnlicher vergangenen November echauffierte er sich über eine westliche Politik, als einem Dörfler, der weit weg in der Wüste dem Islamischen Staat andie den Islamischen Staat (IS) verteufelt und gleichzeitig Saudi-Arabien hängt. Die Europäer unterschätzen die Vielfalt des Orients. hofiert. Ebenfalls in der Sendung war der Imam einer albanischen GemeinWas werden Sie zum Thema Flucht sagen? schaft aus dem sanktgallischen Wil. Tilgners Äusserungen zu den TheMan spricht jetzt überall von Integration und fragt sich, wie das zu bemen Islam und Integration hatten dessen Interesse geweckt, und er lud wältigen sei. Meine These ist: Die Hauptlast wird von Leuten getragen, ihn ein, einen Vortrag vor der Gemeinde zu halten. Wir haben ihn kurz die selbst vor nicht allzu langer Zeit nach Europa gekommen sind. davor zum Gespräch getroffen.

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Ist Integration nicht Aufgabe des Staates und der Gesellschaft? Die Mittel müssen natürlich bereitgestellt werden. Aber die eigentliche Arbeit, die läuft in den Haushalten von Zuwanderern. Sie sind die Anlaufstellen für jene Menschen, die jetzt kommen. Es sind Zehntausende in Europa untergetaucht, die leben ja auch irgendwo.

Gibt es eine Erwartungshaltung gegenüber dem Westen? Die Menschen im Orient neigen dazu, ihr Elend den Europäern und den USA anzulasten. Und dafür gibt es auch viele gute Argumente. Die Welt wird ganz anders gesehen im Mittleren Osten, und die Menschen sind sehr viel politischer als wir in Europa.

Was bringt Sie zu dieser These? Meine Reisen mit ehemaligen Mitarbeitern, die mich besuchen kamen. Afghanen, Iraker, Iraner: Die kennen hier Leute, in Brüssel, London, Amsterdam. Auch wenn sie aus der hintersten Provinz kommen. Die fahren durch Europa und sitzen nur bei ihren Leuten. Das sind die Anlaufpunkte, und da läuft die Integration.

Wie meinen Sie das? Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Bei der Invasion von Afghanistan 2001 kamen die Briten in Gebiete, wo sie rund 150 Jahre zuvor schon einmal gewesen waren. Die Afghanen sagten: Die sind ja schon wieder hier, und die fliegen auch wieder raus! Und die britischen Soldaten wussten gar nicht, dass da schon mal Briten waren. Dazu erzählte mir ein Nachfahre des afghanischen Königshauses von einem Stammesführer, der ihn angerufen habe und meinte: Die Toten von damals kratzen an den Leichentüchern und wollen raus, um weiterzukämpfen. Das historische Bewusstsein ist viel grösser, und das Wissen darum ist weiter verbreitet als bei uns. Die Orientalen wissen ganz genau, was in der Welt passiert.

Sie setzen also auf Einwanderer, um Neuankömmlinge in die europäischen Gepflogenheiten einzuführen? Ich sage einfach: Das passiert, und zwar hunderttausendfach. Und es wird zunehmen und Routine werden. Es wird lediglich nicht zur Kenntnis genommen.

«Das historische Bewusstsein ist im Orient viel grösser, und das Wissen verbreitet als bei uns.»

Was ist die Schlussfolgerung daraus? darum ist weiter Wir sollten aufhören, so zu tun, als würden wir Europäer das stemmen. Belastet werden vor allem Leute, die ohnehin schon am Rand der Gesellschaft stehen. Ich habe Mühe, die Flüchtlingsfrage so zu sehen, als ob da Menschen kämen, mit denen wir unser mühsam Erspartes teilen müssen. Die Hauptleistungen werden von Zugewanderten und Geflohenen erbracht, auch bei der aktuellen Flüchtlingslawine. Was verstehen Sie unter Hauptleistungen? Unterbringung, Verpflegung und das Einweisen in die Grundschritte des Alltags. Die Frage, die Europa umtreibt, lautet: Schaffen wir das? Das ist doch gar keine Frage, man muss das schaffen! Als ich zur Schule ging, hatten wir diesen Atlas. Da waren so Pfeile über den ganzen Erdball eingezeichnet, die zeigten, wer wann von wo kam und wohin ging. Wanderbewegungen gab es schon immer, die Leute sind in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden immer dahin gegangen, wo man besser leben konnte. Dass man Grenzen zumachen will, entspricht weder der Geschichte noch der menschlichen Natur. Wie blicken die Menschen im Orient auf dieses europäische Problem? Das kann ich zu wenig beurteilen. Was ich weiss: Man sieht nach wie vor eine Chance, nach Europa zu kommen. Die temporären Einreiseerleichterungen in Deutschland fanden grossen Rückhall. Bis sich herumgesprochen hat, dass es auch Schwierigkeiten gibt, dauert es Monate. Ich habe vor vier Wochen mit einem Bekannten in Afghanistan gesprochen, der beim Uno-Flüchtlingshilfswerk arbeitet. Der sagte mir, dass sowohl Städter als auch Menschen aus den Dörfern immer noch losziehen. Was treibt die Leute an? Einmal abgesehen von den Syrern, die schlicht um ihr Leben laufen, sind es sicherlich ökonomische Faktoren. Wobei die Armut nicht der Massstab ist. Erst wenn man sich über die eigene Chancenlosigkeit bewusst wird, sucht man nach einem Weg. Und dann sind da überall die Beispiele von denen, die es geschafft haben. Ich drehte einmal in einem Dorf in Afghanistan, wo vor mir noch keine Ausländer gewesen waren. Die fragten mich, wann der Film im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt werde. Ich antwortete, dass sie das doch ohnehin nicht empfangen könnten. Da meinten sie bloss: Aber wir haben die Telefonnummer von einem aus dem Dorf, und der ist in Zürich. Die brauchen keinen Fernseher, um zu wissen, was bei uns läuft.

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Hat die europäische Angst vor den Flüchtenden auch damit zu tun, dass wir keine Ahnung von der Kultur dieser Menschen haben? Bestimmt. Man wird hier ja auch mit merkwürdigen Meldungen zugedeckt. Ich habe lange im Iran gelebt und gearbeitet. Wenn ich irgendwas sagte, was nicht den gängigen Vorurteilen entspricht, dann galt ich sofort als Sprachrohr der Mullahs. Jetzt hat man ein Abkommen geschlossen, und auf einmal gilt Iran als netteres Land. Jetzt richtet sich die Kritik gegen Saudi-Arabien, den Verbündeten des Westens. Dabei war es schon immer so: In Saudi-Arabien wurden Leute geköpft, nicht im Iran. Im Iran fahren Frauen Auto, in Saudi-Arabien nicht. Aber der Iran, wo doppelt so viele Frauen zur Uni gehen als Männer, galt als schlimmster Frauenunterdrücker. Wer etwas anderes sagte, kam nicht durch. Zensur? Nein, ich wurde nie zensiert. Aber es wird einfach nicht gehört. Ist der Islam eine Bedrohung für Europa? Hier gehen wichtige Fragen verloren: Was ist Islam, und was ist zum Beispiel Stammesrecht? Ein Beispiel? Ich habe in Jordanien mal über Ehrenmorde recherchiert. Es ging um eine junge Frau, die von einem Verwandten umgebracht worden war, und zwar in einer christlichen Familie. Das Mädchen musste sterben, weil ihr eine Beziehung zu einem Muslim nachgesagt wurde. Das zeigt, dass so etwas wie Ehrenmorde wenig mit Religion und viel mit der Stammeskultur zu tun haben. Können Sie nach Jahrzehnten im Orient überhaupt noch verstehen, was die Menschen hier in Europa beschäftigt? Kaum. Aber ich bin am Lernen. Seit ich wieder in Deutschland lebe, begreife ich, wie naiv viele Menschen die Welt sehen. Naiv aus der Sicht des Orients. Und Naivität gibt es dort ja auch, wenn die Leute zum Beispiel sagen: Wenn wir erst einmal in Europa sind, dann ist alles gut. Da kann ich noch so lange über die Schwierigkeiten sprechen, das fällt dort auf taube Ohren. Sind Sie ein Welterklärer? Nein. Aber was den Orient angeht, kann ich bestimmte Dinge erklären, die andere Menschen nicht sehen. Und ich kann politische Zusammenhänge, die ich früher abstrakt betrachtet habe, heute durch konkrete ErSURPRISE 371/16


«Ehrenmorde haben wenig mit Religion zu tun»: Ulrich Tilgner spricht vor einer muslimischen Gemeinschaft in Wil SG.

fahrungen begründen. Zum Beispiel, dass Entwicklungshilfe oft nicht funktioniert. Oder dass al-Qaida ein Ergebnis westlicher Politik ist. Es erstaunt mich manchmal selbst, wie lange ich gebraucht habe, um solche Dinge zu realisieren. Beim IS hab ich es dann dafür auf Anhieb verstanden, das war ja eine Art Wiederholung davon.

de er für die Kurden kämpfen und für 300 Dollar für Assad oder den irakischen Staat. Wie sähe eine westliche Politik aus, die dieser Komplexität gerecht wird? Ganz sicher müsste die Unterstützung für Saudi-Arabien gestoppt werden. Überhaupt müssten Waffenexporte in diese Gebiete wegfallen, auch an die Kurden. Aber es ist natürlich einfach, ein paar solche For-

Vieles von dem, was derzeit im Nahen Osten geschieht, ist letztlich die Folge der westlichen Interventionen der letzten 100 Jahre. Können und sollen wir überhaupt eingreifen? Ich glaube nicht. Der Westen hat die Katastro«Verfehlte westliche Politik plus saudisches Geld: Da kommt automatisch phe natürlich mit ausgelöst, keine Frage. Das Terrorismus dabei raus.» geht von der imperialistischen Politik bis zu den amerikanischen Kriegen im Irak und in Afghanistan. Aber die Orientalen haben auch ihren Teil dazu beigetragen. derungen aufzustellen. Wie gesagt, die Spur des Scheiterns geht bis ins Saudi-Arabien hat ja seinen Salafismus schön verbreitet in der ganzen 19. Jahrhundert zurück. Was hatte zum Beispiel Napoleon in Ägypten Region. Die haben ihre Öldollars nicht für etwas Konstruktives verwenzu suchen? Da begannen sich gewisse Muslime ja bereits zu radikalisiedet. Verfehlte westliche Politik plus saudisches Geld: Da kommt autoren, statt über eine liberale Gesellschaft nachzudenken. matisch Terrorismus dabei raus. Haben Sie nie bereut, Ihr Leben einer derart kriegsbeladenen Region Ist die derzeitige Fixiertheit auf den IS gerechtfertigt? gewidmet zu haben? Der IS ist das Schlimmste, was wir derzeit kennen. Aber die Art, wie Ich würde dasselbe sofort wieder tun. Die Politik im Orient ist greifbar man dagegen vorgeht, ist falsch. und die Resultate sind konkret. Ich kam da hin zu Zeiten der Geiselnahme in der amerikanischen Botschaft in Teheran. Da tobte der Bär, da Wie muss man den IS bekämpfen? waren Millionen von Menschen auf der Strasse. Da merkt man: Hier verDie Leute dort vor Ort müssen den bekämpfen und auflösen. Mit den ändert sich grad die Welt. Luftangriffen perpetuiert man lediglich den Terrorismus. Da gibt es zivile Opfer, auch wenn nicht darüber gesprochen wird. Wenn drei KämpIst Stabilität langweilig? fer des IS oder von al-Qaida getötet werden, dann greifen fünf neue aus In der Stabilität erkennt man nicht, was passiert. Die Doppelbödigkeit der Verwandtschaft zur Waffe. Was ist denn ein IS-Kämpfer? Ein Stamvon Politik bei uns ist sehr schwer zu erfassen. Im Orient hingegen liegt mesmitglied, das für 200 Dollar für den IS kämpft. Für 250 Dollar würsie auf der Hand, respektive auf der Strasse. ■ SURPRISE 371/16

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Problemlösungen Wer wie ich das Glück hat, nicht zu Stosszeiten zur Arbeit fahren zu müssen, kommt schneller vorwärts, vor allem mit dem Velo. Theoretisch. Tatsächlich dominieren vormittags Kleinbusse das Strassenbild, überall wird angeliefert, die Fahrzeuge stehen oft da, wo die Veloroute durchführt. Mein Gefühl täuscht nicht, die Anzahl der zugelassenen Kleintransporter ist in den letzten 20 Jahren um 63 Prozent angestiegen. Ein grosser Teil geht auf den Onlinehandel zurück. Also auf all die Idioten, die im Internet bestellen – zu denen ich auch gehöre. Es ist halt bequem und spart Zeit. Doch jede Erleichterung führt zu neuen Erschwernissen. Wenn man tief genug gräbt, wird einem bewusst, dass man mit fast jedem Problem, das einem begegnet, irgendetwas zu tun hat. Meine Internetbestellungen verursachen Mehrverkehr. Die Edelmetalle in meinem

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Handy, wie Coltan oder Wolfram, finanzieren den Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo. Meine Elektrogeräte und Kleider werden weit weg hergestellt, zu welchen Bedingungen auch immer. Klimawandel, Flüchtlingsströme, Energiekrise, zu allem leiste ich meinen Beitrag. Wenn ich heize, verdient Russland Geld, das es für die Interventionen in der Ukraine oder Syrien verwendet – auch wenn ich für Biogas bezahle, damit entsprechende Anlagen eines Tages gebaut werden können. Je enger unsere Verstrickungen werden mit allem, was in der Welt geschieht, desto trotziger wird versucht, sich abzuschotten und jede Verantwortung von sich zu weisen. Die weltweit gestiegene Popularität von Politikern, die einfache Weltbilder präsentieren und den Wählern versprechen, ihnen die unangenehmen Konsequenzen ihres Handelns vom Leib zu halten, ist ein Ausdruck davon. Ihre einfachen Lösungen verursachen neue Probleme, und die Schuld wird immer auf andere abgeschoben, so gelingt die Verdrängung. Der Preis ist ein zunehmender Realitätsverlust. Neulich las ich einen Artikel über motorsportbegeisterte Innerschweizer, deren ganze Freizeit und ein Grossteil des Lohns für die Teilnahme an Bergrennen draufgehen. Dass sie Europa vom Rest der Welt und die Schweiz von Europa abschotten wollten, versteht sich von selbst. Einer ging sogar noch weiter und

wollte die Innerschweiz von der Schweiz abschotten, dann, so seine Überzeugung, wäre alles besser. Natürlich kommt es ihm nicht im Traum in den Sinn, sein Rennauto mit heimischer Schweinegülle zu betanken, noch fällt ihm auf, dass es gar kein Schweizer geschweige denn Schwyzer Auto gibt, mit dem er an seinen geliebten Rennen teilnehmen könnte. Seine ganze Leidenschaft basiert auf ausländischen Produkten, trotzdem will er mit dem Ausland nichts zu tun haben. Diese Denkweise gleicht derjenigen religiöser Fanatiker, die westliche Werte ablehnen und verteufeln, aber auf Handys, Computer und Autos nicht verzichten wollen. Nur eine abstruse Theorie kann einen von der Verantwortung entbinden, Teil des Problems zu sein. Seit mir das wieder klargeworden ist, fahre ich zehn Minuten früher los und kaufe weniger und wenn in Läden ein. Zumindest theoretisch.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT (SAVVE@VTXMAIL.CH) SURPRISE 371/16


Film Mut zum Widerstand Nicola Belluccis Dokumentarfilm «Grozny Blues» ist eine poetisch flirrende Annäherung an die harte politische Realität Tschetscheniens. Er ist für den Schweizer Filmpreis nominiert und läuft in diesen Tagen in den Kinos an.

Tschetschenien: Der Name ist uns seltsam vertraut, evoziert Bilder von Krieg, Zerstörung, von einem Mann vielleicht mit sibirischem Tiger, Bart und goldener Pistole. Doch was ist Tschetschenien überhaupt: ein Land oder eine Region? Wer führte dort Krieg und wie zeigt sich das Leben in Tschetschenien heute? Der Film «Grozny Blues» des Basler Filmemachers Nicola Bellucci führt in die Hauptstadt der autonomen russischen Republik, einfache Antworten liefert er keine. Dafür nimmt er das Publikum mit auf eine traumähnliche Reise, bringt die Schrecken der Vergangenheit an die Oberfläche, rückt die Zeichen von Hoffnung in den Mittelpunkt und erzählt so das vielstimmige Porträt einer versehrten Grossstadt. «Ich habe vieles bewusst in der Schwebe gelassen», sagt Bellucci beim Gespräch in einem Kleinbasler Café. «Damit sich der Zuschauer in diesen Zustand der Ungewissheit versetzen kann, wie ich ihn während der Dreharbeiten erlebt habe.» Bellucci machte sich vor fünf Jahren zum ersten Mal auf nach Grozny. Möglichst unauffällig reiste er in einem Kleinbus über die Grenze, fuhr durch die Hauptstadt, vorbei an übrig gebliebenen Kriegsruinen und Hochhäusern im Rohbau, und traf auf eine verunsicherte Gesellschaft, in der kaum jemand ein Gespräch vor der Kamera führen wollte. «Mein erster Eindruck war: Hier einen Film drehen, das wird schwierig. Herausgekommen ist schliesslich etwas ganz anderes, als ich geplant hatte», sagt Bellucci. Während mehr als zwei Jahrzehnten versank die Region im Nordkaukasus im Krieg. 1994 erklärte die vormalige Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit von Russland, das daraufhin seine Truppen nach Tschetschenien schickte. Fortan bekämpften sich mehrheitlich islamistische Separatisten und die russische Armee während fast 15 Jahren mit grosser Brutalität. Bis sich die russische Armee 2009 aus Tschetschenien zurückzog und die Macht an den Putin-getreuen Präsidenten Ramsan Kadyrow übergab. Dieser regiert die autonome Republik seither mit den Mitteln eines Despoten, seine Anhänger zelebrieren um ihn einen Führerkult, während seine Gegner um ihr Leben fürchten. SURPRISE 371/16

BILD: CINEWORX

VON SIMON JÄGGI

Lüftet den Schleier einer unterdrückten Gesellschaft: «Grozny Blues».

Im Mittelpunkt von «Grozny Blues» stehen drei Frauen, die den Krieg und die bis heute andauernde Unterdrückung seit Beginn dokumentiert haben. Die Wut, die Tränen und das Lachen der Frauen vermischen sich mit vielen weiteren Stimmen zu einem Gesang voller Trostlosigkeit und Hoffnung zugleich: mit einer jungen Sängerin, mit dem Besitzer eines Jazzclubs, der sich in eine andere Stadt wünscht. Mit den singenden Kindern, mit Männern, die archaische Tänze aufführen, mit heulenden Motorrädern, geflüsterten Koransuren und dem Knallen des Feuerwerks zum Tag der Verfassung. Dahinter zieht die irreal anmutende Kulisse von Grozny vorüber: Von Plakatwänden wünscht das strahlende Staatsoberhaupt Ramsan Kadyrow eine gute Fahrt, in Tarnanzügen patrouillieren Militärs, und die prunkvollen Hochhäuser im Stadtzentrum stehen wie Fremdkörper in der Landschaft, daneben strahlt mitten in der grauen Betonmonotonie die golden leuchtende Moschee. «Der Film ist auch eine Parabel», sagt Bellucci. «Dafür, wie Menschen in Scheindemokratien leben, die eigentlich Diktaturen sind. Insofern könnte die Geschichte auch in anderen Ländern spielen, wo die Bevölkerung

unterdrückt wird.» Der Film solle auch eine Ermutigung zum Widerstand sein. Deshalb habe er sich bewusst nicht auf die Kritik an der Regierung konzentriert, sondern sich auf die Suche gemacht nach jenen Menschen, die sich widersetzen und mutig für eine freiere und offenere Gesellschaft einstehen. Ganz am Ende des Films bricht ein Feuer aus, der «Olympus» steht in Flammen: das höchste Hochhaus der Stadt und Symbol der Macht von Kadyrow. Zum ersten Mal füllen sich die sonst meist leeren Strassen und Plätze mit Menschen, einige Zuschauer weinen, andere beten, und ein junger Mann auf der Strasse stimmt an zum Schlussgesang: «Wisst ihr, seit wie vielen Jahren Grozny brennt? Seit 1994. Grozny hört nicht auf zu brennen. Eine lebendige Stadt, so lebendig wie die Leute hier. Irgendwie schaffen wir es zu überleben.» ■

Nicola Bellucci: «Grozny Blues», Schweiz 2015, 103 Min. Der Film läuft ab 24. März in den Deutschschweizer Kinos und wurde in der Kategorie «Bester Dokumentarfilm» für den Schweizer Filmpreis nominiert.

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BILD: ZVG BILD: ZVG

Kultur

Wahrheit wie rum denn jetzt …?

Packen mit Worten statt mit der Gartenhacke an: Sandra Künzi (r.) und Tabea Steiner.

Buch 2 × die Wahrheit

Literatur Bücher solidarisieren

Marie Wolf erzählt von der Wahrheit und davon, was Bilder damit anrichten können.

Lesen ist nicht einfach lesen. Es ist Musik, Performance, Lyrik und Politik, wie das Berner Lesefest Aprillen zeigt.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON MONIKA BETTSCHEN

Wer das wunderschön gestaltete Büchlein von Marie Wolf aufschlägt, erlebt eine Überraschung. Denn zwischen den Buchdeckeln steckt nicht nur ein Buchblock, sondern es finden sich gleich zwei davon: einer mit weissem Cover, schwarzem Titel und weissem Buchbändchen, der andere vice versa Weiss auf Schwarz mit schwarzem Band. Nur der Titel ist derselbe: «Die Wahrheit». Und schon steht man vor einer Entscheidung: Welches der beiden Bücher soll man zuerst aufschlagen? Welche Geschichte zuerst lesen? Welcher Wahrheit zuerst auf die Spur kommen? Doch die nächste Überraschung folgt postwendend: Denn die beiden Büchlein erzählen dieselbe Geschichte. Zumindest was den Text angeht. Die Sätze sind alle gleich. Beide Versionen berichten von einem Jungen, der den Schlüssel des Sheriffs an sich nimmt und den Wald betritt, in den sich sonst niemand aus dem Dorf wagt. Hier findet er einen Riesenzahn, dann einen See und dort einen gefangenen Wal, der, wie es zu Beginn der Geschichte heisst, alle Wahrheit in sich trägt. Der Junge befreit den Wal und ist der Held der Stunde. Oder doch nicht? Denn etwas unterscheidet die beiden Bücher grundlegend. Es sind die Bilder. Bilder, die in entscheidenden Punkten so verschieden sind, dass dieselbe Geschichte von zwei Wahrheiten erzählt. In der einen vom braven Jungen mit den blauen Augen, der den Wal vor dem bösen Sheriff rettet. In der anderen von einem üblen Burschen, der von Beginn an nur Böses im Schilde führt. Steht am Ende der einen Geschichte der Jubel der Dorfbevölkerung, zeichnet sich am Schluss der anderen Schrecken und Panik auf ihren Gesichtern ab. Und so überraschend das Spiel mit den zwei Wahrheiten anfangs erscheint, so vertraut ist die schlichte Botschaft, die es transportiert: die von der manipulativen Kraft der Bilder, wie sie uns in den Medien alltäglich begegnet. Eine Kraft, die die Wahrheit so verformt, wie es dem jeweiligen Interesse und Kalkül gerade in den Kram passt. Ein wahrhaft aktueller Stoff. Immer wieder.

Sandra Künzi und Tabea Steiner haben der lebendigen Berner Literaturszene vor zwei Jahren mit dem Lesefest Aprillen eine Plattform hinzugefügt, die die grosse Vielfalt des literarischen Schaffens in überraschenden Kombinationen auf die Bühne bringt. «Eigentlich müsste es ja fast eher Erzählfest heissen, denn bei uns wird nicht bloss gelesen, sondern die Schreibenden berichten auch vom Prozess des Erzählens», sagt Tabea Steiner. «So kann das Publikum ganz nahe an die Wurzel des literarischen Schreibens herantreten.» Während vier Festivaltagen stehen rund 20 Schreibkünstler in unterschiedlichen Konstellationen auf der Bühne. Das Lesefest zeigt neben klassischen Lesungen Literatur in Verbindung mit Musik oder Performance. Es gibt lyrische Dialoge, bei denen zwei Schreibende ein Gespräch ausschliesslich in Gedichtform führen, es gibt Gesprächsrunden und Late-Night-Shows. Zum Auftakt werden die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger und der syrische Autor Aboud Saeed mit dem Journalisten, St. Galler Kantonsrat und Spoken-Word-Künstler Etrit Hasler ein Gespräch über Asyl, Migration und Grenzen führen. Alle drei haben ihren ganz eigenen Zugang zu dieser aktuellen Thematik. Etrit Hasler hat einen kosovarischen Vater, Aboud Saeed stammt aus Syrien und erhielt 2013 politisches Asyl in Berlin. Er begann, mit Statusmeldungen auf Facebook über sein Leben im Strudel der Migration zu schreiben und erhielt ein Autorenstipendium. «Während Aboud Saeed in kurzen Erzählungen im Stil des Realismus seine Beobachtungen festhält, bettet Dorothee Elmigers Roman ‹Schlafgänger› das Thema kunstvoll in einen grossen historischen Zusammenhang ein», sagt Tabea Steiner. Das Buch gibt jenen Menschen eine Stimme, die entwurzelt wurden und an den Anforderungen des Fortschritts gescheitert sind. Für Dorothee Elmiger, deren Schaffen im deutschsprachigen Raum bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, sind Bücher mehr als eine kreative Ausdrucksform. «Bücher können dokumentieren, sie können Zusammenhänge aufzeigen, sie können uns an etwas erinnern und im besten Fall immer wieder Gespräche anstossen – in kleiner Runde, unter Freunden, Leserinnen. Peter Bichsel hat in einem Interview einmal gesagt, Lesen habe eine ‹eigenartige Funktion der Solidarisierung›, daran glaube ich», sagt Elmiger.

Marie Wolf: Die Wahrheit. Collection Büchergilde 2015. CHF 38.90

Lesefest «Aprillen»: Mi, 6. bis Sa, 9. April, Schlachthaus Theater Bern. www.aprillen.ch

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BILD: ZVG

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Mantikor tummelt sich im Delta und wartet auf die leckeren Forscher.

Theater Zwischen Wahn und Wissen Im Theater Winkelwiese wildert ein menschenfressendes Ungeheuer durch Raum und Zeit. VON PHILIPP SPILLMANN

Am Rande des Nirgendwo, tief in den Neunzigerjahren: Ein einsames Boot treibt über einen verlassenen Fluss. An Bord befindet sich die Forschergruppe «Cross», angeführt vom verwegenen Expeditionsleiter Milon Lachwitch Ghon. Sie steuern durch das tropische Delta Hubur, an dessen Mündung sich der Mythos des menschenfressenden Monsters Mantikor ausbreitet. Mit dabei ist Milons Zwillingsbruder Endres, der an das Ungeheuer glaubt. Dann ein Zeitsprung: Eine junge Frau, die Urgrossmutter der Gebrüder Ghon, pflanzt 1941 auf ihren Feldern Schlafmohn für den bevorstehenden Krieg. Bald taucht der ominöse Zauberer Altras bei ihr auf, der ihr vom Überwesen Mantikor erzählt. Wie ihre Nachfahren begibt auch sie sich auf die Suche nach dem gefährlichen Dämon. Und während die Gebrüder Ghon immer tiefer in das übernatürliche Dickicht des ominösen Deltas geraten, verzahnt sich die düstere Vergangenheit immer mehr mit der Gegenwart der Forschungsfahrt. «Memetuum Plex Staffel 2 – Ontovore» ist eine wilde Science-FantasyTheaterserie, die über drei Episoden hinweg erzählt, wie Wissenschaften und Vernunft an einer Welt zerschellen, die von irrwitzigen Mächten verwaltet wird. Während die erste Episode auf dem Fluss spielt, durchwandern die Forscher in der zweiten Folge den surrealen Boden des Deltas, bis sie schliesslich an einen Punkt gelangen, an dem es kein Zurück mehr gibt. Regisseur und Autor des Stücks ist der österreichische Schauspieler Christoph Rath, der 2013 schon die preisgekrönte erste Staffel im Kunstraum Walcheturm aufgeführt hat. Die zweite Staffel knüpft an die erste an, allerdings brauche es keinerlei Vorwissen, um die Stücke zu sehen, betont Rath. Während sich der erste Teil mit Fragen der künstlichen Intelligenz befasste, geht «Memetuum Plex Staffel 2 – Ontovore» aufs Ganze: Auf dem Spiel steht nichts weniger als das gesamte Wissen über die Wirklichkeit, der Glaube an das Fundament dieses Wissens und das Fortleben der Menschen, wenn dieses Fundament zu bröckeln beginnt.

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Imbach Reisen AG, Wanderreisen, Luzern

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Institut und Praxis Colibri, Murten

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Petra Wälti Coaching, Zürich

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Bachema AG, Schlieren

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Pro Lucce, Eschenbach SG

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Mcschindler.com GmbH, Zürich

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Burckhardt & Partner AG, Basel

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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

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AnyWeb AG, Zürich

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TYDAC AG, Bern

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InhouseControl AG, Ettingen

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Hauswirth Privat-Pflege, Oetwil am See

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Supercomputing Systems AG, Zürich

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Frank Blaser Fotograf, Zürich

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Balcart AG, Therwil

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Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Doppelrahm GmbH, Zürich

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Hofstetter Holding AG, Bern

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CMF Zentrum für Achtsamkeit, Zürich

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Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

«Memetuum Plex Staffel 2 – Ontovore», Episode 1: Do, 31. März, 20 Uhr, weitere Vorstellungen von Fr, 1. bis So, 3. April, danach folgen Episoden 2 und 3, Spieldaten online, Theater Winkelwiese Zürich; die Episode 3 wird im Tanzhaus Zürich gezeigt. www.winkelwiese.ch

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Zürich Nützen soll’s Finde das Göttliche in dir selbst.

Liestal Aus zwei Welten Nach Westeuropa ausgewandert, um sich musikalisch weiterzuentwickeln, haben sie schliesslich die Musik ihrer Heimat verändert und neu geprägt: Ahmet Aslan und Kemal Dinç gelten als Meister der anatolischen Musik in modernem Gewand. Aslans ruhigen, sparsam instrumentierten Lieder in der indoiranischen Sprache Zazaki handeln von Liebe und dem Suchen und Finden des Göttlichen in sich selbst. Bekannt wurde Aslan zunächst in Deutschland und erst später in der Türkei, wo er wie Kemal Dinç heute zu den Bewahrern und Weiterentwicklern der anatolisch-alevitischen Musik zählt. (win)

Jasper Morrison ist ein Designer, der was gegen Design hat. Jedenfalls gegen solches, das mehr will, als es kann. Zu viele Designer tappen nach Morrisons Ansicht in die Falle, dem Aussehen der Dinge die grösste Beachtung zu schenken. Er fand: Gut ist gut, weil es einfach ist. Damit prägte er in den Achtzigerjahren – also mitten in der Postmoderne – ein neues Designverständnis. Die Form tritt in den Hintergrund, wichtiger ist die Entwurfshaltung. Und gute Lösungen entstehen meistens unerwartet. Und das geht so: Man beschäftigt sich mit einem Archetyp, also einem Weinglas oder einem Klappstuhl zum Beispiel, und versucht ihrer Funktionalität auf die Spur zu kommen. Und wenn man Jasper Morrison ist, entsteht dann etwas Neues mit historischem Bezug und Rückgrat in Sachen Produktions- und Materialgerechtigkeit. (dif)

BILD:

© AMACKERSTAUFFER

© JASPER MORRISON, OP-LA TABLE, SKIZZE, 1998

Ein Glas, eine Flasche, ein Tablett.

BILD:

BILD: ISTOCKPHOTO

Ausgehtipps

Ein Fluss, zwei Berge? Nein: «Les Paysages abstraits.»

Yverdon-les-Bains Kunst der Sterne

«Jasper Morrison – Thingness», noch bis 5. Juni,

In Yverdon gibt es ein Haus für’s Übrige, ein Maison d’Ailleurs – für alles also, was nicht ganz von dieser Welt ist oder ganz konkret um unsere Erdkugel herumfliegt. Ein Science-Fiction- und Robotik-Museum. Hier kann man sich zurzeit anschauen, wie die Sterne tanzen. Denn die poetische Dimension des Daseins gehört zur Conditio humana wie kaum etwas anderes. In Zeiten, in denen es Kunst und Kultur schwer haben, weil alles und jedes auf seine Nützlichkeit hin beurteilt wird, nimmt sich das Maison d’Ailleurs des Schönen und Poetischen an. Die Ausstellung «Danse avec les étoiles» stellt die Frage nach der Kunst in der ScienceFiction und stösst dabei auf viel Poetisches, das die neuen Technologien durchaus auch mit sich bringen. (dif)

Di bis So 10 bis 17 Uhr, Mi 10 bis 20 Uhr, offen über

«Danse avec les étoiles», Di bis So, 11 bis 18 Uhr,

Ahmet Aslan und Kemal Dinç, «Na Mükemmel»,

die Feiertage ausser Karfreitag und immer montags,

noch bis zum 28. August, Maison d’Ailleurs – Musée

So, 27. März, Türöffnung 18.30 Uhr, Hotel Engel,

Museum für Gestaltung, Toni-Areal, Zürich

de la science-fiction, de l’utopie et des voyages

Kasernenstrasse 10, Liestal. Tickets im Vorverkauf

www.museum-gestaltung.ch

extraordinaires, Place Pestalozzi 14, Yverdon-les-

35 CHF, Abendkasse 40 CHF. Reservation: 079 391 18 81

Bains, www.ailleurs.ch

Anzeigen:

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BILD: HANNAH HÖCH, MUSEUM FÜR KUNST UND GEWERBE HAMBURG

BILD: BRIGITTE FÄSSLER

Der Zauber des Aussereuropäischen.

Klingen wie Himbeersirup? Tim & Puma Mimi.

St. Gallen Der Sound der Gurke «Grundsätzlich eignet sich jedes Lebensmittel als Instrument, doch bei einem Apfel lässt sich einfach kein so weites Tonspektrum erzielen wie bei einer Gurke», erklärt das Musiker-Ehepaar Christian Fischer und Michiko Hanawa alias Tim & Puma Mimi. Tatsächlich kann es bei Konzerten des Elektropop-Duos vorkommen, dass Tim eine Gurke hervorzieht, zwei Nadeln unter Strom reinsteckt und ihr so archaische Geräusche entlockt. Mimi stimmt dann ein mit dem James-Brown-Über-Klassiker «I feel good», der in diesem Kontext logischerweise zu «I feel gurk» uminterpretiert wird. Die Geschichte des Duos ist ebenso bemerkenswert wie seine Musik: Fischer und Hanawa lernten sich auf einer Samichlaus-Party in Utrecht kennen, verliebten sich und führten danach eine Fernbeziehung – auch musikalisch. Aus der Not heraus erfanden sie die Skype-Konzerte, bei denen Mimi via Internet aus ihrer Einzimmerwohnung in Tokio zu Konzerten zugeschaltet wurde, die Tim irgendwo in Europa organisiert hatte. Heute leben die beiden verheiratet in der Schweiz und sammeln Steine und Klingeltöne zwischen Europa und Japan. Dabei heraus kommen simple, quere und charmante Melodien zwischen Laborexperiment, Himbeersirup und moderner Clubmusik. Ein Kick-off für den akustischen Frühling. (ami)

Zürich Dada-Dialog mit dem Fremden Dadaismus und Afrika: Bereits ein Jahr nach der Ausrufung von Dada machte eine Zürcher Galerie die Zusammenhänge zwischen der europäischen Kunstavantgarde und der «Negerkunst», als die sie damals noch bezeichnet wurde, zum Thema. Die Begründer des Dadaismus verstanden die aussereuropäische Kunst mit ihrer magischen und archaischen Sprache von Beginn weg als wichtige Inspirationsquelle und entdeckten im Exotischen eine befreiende Gegenwelt. So veranstaltete auch das Cabaret Voltaire früh sogenannte Soirées nègres, die den gängigen Kunstbegriff attackierten. Mit der Darbietung von pseudo-afrikanischen Lautgedichten, Trommelrhythmen und Maskentänzen. Beim Publikum Befremden auszulösen, war vorgesehen. 100 Jahre nach der Begründung des Dadaismus widmet sich nun mit «Dada Afrika»! weltweit zum ersten Mal eine Ausstellung der Auseinandersetzung der Dadaisten mit aussereuropäischer Kunst und Kultur. Dabei treten dadaistische Arbeiten in einen gleichberechtigten Dialog mit Kunst, Musik und Literatur aus Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien. (sim) «Dada Afrika»!, Fr, 18. März bis So, 17. Juli 2016, Museum Rietberg, Gablerstrasse 15, Zürich. www.rietberg.ch

Tim & Puma Mimi, Do, 24. März, Tür 20 Uhr, Beginn 21 Uhr, Support Act: Kid Schurke, Palace, Blumenbergplatz, St. Gallen. Eintritt 18 CHF.

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Verkäuferporträt «Plötzlich klingelte das Telefon» BILD: ZVG

Surprise-Verkäufer Negussie Weldai, 57, konnte in einem Schweizer Asylzentrum nach über fünf Jahren seine Frau wieder in die Arme schliessen. Jetzt fehlen ihm zum perfekten Glück nur noch eine Wohnung und eine Arbeitsstelle. AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

«Ich bin seit sechs Jahren in der Schweiz, meine Heimat Eritrea habe ich aber schon vor über 25 Jahren verlassen. Ich bin während der Befreiungskämpfe geflüchtet, als Eritrea für die Unabhängigkeit von Äthiopien kämpfte. Innerhalb der Revolutionsbewegung hatten sich verschiedene Gruppierungen gebildet. Meine Leute beschuldigten mich zu Unrecht, dass ich der andern Gruppe angehöre, und brachten mich zweimal für mehrere Monate ins Gefängnis. Ein weiteres Mal wollte ich das nicht riskieren und floh. Nach einigen Jahren im Sudan lebte ich viele Jahre im Libanon, wo ich dank meinen Englisch- und Arabischkenntnissen unter anderem in der internationalen Personalrekrutierung arbeitete. 2005 beging ich einen dummen Fehler: Ich hatte meine Aufenthaltsbewilligung nicht erneuern lassen, wurde deswegen ausgewiesen und direkt nach Eritrea gebracht. Da ich befürchten musste, wieder im Gefängnis zu landen, machte ich mich so schnell wie möglich auf den Weg ins Nachbarland Sudan. In der sudanesischen Hauptstadt Khartoum lernte ich meine aus Äthiopien stammende Frau kennen, und wir heirateten. Zusammen betrieben wir ein Fotostudio, das spezialisiert war auf Passfotos. Am Anfang lief es gut, doch mit der Zeit bekamen wir als Ausländer immer mehr Probleme mit den Einheimischen. Wir wurden schikaniert und erhielten immer weniger Aufträge. Ende 2009 entschieden wir uns, das Land zu verlassen. Wir dachten, ich gehe voraus, am besten nach Europa, und schaue dann, dass sie so bald als möglich nachkommen kann. Dass wir danach mehr als fünf Jahre getrennt sein würden, hätten wir nie gedacht. In dieser langen Zeit haben wir fast jeden Tag telefoniert und einfach die Hoffnung nie aufgegeben, dass wir irgendwann wieder zusammen sein können. Andere aufgenommene Flüchtlinge mit Aufenthaltsbewilligung F oder B können nach einigen Jahren ihre Familie nachholen. Bei meinem Gesuch lief aber einiges schief: Anscheinend hat die Behörde zuerst mein Dossier verloren. Dann wollte sie mich nicht als Flüchtling anerkennen und behauptete, ich stamme aus Äthiopien. Während fast fünfeinhalb Jahren hatte ich nur einen N-Ausweis für Asylsuchende mit laufendem Verfahren und durfte somit weder meine Frau in die Schweiz holen noch arbeiten – mit Ausnahme vom Surprise-Verkauf. Letzten Oktober, nachdem ich ein paar Tage nichts von meiner Frau gehört hatte, klingelte plötzlich das Telefon: Sie meldete sich und teilte mir mit, sie sei jetzt in Vallorbe im Kanton Waadt! Sie hatte die Flucht auf eigene Faust angetreten, ohne mir etwas zu sagen. Weil sie mich überraschen wollte und vielleicht auch, damit ich mir keine Sorgen mache. Ich war überglücklich und reiste so schnell wie möglich zum Empfangszentrum in die Westschweiz. Mittlerweile wohnen wir beide in der gleichen Asylunterkunft in Belp, sie in einem Frauenzimmer, ich in einem Männerzimmer. Wir würden natürlich sehr gerne zusammenleben, aber eine Wohnung zu finden ist mit unserem Budget und unserer Herkunft nicht einfach. Auf rund 40 Wohnungen haben wir uns schon beworben, bekamen aber nur Absagen oder gar keine Antwort, und das trotz der Kostengutsprache

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der Heilsarmee für die Miete und das Mietzinsdepot. Ein Grund für die Absage ist unter anderem oft, dass die Wohnung nur an eine Einzelperson vermietet wird. Mit unserem Budget können wir uns aber leider momentan nur auf Einzimmerwohnungen und Studios bewerben. Auf dem Land, weit weg von Bern, hätten wir vielleicht mehr Chancen. Das Problem ist da nur, dass ich dann nicht mehr Surprise verkaufen kann, weil der Erlös aus dem Heftverkauf gleich wieder in die Zug- oder Postautobillette geht. Schon lange würde ich am liebsten selbst für meinen Lebensunterhalt sorgen, so wie ich das früher auch immer getan habe. Aber mit dem N-Ausweis war das nicht erlaubt. Nun suche ich seit letztem Sommer Arbeit, doch das braucht mindestens so viel Geduld wie die Wohnungssuche. Zum Glück werde ich dabei momentan vom ‹Passepartout›, einem Arbeitsintegrationsprogramm des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks, unterstützt. Ich hoffe, dass ich bald eine Stelle finde, denn meinen Traum, wieder wie einst meinen eigenen kleinen Laden zu führen, kann ich hier wahrscheinlich nicht mehr verwirklichen.» ■ SURPRISE 371/16


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Fatma Meier Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Oliver Guntli Bern

Roland Weidl Basel

Daniel Stutz Zürich

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

371/16 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 371/16

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Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit einem Netzwerk aus freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der ganzen Deutschschweiz. Sie kämpfen um den Titel des Schweizermeisters und des Weltmeisters beim Homeless World Cup. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen kostenlosen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine einfache und charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren. Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Gönner-Abo für CHF 260.–

Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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Rechnungsadresse: Vorname, Name

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Datum, Unterschrift 371/16

Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami, Heftverantwortlicher), Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win), Simon Jäggi (sim), Thomas Oehler (tom) redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Robert Beyer, Andrea Ganz, Isabel Mosimann, Johny Nemer, Philipp Spillmann, Christian Zeier Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 27 700, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Fabian Steinbrink Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T +41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Beat Jans Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 371/16


Gesucht: Der Fan-Schal für die Nati 2016! Die Strassenfussball Nati fährt im Juli an den Homeless World Cup in Glasgow – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler auch in diesem Jahr ihren Gegnern zum Handshake original handgemachte Fanschals. Machen Sie mit! Der Schal sollte ca. 16 cm breit und 140 cm lang sein und – Sie hätten es erraten – in Rot und Weiss gehalten. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht! Die Spieler unserer Nati werden den schönsten Schal küren – der Gewinnerin oder dem Gewinner winkt ein attraktiver Surprise-Überraschungspreis!

Schicken Sie den Schal bis spätestens Donnerstag, 30. Juni 2016 an: Surprise Strassenfussball, Spalentorweg 20, 4051 Basel.



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