Surprise 379

Page 1

Nr. 379 | 15. bis 28. Juli 2016 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Tiefer lesen Ein literarischer Tauchgang mit Geschichten von Sybille Berg, Güzin Kar, Milena Ana Keller, Guy Krneta, Charles Lewinsky, Sunil Mann, Isabel Morf, Fabian Saurer und Christoph Simon


Anzeige:

Sommeraktion. Grosses Badetuch 100 × 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Strandtuch (100×180 cm) Aktionspreis: CHF 55.– (anstatt CHF 65.–) 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

Alle Preise exkl. Versandkosten.

Vorname, Name

Telefon

Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

*gemäss Basic 2008-2. Seite bitte MACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

379/16


Titelbild: Priska Wenger

Editorial Leichte Kost

Gut möglich also, liebe Leserinnen und Leser, dass Sie demnächst in die Ferien fahren. Für diesen Fall halten Sie die ideale Reiselektüre in den Händen. Zwischen den kurzen Geschichten kann man wunderbar den Blick aus dem Zugfenster schweifen lassen oder dem Steward noch einen Plastikbecher Weissen in Auftrag geben. Und Hand aufs Herz: Von den drei Kilo Büchern, die ich jeweils meine, in meinen Koffer stopfen zu müssen, schaffe ich in der Regel nicht einmal die Hälfte.

BILD: WOMM

Dass es Sommer ist, erkennt man auch daran, dass die Surprise-Sonderausgaben voller Kurzgeschichten auf der Strasse sind. Und die Tatsache, dass dies das zweite von zwei Literatur-Heften ist, weist darauf hin, dass der Sommer bereits fortgeschritten ist.

AMIR ALI REDAKTOR

Die gut zwanzig Seiten hier sind als der Jahreszeit entsprechende literarische leichte Kost gedacht – die deswegen nicht weniger gehaltvoll sein muss. Erneut haben uns namhafte Autorinnen und Autoren Kurzgeschichten honorarfrei zur Verfügung gestellt. In diesem Heft können Sie mit Charles Lewinsky zu Tells Apfelschuss reisen, Guy Krneta in seine eigene Vergangenheit folgen und mit Sybille Berg durch das Fotoalbum des Lebens blättern. Güzin Kar erzählt von Selbsterkenntnis durch Gulasch. Isabel Morf zeigt, warum das Räuber-Dasein kein Kinderspiel ist. Christoph Simon dichtet einem Dichter Diebstahl an, und Sunil Mann lüftet nach und nach das Geheimnis eines längst vergangenen Tages am See. Und erneut haben auch junge, noch unbekannte Talente für uns in die Tasten gehauen: Milena Ana Keller reist gen Süden zu den Krähen und Fabian Saurer streitet sich mit seinem Berater um den Anfang einer Geschichte. Beide studieren am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, mit dem wir dieses Jahr zum zweiten Mal zusammenarbeiten. Wenn Ihnen die Lektüre dieser Ausgabe Lust auf mehr macht: Sie können die Literaturausgabe Nr. 378 zum Preis von sechs Franken plus Versandkosten auf Rechnung nachbestellen: Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel oder info@strassenmagazin.ch Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Sommer mit leichtem Gepäck. Amir Ali

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 379/16

3


03 05 28 30

31

Inhalt Editorial Fortgeschrittener Sommer Mein Krimi Kein Mord und Totschlag Rätsel Sudoku und Kreuzworträtsel In eigener Sache Impressum INSP Rätsel Lösungen aus Heft Nr. 378

6

Gesteinsschmelze VON MILENA ANA KELLER

9

Yfüerig VON GUY KRNETA

10 Mein Berater und ich VON FABIAN SAURER

14 Show and Tell VON CHARLES LEWINSKY

16 Der Gulasch in dir VON GÜZIN KAR

18 Auf dünnem Eis VON SUNIL MANN

22 Der Dieb im Hotel Schweizerhof VON CHRISTOPH SIMON

24 Eine todsichere Sache VON ISABEL MORF

27 Keine Standuhr, kein Regen VON SYBILLE BERG

4

BILD: ZVG

Die Illustrationen dieser Ausgabe stammen von Priska Wenger. Die Illustratorin gestaltet seit vielen Jahren die Bilder zu unserer Gerichtskolumne «Vor Gericht» und hat bereits mehrere Sonderhefte von Surprise bebildert. Priska Wenger lebt und arbeitet in New York und Biel.

SURPRISE 379/16


Mein Krimi Wer tut es wem an? Wenn Ihnen jemand einen Krimi in Auftrag gäbe: Wer wäre der Mörder und wer das Opfer? Diese Frage haben wir unseren Verkaufenden, Sängern und Stadtführern gestellt.

AUFGEZEICHNET VON BEAT CAMENZIND UND SARA WINTER SAYILIR

Wenn ich einen Krimi schreiben würde, müsste ein schlauer Detektiv drin vorkommen. Und ein ebenso raffinierter Verbrecher. Der würde aber etwas stehlen, ohne Blut zu vergiessen. Mord und Totschlag kämen nicht in meinem Krimi vor. Ich finde es spannender, wenn sich der Ermittler anstrengen muss, um das Verbrechen aufzuklären. Ich las früher Krimis wie Jerry Cotton und andere Detektivgeschichten. Ich konnte mich dabei gut entspannen. Meistens identifizierte ich mich mit dem Detektiv. Heute schaue ich ab und zu einen «Tatort» oder die Serie «Der Staatsanwalt». Peter Conrath, Verkäufer und Stadtführer in Zürich

In meinem Krimi wäre das Opfer ich selbst. Die Täter wären Behörden, Ämter, Ärzte. In der Geschichte würde es wimmeln von Missverständnissen aller Art. Der Titel wäre: «Dschungelkampf mit Behörden» oder so ähnlich. Mich interessieren bei einer Geschichte die Schlussfolgerungen, die Untersuchung des Falles. Agatha Christie mag ich gern, «Tod auf dem Nil» zum Beispiel, mit Hercule Poirot. Krimis zum Nachdenken. Auch «Tatort» schaue ich gern, aber lieber noch «Pfarrer Braun» mit Ottfried Fischer. Gern lese ich auch UFO-Literatur. Denn wir sind nicht allein im Weltall, das ist doch spannend. Werner «Elvis» Hellinger, Stadtführer in Basel

Wenn ich einen Krimi schreiben würde, wäre das Opfer meine Schwester und der Täter mein Mann. Die kennen sich nämlich von früher, sie hatten einen gemeinsamen Treffpunkt, wo sie immer hingegangen sind, ein Töfflokal. Das lag an einem Fluss und war sehr beliebt. Ich kannte meinen Mann damals noch nicht, da waren wir so Anfang 20, und ich war damals schon mit grösseren Töffs unterwegs. Mein Mann, muss man dazu wissen, war ein wilder Kerl in seiner Jugend. Er ist heute noch Schatzmeister beim British Motorcycle Club Switzerland. Und meine Schwester weiss viel über ihn und seine Sünden. Und sie war auch eine Rockerbraut. Das ist ja so ein Millieu, in dem man Abrechnungen etwas lockerer begleicht. Da kann ich mir vorstellen, dass sie ihn bedroht und er sie in einer Affekthandlung … Wer weiss. Eva Herr, Verkäuferin in Basel

Wenn ich selbst einen Krimi schreiben müsste, gäbe es keinen Mord. Schon wenn einer eine Lüge erzählt, kann das Leben zu einem Krimi werden. Denn eine Lüge ist auch eine Art Mord, ein Mord an der Wahrheit. Die besten Bücher schreibt das Leben, jeder Mensch ist eine Art Buch. Man muss nicht Krimis lesen oder schreiben, man sollte lieber einander zuhören und miteinander reden. Gut und richtig zu leben, ist Aufgabe genug. Und besser als Shakespeare kann man es sowieso nicht machen. Deswegen lese ich keine Krimis mehr. Früher habe ich viel Krimis im Fernsehen geschaut und es hat mir Spass gemacht. Aber heute glaube ich, Krimis setzen das falsche Zeichen: Menschen, die nicht stabil sind, könnten sich an den Geschichten ein Beispiel nehmen, sich davon zu Verbrechen inspirieren lassen. Daher habe ich mich bewusst dagegen entschieden. Louis Douglas Nke, Strassenchor-Sänger in Basel

SURPRISE 379/16

5


Gesteinsschmelze VON MILENA ANA KELLER

Die Luft stand im Abteil, stand im ganzen Zug, der stehen geblieben war, irgendwo auf der Strecke und mitten im Nichts. Vielleicht standen wir seit einer halben Stunde still, vielleicht seit zwei, die Zeit war mit der Bewegung abhandengekommen und die Uhr mit dem Mobiltelefon. Es hatte sich selbst ausgeschaltet. Überhitzung. Die Menschen machten es nach, so gut sie eben konnten. Lethargie hatte die Gesichter geleert, die Münder, die erst noch Worte ausgetauscht hatten und Seufzer, hatte die Empörung erstickt, bevor sie zum Kollektiv werden konnte. Nur ein paar müde Hände fächelten noch mit gefalteten Zeitschriften gegen die Schweisstropfen, gegen die Fliegen an. Die Frau gegenüber hatte sich bereits ergeben, lag in ihrem Sitz, ihren Sitzen, eineinhalb, um genau zu sein, und schwitzte. Ein kontinuierliches Rinnsal hatte sich in ihrem Ausschnitt gebildet, floss zwischen den Brüsten ab und versickerte in horizontalen Linien zwischen den Fettfalten. Dunkelrosa Streifen auf dem hellrosa Stoff und Feuchtigkeit in der Luft. Eine weitere Durchsage vertröstete auf spätere Durchsagen, und auch ich ergab mich, der Hitze und überhaupt. Es gab nichts zu tun, verloren war, was es zu verlieren gab. Ich verjagte die Fliege nicht, die sich auf mein Bein setzte, und ignorierte meinen Körper. Draussen flirrte der Boden und die Sonne knallte, um noch die letzten Flecken Grün zum Verschwinden zu bringen. So ging das weiter, und ich war weg und verpasste die Durchsage, die auch etwas zu sagen schien, denn auf einmal kam Bewegung in die Menschen. Sie schauten einander an und schimpften und fluchten, ohne sich anzusehen, gegen die Bahn und gegen den Staat und überhaupt, und jeder war noch ein bisschen mehr betroffen als der andere, von der Katastrophe, die scheinbar eingetroffen war, und von deren Folgen, nur ich begriff erst einmal nichts. Und als ich zu begreifen begann, wegen der Wortfetzen und wegen der Schaffner, die uns mit steinernen Gesichtern aus dem Zug bugsierten, musste ich erst einmal ein bisschen

6

lachen, nicht besonders lustig aber dafür schnell. Die Gruppe rückte unmerklich ein wenig von mir ab und tat gut daran, denn ich hatte offensichtlich Mühe, mich zu beherrschen. Nur du hättest lauter gelacht als ich. Wir mussten also raus, die Räder würden heute nicht mehr rollen, und auch nicht die aller anderen verfügbaren Verkehrsmittel in der Nähe, aber keine Sorge, wir würden abgeholt werden und einquartiert für die Nacht und morgen bereits würden wir weiterreisen, als wäre nichts gewesen. Ein mittlerer Tumult entstand, und dann standen wir eine weitere leere Weile im Nirgendwo und alles dehnte und zog sich hin, die Waggons warfen ihre Schatten in die falsche Richtung und die Grillen rieben ihre Beine aneinander. Irgendwann schmolzen zwei Flecken aus der Horizontlinie, flimmerten noch ein bisschen, räderlos, und wurden dann zu normalen, in die Jahre gekommenen Wagen. Alles schrie und schubste, und irgendwie wurde ich zu einer Tür gedrängt, verbrannte mich halb am heissen Blech und landete auf zerschlissenen Polstern, liess mich zusammendrücken von feuchten Armen und von Riechbäumen und wurde dafür als erste Fuhr zum Gasthaus gebracht. Dabei wäre mir das Warten egal gewesen. Das Zimmer war so, wie man sich das vorstellt, mit Häkeldeckchen und getrockneten Blumen und falschem Marmor im viel zu grossen Bad, dessen Öffnungen braunes Wasser erbrachen. Ich legte mich aufs Bett, statt zu duschen, und blieb liegen. Unten würde es wohl ein Buffet geben, vielleicht sogar gratis, und ich sah mich von wogenden Massen gegen kalte Platten geschoben wie eben, und blieb weiter im Bett und wünschte mir eine Flasche Wein. Das Telefon schaltete ich nicht ein und mein Himmelfleck wurde orange, dann rosagelb, dann dunkelblau, und irgendwann wusste ich nicht mehr, ob ich wach lag oder träumte, wach zu liegen, aber auch das machte keinen Unterschied. Einen Aufschub hatte ich mir gewünscht und ein Aufschub war mir gewährt worden, mehr lag nicht drin. Das Kissen roch nach Rosenwaschmittel, und SURPRISE 379/16


Vorbeifahren zu und den Haltestellen beim Halten und hielt meinen irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein, denn ich bin aufgeKopf leer. Ausgerechnet in Neapel würde ich umsteigen müssen, statt, wacht. Aufgeschreckt im Wachen, weil du eben noch neben mir gelegen wie ursprünglich geplant, erst in Salerno. Napoli. Allein der Nachhall hattest, und nun war die Decke kalt. Das Fenster stand offen und das des Namens drückte mir den Hals zu. Viereck darin bekam allmählich einen hellen Boden, wurde zu einem Beim Aussteigen wurde mir schwarz vor Augen. Ich fing mich an einem hellen Viereck und zu einem Kreis, die Kanten gebrochen von den StrahTresen und würgte, würgte an einem dieser widerlichen weissen Sandlen. Ich brach mit der Liegerei, machte Katzenwäsche mit Klopapier, nur wiches, musste es hinunterwürgen, seit drei Tagen schon hatte ich um mir danach rosa Ribbeleien von der Haut zu zupfen. nichts mehr gegessen, und stützte mich schwer. In jedem annehmbaren Den Kaffee trank ich im Stehen, hatte ihn im Frühstücksraum geholt, ohCafé am Napoli Centrale klebten wir, in jedem Restaurant in der Nähe, ne die Gruppe zu grüssen. Auf dem T-Shirt der gestreiften Frau hatte sich eine Salzkruste gebildet, die mit jedem Griff zum Buffet ein bisschen mehr zu Boden bröcIn jedem annehmbaren Café am Napoli Centrale klebten wir, in jedem kelte. Ich hatte noch ein Telefonat zu erledigen. Mit dem Hörer in der Hand hörte ich mich an, Restaurant in der Nähe, am Boden, an der Wand, Bilder von dir und als würde ich mir eine Ausrede zurechtlegen. Wortfetzen an jeder Säule. Das Münztelefon rauschte, und am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Sie hatam Boden, an der Wand, Bilder von dir und Wortfetzen an jeder Säule. ten es bereits in den Nachrichten gehört, wurde ich dann informiert, Nach ein paar Bissen gab ich auf. grossflächiger Ausfall des Streckennetzes. Allerdings erst, nachdem alle Drei Stunden Aufenthalt und kein Ort, an dem ich sein konnte. auf mich gewartet hatten. Zwei Stunden, das ganze Dorf. Auch der PfarIch flüchtete hinaus in die Stadt, liess mich vom Gestank verschlucken rer. «Aber wir verstehen natürlich, dass du nach all den Strapazen zu müund vom Lärm, von den Touristen, ohne zu verschwinden. Die Füsse de warst, um kurz anzurufen.» «Ich-» «Komm einfach her. Wir erwarten gingen weiter und der Rollkoffer hotterte hinter mir her, über die Pfladich heute Abend. Und sonst nimm dir in Gottes Namen ein Taxi.» stersteine, und noch bevor die Stadt über mir zusammenschlug, wusste Ich nickte in den Hörer. Ich war schuld daran, dass der Zug stehen geich, was zu tun war. Wusste es, ohne eine Entscheidung gefällt zu hablieben war. Ich war schuld am Ausfall. ben. Drei Stunden waren knapp, aber es musste reichen. Ich hob die Überhaupt war ich schuld, ich hatte dich fortgelockt und ferngehalten, Hand. und in der Ferne erst war das Schlechte gewachsen. Den Fahrer hatte ich weggeschickt, ich würde auch so zurückkommen. Den Kaffee noch immer in der Hand ging ich zur Reception, um die Beim Pausilypon wartete ich, bis er weg war, die Ruinen hinter mir, PiWeiterreise anzutreten. Um dich zurückzubringen, dorthin, wo du hinnienmoleküle in der Luft. Dann trugen mich die Beine den Klippen entgehörst. Wo du niemals sein wolltest. lang, durch den Park und hin zu der kleinen Landzunge. Meine Arme Halb hatte ich erwartet, zu unserem gestrandeten Zug zurückgebracht trugen den Koffer und ich mein Gewicht und ich spürte keine meiner zu werden, er war näher am Hotel als der nächste Bahnhof, aber ohne Gliedmassen, weder das eine noch das andere, nur der Kopf drehte im Bahnsteig lässt man Menschen wohl nicht einsteigen. So wurde ich vom Kreis. Drehte und brachte das Meer zum Schwanken und die alten Steiselben Wagen wie am Vortag zu einem Bahnhof geholpert, allein der ne, bis ich am Zipfel stand. Fahrer hatte mein Flehen gesehen, und wir fuhren lange zu einem weiDa war sie, gleich gegenüber, die Isola la Gaiola, die Unglücksinsel, die teren Gleis im Nirgendwo. Das hier war allerdings mit zwei Bänken veruns so viel Glück gebracht hatte. Zwei Felsbrocken im Meer, vom Festsehen und die Bänke mit einem Vordach. Darunter stand ich dann mit land verstossen, wenn auch nur fünf Meter weit, miteinander verbunmeinem Köfferchen im Staub und wartete. Die Sonne brannte bereits, den durch eine Brücke, eine schmal gewundene Nabelschnur. Ich legte als hätte es die Nacht nicht gegeben, und es roch nach roter Erde. Roch den Koffer hin, schob die Schuhe von den Füssen, Steine und Gräsernach verbranntem Gummi, als der Zug einfuhr und ich auf zerschlissespitzen in den Fusssohlen, und knüpfte die Bluse auf, die Jeans. Stand nen Sitzen Platz nahm und weiter wartete. Ich sah der Landschaft beim SURPRISE 379/16

7


8

wolltest, und das in deiner Wahlheimat Zürich, als ob man Heimat wählen könnte, musste damit auch noch 48 Stunden gewartet werden. Hier starb man morgens und wurde abends begraben. In einem Stück, wie es sich gehörte, in anständiger Kleidung und schön geschminkt. Keiner von ihnen war zur Abdankung erschienen, wozu auch, du würdest ja zu ihnen kommen. Manche Dinge sind indiskutabel, stehen über dem Gesetz. Genau wie manche Aufgaben. Wenigstens waren sich alle einig, dass ich alleine reisen sollte. Der Zug kroch nun hoch in die Berge, die Stationen wurden häufiger und die Menschen weniger, und eine halbe Stunde später war ich die Einzige, die auf das verstaubte Perron trat. Ich war ganz ruhig. Die Krähen warteten bereits auf dem Friedhof, und zum ersten Mal in meinem Leben fiel ich unter ihren Blicken nicht in mir zusammen. Die Praktikantin, auch nach 15 Jahren noch. Die Schweizerin. Das S gespuckt. Ich ging über den kleinen Hügel, und die Krähen sahen jeden meiner Schritte. Von zwei Seiten gestützt löste sich deine Mutter aus ihren Reihen und kam auf mich zu, kein Wort zu meinen wirren Haaren, der staubigen Bluse, löste sich von ihren Stützen, umfasste meine Ellbogen und hielt meine Augen fest. Las darin und ich liess sie lesen. Las dasselbe wie sie, unendlich und gross und wahr und mehr, als mit Worten zu fassen war, und endlich liess sie mich los, um sich an mir festzuhalten, und ich hielt mich an ihr und das Dorf hielt den Atem an, als wir untergehakt über den Rasen schritten, hin zu dem Erdhügel und dem Loch daneben. Stimmen hoben an und verstummten und Kirchglocken läuteten und wir blickten gleichzeitig hoch, deine Mutter und ich, zu dem Geräusch, unter dem noch ein anderes schwang. Die Finger verschränkt, standen wir still und horchten, Daumenkuppe über Handrücken. Ein Stück Holz wurde abgesenkt, ein bisschen Staub und eine Handvoll Sand und irgendwo in der Ferne, da rauchte der Vulkan. ■ Milena Keller, geboren 1991 in Zürich, studiert in Biel, wohnt in Höngg und lebt meist dort, wo sie gerade ist. Sie hat Ethnologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert und bereits einen ganz ansehnlichen Stapel uncodierter Praktikumszeugnisse gesammelt. Dann ist sie zur Vernunft gekommen. Seither schreibt sie am Schweizerischen Literaturinstitut und lässt sich im Bielersee treiben. Ansonsten mag sie Katzen und Flüsse. Auch im Sommer. SURPRISE 379/16

BILD: ZVG

in Unterwäsche da und sog das Meer ein, die Fäulnis unter den Kräutern, den Wind, das Bündel Kleider in der Hand. Keiner würde hierher kommen. Unten schoben die Wellen sich gegen das Kies. Ich ging in die Hocke, verharrte über der Wärme, die vom Boden abstrahlte und durch den dünnen Stoff der Unterhose, hielt eine Handfläche über die Steine, die Finger gestreckt. Dann öffnete ich den Koffer, legte die Kleider hinein und nahm dich heraus. Das Wasser war kühl und weich, und ich watete hinein, schwamm die paar Meter, tauchte mein heisses Gesicht, den rechten Arm in die Luft gereckt, die Haare hinter mir herziehend. Ich wollte nicht raus aus dem Blau, nie mehr, nicht zurück in die Welt, drehte mich auf den Rücken und trat ins Wasser, drehte mich um die eigene Achse, schnell und schneller, schlug mit der freien Hand um mich, dass es spritzte, drehte weiter, und mitten im Drehen fiel etwas ab. Fiel ab und floss fort und beim Herausklettern schlug ich mir die Knie auf, wie ein Kind. Salzwasserblut rann der Wade entlang und versickerte im grobkörnigen Sand der Insel. Das hier war dein Fluchtort gewesen, bevor du ihn zu unserem gemacht hast. Der angebliche Fluch der Insel als Segen, als Schutz vor neugierigen Blicken, vor Besuchern, vor dem Leben. Der Ort der ersten Male, der Entscheidungen, der Versprechen, des einen Versprechens, das wir gehalten hatten, immer, das ich weiterhalte, auch gegen deinen Willen. Ich kletterte die scharfkantigen Felsen hoch, krallte mich mit fünf Fingern fest und durchschritt ein letztes Mal den schiffförmigen Flecken Land, balancierte über die Brücke, entlang der Mauern der zerfallenen Villa bis hin zur Kopfseite der Insel. Der Wind blies hier stärker und ich war bereits trocken, als ich den kleinen Vorsprung herunterstieg, vom Festland abgewandt, den Vesuv im Blick und die Wellen, und meine Hände zitterten kaum, als ich die Urne mit beiden Händen umschloss, den doppelten Deckel öffnete, FSC-Holz, Bio-Natur, langsam, ganz langsam die Urne kippte, um dich zu befreien. Dich in weiten Wolken herumtoben liess, einen Teil ins Meer, einen Teil auf die Insel, einen Teil in die Luft und hoch zum Vulkan. Weiss zuerst und dann durchscheinend und ich schaute nicht weg, schaute hinein in den Himmel, Tannenholz am Bauch. Erst auf dem Weg zurück weinte ich ins Wasser und konnte kaum atmen, den Arm in die Höhe gestreckt, die Schulter geschüttelt, hoch zu den Wolken verdreht, sah mich für einen Moment von oben und dein Grinsen dazu und lachte in die Tränen hinein und schluckte Salzwasser. Ich sass wieder in einem Zug, es war derselbe Tag und war es doch nicht, und die Landschaft flog wieder und die Urne in meinem Schoss war schwerer geworden. Einen kleinen Teil Asche hatte ich übrig gelassen und mit Sand vom Strand unter der Klippe zugedeckt. Sie würden sie nicht öffnen. Schlimm genug, dass du überhaupt kremiert werden


Yfüerig petänt syg si nid, het d Medea gseit, si läs gärn u si läs viu. Aber es GerEs isch eini vo mynen erschte Läsige gsi. Itz han i’s gschafft, han i tänkt, manistikschtudium heig si nid. Das heig i o nid, han i gseit u glachet, won i di Aafrag übercho ha. Itz bin i Dichter. E richtige Dichter, wo richdas bruuch’s o nid, u gfragt, wi’s syg mit em Ässe. I wöu ja nach dr Lätigi Aafragen überchunnt für richtigi Läsige. Vo richtige Veraaschtautesig ässe, het d Medea gseit, si heig e Tisch reserviert. U wen i Gescht rinne, wo Medea Imhasly heisse. U mir es richtigs Honorar aabiete vo heig, chönni die gärn mitcho. Nenei, i heig keni Gescht, han i gseit, i sächshundert Franken im Kulturturm z Rapperswiu. Mit Reisespesen kenn ja nid viu Lüt z Rapperswiu. U viu Lüt z Rapperswiu hei mi o nid und Übernachtig, obwoou i nach ere Läsig z Rapperswiu no guet hei kennt. Emu sy nid viu a di Läsig cho. Euf han i zeut. Drü drvo ghöri zum chiem mit em Zug. Und usgrächnet im Kulturturm z Rapperswiu. Won Vorschtand, het d Medea gseit. Si het sech bi mir entschuudiget, dass’s i zwar vorhär nid kennt ha. Aber gseh ha uf dr Website, was aus für Benid meh Lüt syge. Aber si heig gmacht, was si chönn. Es syg eifach unrüemtheite dert scho gläse hei, das ganze Who-is-Who vor dütschschberächebar. U i ha gseit, si müess sich nid entschuudige, i müess mi bi prachige Literatur. Won ig itz o drzue ghöre, mit myre Läsig z Rappersihren entschuudige, dass i nid meh gmacht heig. Aber Facebook u so lig wiu. U scho nachem zwöite Mail isch di Medea Imhasly, wo si mi gfragt mr nid so. D Medea het e wunderbari Yfüerig gha. U nach dr Läsig sy het, öb i lieber vor oder nach dr Läsig wöu ässe, öb i öpis Beschtimmts mr zäme wunderbar ga ässe. U nachem Ässe hei mr zämen e wunderbruuch ir Garderobe, Wy oder Schpirituose, u öb i öpis drgäge heig, we si am Aafang en Yfüerig mach, zum vrtroute Du übergange. Het sech überschlagen im Lobe Uf jede Fau han i zrügg gschribe, nei, i heig nüt gägen e Privatübervo mym erschte Buech, wo denn grad usecho isch, u wi si sech fröi, mi äntlech pärsönlech nachtig u si chönn di Hotelchöschte schpare, wen i es eigets Zimmer lehre z kenne, nachdäm si scho so viu vo mir heig für mi. Smile. gläse heig. So viu vo mir het si zwar no gar nid chönne gläse ha, aber gschribe ha’re das nid. bari Nacht vrbracht im Dichterzimmer. Am Morge het mi d Medea U im Netz het di Medea Imhasly o no rächt sympathisch usgseh, auso gweckt, früsch duscht u aagleit, si heig em Nüüni e Termin mit em Kulzimlech hübsch. Obwoou si äuä nümm ganz so jung het chönne sy wi turbeuftreite vor Gmeind. Ufem Tischli lig ihres Buech, öb i dert no öpis uf däm Föteli im Netz, we si di Literaturschinen im Kulturturm Rapwürd dryschrybe. U de bin i schpeeter, nachem rychhautige Zmorge, wo perswiu, wo’s sit sächsezwänzg Jahr git, win i gläse ha im Netz, pärmr d Medea het vorbereitet gha, mit Schpäck u Eier vor däm Buech gsässönlech ufbout het. Uf jede Fau han i zrügg gschribe, nei, i heig nüt gäse, däm beydruckende, sibenezwänzgjärige Who-is-Who vor dütschschgen e Privatübernachtig u si chönn di Hotelchöschte schpare, wen i es prachige Literatur, won ig itz o drzue ghöre. Mit denen erdrückende eigets Zimmer heig für mi. Smile. Dä Witz het si souverän ignoriert u Widmige vo myni Vorgänger. Zeichnigen u Liebesgedicht. Aphorismen zrügg gschribe, ja, es syg es separats Zimmer, ds Dichterzimmer, wo u Churzgschichte, dr Medea gwidmet, souverän usem Ermu gschüttlet scho etlechi Vorgänger vo mir übernachtet heige. U wo si mi abghout nach ere churze Nacht z Rappersiwu. Bi dert gsässe. Blockiert. Aus het, d Medea, a däm Aabe, won i ha söue läse z Rapperswiu, am Bahnfrüsch ygfüerte Dichter z Rapperswiu. U mir isch nüt i Sinn cho. Nüt. I hof, bin i zimlech überrumplet gsi vor Usschtrahlig vo dere Frou, wo mi ha my Name dry gschribe. I myre gruusigen unläserleche Handschrift. da abghout het, am Bahnhof. Dere sehr sympathische Frou. Wo zimlech Vornamen u Nachname. U mi usem Schtoub gmacht. so usgseh het wi im Netz, auso ender no jünger u ender no hübscher. U ■ i ha’s nid chönne la sy z frage, öb si di Literaturschine tatsächlech pärsönlech ufbout heig u öb’s die sit sächsezwänzg Jahr gäb. Ja, het si gseit, es syg ihri sibenezwänzigschti Saison, wo mr i ihres schwarze Guy Krneta, geboren in Bern, lebt in Basel. Coupé ygschtige sy. Uf dr Fahrt zum Kulturturm het d Medea no Mau Er ist Spoken-Word-Autor und Dramatiker. gseit, wi usserordentlech mys Buech syg, dass si’s itz scho zum dritte Krneta erhielt mehrere Preise, zuletzt den Mau gläse heig u bi jedem Läse geng wider öpis Nöis entdeck. U si hoff Schweizer Literaturpreis 2015. Diesen Herbst nume, mit ihrer Yfüerig mym wunderbare Buech grächt z wärde. I ha se erscheinen die Bände «Filet Schtück» und berueigt u ermuetiget u gseit, das syg my erschti Läsig mit Yfüerig. Di «Poltern und Stottern». erschti Yfüerig überhoupt. U für mi syg’s e grossi Ehr, dass sech öper überhoupt d Müe mach, en Yfüerig z mache. U de no öper, wo so kompetänt syg wi si, wo äuä scho viu Yfüerige gmacht heig. Auso so komSURPRISE 379/16

9

BILD: ZVG

VON GUY KRNETA


Mein Berater und ich VON FABIAN SAURER

Ich spaziere am See entlang, als ich sie treffe. Mit verweinten Augen steht sie da, starrt auf den See hinaus und raucht Zigaretten, als möchte sie sich auf diese Weise umbringen. Sie schaut mich an, streckt mir eine Packung Marlboro hin, rot, offen, leer. ‹Das ist ein miserabler Start.› Ich sitze in der Küche, du kommst herein. ‹Aber ich bin doch schon da.› ‹In diesem Text bist du noch nicht da. Aber eigentlich solltest du eine Frau sein. Warte, du bist nicht da. Doch, du bist da, aber mit einer Frau, die ich nicht kenne.› ‹Gut. Ich kann meine Mitbewohnerin mitbringen.› ‹Wie heisst sie?› ‹Tanja.› ‹Das geht nicht. Sie muss Noelia heissen.› Ich sitze in der Küche, als es klingelt. Noelia lehnt an der Hausmauer und raucht. ‹Nein, sie kann nicht immer rauchen. Dieser Anfang ist auch unbrauchbar.› ‹Aber wie zum Teufel komme ich mit einer Frau ins Gespräch, die Noelia heisst?› Also: Ich bin beim Einkaufen, ‹nein. Irgendwie muss sie ja weinen, oder traurig sein zumindest. Angenommen,› sie hat sich mit ihrem Freund gestritten, die Wohnung verlassen. ‹Wo könnte ich ihr begegnen? Es könnte doch sein, dass sie ziellos durch die Strassen schlendert und weint.› ‹Ja-ja, sowas sieht man ja schliesslich alle Tage.› ‹Nein, sie würde wohl eher …› Sie setzt sich auf eine Sitzbank am Waldrand und bittet mich um eine Zigarette. ‹Dann musst du aber zuerst raus und dich auf eine Bank setzen.› ‹Gut:› Ich gehe raus, weil ich den ganzen Tag noch nicht draussen war, und setze mich auf eine Bank, weil ich vom Gehen erschöpft bin. Also: Ich bin zu Hause, es ist – sagen wir – neun Uhr. Ich habe soeben das Geschirr gespült, mit meiner Schwester telefoniert, ‹Wozu das noch?› ‹Damit es natürlicher wirkt.›

10

‹Vergiss es. Ist doch egal, was du getan hast, bevor du rausgehst.› ‹Ja schon, aber ich kann doch nicht grundlos rausgehen.› Ich habe Ravioli gegessen, und dann gehe ich raus. Sie hat sich in der Zwischenzeit mit ihrem Freund gestritten, die Wohnung verlassen, geht ziellos umher. Dann setzt sie sich auf eine Sitzbank in der Nähe, ich beobachte sie und finde, ein trauriges Gesicht würde optimal in meine Fotoserie passen. ‹Welche Fotoserie?› ‹Ich bin Fotograf in der Geschichte.› Irgendwann fragt sie, ob ich ihr eine Zigarette hätte. «Nein», (und jetzt kommts, durchdacht und trotzdem glaubwürdig) sage ich, «nur Drehtabak.» ‹Ich warte, obwohl ich bereits weiss, was jetzt kommen wird.› ‹Du bist selbst in der Geschichte, tust aber so, als wüsstest du nicht, dass du eine Geschichte über dich selbst schreibst? Ist das nicht ein bisschen … psychisch daneben?› ‹Mhm … Ich weiss nicht … Ist so nicht Literatur?› ‹Woher soll ich das wissen.› ‹Könntest du mir auch eine Geschichte erfinden? Ein Liebeswochenende möchte ich erleben, mit einer wildfremden Frau, die sich dann in mich verliebt und immer bei mir bleiben will, aber ich sage nach ein paar Tagen, nein, ich bin nicht so der Beziehungstyp …, wie findest du das?› ‹Ja, von mir aus. Aber zuerst muss ich jetzt diese Geschichte hier zu Ende bringen.› «Drehtabak?», fragt sie zurück. «Ja, aber ich kann dir eine Zigarette drehen, wenn du magst.» Sie nickt nur. ‹Entschuldige, dass ich dich erneut unterbreche, aber ist es nicht komisch, wenn du schon weisst, was passieren wird? Dann kannst du ja gar nicht so gefühlvoll sein … Ich hab nämlich ein bisschen Mitleid mit ihr. Aber du überhaupt nicht, oder? Du hast sie sogar selbst in diese Lage gebracht.› ‹Ja-ja, schon, aber der Typ, der ihr jetzt eine Zigarette dreht, das bin nicht wirklich ich, der heisst auch anders, sagen wir … Hast du einen Vorschlag?› ‹Beka?› ‹Nein, zu unrealistisch. Weisst du was, ich bin es trotzdem. Ich, dann brauche ich keinen Namen zu erfinden, und zum Schreiben ist es auch einfacher.› ‹Was aber, wenn sie nach deinem Namen fragt?› ‹Dann sag ich halt irgendeinen Namen. Oder ich sorge einfach dafür, dass sie mich das nicht fragt.› SURPRISE 379/16


«Soll ich dir eine Zigarette drehen?», frage ich. «Gerne.» Sie schaut mir dabei zu. Es kommt der Augenblick, in dem ich die Klebestelle mit meiner Zunge abschlecke und ihr dabei in die Augen sehe. ‹Bravo, passt gut zur Stimmung. Sie weint, einsam auf einer Sitzbank, nachdem sie verlassen wurde, und du leckst die Klebestelle des Blättchens möglichst obszön ab? Geschmacklos.› ‹Warte, woher weisst du eigentlich, dass sie verlassen wurde?› ‹Hast nicht du das gesagt, zu Beginn?› ‹Nein, sie haben sich einfach gestritten. Ihr Freund ist nämlich ein Idiot.› ‹Ich weiss nicht recht, wo das hinführen soll. Also du willst ja eigentlich eine Frau in deiner Küche, die Noelia heisst und traurig ist. Dann musst du sie jetzt von dieser Sitzbank irgendwie zu dir in die Küche bringen.› ‹Ja, ich bin ja dabei.› «Hier ist deine Zigarette», sage ich und krame noch gleich Streichhölzer aus der Jackentasche. ‹Nein, das nervt, dauernd diese Zigaretten und Streichhölzer.› «Bist du Student oder so?», fragt sie. «Ich, nein! Du etwa?» «Ich studiere ab und zu, ja. Seit zehn Jahren.» «Seit zehn Jahren?» ‹Wiederholst du etwa alles, was sie sagt?› ‹Nein, nur das, weil es erstaunlich ist. Oder kennst du jemanden, der zehn Jahre studiert?› ‹Ja, Ärzte, glaube ich.› ‹Na eben, vielleicht ist sie ja Ärztin.› «Bist du Ärztin?» Sie lacht, aber sehr bitter. Aber sie lacht ein wenig und schüttelt den Kopf. «Magst du Frühlingsrollen?», frage ich. (Etwas voreilig vielleicht, aber ich will ja nicht die ganze Nacht auf dieser Sitzbank sitzen bleiben, ich will, dass sie mit in meine Küche kommt, weil ich am Küchentisch einen wichtigen Dialog vorgesehen habe, mit ihr, die dann hauptsächlich sprechen wird, über ihre gescheiterte Beziehung. Es soll ja eine Beziehungsgeschichte werden.) «Frühlingsrollen mag ich nicht, nein», sagt sie bedrückt. ‹Meine Güte, wie anstrengend. Und das alles ist erst die Einleitung. Ich könnte doch einfach damit beginnen, dass sie bereits in meiner Küche sitzt. Gang egal, wie sie da hingekommen ist.› ‹Klar könntest du das, hast ja vorhin grossartig erklärt, so sei eben Literatur. Aber du könntest genauso gut früher einsteigen, bei ihr nämlich, in ihrer Wohnung, beim Streit mit ihm, wie heisst er nochmal?› ‹Idiot.› ‹Genau, sie streitet sich ja mit diesem Idioten.› ‹Nein, sie streitet sich mit «Idiot», so muss das sein, es ist ja nicht irgendeiner. Der heisst wirklich so.› ‹Das ist kindisch. Nenn ihn Valentin oder Jonathan oder so.› ‹Ok. Nein, Heinz soll er heissen.› ‹Machen wir es einfach so:› SURPRISE 379/16

Es vergehen zwei Wochen, und wir treffen uns hin und wieder auf dieser Sitzbank. ‹So genau muss das ja nicht alles sein.› Sie streitet sich weiterhin mit Heinz, ich arbeite weiterhin an … ‹Woran arbeite ich?› ‹Nicht wichtig.› und irgendwann kennen wir uns besser und plaudern, sitzen an der Sonne. Ich habe zwei Raketen gekauft, eine für sie, eine für mich, plötzlich ist Hochsommer. Noelia hat ein Buch von Yi Sang dabei und liest ein Gedicht vor: «Wenn das was jetzt fällt schnee sein soll müssen meine tränen schnee sein.» Noelia erzählt, dass sie schon seit Jahren mit diesem Typen zusammenlebt. ‹Wieso schon so lange?› ‹Seit vier Jahren hat sie gesagt. Also:› Sie habe ihn damals kennengelernt, in Spanien, und fand, er sei der Richtige. ‹Wieso war sie in Spanien?› ‹Weil sie eine Freundin besucht hatte. Dieser Heinz war auch in Spanien, nur interessiert es kein Schwein, was er dort zu suchen hatte, aber leider hat sie ihn kennengelernt. Ist ja egal, wie.› ‹Gut, ok. Und wieso meinte sie, er sei der Richtige?› ‹Sie hat es mir so erzählt:› «Er war einfach so … wie soll ich sagen, er war einfach …» ‹Sie hatte kein Wort dafür gefunden. Ich habe gesagt, sie solle das passende Wort in ihrer Muttersprache sagen, vielleicht hätte ich dann wenigstens eine Ahnung, wie er so war.› «Sinseonhan», hat sie gesagt. ‹Was?› ‹Na eben, irgendwie so hat es geklungen. Er war anscheinend so … sinseonhan.› ‹Aha. Na gut. Siehst du? Frauen stehen eben auf Männer, die sinseonhan sind.› ‹Ja-ja. Hat sie noch mehr darüber gesagt? Oder reichte das? Dass er so sinseonhan war?› Sie erzählte, er habe ziemlich schlecht Englisch gesprochen, lustig aber sei gewesen, dass er trotzdem immer Witze erzählt habe, auf Englisch. Oft habe niemand verstanden, was er damit meinte, manchmal war sie auch gar nicht sicher, ob er Witze erzählte oder ernsthafte Sachen. Und an anderen Tagen habe er wieder fast gar nichts gesagt. ‹Und dann ist sie bei ihm eingezogen? Also ist dieser Heinz eigentlich Spanier?› ‹Keine Ahnung, hab ich nicht gefragt.› ‹Wo seid ihr denn jetzt eigentlich? Immer noch auf dieser Sitzbank?› ‹Ja. Aber jetzt kennen wir uns gut genug, damit sie die eigentliche Geschichte ihrer Trennung bei uns in der Küche erzählen wird.›

11


‹Dann hat es also geklappt mit der Einleitung?› ‹Ja, ich glaube schon.›

‹Das wäre zu kompliziert. Ich müsste genau Bescheid wissen über diese Epoche. Nein, nein, wir sind in der Gegenwart, das ist am einfachsten.›

Sie kommt jetzt zu mir nach Hause manchmal und bleibt bis ziemlich spät und erzählt. ‹Und du hörst einfach zu?› ‹Ja. Also manchmal erzähle ich auch etwas.› ‹Was erzählst du denn? Dass du eigentlich gar nicht der bist, für den sie dich hält, sondern der Autor einer Geschichte, die frei erfunden ist?› ‹Ich erzähle Sachen von mir, die ich auf der Stelle erfinde. Ich bin eigentlich Lastwagenfahrer, habe ich gesagt, und dass ich dann irgendwann mit dem Fotografieren angefangen hätte.› ‹Ja-ja, gut. Und wie gehts weiter?› ‹Das glaubst du jetzt wahrscheinlich nicht, aber sie hat gefragt, ob sie nicht vielleicht für ein paar Tage bei mir einziehen könnte.› ‹Bei dir einziehen? Als Rahmenhandlung oder wie?› ‹Ja, bloss für ein paar Tage. In zwei Wochen muss sie nämlich ausreisen.› ‹Ausreisen?› ‹Ja, sie ist ja bloss mit einem Touristenvisum hier. Das läuft Mitte September aus, und sie muss gehen. Eigentlich ist es ein bisschen traurig, Heinz und sie wollten nämlich heiraten.› ‹Ist das jetzt nicht ein bisschen übertrieben?› ‹Weiss ich nicht.› ‹Und wie soll die Geschichte jetzt weitergehen? Nachdem sie bei dir eingezogen ist?› ‹Warte, jetzt haben wir eigentlich bereits zwei Anfänge. Sie mit Heinz in Spanien und sie bei mir in der Küche. Wie ist das möglich, ich hab doch darauf geachtet, dass ich die Einleitung hinkriege, und da ist sie in Bern, also in der Schweiz, und das ist definitiv der Anfang.› ‹Der Anfang «ihrer» Geschichte ist in Spanien.› ‹Wo in Spanien?› ‹Barcelona.› ‹Nein. Dann kann die Geschichte ja gleich in Berlin spielen oder in Paris. Sagen wir Pamplona. Bei den Stierkämpfen.› ‹Ja genau! Heinz ist doch ein Schweizer Torero! Das würde ihn zu einem richtigen Idioten machen!› ‹Ok, finde ich gut. Heinz ist also erfolgloser Torero und hat einen Auftritt in Pamplona. Und sie, genau, sie liebt Bücher über alles, und sie geht nach Pamplona, weil Hemingway dort gelebt hat.› ‹Hat er nicht.› ‹Na gut, aber Ferien hat er doch gemacht, in dieser Gegend.› ‹Oh wie schön das ist. Die Buchnärrin lernt den brutalen Torero aus der Schweiz kennen, in Hemingways Ferienort.› ‹Wieso lässt du die Geschichte nicht früher spielen, sagen wir in den Dreissigerjahren? Dann könntest du Hemingway gleich miteinbeziehen. Dass sie zum Beispiel neben ihm sitzt und dem Stierkampf beiwohnt. Und er, der Experte, gibt dann kluge Kommentare ab, und ausgerechnet von Heinz ist er total begeistert, weshalb er, also Hemingway, ihn nach dem Kampf in der Garderobe besucht.› ‹Und sie geht dann mit?› ‹Na klar, und er ist voller Blut, und sie findet das dann irgendwie so … sinseonhan.›

Nach der Spanienreise fliegen sie zusammen zurück nach Bern. ‹Nein, sie nehmen den Zug.› ‹Bist du sicher, dass er aus Bern kommt?› ‹Nicht ganz, aber ich lege das jetzt einfach fest. Sonst werden wir nie fertig. Und du willst ja später auch noch eine Geschichte haben, über dich und diese Wildfremde, die du dann sitzenlässt, weil du nicht so der Beziehungstyp bist. Weisst du was? Vielleicht können wir die beiden Geschichten ja sogar kombinieren. Du könntest Heinz sein! Ja, genau, du bist Heinz! Stell dir vor, welchen Spass wir haben werden.› ‹Nein, das will ich nicht. Mach einfach deine Geschichte und dann meine. Die beiden zu vermischen, das bringt doch nichts.› ‹Ja gut. Pamplona, oder wo sind wir?› ‹Kommt darauf an, ob wir jetzt in ihrer Geschichte sind oder in deiner.› ‹Wir sind …›

12

In meiner Küche. Noelia macht Kaffee, findet zuerst keine Streichhölzer, schaut dann in meinen Jackentaschen nach, findet eine Fotografie, ein Portrait von ihr, seitlich, weil sie gerade das Gesicht weggedreht hatte, das Gesicht auf dem Bild lacht, Noelia lacht nicht. Sie sitzt eine Weile still da und schaut aus dem Fenster, trinkt Kaffee oder liest in ihrem Buch, Anastasia Kjerubinsk, die Donna Leon aus Sibirien, mit einer Widmung auf der ersten Seite, «ich liebe dich 4ever», unterschrieben mit «dein Heinz», ich muss lachen, als ich nach Hause komme und das Buch vom Boden aufhebe, lachen ab dieser tragisch veralteten Widmung, sie ist eingeschlafen und hat das Licht nicht ausgeschaltet, und Musik erklingt auch noch leise aus den Lautsprechern, Faithless, Insomnia, I can’t get no sleep, I can’t get no sleep, I can’t get no sleep, I need to sleep, I can’t get no sleep ‹Ich glaube nicht, dass du den Songtext so ausführlich wiedergeben musst.› ‹Kennst du das Lied überhaupt?› ‹Nein, aber man versteht die Ironie nach dem ersten «can’t get no sleep» …› Ich decke sie zu und lese noch eine Weile in ihrem Buch, obwohl es auf Englisch ist, darin steht, dass ein Mann namens Pagaev spätabends auf einer Brücke in einem kleinen Dorf steht, der Fluss unter ihm ist zugefroren, und Pagaev steht dort und raucht eine Zigarette, als ihn eine Frau mittleren Alters anspricht. «Du bist doch der junge Pagaev», sagt sie, lachend, ihm nahe kommend. «Wir sind uns bereits einmal über den Weg gelaufen, damals auf dem Gemüsemarkt in der Altstadt, du hast Radieschen gekauft, ich erinnere mich noch», und Pagaev erwidert, «Ja, das stimmt, ich habe einmal, letzten Mai glaube ich, einen Bund Radieschen gekauft, und das waren also Sie, diese schöne Frau, die den Bund behutsam in eine Papiertüte eingepackt und mir zu wenig Wechselgeld herausgegeben hatte?» Jetzt prustet sie los, und auch er muss lachen, er hat alles erfunden, er erinnert sich nicht mehr daran, nein, er war sogar noch nie auf dem Gemüsemarkt. ‹Willst du jetzt das ganze Buch vorlesen oder was?› ‹Nein, du hast recht. Ich lasse mich dauernd ablenken.› SURPRISE 379/16


Noelia und Heinz lernen sich kennen und verbringen ein paar Tage in einem Hotelzimmer mit Blick auf die Stierkampfarena. Er schaut den Kämpfen zu und gibt kluge Kommentare von sich, erklärt ihr, worauf die Stierkämpfer im entscheidenden Moment achten müssen, und während den Pausen liest sie ihm aus «The Dangerous Summer» vor, und er ist begeistert, nicht nur von ihr als Frau, auch von den Texten, und irgendwann schlägt er vor, dass er mit dem Stierkämpfen aufhört und zu ihr nach St. Petersburg zieht. ‹Ok, und jetzt zur Trennung.› Es war ein schöner Spaziergang. Noelia war plötzlich irgendwie fröhlich, gelassener als bisher, vermutete ich jedenfalls, sie sprach mehr, ging zügig, Schnee fanden wir nicht, aber kahle Bäume, und die Aussicht war schön. Auf zwei Dörfer sah man, die einzig durch einen schmalen Feldweg verbunden waren, wir standen vor der Aufgabelung dieses Weges und spielten Schere Stein Papier darum, wer entscheiden konnte, welche Richtung wir einschlagen sollten. Noelia gewann und entschied sich für links, ich sagte, ich hätte auch links gewählt, also habe sie eigentlich gar nicht gewonnen, dann entschied sie, als Strafe, dass wir rechts abbiegen. Das geht nicht, sagte ich, ‹weisst du was, hier ist Präsens besser, glaube ich› das geht nicht, sage ich, du kannst jetzt nicht deine Meinung ändern, was man zuerst sagt, das zählt, (ich kann ernst und unnachgiebig sein), da kam sie auf Heinz zu sprechen, der sei eben auch so ähnlich gewesen, und ich frage, was denn passiert sei, warum sie sich getrennt hätten. ‹Was macht eigentlich Heinz im Moment?› ‹Heinz? Der hat bald Feierabend, fährt mit dem Fahrrad nach Hause und öffnet eine Flasche Wein, denke ich.› Heinz ist völlig am Ende. Spricht mit niemandem mehr, isst kaum. Wenn ich Noelia frage, was in den vergangenen Tagen geschehen ist, schweigt sie oder dreht den Kopf weg. Sie hätten sich gestritten. Das ist alles. ‹Um da mehr zu erfahren, müsste ich fast allwissender Erzähler sein.›

Fabian Saurer, geboren 1986 in Matten bei Interlaken. Berufslehre als Metallbauer. Wohnhaft in Biel, fast am See. Seit 2013 Student am Schweizerischen Literaturinstitut.

SURPRISE 379/16

BILD: ZVG

Alles ist dann aus dem Ruder gelaufen. (Ich finde es gut, wie du manchmal diese Redewendungen einbaust …) Mehr gibt sie nicht preis. ■

13


Show and Tell Eine Science-Fiction-Story VON CHARLES LEWINSKY

Haben Sie schon einmal vom weltberühmten Physiker Sebastian Rickli gehört? Nein? Das war auch nicht zu erwarten, weil Sebastian Rickli nämlich nie ein weltberühmter Physiker wurde. Obwohl er schon mit zweiundzwanzig Jahren summa cum laude doktoriert hatte. Obwohl er Oberassistent an einem ETH-Institut gewesen war. Und obwohl er beinahe eine Habilitationsschrift verfasst hätte, in der allein schon der Titel drei Fussnoten hatte.

jetzt noch keine Lösung eingefallen: Wie konnte man sicherstellen, dass ein Besuch in der Vergangenheit diese nicht verändern und damit auch die Gegenwart beeinflussen würde? Sie hatten sich deshalb fest vorgenommen, vorläufig noch niemandem etwas von diesem Projekt zu erzählen. Wenn Gemperle es trotzdem getan hatte, konnte es nur einen Grund dafür geben: Benziger musste ihm eine grosse Investition versprochen haben. Eine sehr, sehr grosse Investition.

Aber eben: Nur beinahe.

«Wilhelm Tell», sagte Benziger. «Der Apfelschuss. Das würde mich interessieren. Wie ich höre, waren Sie schon einmal dort.»

Sebastian Rickli unterrichtet jetzt Physik an der Unterstufe eines Gymnasiums, und seine Schüler fragen sich oft, warum er wohl immer so einen traurigen Eindruck macht. Sie kennen eben seine Geschichte nicht und können sie auch gar nicht kennen. Weil sie nämlich nie stattgefunden hat. An Ricklis persönlicher Tragödie ist ein gewisser Herr Benziger schuld. Oder eigentlich die eidgenössischen Räte, die eines Tages beschlossen, dass sich die Hochschulen des Landes in Zukunft auf dem freien Markt finanzieren sollten. Damit an den Universitäten nur noch nützliche Dinge gelehrt würden und nicht mehr so überflüssiges Zeug wie mittelhochdeutsche Lyrik oder spätmittelalterliche Kunstgeschichte. Das Institut für intertemporale Physik, an dem Sebastian Rickli angestellt war, betrieb nützliche Dinge. Sehr nützliche Dinge. Und deshalb tauchte dort eines Tages auch ein potentieller Investor auf. Professor Gemperle, der Institutschef, beauftragte seinen Oberassistenten damit, sich um diesen Besucher zu kümmern und ihm alles und zwar – «Verstehen Sie mich, Rickli?» – wirklich alles zu zeigen. Herr Benziger erwies sich als wenig begeisterungsfähig. Vom experimentellen Chronotransporter zum Beispiel, der bei den meisten Laien ungläubiges Staunen hervorrief, zeigte er sich völlig unbeeindruckt. Als in der transparenten Box plötzlich das Meerschweinchen erschien, das Rickli erst zehn Minuten später in die Vergangenheit schicken würde, gähnte er sogar. «Nett», sagte Herr Benziger. «Aber nicht wirklich interessant. Ihr Chef hat mir da etwas von einem Monochrobil erzählt …» Er konnte nur das Chronomobil meinen, von dem sich Gemperle einen Platz neben Newton und Einstein versprach und Rickli zumindest einen Doktor h.c. Aber dieses Gefährt, das zwei Personen in die Vergangenheit transportieren konnte, existierte erst als Prototyp und war auch noch nicht ausgereift. Für das schwierigste Problem war ihnen nämlich bis

14

Gemperle war wirklich indiskret gewesen. Denn genau von dieser Geschichte hätte eigentlich niemand etwas erfahren sollen. Vor ein paar Wochen war es gewesen, als der Prototyp nach jahrelanger Entwicklungsarbeit endlich fertiggestellt und die erste Testreihe abgeschlossen war. Professor Gemperle und sein Oberassistent Rickli hatten zur Feier des Tages eine gute Flasche Wein aufgemacht. Und dann noch eine und noch eine. Im Überschwang des Alkohols waren sie auf den verrückten Einfall gekommen, persönlich nachzuprüfen, ob die Urlegende der Eidgenossenschaft tatsächlich so stattgefunden hatte, wie man es in den Schulaufführungen von «Wilhelm Tell» zu sehen bekam. Zu ihrer Überraschung hatte Friedrich Schiller in seinem Stück den Ablauf jenes Tages in Altdorf ganz genau getroffen: Hut auf der Stange, Apfel auf dem Kopf und ein zielsicherer Nationalheld. Am nächsten Tag, als mit dem Kater auch die Vernunft wieder zurückgekommen war, hatten sie sich hoch und heilig versprochen, über dieses riskante Abenteuer eisernes Schweigen zu bewahren. Und nun hatte Gemperle doch geplaudert. Was nur einen Grund haben konnte: Es musste um eine riesige Investition gehen. Vielleicht sogar um die schon so lang ersehnte zweite, voll finanzierte Professorenstelle. Und die, überlegte Rickli, müsste dann eigentlich ich bekommen. Plötzlich war ihm dieser Benziger sehr sympathisch. «Selbstverständlich bringe ich Sie gern zum Apfelschuss», sagte er. «Ich muss Sie nur bitten, dort auf keinen Fall etwas zu tun, was das Geschehen beeinflussen könnte. Das Chronomobil selber ist aus Gründen der intertemporalen Asynchronizität ja unsichtbar, aber wenn …» «Jaja, schon gut», unterbrach ihn Benziger. «Nun machen Sie schon. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.»

SURPRISE 379/16


Wilhelm Tell hob die Armbrust langsam auf Schulterhöhe. Der Menge auf dem Dorfplatz von Altdorf stockte der Atem. Eine Frau schluchzte. Gesslers rechte Hand trommelte lautlos auf den Knauf seines Schwertes. Ein Muskel zuckte in seinem bleichen Gesicht. Das vertrauensvolle Kinderlächeln des kleinen Walter Tell zerriss den Zuschauern fast das Herz. Wilhelm Tell krümmte seinen Zeigfinger über den Abzug der Armbrust. In diesem Moment flammte ein Blitzlicht auf. Erschreckt zuckte Tell zusammen, und der Pfeil durchbohrte die Brust seines Sohnes. Benziger starrte seine Kamera an, als ob die ganz allein an dieser Panne schuld wäre. «Ich wollte doch nur für unseren Verwaltungsrat …» Rickli, dessen Chancen auf Ehrendoktortitel und Professur gerade so endgültig im Orkus eines alternativen Universums verschwunden waren wie Friedrichs Schillers nun nie geschriebenes Theaterstück, drückte stumm auf den roten Knopf für die Rückkehr in die Gegenwart. «Wissen Sie, was Sie getan haben, Herr Benziger? Sie haben etwas an der Vergangenheit verändert. Mit unabsehbaren Folgen für die Gegenwart.»

Wilhelm Tell hob die Armbrust langsam auf Schulterhöhe. Der Menge auf dem Dorfplatz von Altdorf stockte der Atem. Eine Frau schluchzte. Gesslers rechte Hand trommelte lautlos auf den Knauf seines Schwertes. Ein Muskel zuckte in seinem bleichen Gesicht. Wilhelm Tell krümmte seinen Zeigfinger über den Abzug der Armbrust. «Jetzt nur nicht ablenken lassen!», dachte Rickli. Leider dachte er es laut. Seine Stimme, die scheinbar aus dem Nichts kam, liess Tell zusammenzucken. Der Pfeil durchbohrte die Brust des Landvogts. Als Sebastian Rickli im Labor ankam und aus der Luke spähte, prangte auf der Urkunde an der Wand wieder das Schweizerkreuz. Mit einer goldenen Krone verziert. Der Schuss auf Gessler war das Signal zum Aufstand geworden, Wilhelm Tell hatte das Kommando übernommen, und als man die Österreicher – ganz ohne Rütlischwur – verjagt hatte, da war es nur selbstverständlich, dass der Tyrannentöter Tell die Stelle des Landvogtes einnahm. Das Amt wurde in seiner Familie erblich, und aus der Schweiz wurde eine Monarchie.

«Woher hätte ich denn wissen sollen, dass der so nervös auf ein Blitzlicht reagiert? Das ist doch nichts Erschreckendes!» «Im dreizehnten Jahrhundert schon!» «Aber daran müssen die doch gewöhnt sein!» «Wieso?» «Wenn Ihr Chronodingsbums funktioniert, sind bestimmt schon eine Menge Touristen zum Apfelschuss gereist! Beziehungsweise werden reisen. Werden gereist sein. Und ein paar werden auch fotografiert haben.» «Eben nicht! Weil wir nämlich die Ersten waren. Wie alle anderen auch. Weil jeder jedes Mal der Erste ist! Eines der grundlegenden Prinzipien der Chronomobilität!» «Professor Gemperle hat mir versichert, es sei völlig ungefährlich.» «Ist es auch, solange wir nur zuschauen! Aber nicht, wenn wir in der Vergangenheit etwas verändern! Wenn der Junge tot ist, wenn Tell beim Apfelschuss seinen Sohn erschossen hat – ich wage gar nicht mir vorzustellen, was das für Folgen für die Schweizergeschichte haben kann.»

Rickli knallte die Luke wieder zu und drückte auf den grünen Knopf.

SURPRISE 379/16

BILD: ZVG

Die Folgen zeigten sich deutlich, als das Chronomobil in der Gegenwart ankam. An der Wand des Labors hing die Urkunde, mit der Gemperle damals zum ordentlichen Professor ernannt worden war. Eine Urkunde, auf der das Wappen der Eidgenossenschaft prangte. Die Urkunde war immer noch da und das Wappen auch. Aber jetzt zeigte es nicht mehr ein weisses Kreuz im roten Feld, sondern einen Doppeladler. «Wie furchtbar!», dachte Rickli verzweifelt. «Nach dem Misslingen des Apfelschusses haben die Verschwörer offenbar aufgegeben, und die Habsburger sind in unserm Land bis heute an der Macht geblieben.» Da er aber ein Schweizer Patriot war, auch wenn es die Schweiz in der neuen Gegenwart gar nicht mehr gab (und weil er wirklich gern einmal Professor werden wollte), schubste er Herrn Benziger aus dem Chronomobil, verriegelte eilig wieder die Luke und drückte den grünen Knopf. Mit den räumlichen und zeitlichen Koordinaten des Apfelschusses war der Computer des Chronomobils ja schon programmiert.

Wilhelm Tell hob die Armbrust langsam auf Schulterhöhe. Der Menge auf dem Dorfplatz von Altdorf stockte der Atem. Eine Frau schluchzte. Wilhelm Tell krümmte seinen Zeigfinger über den Abzug der Armbrust. Das nervöse Aufstöhnen Ricklis liess ihn zusammenzucken. Der Pfeil traf weder den kleinen Jungen noch den Landvogt Gessler, sondern einen gewissen Otfried von Almenstein, der wegen eines Rechtshandels um eine gekaufte Kuh nach Altdorf gekommen war. Er war auf der Stelle tot. Nun wäre aber dieser Otfried von Almenstein der Urahne jenes amerikanischen Professors Almsteen gewesen, der durch seine Forschungen auf dem Gebiet des temporalen Kontinuums die Theorie der Chronomobilität erst ermöglicht hatte. Da nun aber Otfried von Almenstein durch Tells Fehlschuss kinderlos starb, gab es nie einen Nobelpreisträger namens Almsteen, kein Chronomobil und keinen Zeittourismus, deshalb wurde Tell auch nie durch ein Blitzlicht irritiert, der Apfelschuss gelang, und die Schweizergeschichte lief haargenau so ab, wie wir sie in der Schule gelernt haben. Was an und für sich ein erfreuliches Ergebnis gewesen wäre. Nur eben nicht für den Oberassistenten Rickli, der bald darauf seinen Posten verlor, weil sein Institut nicht genügend Sponsorengelder hatte auftreiben können. Das kommt davon, wenn man Investoren nichts zu bieten hat. Nicht einmal ein Chronomobil. ■ Charles Lewinsky, geboren 1946 in Zürich, ist Autor von über einem Dutzend Büchern sowie unzähliger TV-Shows, Hörspiele, Serien, Musicals und Liedtexte. Er lebt in Vereux (F) und Zürich. Dieses Jahr erschien von ihm der Roman «Andersen».

15


Der Gulasch in dir VON GÜZIN KAR

«Was, bitte, was an mir hat Ähnlichkeit mit einem Gulasch?», fragt Wolfgang in die Runde und sieht mich verärgert an. Wir spielen gerade dieses Gesellschaftsspiel, wo jemand mittels Fragen wie «Wenn die Person eine Pflanze wäre, welche wäre sie dann? Welche Frucht, welches Küchengerät, etc.?» eine vorher bestimmte Person aus unserem Kreis identifizieren soll. In dieser Runde galt es, den Gesuchten – also Wolfgang – mit Gerichten zu vergleichen. Seine heftige Reaktion auf meinen Gulasch erstaunt mich ein wenig. «Hör zu, Wolfgang», sage ich. «Ich wurde im Laufe des Abends mit einer Aubergine, einer Fledermaus, mit Zoccoli, der Sixtinischen Kapelle und einem Waffeleisen verglichen. Und? Habe ich mich etwa beschwert? Gut, ich gebe zu, dass die Aubergine mich durchaus nachdenklich stimmte, da ich mich fragte, wie herum man sie halten müsste, damit sie mir gliche. Und natürlich wären mir Gemüse wie Feinerbsen, Zuckermais oder Chilischoten lieber gewesen. Sogar Broccoli.» «Lenk jetzt nicht vom Thema ab», sagt Wolfgang. «Du hast mich Gulasch genannt.» «So wie du es betonst, klingt es tatsächlich ein bisschen komisch», sage ich, «aber ich habe es nicht so gemeint», was gelogen ist, denn ich habe es so gemeint. «Hört doch auf, es ist ja nur ein Spiel», sagt Angela. Sie irrt. Es ist kein Spiel. Schon von Anfang an war es das nicht. Und der Anfang war nicht etwa vor einer Stunde, sondern vor einer Woche, als wir in diesem Ferienhaus im Elsass ankamen. Angela hatte eine bunte Truppe eingeladen, und weil noch nicht jeder jeden kannte, packte man nebst einigen Flaschen Wein auch ein paar besonders schöne Dessous ins Gepäck. Letzteres hätte ich mir sparen können. Wolfgang und Diana hasste ich sofort. Es war Abscheu auf den ersten Blick, und sie war gegenseitig. Schon bei ihrer Ankunft hatten mich ihre aufeinander abgestimmte Kleidung im Cottage-Stil und ihre Reisetaschen aus patiniertem Leder misstrauisch gemacht. In den folgenden Tagen wuchs mein Unmut. Den Morgen begannen die beiden jeweils mit Cappuccino, leichter Unterhaltungsmusik und nettem Smalltalk über das elsässische Klima. Im Laufe des Tages wurden

16

der Kaffee stärker, die Musik und die Gespräche anspruchsvoller, so dass wir des Abends bei doppeltem Espresso, Freejazz und einer Debatte zu Sterbehilfe anlangten. Und jeden Tag passte ihre Garderobe farblich exakt zusammen. Bei Diana und Wolfgang war alles so stimmig, so geschmackvoll und so genau durchdacht, dass man Lust bekam, sie mitten in der Nacht mit Musik von Modern Talking aus dem Schlaf zu schrecken. Am dritten Abend erreichte mein Hass seinen Höhepunkt. Ich hatte mich gerade voller Vorfreude auf meine Lieblingsshow vor den Fernseher gesetzt, als Diana und Wolfgang Fernsehverzicht für alle verlangten. «Wenigstens in dieser einen Woche wirst du doch auf die Volksverdummungsmaschine verzichten können», sagte Diana und sah mich an wie einen Schwerstalkoholiker, der soeben ihre teuren Parfumflacons leergetrunken hatte. Die Situation musste eskalieren, und eigentlich war es klassisch und natürlich, dass es am letzten Abend geschah, während dieses an sich harmlosen Spiels. Evi hatte uns vorhin die Frage gestellt: «Welches Gericht oder welches Menu wäre die gesuchte Person?», und die gesuchte Person war wie gesagt Wolfgang. Angela verglich ihn mit Crostini mit Olivenpaste, Marco mit einer Estragonschaumsuppe, und Diana sah in ihrem Liebsten einen Rucolasalat mit Parmesan. Wolfgang selber, der ja der Tarnung wegen auch antworten musste, beschrieb sich als «ofengegarte Gold-Dorade». Zugegebermassen lag mein Gulasch etwas quer in der Landschaft und schwer im Magen, so dass Evi ins Grübeln kam und sagte: Also ohne den Gulasch wüsste ich, wer’s ist. Aber so …?» Jetzt, nach der Auflösung der Raterunde, wirft Wolfgang mir «bewusste Irreführung» vor: «Wie um alles in der Welt kommst du dazu, mich mit solch einem Bauernfrass zu vergleichen», fragt er. «Schatz», sagt Diana, «was soll sie denn sonst sagen? Erwarte doch von einem Menschen, der fernsehsüchtig ist, nicht zu viel Phantasie.» Ich nehme mir vor, Diana später unter Freejazz-Klängen im Brunnen zu ersäufen. Immerhin ist sie für Sterbehilfe. Aber zuvor muss ich um meine Ehre kämpfen. «Ihr alle seht im Gulasch ein grobes Arme-Leute-Essen aus Resten», sage ich schliesslich. «Das kann sein, aber das macht ihn nicht schlecht.

SURPRISE 379/16


SURPRISE 379/16

mit Spielberg und «Schindlers Liste». Spielberg habe die leidvolle Geschichte all jener Menschen für seinen Film missbraucht, so wie ich jetzt Wolfgangs Geschichte für die Unterhaltung am Tisch ausnutze. Ich wurde noch nie zuvor mit Spielberg verglichen und ich muss sagen, dass es mir gefällt. Diana schlägt Wolfgang zur Erholung und Klärung der Lage einen nächtlichen Spaziergang zu zweit vor. Aber Wolfgang will bleiben und weitererzählen. Darum sei er Architekt geworden, sagt er. Ein erfolgreicher Architekt, der sich die schönsten Möbel, die coolsten Kleider und natürlich die angesagtesten Speisen leisten kann. Denn nichts sollte ihn je wieder an jenen Keller mit dem Gulaschkessel erinnern. «Es ist alles gut», sagt Diana. «Unser Kühlschrank ist voller Cherrytomaten, Büffelmozzarella, handgemachten Teigwaren. Du musst nie wieder Gulasch essen und ich verzeihe dir sogar die Lüge mit dem Sudetendeutschen.» «Ich will aber Gulasch essen», sagt Wolfgang, «ich muss sogar, verstehst du nicht? Es geht um meine innere Flucht. Sie ist erst dann vorbei, wenn ich mich dem Gulasch und dem Ungarn in mir stelle.» «Das kannst du aber alleine tun», sagt Diana mit schriller Stimme, «ich esse das Zeug nicht.» «Und weisst du, was wir noch machen?», fragt Wolfgang. «Wir kaufen uns ein grosses Ferienhaus etwas ausserhalb von Budapest. Von dem Geld, das wir gespart haben.» «Aber das ist doch für die Ausbildung unserer Kinder, die wir noch haben werden!», protestiert Diana. «Ach, hör doch auf mit Kindern», sagt Wolfgang. «Wo man uns doch auf Kilometer ansieht, dass es bei uns nicht klappt.» «Schatz, das gehört jetzt wirklich nicht hierher, sondern in unsere Paartherapie», sagt sie. «Ich gehe nicht mehr in die Therapie», sagt er. «Ich besuche einen Kochkurs. Ha, das wird mir Spass machen!» «Und du», sagt er zu mir. «Wieviel willst du für diese Stunde, die besser war als all das dumme Psychogebrabbel der letzten Jahre?» «Ach», sage ich, «Geld brauchst du mir nicht geben. Aber gegen ein Gulasch nach ungarischem Originalrezept hätte ich nichts einzuwenden.» ■ Güzin Kar ist Drehbuchautorin und Filmregisseurin. Ursprünglich wollte sie grosse Sozialdramen schreiben, wurde aber versehentlich Komödiantin. Ihrer Feder entstammen unter anderem der Kinderfilmklassiker «Die wilden Hühner» und die Militärkomödie «Achtung, fertig, WK!»

BILD: ZVG

Im Gegenteil. Er ist eines der meist unterschätzten Gerichte. Jeder meint, ihn zu kennen, jeder meint, ihn aus dem Ärmel oder gar einer Konserve schütteln zu können. Aber EINE falsche Zutat, EIN unpassendes Gewürz, und der Gulasch ist nicht mehr als ein hundskommuner Eintopf, was mit einem echten Gulasch gar nichts zu tun hat.» Liegt es am Kerzenschein, dass Wolfgangs Augen auf einmal zu leuchten beginnen? Und nun komme ich erst richtig in Fahrt: «In Tat und Wahrheit ist der Gulasch das, was die modernen, hippen, coolen Gerichte sein wollen: Er ist aufrichtig. Er ist ehrlich. Und er wird ewig leben. Davon kann ein trendiges Hasenfutter wie Rucola nur träumen!» Stille im Raum. Ich bin während meiner Brandrede einen halben Meter gewachsen oder einfach nur aufgesprungen, auf jeden Fall sehe ich plötzlich auf Diana hinunter und denke: «Ich könnte ihr von hier oben auf den Kopf spucken, aber meine Spucke hat es nicht verdient, auf diesen fisseligen, dünnen Haaren zu landen.» Das sei der grösste Blödsinn, den sie je gehört habe, sagt Diana auf einmal. «Wenn es so ist, wie du sagst, warum führt dann kein Feinschmeckerlokal Gulasch auf der Karte? Warum, he?» Vielleicht sollte ich ihr doch auf den Kopf spucken, denke ich. «Weisst du», sagt Wolfgang auf einmal, «mich hat deine Rede über den Gulasch sehr berührt.» Und dann sehe ich, dass seine Augen nicht leuchten, sondern tränen! Er habe tatsächlich ungarische Wurzeln, sagt er mit erstickter Stimme. «Was, du bist Ungar?», sagt Diana. «Ich dachte, Sudetendeutscher.» Seine anfängliche Aversion dem Gulasch gegenüber habe sehr viel mit seiner Geschichte zu tun, sagt Wolfgang. «Schatz», sagt Diana, «wollen wir das nicht lieber nächste Woche in der Therapiesitzung angehen? Im geschützten Rahmen?» Doch Wolfgang fühlt sich in der Lage, seine Geschichte hier und jetzt noch einmal zu durchleben. «Damals, vor vielen Jahren», sagt er, «musste unsere Familie vor den Kommunisten aus Ungarn fliehen und alles zurücklassen, was uns gehörte. Wir kamen in die Schweiz, wo wir von vorne beginnen mussten. Wir hausten in einer winzigen Kellerwohnung und es gab jeden Tag Gulaschsuppe, eine ganz dünne mit wenig Fleisch und Paprika. Wenn ich bei meinen Freunden zum Essen eingeladen war, gab es immer Rösti oder panierte Schnitzel, und ich schämte mich für unsere Kellerwohnung und die dünne Suppe. Als einmal jemand aus meiner Klasse zu Besuch kam, erzählte er später herum, wie armselig wir lebten, und alle nannten mich von da an Gulasch-Fresser.» Wolfgang heult los. «Warum hast du mir das nie erzählt», kreischt Diana, und sie verlangt einen sofortigen Stopp seiner Erzählung und faucht mich an. Wir von Film und Fernsehen hätten überhaupt keinen Respekt vor den Gefühlen anderer. Schon gar nicht vor schlimmen Lebensgeschichten. Das sei wie

17


Auf dünnem Eis VON SUNIL MANN

18

SURPRISE 379/16


Plötzlich fegt eine ungestüme Windböe durch die Äste der uralten Eichen, der Zypressen und Rottannen und erfüllt die Luft mit einem mehrstimmigen Rauschen, das die letzten Worte des Pfarrers mit sich reisst. Kurz erschaudern auch die Weissdornbüsche, die den Friedhof zur Strasse hin abgrenzen, ein paar trockene Blätter jagen knisternd über den Asphalt, danach herrscht Stille. Mit gesenkten Köpfen verharren die Trauergäste am Grab, und irgendwie kann ich es immer noch nicht so richtig fassen, dass am Ende eines Lebens nicht mehr von einem geliebten Menschen übrigbleibt als ein Häufchen Asche. Zusammen mit den Habseligkeiten, den Büchern und dem Geschirr, Kleidern, die keiner haben will, und Briefen von Leuten, die man nicht kennt. Und manchmal fällt einem dabei auf, wie wenig man von diesem Menschen gewusst hat, wie viel einem verborgen geblieben ist. Dass man sich trotz aller Nähe stets fremd geblieben ist. Ich zünde mir eine Zigarette an und rede mir ein, dass sie mich beruhigt. Ein leises Aufseufzen weht zu mir herüber. Mäntel rascheln, Hüte werden zurechtgerückt und Köpfe gehoben, ein älterer Mann schielt unauffällig auf seine Armbanduhr. Viele Leute sind nicht gekommen, es ist auch nicht zu erwarten gewesen. Ein ergrautes Damentrio bewegt sich als Erstes von der Grabstätte weg, zögerlich erst, dann zunehmend zielstrebig, der Leichenschmaus findet in einem nahegelegenen Gasthaus statt. Jetzt erst wird mir meine unglückliche Position bewusst, nahe am Friedhofstor, in sicherer Entfernung von der Trauergemeinde, wie ich gedacht habe, doch nun muss natürlich jeder hier durch. Ich stehe wie erstarrt, und sie nicken mir im Vorbeigehen zu, mustern mich neugierig, manche strafend, linkisch wie ein ertappter Schuljunge verberge ich die Zigarette hinter meinem Rücken. Immer wieder packt jemand meine freie Hand und schüttelt sie mit diesem vielsagenden Druck, den sie sich für Beerdigungen aufheben, man flüstert mir tröstende Worte zu und lächelt gequält. Vaters Blick ist unergründlich, als er mir kurz die Hand auf die Schulter legt, seine knappe Kinnbewegung gibt mir zu verstehen, dass er sich später mit mir unterhalten will. Ich bin zu lange weg gewesen, habe ihn zu lange nicht angerufen, es fällt mir erst in diesem Moment auf. Selbst jetzt habe ich nur diese zwei Tage zwischen einem Auftrag in Singapur, wo ich für ein Wirtschaftsmagazin einen Schweizer Financier porträtiert habe, und den Miss-World-Wahlen in Venezuela. Wegen meinem Job als Fotograf verbringe ich kaum noch Zeit zu Hause. Aber das ist es nicht allein. «Jonas!» Sara geht zuhinterst, ihr Gang ist wie immer leicht, beinahe schwebend. Sie lächelt und ihre kleine Hand flattert wie ein orientierungsloser Nachtfalter hoch. «Du bist gekommen.» Sie umarmt mich und hängt sich bei mir ein, zieht mich mit, über die Strasse auf den Fussgängerweg, der dem See entlang zum Dorf führt. Regenwolken ballen sich vor der Gebirgskette am gegenüberliegenden Ufer, die Farben der Szenerie ausgebleicht wie auf einem uralten Foto, nur die Wasseroberfläche schimmert matt, anthrazitfarbenes Metall. «Schau nicht hin», flüstert Sara ängstlich, und ich drehe mich besorgt zu ihr um. Sie ist blass, blasser als eben noch, ihre Haut ist beinahe durchscheinend. Als wäre sie im Begriff, sich aufzulösen. Dieser Eindruck hat sich SURPRISE 379/16

noch verstärkt, seit ich sie zum letzten Mal im Wohnheim besucht habe. «Manchmal bin ich mir sicher, sie steht vor dem Fenster. Doch wenn ich nachschaue, ist da niemand. Es ist bloss so ein Gefühl, verstehst du?» «Ja», sage ich und vermeide es, nochmals auf den See zu schauen. «Sie wird immer da sein. Sie wird uns nie loslassen, weisst du? Nie.» Ich erwidere nichts, doch ich sehe sie mit einem Mal wieder erschreckend deutlich vor mir: das rötliche Haar, das sie zu losen Zöpfen geflochten hatte, die Sommersprossen auf Nase und Wangen, dieses flüchtige Grün ihrer Augen, der stumme Vorwurf, der in ihrem letzten Blick lag. Samstags, wenn Mama Ruhe brauchte und sich nach dem Frühstück in den oberen Stock verzog, um es sich mit einem Buch im Bett bequem zu machen, nahm uns Vater mit zum Einkaufen. Wir wohnten in einem schmucken, aber für vier Leute etwas gar engen Chalet direkt am See, ein kleiner Garten gehörte dazu und ein Bootssteg, obschon wir uns kein eigenes Boot leisten konnten. Im Sommer durften wir jeweils das Kajak unseres Nachbars benutzen, wenn er es selbst nicht brauchte, mehr lag leider nicht drin. Vater kannte jeden in der näheren Umgebung, und da sich am Samstagmorgen ohnehin das ganze Dorf im einzigen Supermarkt des Ortes versammelte, traf er auf Schritt und Tritt Bekannte an. Während er sich gern in längere Gespräche verwickeln liess, langweilten Sara und ich uns schnell einmal. Wenn Vater dann unsere Ungeduld bemerkte – was leider nicht jedes Mal der Fall war –, lud er uns als Wiedergutmachung ins gegenüberliegende Café Hofer ein, wo wir immer dasselbe bestellten: Vermicellestörtchen. Dicke Vanillecreme in einem Körbchen aus süssem, vor lauter Butter ganz bröckeligem Mürbeteig, darüber aufgetürmt ein Berg von zu spaghettidünnen Fäden gepresstem Maronenpüree. Gekrönt wurde das Ganze mit einem Sahnehäubchen und einer knallroten Cocktailkirsche – ein wahr gewordener Kindertraum. Beatrice, die Kellnerin, freute sich jedes Mal, wenn wir kamen, und beschenkte uns mit Keksen, die für den Verkauf nicht perfekt genug geraten waren. Mit der Zeit liess uns Vater einfach dort zurück und ging einkaufen, wohl wissend, dass wir auf keine dummen Gedanken kommen würden, so lange wir mit den klebrigen Stückchen beschäftigt waren. Ich liebte diese Samstage mit Vater. Und Sara liebte sie auch. Wir bleiben auf dem gekiesten Vorplatz des Gasthofs stehen, und während ich meine Zigarette zu Ende rauche, schmiegt sich Sara mit unerwarteter Heftigkeit an mich. Ich bin erfreut und gerührt, gleichzeitig will ein Teil von mir sie wegstossen, möchte, dass sie mich in Ruhe lässt und mich nicht immer zurückerinnert an jenen Samstag vor bald dreissig Jahren. Denn darum geht es in meinem Leben: diesen Samstag hinter mir zu lassen. Und obschon ich ganz genau weiss, dass es mir nie gelingen wird, versuche ich es trotzdem. Aus dem Lokal dringt Hackbrettmusik, und durch die halb geöffnete Eingangstür sehe ich eine Kellnerin mit einer üppig belegten Trockenfleischplatte durch den Korridor hetzen. Irgendjemand lacht laut. Ich frage mich, ob Mama jemals Hackbrettmusik gehört hat, ob sie sie überhaupt gemocht hätte, ich kann mich so schlecht an solche Dinge erin-

19


nern. Die Feinheiten und Zwischentöne. Aber es ist auch schwierig gewesen, damals, als sie sich dauernd gestritten haben. Als Mama die winzige Kammer im Dachgeschoss zu ihrem Schlafzimmer umfunktioniert hat und Vater abends allein mit einer Weinflasche im Wohnzimmer sass und mit glasigem Blick vor sich hinstarrte. Als sie dann aufgehört haben zu streiten und die Stille viel lauter und beängstigender war als jede noch so heftige Auseinandersetzung zuvor. Als Mama, ohne sich von uns zu verabschieden, drei Tage verschwand und erst wiederkam, als es zu spät war.

«Ich verstünde es sehr wohl, wenn du es mir bloss erklären würdest!» Empört reckte sie den Hals, die Hände geballt und schon auf dem Weg zur Hüfte. Vater stöhnte leise und fuhr sich übers Gesicht, Sara überforderte ihn in diesem Moment, es war ihm deutlich anzusehen. Und er wusste, dass sie nicht nachgeben würde, sie konnte sehr hartnäckig sein. «Ich muss zur Toilette», zog er sich aus der Affäre und sprang auf, bevor Sara etwas erwidern konnte. Voller Angst sahen wir uns an. Was wir insgeheim schon länger befürchtet hatten, war jetzt offenbar eingetroffen: Unsere Eltern trennten sich. Mama war weg. Es war, als wachse in Sekundenschnelle eine Eisschicht um mein Herz, die Lust auf Vermicellestörtchen war mir ohnehin vergangen. Wir warteten eine ganze Weile, bange schweigend, doch Vater kam nicht zurück. Schliesslich hielt ich es nicht mehr aus und forderte Sara auf,

Wir sitzen an einem Zweiertisch in der Nähe des Ausgangs, obschon uns immer wieder Leute zurufen, wir sollen uns doch zu ihnen setzen und erzählen, man bekäme uns ja sowieso nie zu Gesicht. Die Stimmung ist ausgelassen, Trauer und Betroffenheit sind wie weggewischt, ich habe keine Ahnung, wie die das schaffen. Sie haben uns im kleinen Saal untergebracht, im «Säli», wie man hier sagt, es wird eifrig Wein nachgeschenkt, und Sie glauben immer noch, er hätte es getan, selbst nach all den Jahren. irgendwann fängt einer der Alten an zu singen. Er bewegt sich vorsichtig, sein Lächeln ist vage, wie ein Kranker, der Vater sieht verunsichert aus, es freut ihn offensichtlich, dass doch einige seiner Bekannten zum ersten Mal seit langer Zeit von seinem Lager aufgestanden ist. gekommen sind, wenn auch ein Grossteil durch Abwesenheit glänzt. Sie glauben immer mich zur Toilette zu begleiten. Widerwillig erhob sie sich, ergriff unsanft noch, er hätte es getan, selbst nach all den Jahren. Er bewegt sich vormeinen Arm und zog mich hinter sich her durch das Café, an besetzten sichtig, sein Lächeln ist vage, wie ein Kranker, der zum ersten Mal seit Tischen, der Auslage mit der Patisserie und der Kuchenvitrine vorbei, langer Zeit von seinem Lager aufgestanden ist. links in einen Korridor hinein, durch den man die Küche erreichte, dann rechts um die Ecke, und am Ende war da ein mit Plaketten gekennzeichSie hatten wieder gestritten, laut und heftig, und als sich Vater im Café neter Durchgang. Dahinter ein Zigarettenautomat und gestapelte Kartonkurz zu uns setzte, um einen Espresso runterzustürzen, bemerkte ich, schachteln, vor den Toiletten eine angelehnte Tür, die in den Hinterhof dass seine Hände zitterten. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt und rutschte führte. Gepresste Stimmen waren zu vernehmen. Sara blieb wie angeihm kurz weg, als er sich von uns verabschiedete. Er käme gleich zuwurzelt stehen, lauschte, trat einen Schritt zurück und spähte durch den rück, Zwiebeln, Waschmittel, etwas für den Sonntag, Eier, Milch und schmalen Spalt hinaus. Ich tat es ihr natürlich gleich. Erst erkannte ich Brot, es dauere nicht lange. Sara sah ihm hinterher, sie war stiller genur einen weissen Lieferwagen, auf dem der Name des Cafés in Schnörworden in letzter Zeit, in sich versunken, die Spannungen machten ihr kelschrift stand. Dann sah ich Vater, er hielt Beatrices Handgelenke fest mehr zu schaffen als mir. Sie war zwar zwei Jahre älter, aber trotzdem. und drückte die Kellnerin grob gegen die Hausmauer, die Faust erhoben. Schweigend nahmen wir unsere Vermicellestörtchen in Angriff, und die «Das kannst du nicht machen!», zischte er, und sie sah ihm unerschroSüsse gaukelte mir einen kurzen Augenblick lang vor, die Welt sei in cken ins Gesicht, die Lippen zu einem höhnischen Lächeln verzogen. Ordnung. Ein eisig kalter Tag im Januar, im Radio wurde über das Zu«Das macht dir Angst, was? Wenn du die Kontrolle verlierst. Wenn frieren des Sees berichtet. Wenn es weiterhin so kalt bleibe, könne man nichts mehr so läuft, wie du willst.» Sie flüsterte ihm etwas zu, das ich in ein paar Tagen darauf Schlittschuh laufen, stellte der Sprecher in Ausnicht verstehen konnte. sicht. Dann sah ich meinen Vater in der Telefonkabine vor dem Ein«Ich werde nicht zulassen, dass du meine Familie zerstörst!» kaufszentrum stehen, den Hörer am Ohr, mit der freien Hand fuchtelte Beatrice lachte, ein heiseres Husten eher, voller Spott und Herablassung, er abwechselnd wütend und beschwichtigend herum. und ich trat nervös von einem Fuss auf den anderen. Er war immer noch aufgebracht, als er zurückkehrte. Seine Gesichtsfar«Du kannst nichts dagegen tun, rein gar nichts. Und das weisst du ganz be war gerötet und die Ader, die vom Haaransatz zur Nasenwurzel mitgenau.» ten über seine Stirn verlief, angeschwollen. Ehe Vater antworten konnte, streifte ich mit dem Bein einen der Karton«Eure Mutter fährt weg», stiess er hervor, und Sara blickte alarmiert zu stapel hinter mir, er verrutschte mit einem schleifenden Geräusch. Sara ihm hoch. sah mich strafend an. Blitzartig gab Vater Beatrice frei. Sie schüttelte die «Für ein paar Tage. Sie braucht Zeit, um sich über gewisse Dinge klar zu Handgelenke und strich ihre Bluse glatt, während er auf die Tür zuschritt. werden», schob er als Erklärung nach. Reaktionsschnell packte mich Sara an der Schulter und schob mich vor «Gewisse Dinge?» Sara riss die Augen auf. sich her zu den Damentoiletten, wo wir uns in einer Kabine einschlossen. «Das verstehst du nicht.»

20

SURPRISE 379/16


SURPRISE 379/16

Eis. Vor Erleichterung lachte sie auf und sah zu uns hoch. Die Eisschicht brach erst, als sie sich aufstützen wollte. Sie erstarrte und vermied jegliche Bewegung. Und so sehe ich sie noch heute vor mir, Beatrice, ihr rötliches Haar zu losen Zöpfen gebunden, die grünen Augen und der Vorwurf, der darin lag. Die Risse pflanzten sich rasch fort und brachten die einzelnen, erschreckend dünnen Eisschollen zum Schwanken. Alles geriet in Bewegung, und dann versank Beatrice mit einem ungehaltenen Aufschrei, der See schluckte sie einfach, zog sie in die Tiefe, ihr Haar schwebte noch einen kurzen Moment lang wie eine rötliche Wolke über ihr, dann war da nur noch dunkles Wasser und Eisstücke, die verloren auf der Oberfläche trieben. Man hat sie nie gefunden, denn dank der beiden Flüsse, die den See speisen, herrscht eine starke Strömung. Was man gefunden hat, war Beatrices Zigarettenstummel, es gab auch Leute, die bezeugen konnten, sie in der Nähe unseres Hauses gesehen zu haben. Mutter brach zusammen, als sie zwei Tage später heimkam, und damals begriff ich nicht, weshalb sie so untröstlich war, weshalb sie sich nach diesem Vorfall in sich zurückzog, um einen unerträglich langsamen Tod zu sterben. Die Polizei verhörte meinen Vater mehrmals, und obschon er beweisen konnte, sich zum Zeitpunkt von Beatrices Verschwinden am anderen Ende des Sees aufgehalten zu haben, blieb etwas kleben. Bekannte gingen ihm plötzlich aus dem Weg, sogenannte Freunde riefen nicht mehr an und war er einkaufen, tuschelte man hinter seinem Rücken. Sara und ich hielten dicht, doch es war, als wäre Beatrice nicht im See, sondern in uns verschwunden, sie wuchs und nahm Besitz von uns, sie suchte uns in unseren Träumen heim. Sie brachte Sara in die Psychiatrie und trieb mich zur ewigen Flucht. Auf dem Flug nach Caracas nehme ich die Briefe hervor und lese sie, zum wievielten Mal, ich weiss es nicht. Vater hat sie mir geschickt, als Mama kaum mehr aus dem Morphiumrausch aufwachte und niemand mehr Hoffnung hegte. Sie hatten sich geliebt, wirklich geliebt, das sprach aus jeder Zeile dieser Briefe. Sie wollten zusammen weggehen, ein Leben aufbauen, Beatrice und sie. Ich werde Sara nichts davon erzählen, niemals. Als ich den letzten Brief beendet habe, lehne ich mich zurück und blicke aus dem Fenster. Dunkles Blau, wohin ich auch schaue. Ich denke an Mama und all die Jahre, die wir in dem engen Chalet verbracht haben, und einmal mehr muss ich mir eingestehen, wie wenig ich doch von ihr gewusst habe, wie viel mir verborgen geblieben ist. Dass sie mir trotz aller Nähe fremd geblieben ist. ■ Aus: «Törtchen Mördchen». KBV Verlag

Sunil Mann wurde als Sohn indischer Einwanderer im Berner Oberland geboren und lebt heute in Zürich. In diesem Sommer erscheinen zwei Bücher von ihm: «Schattenschnitt», der sechste Band der Krimiserie um den indischstämmigen Detektiv Vijay Kumar, sowie sein erstes Kinderbuch: «Immer dieser Gabriel», in dem es um einen kleinen, frechen Schutzengel geht.

BILD: ZVG

«Wo wart ihr?», fragte Vater, als wir an unseren Tisch zurückkehrten, und wir behaupteten, wir hätten draussen Schulkameraden vorbeigehen sehen. Doch wir hätten uns die Mühe sparen können. Er war so aufgelöst, dass er unsere offensichtliche Lüge nicht bemerkte, nicht sah, dass unsere Jacken noch über den Stuhllehnen hingen. Er brachte uns nach Hause, ermahnte uns, in der Nähe des Telefons zu bleiben, falls Mutter anrufen sollte, und stieg gleich wieder in den Wagen, um nach ihr zu suchen. Das Haus fühlte sich ohne sie leer an, doch ich war nicht wirklich traurig. Vielmehr empfand ich Wehmut und hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend, wie wenn man nach dem Urlaub fertig gepackt und die Ferienwohnung geputzt hat und beim Auto auf die Abfahrt wartet. Sie würde zurückkommen, da war ich mir ganz sicher. Etwas anderes hätte ausserhalb meiner Vorstellungskraft gelegen. Wir sassen im Wohnzimmer, Sara las in einem Buch und ich machte Hausaufgaben, und diese angespannte Stille fing an, an meinen Nerven zu zerren. «Da ist sie wieder», flüsterte ich Sara zu und deutete mit dem Kinn zum Fenster. «Wer?», wollte sie wissen, hatte das Buch aber bereits sinken lassen und sich umgedreht. Beatrice ging mit vorsichtigen Schritten ums Haus herum. Offenbar hatte sie uns noch nicht entdeckt und schien anzunehmen, das Chalet wäre leer. Vielleicht hatte sie das Auto wegfahren sehen. Wir duckten uns, als sie auf die Terrassentüre zusteuerte und leise anklopfte, danach blieb sie eine ganze Weile dort stehen und schaute auf den See hinaus. Endlich rührte sie sich wieder, ihre Finger strichen über den Holztisch, an dem wir an warmen Sommertagen assen und den Mutter mit Tannzapfen und Zweigen geschmückt hatte, danach zündete sie sich eine Zigarette an und schritt zögerlich über den Rasen zum Bootssteg hin. Mit einem Mal sprang Sara auf, rannte zur Tür und riss sie auf. «Was willst du hier?», schrie sie, die Wut hatte ihr Gesicht ganz rot gefärbt. Beatrice wandte sich langsam um, sie stand bereits auf dem Steg und erst jetzt sah ich, dass sie geweint hatte. Ihr Gesicht war aufgedunsen, die sonst so streng geflochtenen Zöpfe hatten sich gelockert. «Lass unseren Vater in Ruhe!», brüllte Sara, und Beatrice öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Sara herrschte sie an: «Ich will nichts hören! Halt dich einfach von ihm fern!» Beatrice presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. «Das verstehst du nicht.» «Und ob!», brach es erbittert aus Sara heraus, Tränen liefen ihr jetzt über die Wangen, ihre Augen quollen hervor. «Geh weg und lass dich hier nie wieder blicken!» Sie schnappte sich etwas vom Tisch und rannte auf Beatrice zu. «Sara, hör mir doch …», begann Beatrice, dann traf sie der Tannzapfen an der Stirn. Der nächste streifte ihre Wange, der dritte knallte hart gegen ihre Schläfe. Sie torkelte rückwärts, die Zigarette fiel ihr aus der Hand. Gerade konnte sie sich noch an einem der Pfosten abstützen, sie balancierte auf der Kante wie ein ungelenker Vogel, dann traf sie ein weiterer Zapfen und sie verlor das Gleichgewicht. Ich rannte hinter Sara her, und als ich am Bootssteg ankam, lag Beatrice rücklings auf dem

21


Der Dieb im Hotel Schweizerhof VON CHRISTOPH SIMON

Vergnügt fuhr der Dichter auf seiner scheppernden Vespa zum Schweizerhof, um seine Matratze in der Wohngemeinschaft mit einem kissenübersäten Doppelbett im geräumigen Deluxe-Einzelzimmer zu tauschen. Sein Auftrag: Ein Gedicht über das legendäre Hotel zu schreiben. Das Honorar: zwei Nächte Kost und Logis. Leichtes Leben, Champagnerfrühstück! Entschieden hatte er sich vorgenommen, den Bademantel, die Nackenrolle und den Haarföhn am Tag der Abreise im Hotel zu belassen. Und als er eingecheckt hatte und frohgemut in der Lounge vor der Bibliothek einen belebenden Grappa trank, erneuerte er seinen Schwur, von hier nichts zu verschleppen. Obwohl er sich die illustrierten Andersen-Märchen immer schon gewünscht hatte. In seinem Zimmer führten ihn die Reproduktion von Paul Klees «Übermut» und die umwerfende Designer-Früchteschale in Versuchung. «Aber nein! Du bestiehlst nicht deine Gastgeber, die dich verwöhnen und alles Unangenehme von dir fernhalten!», redete sich der Dichter unnachgiebig zu. Doch als er zu Abend speiste, war’s um alle guten Vorsätze geschehen. Tatort: Jack’s Brasserie. Tatzeit: Kurz nach neun. Tatmotiv: Gier. Der Dichter verzehrte die bestimmt prämierte Kochkunst und betrachtete munter die Messingtäfelchen in seiner Nische, die kund taten, in welche Gesellschaft er berufen worden war: Grace Kelly, David Niven, Baron von Thyssen, Ursula Andress, Mireille Mathieu … Da passierte es: Kellner Daniel hob den Brotkorb vom Tisch, fuhr mit der Hand ins Gilet, zog einen an einen Kugelschreiber gemahnenden Stift hervor und führte ihn rasch und elegant übers weisse Tischtuch. Sämtliche Brotkrumen, die sich flüchtig gemacht hatten, wischte Daniel mit dem Stift auf. Der verblüffte Dichter hatte dieses Gerät nie vorher gesehen. «Entschuldigen Sie», sagte er. «Was ist das?» «Das hier? Ein Table Crumber.» «Darf ich mal?» Der Kellner reichte ihm freundlich das Gerät.

22

Verwundert drehte und wendete der Dichter das längliche, verschwindend leichte Gerät. Es sah aus wie ein der Länge nach halbiertes Röhrchen. Aluminium, mit Clip zum Anstecken, überraschenderweise keine scharfen Kanten. «Weshalb kenne ich dieses Ding nicht?», fragte er sich. An feierlichen Schillerpreisbanketten habe ich Bürsten gesehen, die der Krume zuleibe rückten, und komplizierte Handstaubsauger, aber noch nie dieses höchst einfache, doch perfekte Ding. Er staunte. Das Drehen und Wenden zog sich so lange hin, dass sich Daniel in der Schublade eines Ersatzes bedienen musste, um seinen Aufgaben bei anderen Gästen nachzukommen. Der Dichter unterschrieb die Rechnung und stahl sich davon, mitsamt dem Table Crumber und der Madeleine, die zum Kaffee gereicht worden war. In seinem Zimmer krümelte der Dichter drauflos. Krümelte die Madeleine auf diejenige Seite des Doppelbettes, die er nicht zu beschlafen gedachte, und versuchte sich in der Kunst des Krümelsammelns. So einfach war das allerdings nicht. Die geschmeidige Bewegung, mit der Kellner Daniel den Table Crumber über das Tischtuch geführt hatte, blieb dem Dichter versagt. «Ich werde üben müssen – beharrlich üben und üben!», dachte der Dichter euphorisch. Er legte den Table Crumber zur Seite und begann zu arbeiten. Es war Samstagnacht. Kein Ton der verkehrsumtosten Stadt drang durch die schalldichten Fenster. Er klappte den Laptop auf und erwartete einen Einfall. Trotz der Stille fiel ihm nichts ein. Etwas plagte ihn. Doch nicht etwa das schlechte Gewissen? «Ich habe den Table Crumber nicht gestohlen!», rechtfertigte sich der Dichter vor dem unsichtbaren General Manager Thomann. «Ich habe ihn lediglich mit aufs Zimmer genommen, um die Konsequenzen seiner Existenz dichterisch auszuloten. Ich werde ihn morgen zurückbringen!» Aber sowohl der Herr Thomann als auch der bekümmerte Dichter wussten, dass er log. «Reiss dich zusammen», ermahnte er sich. Der Dichter vergegenwärtigte sich, dass der Mensch moralisch ausserordentlich elastisch ist und SURPRISE 379/16


durchaus die Kraft besitzt, harte Schläge des Gewissens einzustecken und zu meistern. Hatte nicht T. S. Eliot gesagt – womöglich in einem anderen Zusammenhang: «Unreife Dichter imitieren; reife Dichter stehlen»? Aufgewühlt ging er zu Bett. Sein Schlaf war unruhig. Er wälzte sich bis zur verkrümelten Bettseite vor. In seinen Träumen spielten riesenhafte Table Crumbers die Hauptrolle, und alle Träume waren voll Angst und Grauen.

Strasse zu überqueren, um im Ersten Hotel der Stadt den letzten Lumpen dingfest zu machen. Er setzte sich an den Schreibtisch, um ein Gedicht zu schreiben. Aber ihm kamen nur Plots zu Kriminalromanen in den Sinn. Sein Kopf war voller Sätze wie: «Die Concierge hat den Dieb gefesselt und in die Kofferkammer gesperrt», «man erschiesst nicht den Hausdichter, Frau Andress», «die Leiche erwartet Sie in der Cigar Lounge, Sie vertrottelter Polizist, Sie», und ähnlichem Zeug. Kurz vor Mitternacht schlich er sich ins gedimmte Licht der Bar und nahm Zuflucht zum Pinot Noir aus Ligerz und zum Rum aus Trinidad und Guyana. David Niven, den Finger am Schnauz, sass neben Grace

Vielleicht kommt der Fall nie vor Gericht. Mit diesem Gedanken versuchte er sich zu beruhigen. Soviel ich weiss, gelangen eine Menge Fälle nie über das Wechseln von Kraftausdrücken hinaus. Andererseits gelangen viele Fälle, auch die unsinnigsten, vor Gericht. Wurde ich nicht einmal wegen Beamtenbeleidigung vor Gericht gezerrt, wegen dieser vertrottelten Polizistin, die der Ansicht war, ich hätte die Vespa auf der falschen Seite der Brockenstube geparkt? Sorgenvoll ging der Dichter ans Fenster und blickte hinüber zum Bahnhof. Sicherheitskräfte im Zweierpack sah man patrouillieren, aber niemand schickte sich an, die SURPRISE 379/16

BILD: ZVG

Als er am Morgen fürs Frühstück an den Tatort zurückkehrte, befürchtete er, die Brasserie mitsamt allem Jugendstil und den Kronleuchtern werde im nächsten Augenblick über ihm zusammenbrechen und ihn erschlagen. Den Table Crumber hatte er schamvoll im Zimmersafe verwahrt, damit sich die Er legte sich in die Badewanne, schluckte bitteren Schaum und Housekeeping-Brigade beim Bettenmachen schaute sich einen Film auf dem Flachbildschirm an, dessen Bild so und Staubsaugen nicht fragen musste, wie er hierher gekommen sei. Und unvorteilhafte gestochen scharf war, dass er glaubte, jederzeit könne die KommisSchlüsse zog. Der Dichter bestellte das Vitalsarin heraussteigen und ihn verhaften. Frühstück, aber das Einzige, was die Früchte und der Hüttenkäse bei ihm vitalisierten, war seine Vorstellungskraft eines drohenden Unheils. Kein einziges Brötchen Kelly, eine unangezündete Zigarette in der Hand. Dahinter fachsimpelass er. Unerträglich war ihm der Gedanke, Kellner Alemayeh würde seiten dicke Barone in schwarzen Mänteln («Die Schweiz ist teuer, das nen Table Crumber hervornehmen, das Tischtuch säubern und leichthin stimmt schon, auf der anderen Seite werden hier keine Touristen entsagen: «Bedauerlicherweise vermisst Daniel seit gestern seinen Table führt»). Mireille Mathieu starrte unseren Dichter verächtlich an, auf ihCrumber. Sie können ihm nicht zufällig helfen, ihn wieder zu finden?» ren Lippen formte sich ein lautloses «Bastard!» Der Dichter nahm sich vor, sich den ganzen Tag auf seinem Zimmer zu verschanzen. Er versuchte zu arbeiten, aber die Minibar musste aufgeAm Morgen checkte der Dichter aus – mit hängenden Schultern, gramfüllt werden, der Abendservice sorgte für rechte Winkel bei den Hygiegebeugt. Der Table Crumber in der Hosentasche bohrte sich ihm vorneartikeln und in der Nespresso-Ecke und legte den Wetterbericht für wurfsvoll in den Schenkel. den kommenden Tag aufs Nachttischchen. Ihm schien, als suchten sie «Sie sehen blass aus», sagte Receptionist Frieseisen. alle etwas. «Hunger und Träume», antwortete er. Der Kampf tobte in ihm. Sollte er den Table Crumber unauffällig bei der Die Concierge Mosimann überreichte dem Dichter ein AbschiedspräZeitungsauslage deponieren? Er öffnete die Tür einen Spalt breit. Draussent. sen auf dem Flur ging es verdächtig leise zu und die Eiswürfelmaschine Er erschrak, denn er spürte etwas Längliches im Umschlag. Zitternd öffwar unauffällig regungslos. nete er ihn. Ein Kugelschreiber, Gottseidank! Kein Table Crumber. Ein Er legte sich in die Badewanne, schluckte bitteren Schaum und schaute edler Schweizerhof-Drehkugelschreiber. sich einen Film auf dem Flachbildschirm an, dessen Bild so gestochen Nun hatte er zwei davon. Den anderen hatte er letzte Nacht bei Rolanscharf war, dass er glaubte, jederzeit könne die Kommissarin herausdo an der Bar eingesteckt. ■ steigen und ihn verhaften. Christoph Simon, geboren 1972, lebt als Schriftsteller und Kabarettist in Bern. Zurzeit ist er mit den Bühnenprogrammen «Wahre Freunde» und «Glück ist» unterwegs.

23


Eine todsichere Sache VON ISABEL MORF

Ja, was hätte ich denn machen sollen? Als ich zum Auto zurückkam, startete Roli gleich den Motor, ich stieg ein, schmiss den Beutel auf den Rücksitz, er gab Stoff, bog schon aus dem Lindenacker in die Hauptstrasse ein und beschleunigte. Es war ein dunkler Novemberabend, es regnete leicht, er wandte mir den Kopf zu und sagte: «Na? Geld? Schmuck?» «Fahr», schnauzte ich ihn an. «Nichts.» «Was, nichts?» gab er verständnislos zurück. Und gereizt: «Willst du mich verarschen?» «Wie, verarschen?» blaffte ich. Roli riss sich zusammen. «Beni», sagte er langsam und überdeutlich, «du hast gesagt, das wäre eine todsichere Sache, ein Bruch in diesem Dorf. Hersiwil. Ein Krachen mit nicht mal zweihundert Einwohnern. Mit Leuten, die höchstens aus dem Fernsehen wissen, was Kriminalität ist. Ein Dorf, in dem man die Haustür nicht abschliesst. Das Auto offen stehenlässt, den Schlüssel in der Zündung. Hast du gesagt. Ein Postüberfall Ende der Neunzigerjahre. Eine versuchte Brandstiftung in den Dreissigerjahren. Sonst nix. Kein Polizeiposten. Du bist doch extra hergefahren, um zu rekognoszieren, verdammt nochmal!» Er redete jetzt schneller und ziemlich laut. «Du hast gesagt, du habest das ideale Haus gefunden, um abzuräumen. Und jetzt? Wir brauchen den Stutz, du genauso wie ich.» Roli hatte recht. Genauso war es abgelaufen. Bloss, dass es dann eben anders gekommen war. Es regnete stärker. Ich schwieg verstockt. Hersiwil. Ein verschlafenes Nest. An die fünfundzwanzig Jahre war ich nicht mehr da gewesen. Seit Tante Margrit und Onkel Hannes weggezogen waren. Da war ich zwölf. Vorher war ich ein paar Mal bei ihnen in den Ferien gewesen. Sie hatten einen Bauernhof gepachtet. Ich half ein bisschen, gab den Kühen Heu und so, aber allzu sehr hatte mich Onkel Hannes nicht eingespannt. Ich kannte ein paar Jungen im Dorf, wir spielten im Wald und kamen schmutzig und mit zerkratzten Beinen nach Hause. Rolf Gerber war mein Freund gewesen, mit Andi Steiner hatte ich mich geprügelt. Gerber, Steiner, Späti, Affolter hiessen die Leute hier. Wer anders hiess, war zugezogen. Und Zugezogener war man auch noch nach Jahrzehnten. Einige wurmte es, die lebten für sich, andere gingen in den Hornusser- oder den Schützenverein, in den Männerchor, oder sie übernahmen ein Gemeindeämtli. Integration sagt man dem heute. Aber das sind dann eher Leute aus der Türkei oder Portugal und weniger solche aus Solothurn oder Herzogenbuchsee.

24

Roli schwieg jetzt auch. Er war stocksauer. Der hatte ja keine Ahnung. Rekognosziert. Richtig. Wir sind ja keine Dilettanten, Roli und ich. Wenn wir was vorhaben, packen wir es seriös an. Nicht, dass es nicht auch schon schiefgegangen wäre. Kennengelernt haben wir uns in der Pöschwies. Beide wegen ein paar Brüchen eingeknastet. Ich also eines Vormittags nach Hersiwil. Ein nebliger, kühler Oktobertag war es. Ich trug Wandersachen, gute Schuhe, Jeans, Windjacke. Mimte den Städter, den es an einem freien Tag ein wenig aufs Land zieht. Ich schlenderte durchs Dorf. Es waren kaum Leute auf der Strasse. Die Kinder gehen im Nachbardorf zur Schule, die Erwachsenen pendeln zur Arbeit nach Kriegstetten oder Herzogenbuchsee oder noch weiter. Die Hausfrauen fahren mit dem Zweitauto zum Einkaufen. Ich bog in den Lindenacker ein, fand mich in einem neueren Quartier mit Einfamilienhäusern. Ich nickte zufrieden. Das war genau das, was ich suchte. Gut verdienende Leute, die ihre Kinder auf dem Land aufwachsen lassen wollen. Ich ging bis zum Rand des Quartiers, wo zwei, drei Häuser etwas entfernt von den anderen lagen, merkte mir Hausnummern und Namen. Da war Geld drin, das wusste ich. In Form von Bargeld, Schmuck, Fotoapparaten, Laptops. Das würde sich lohnen. Es war inzwischen Mittag geworden. Ich spazierte zurück, zwei Kinder kamen mir entgegen. Das Mädchen war vielleicht sieben, der Junge etwas weniger. Sie hatte einen dunkelbraunen Pferdeschwanz, er helles Kraushaar. Sie stritten sich. «Du musst der Mama sagen, dass du vom Herrn Affolter fünf Franken bekommen hast», verlangte das Mädchen. «Nein», wehrte sich der Junge, «dann muss ich sie ins Kässeli tun, aber ich will sie für mich behalten.» Die grosse Schwester zuckte ärgerlich die Schultern. «Ich gebe dir einen Franken, wenn du mich nicht verrätst», versuchte der Junge zu handeln. «Brauche ich gar nicht», tat das Mädchen hochmütig. «Ich habe sowieso ganz viel Geld.» Beeindruckt schwieg der Kleine und trottete neben der Schwester her. Sowieso ganz viel Geld, ich grinste. Ich auch. Bald. Im alten Dorfteil ging ich die lange Hauptstrasse entlang. Eine ältere Frau rief einem Mann, der mir vage bekannt vorkam, quer über die Strasse «Ciao Otti» zu, der Mann rief «Sali Maria» zurück. Ich ging an der Frau vorbei und SURPRISE 379/16


Drähten. Ich bahnte mir vorsichtig meinen Weg, darauf bedacht, nicht hörte sie, zweifellos an mich gerichtet, sagen: «Bei uns grüsst man einüber einen Wäschekorb zu stolpern. Natürlich war niemand im Haus, ander noch.» Ich brummte etwas und ging weiter. Beim Auto rauchte ich aber trotzdem. Ich kam in einen Vorraum, von dem aus eine Treppe eine Zigarette, dann fuhr ich weg. nach oben führte. Ich hielt inne und überlegte kurz. Bianca Meierhofer Zuhause recherchierte ich ein bisschen. Ich muss hier anmerken, dass hatte bestimmt ein Arbeitszimmer. Dort würde ich mich als Erstes umich der Kopf des Unternehmens bin. Sicher nicht Roli. Den kann man eisehen. Auch wenn sie nicht das grosse Geld zu Hause herumliegen gentlich für nichts brauchen, wenn es ums Planen und Denken geht. hatte, ein paar Hundert Franken hatte sie wohl schon im Schreibtisch. Aber er hat exzellente Verbindungen fürs Verkaufen. Das muss ich ihm Dazu vielleicht eine Ferienkasse mit einem Bündel Euroscheinen. Belassen. Er holt mehr Kohle heraus als ich. Ist so, und darum arbeite ich stimmt besass sie einen Laptop und einen teuren Fotoapparat. Ihren mit ihm zusammen. Man muss ihn richtig nehmen können. Aber auch Schmuck verwahrte sie wahrscheinlich im Schlafzimmer. Ich schlich aufpassen, dass er es nicht verbockt. Zum Beispiel hat er immer eine hinauf. Es war ganz still, ich schwöre es. Absolut nichts zu hören. Und Waffe dabei. Gebe ihm ein Gefühl von Sicherheit, behauptet er. Er ist ein mein Gehör ist völlig in Ordnung. Oben stand ich im Entrée und hatte bisschen der nervöse Typ. Finde ich Blödsinn, das mit der Sicherheit. Mühe, mich zu orientieren. Einige Türen, eine Treppe in den oberen Entweder man arbeitet ohne Waffe, dann muss man auch keine dabeiStock. Hätte ich da realisieren müssen, dass es doch nicht ganz dunkel haben, oder man hat eine, weil man sie benutzen will. Dann aber ohne war? Dass ein winziger Lichtpunkt durch ein Schlüsselloch fiel? Ich sah mich. es nicht. War es Zufall, dass ich zuerst gerade diese Tür aufstiess? Gut, ich also der Kopf des Unternehmens. Stellte auf dem Internet ein Verdammt! Mir blieb einen Moment der Mund offenstehen. Es war die paar Nachforschungen zu den Namen an, die ich mir in Hersiwil geKüche, eine gemütliche Wohnküche mit grossem Esstisch, einer mit Kismerkt hatte. Und hatte schon nach einem Blick ins Telefonverzeichnis sen belegten Eckbank. Das sah ich ganz genau. Und zwar, weil es in der einen Favoriten. Eine Favoritin, besser gesagt. Bianca Meierhofer. Aeschistrasse 53. Vor der Haustür, das wusste ich noch, hatten ein Trottinett und ein Kindervelo Wir sind ja keine Dilettanten, Roli und ich. Wenn wir was vorhaben, gelegen. Also zwei Kinder. Weder am Briefkasten noch im Telefonverzeichnis ein Männerpacken wir es seriös an. Nicht, dass es nicht auch schon schiefgeganname. Google verriet mir, dass die Dame Angen wäre. Kennengelernt haben wir uns in der Pöschwies. wältin war, mit einer Kanzlei in Solothurn. Gut bis sehr gut verdienend, klar. Die wars. Roli Küche hell war. Die Rollläden waren heruntergelassen, sodass nach war ganz meiner Meinung. Noch ein interessantes Detail hatte mir Goodraussen kein Licht durchschimmerte. Aber in der Küche war es hell. gle verraten. Es gab eine Bianca Meierhofer im Volleyballclub KriegstetAuf der Eckbank sass ein Mädchen. Wie alt war sie? Vielleicht fünfzehn, ten. Und Damentraining war jeden Donnerstagabend von acht bis zehn. sechzehn. Sie stiess einen Schrei aus. Dann war also Madame Meierhofer jeden Donnerstagabend ausser Haus «Halt die Klappe!», zischte ich. Sie verstummte, aber nur kurz. und die Kinder vermutlich bei Nachbarn. «Wer sind Sie, was wollen Sie hier? Frau Meierhofer ist nicht da», sagMittlerweile war es November geworden. Ideale Jahreszeit für einen te sie. Einbruch. Früh dunkel. Unangenehm kühl. Keiner freiwillig draussen. Wie gesagt, ich arbeite nie mit einer Waffe. Aber warum hatte ich Idiot Wir machten Arbeitsteilung. Roli draussen im Auto. Bereit durchzustarkein Seil dabei? Es wäre ein Leichtes gewesen, sie zu fesseln, ihr einen ten, sobald ich zurückkam. Als wir uns dem Haus näherten, war es geAbwaschlappen in den Mund zu stecken und dann ungesäumt meiner gen halb neun. Kein Fenster war erleuchtet. Prima. Ich setzte meine Arbeit nachzugehen. Sie war eher klein und wirkte nicht besonders Mütze auf und zog mir dünne Lederhandschuhe über. Gibt Kollegen, die sportlich. mit Plastikhandschuhen arbeiten. Aber ich bin für ein bisschen Stil. Will «Gehen Sie», rief sie. Sie war aufgestanden und schob sich hinter dem mir doch nicht wie ein Laborant vorkommen. Ich trug billige TurnschuTisch hervor. «Oder ich rufe die Polizei!» he, ein Modell, das zuhauf verkauft wird. Roli hockte hinter dem Steu«Her mit dem Handy», befahl ich. er. «Mach nicht zu lange», sagte er. War er neidisch, weil er quasi nur «Sie sind ein Einbrecher», rief sie hilflos. Schmiere stand? Na ja, er war der Jüngere. Konnte froh sein, mit einer «Her mit sämtlichen Telefonen», wiederholte ich. erfahrenen Kraft wie mir arbeiten zu können. Der konnte noch eine ganSie nahm ein Handy von der Bank und schob es mir zu. Dann ging sie ze Menge von mir lernen. langsam zum Fenster hinüber, nahm ein zweites vom Fensterbrett und Ich stieg aus dem Auto, drückte die Tür leise zu und ging auf das Haus legte auch dieses hin. Ich steckte beide ein. zu. Ob ich es gleich an der Haustür versuchen sollte? Wo doch die Her«Es gehört Frau Meierhofer», sagte sie, als ob das von irgendeiner Relesiwiler angeblich nie abschlossen? Nein, besser suchte ich nach dem vanz wäre. Sie begann zu weinen. Die Kleine ging mir gehörig auf die Garteneingang. War unauffälliger, falls jemand mit seinem Hund vorNerven. beikam. Auf der Hinterseite des Hauses gab es tatsächlich eine Tür. Und «Nun sagst du mir mal schön, wo das Arbeitszimmer und das Schlaf– sie war nicht abgeschlossen. Meine Augen hatten sich an die Dunkelzimmer von Frau Meierhofer sind.» Es wäre gegen meine Prinzipien geheit gewöhnt. Ich stand in der Waschküche. Leintücher hingen an den SURPRISE 379/16

25


Isabel Morf Geboren 1957 in Graubünden, Germanistikstudium, Arbeit als freie Journalistin. 1997 der erste Krimi «Schrottreif». Gefolgt von «Satzfetzen», «Katzenbach» und «Jahrhundertschnee» (2014). Im Herbst 2016 wird die Anthologie «Von Zimtsternen und Zimtzicken» erscheinen, im Frühjahr 2017 der nächste Krimi.

26

BILD: ZVG

wesen, dennoch hatte ich nicht übel Lust, das Mädchen mit einem Schlag ausser Gefecht zu setzen. «Ins Arbeitszimmer wollen Sie? Sie hat kein Geld dort», behauptete sie, lauter werdend. «Im ganzen Haus gibt es kein Geld.» Eigentlich ein tapferes kleines Ding. Aber sie würde mir nicht dazwischenfunken. Ich ging einen Schritt auf sie zu. Sie bekam wieder Angst. «Nein!» rief sie, «tun Sie mir nichts!» Ach, ich weiss schon, warum ich nie Strassenüberfälle mache. Ich habe wirklich nicht die geringste Lust, mich mit irgendwelchen Leuten herumzuschlagen, die die Nerven verlieren, in Panik geraten, sich vollkommen unvernünftig benehmen. Das ist keine Geschäftsbasis für mich. Viel lieber ist mir ein ruhiger Arbeitsort, ein leeres Haus, in dem ich gründlich und zügig vorwärtsmachen kann. Was sollte ich bloss mit dieser Trine anfangen? Ich hatte eben entschieden, sie in der Küche einzuschliessen, dann im Kurzverfahren Schlaf- und Arbeitszimmer zu durchwühlen und möglichst rasch wieder zu verschwinden, als ihr Blick hinter mich auf die Küchentür fiel. Sie stiess einen erschrockenen Laut aus. Was zum Teufel war das schon wieder? Ich drehte mich halb um. In der offenen Küchentür standen zwei Kinder. Nicht irgendwelche zwei Kinder, sondern exakt jene beiden, die an jenem Tage, als ich durch das Dorf gegangen war, auf der Strasse wegen der fünf Franken gestritten hatten. Sie trugen bereits ihre Schlafanzüge. Sie standen da, sieben und sechs Jahre alt, rosa und türkisfarben eingekleidet, mit nackten Füsschen und gekrümmten Zehen, ängstlich und trotzig zugleich, das Mädchen, das die Haare nun offen trug, einen halben Schritt vor dem jüngeren Bruder. Beide trugen eine kleine Blechbüchse in den Händen. «Livia, Simon», rief die Babysitterin alarmiert. «Sie sind ein Einbrecher», stellte Livia fest. «Wir haben es gehört.» So eine Scheisse, dachte ich. So eine verdammte Scheisse. Na ja, ich konnte auch die ganze Bagage in die Küche sperren. «Einbrecher wollen Geld, dann gehen sie wieder», erklärte Livia. «Wir wollen, dass Sie wieder gehen.» «Das sind unsere Sparkässeli», sagte der kleine Junge mit erstickter Stimme und einem schmerzvollen Blick auf die Dose, die er trug. «Sie können sie haben. Es ist ganz viel Geld drin.» Ganz viel Geld. Ich konnte förmlich spüren, wie es ihm das Herz abdrückte, sich von seinem Schatz trennen zu müssen. Ob jener Fünfliber auch drin war? Auch Livia streckte mir ihr Kässeli entgegen. «Hier, nehmen Sie es und gehen Sie.» Ja, eben, was hätte ich denn machen sollen? Ich ging. Ohne die Kässeli. Ohne die drei einzusperren. Ohne Arbeits- und Schlafzimmer zu durchsuchen. Die konfiszierten Handys schmiss ich auf den Gartenweg. Ich ging und hockte jetzt neben Roli im Auto, der in stummer Wut aufs Gas drückte, als er auf die Autobahn Richtung Bern einschwenkte. ■

SURPRISE 379/16


Keine Standuhr, kein Regen VON SYBILLE BERG

Mit jedem Blick auf die längst vergangene Geschichte Fremder verdichtet sich etwas, dass sich anfühlt wie ein spitzer Nieselregen in einer Gegend mit Reaktorunfall. Geht es um die eigene Vergänglichkeit, beim Betrachten dieser Paare, das so anrührend ist? Sind sie wie wir? Damals, als wir noch nicht in der Erfüllung von Erwartungen funktionierten, als wir noch eigene Sätze sprachen und nicht angelernte Gedanken verwendeten, als wir noch nicht anzogen, was man halt so trägt, wenn man nicht auffallen will, das waren wir, als wir noch glaubten, dass wir allein alles anders machen würden und nie so ein furchtbares Leben führen würden wie die Menschen um uns. Der Glaube an die eigene Grösse verliert sich, irgendwann, wenn wir zu müde sind, von all dem Hass, in dem wir schwimmen, jeden Tag, und nicht mehr nachdenken, automatisch aufstehen, Kaffee, loshetzen, in ein Gebäude gehen, Pflicht erfüllen, müde sein, zu Bett gehen, keine Hoffnung mehr haben, irgendwann und dann diese Endlichkeit, die uns klar wird. Die Beschränkung, die uns klar wird. Das Versagen, das uns klar wird. Wir sind nicht die Ausnahme geworden, wir haben die Welt nicht verändert, und nichts wird bleiben von uns. Das macht doch verdammt noch mal traurig, und die verdammten Bilder sind bald nur noch in Computern gespeichert. Früher, als die Welt keine Farben hatte und es Fotos gab, mit gezinkten Rändern, als man die in Alben klebte, um sie alle Jahre einmal anzusehen, sich beim Vergehen betrachtend, die Erinnerungen betrachtend, die immer lebendiger werden, je älter man wird, die einen immer trauriger machen, weil man um ihre Unwiederbringbarkeit weiss. Damals. So stark wie als junger Mensch hat man doch nie mehr gefühlt, so überwältigend gelitten und geliebt. Die alten Bilder, die gelben Ränder, die leise Trauer, denn man weiss, wie die Sache ausgeht – die Welt wird ohne uns weiterbestehen, wird ihre Jahreszeiten produzieren, und Lieben und Aufregungen und Strassen im Regen wird es geben, die feucht glänzen, und den Geruch nach Frühling, nur leider ohne uns, an die sich bald keiner mehr erinnern wird. Da sind nur Fotos, wenn wir aus der Generation kommen, als es die noch gab, als Fotos noch Papier und seltsames altes Müffeln bedeuteten, und jedes ein Aufschrei gegen die unglaubliche Kränkung durch die Sterblichkeit. Wir waren uns doch Zentrum der Welt. Keiner hat je intensiver geliebt als man selber. Die Stirn an Fensterscheiben gepresst und noch nicht einmal Regen wollte fallen und wir haben den einen Menschen so gewollt wie nie einer einen anderen. Wir wollten ihn halten und mit ihm gehen und ihn beschützen und waren uns sicher, das einzige Paar auf der Welt zu sein, dessen Liebe unendlich wäre. Gelitten haben wir, einmalig, der Moment, da einen jede Kraft verlassen hatte, man auf den Boden sinken und nicht mehr atmen wollte, weil es unvorstellbar war, weiterzumachen. Vielleicht war da ein Hund neben

uns, mit besorgtem Blick, doch helfen konnte er nicht, keiner konnte da helfen nach irgendeiner der elementaren Demütigungen, aus denen sich Leben bildet. Vielleicht war die Frau gestorben. Einfach weggegangen, was sie ausmachte, nur eine Hülle war zurück geblieben, und dann sass man da in der Küche, mit der Katze und aus der Wand wuchs ein Geweih. Vielleicht war der Betrieb bankrott, ein Krebs wuchs einem oder was auch immer es macht, dass eines aus dem Takt kommt. Stolpert und sich der Schwung verliert, der uns ohne nachzudenken funktionieren macht. Was tue ich hier eigentlich? Schlechte Frage, keine Antwort. Wenn man zu schwach ist, um sich von einem Sinn zu überzeugen, hält die Welt still, und es braucht viel, um sie wieder in eine Umdrehung zu bringen. Die guten Momente, die bleiben. Ein kurzer Moment einatmen, dann sind sie wieder da. Ist es wieder da: der schnelle Herzschlag, der Druck in der Brust und das Gefühl der Unendlichkeit. Die besten Momente waren nie gekauft, sie waren geteilt. Sie waren lachen, essen, betrunken sein, Familie. Alles vergessen, was die an Grässlichkeit bedeuten kann, der Streit, das Schweigen, der Zwang. Und dann sagt man: Mir ist die Familie das Wichtigste, und meint es so und schaut, als hätte man einen Orden verdient dafür. Und dann fühlt sich jeder einmalig, mit seiner Liebe, und vergisst die Milliarden da draussen, die genau den gleichen Satz in der gleichen Minute sagen. Wir machen das doch nur für die anderen, dieses Herumgelebe, wir machen es, um mit anderen zu sein, uns lachen zu hören, geliebt zu wissen, und nichts ist fragiler, nichts gefährlicher, als durch andere zu leben. Ein junges Paar, die Frau ist schwanger und nackt, warum auch immer, sitzt auf einem Bett, und alles wird von vorn beginnen. Liebe, Aufregung, Gemeinsamkeit, Langeweile und dann die Enttäuschung, weil das Leben doch nur so klein war und unauffällig. Die Trennung, die Besuchsregelung – aber daran werden wir uns nicht erinnern, später, wenn wir durch das Fotoalbum unseres Lebens blättern. Das Elend vergisst man, das ist doch seltsam, dass man das Elend vergisst und sich nicht daran erinnern mag, wie es sich angefühlt hat, auf dem Boden. Woran man sich erinnert ist das Glück, für Momente die Sterblichkeit zu vergessen. Aufzugehen in der Sekunde, sein ohne Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Die Menschen, die wir betrachten auf den alten Bildern, sind jetzt tot oder alt, sie erinnern sich nicht mehr klar an die Stimmung, die sie umgab wie saurer Regen, sie erinnern sich an das Baby, die Hochzeit, den Grossvater, den Apfelbaum, den Geruch im Garten, bunt sind sie, die Erinnerungen, die einen die Augen schliessen lassen, und glücklich machen sie, die Momente mit anderen, die vergangenen, denn man weiss, umsonst war das alles nicht. ■

SURPRISE 379/16

BILD: ZVG

Sybille Berg, geboren 1962 in Weimar, lebt in Zürich. Sie schreibt Theaterstücke, Romane, Hörspiele und Essays und führt Regie. Ihre Werke wurden in 26 Sprachen übersetzt. Ihr letzter Roman «Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand» erschien 2015.

27


Kreuzworträtsel 1. Preis: Das Strassenmagazin Surprise ein halbes Jahr im Abo. 2. Preis: Zwei Mal Teilnahme für zwei Personen am Sozialen Stadtrundgang, wahlweise in Basel oder Zürich. 3. Preis: Drei Mal ein Surprise Badetuch.

Finden Sie das Lösungswort und schicken es zusammen mit Ihrer Postadresse an: SURPRISE Strassenmagazin, Spalentorweg 20, 4051 Basel oder per E-Mail mit Betreff «Rätsel 379» an info@vereinsurprise.ch Einsendeschluss ist der 28. Juli 2016. Viel Glück! Die Gewinnerinnen und Gewinner werden benachrichtig. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Die Lösung wird in Ausgabe Nr. 380 veröffentlicht.

Wappentier, Greifvogel

Grasart Berg der Appenzeller Alpen Farbfernsehsystem (Abk.)

Heil- u. Bienenweidepflanze

Himmelsrichtung

an etw. teilnehmen

ehem. Post- u. Tel.Betrieb

8

Vater und Mutter

Lohnansatz

längliche Vertiefungen

wagen (sich ...)

wahrnehmen

frz. Autorennstrecke (2 W.)

schwächlicher Jüngling

Zitrusfrucht

Wintersportort im Kt. SZ

Fluss in den Zürichsee

9

4

5

6

7

altgermanische Waffe

8

9

sowieso

eng bemessen Unterschriftskürzel für Prokura

asiatische Steinwüste

10 Berg bei Lugano: Monte ...

Greifvogelfuss

3

Weinort im Südtirol dt. Landeshauptstadt

Vorläuferin der EU

Heer

2

Bergübergang zw. BE u. OW

Widerhall

Vorname d. Architekten Botta

Gewässer bei Uster

1

Autokz. Kanton Schaffhausen

röm. 550 engl. Schulstadt

kreol. Musik (Mauritius)

kurz für: in das

Platzknappheit

Nebenfluss der Aare

Elend, Bedrängnis

Abschiedswort

engl.: essen

Entfaltungsmöglichkeit

Frauenkurzname

Terminplaner

histor. Städtchen am Bielersee

ehem. brit. Premierminister

Ausgestaltungen betriebsam

Figur bei Melville (Kapitän)

Kantonshauptstadt

ital. Männername

Tieren Nahrung geben

Landgemeinde im Kt. BS

7

natürl. Brennstoff

jüdischer Kerzenleuchter bekanntgeben

frz.: blau

frz. Akzentzeichen

Speisenfolge (dt.)

frz. Frauenname

Kontinent

Gegenteil von weniger

dänische Insel

Grundschulfach

Turngerät

engl.: Auge

röm. Wasserleitungen

Abk.: Strasse

ritterl. Reiterkampfspiel

6 5

ungesitteter Mensch

Zeitalter

japanische Währung

männliches Schwein

frz. Name des Genfersees (2 W.)

Gegenteil von leer

kleines Gewässer am Albis

Palast in Paris sehr gern haben

Mass d. spezif. Mostgewichts

Grundstücke

3

Tanzbewegung (frz.)

2

Durcheinander

frisch (Temperatur)

4

schummeln

Pass ins Bergell

nicht Böses

schweiz. Nebenfluss des Po spanischer Ausruf

loyal, ergeben

Entscheidungsfreiheit

Ausstellung

zartrot

ital. Frauenname

Glarner Alpengipfel 3614m

hundertäugiger Riese

1 Musiknote

Zürcher Eishockeyclub: ZSC ...

19 raetsel ch

10 Tipp: Das Lösungswort kommt in einem der Texte dieser Ausgabe vor.

28

SURPRISE 379/16


Die 25 positiven Firmen

Sudoku Füllen Sie die leeren Felder mit den Zahlen von 1 bis 9. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile, in jeder Spalte und jedem der neun 3 × 3Blöcke nur ein Mal vorkommen. Die Lösungen finden Sie in der nächsten Surprise-Ausgabe.

Mittelschwer

6 2 9 2 1 7

9 5 8 1 2 4

6 3 5 2 3 6

5 6 1 8 7 1 Conceptis Puzzles

06010031770

Teuflisch schwer

8 4 5 3 5 6

7 4 4 2 8 4

Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

01

Lions Club Zürich-Seefeld, Zürich

02

Supercomputing Systems AG, Zürich

03

Fraumünster Versicherungstreuhand AG, Zürich

04

VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

05

AnyWeb AG, Zürich

06

A. Reusser Bau GmbH, Recherswil

07

Kreislauf 4+5, Zürich

08

Thommen ASIC-Design, Zürich

09

Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

10

Kaiser Software GmbH, Bern

11

Hervorragend AG, Bern

12

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

13

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

14

Frank Türen AG, Buchs

15

Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

16

Familie Iten-Carr Holding AG, Zug

17

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

18

Maya-Recordings, Oberstammheim

19

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

20

Imbach Reisen AG, Wanderreisen, Luzern

21

Institut und Praxis Colibri, Murten

22

Scherrer & Partner GmbH, Basel

23

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

24

Petra Wälti Coaching, Zürich

25

Bachema AG, Schlieren

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3,

9

Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

3

9 6 1 7 5 9

1 8 3 2 5 2

Conceptis Puzzles

SURPRISE 379/16

379/16 06010030301

29


Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit einem Netzwerk aus freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der ganzen Deutschschweiz. Sie kämpfen um den Titel des Schweizermeisters und des Weltmeisters beim Homeless World Cup. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen kostenlosen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine einfache und charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren. Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Gönner-Abo für CHF 260.– Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali, Sara Winter Sayilir (ami, win, Co-Heftverantwortliche), Beat Camenzind (bc), Diana Frei (dif), Thomas Oehler (toe), redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Sybille Berg, Güzin Kar, Milena Ana Keller, Guy Krneta, Charles Lewinsky, Sunil Mann, Isabel Morf, Fabian Saurer, Christoph Simon Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 21 400, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito

Geschenkabonnement für: Vorname, Name

Strasse

PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name

Strasse

PLZ, Ort

Telefon

E-Mail

Datum, Unterschrift 379/16

Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

30

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Sara Huber, Christian Sieber, Kanzleistr. 107, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Fabian Steinbrink Scheibenstrasse 41, 3014 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassenfussball T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach), d.moeller@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T +41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Beat Jans Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 379/16


Lรถsungen aus Surprise Nr. 378 Lรถsungswort aus Heft Nr. 378: ROBINSON CRUSOE Die Gewinner werden benachrichtigt.

T I S T L I U S

R I

N A R V I K

M A L W A L H I R N I E B S T H O G A S C O A U T M E R A U S M O L K I R U G

A M O L B E L E W I T A T N B O G M U R R E N S E E Z T E B E T H A N A L U N B B E W I E R N A A R K D E I B D A N S E S A R G E B E L R N E R S A N N

F E S O L A S M S H A D E N U T E Z L E V E N S H R U T E S E U R R E D E R S B I R S L E E

Mittelschwer

D N S R S M E R K N I I S I S

G U A S C H T T E E P R I M E L L F L E L E S Y N E U R V M S K A N F A O J F A T E L

E R M U E D E N I T N O M I N E L L

T E N O N A E S S H A K V T R I O L A A L N T E T E P R A P F G E L I E A N G T I L G I O E N U N G

5 9 1 8 4 7 2 6 3

6 2 8 9 3 5 4 1 7

4 7 3 1 6 2 9 5 8

1 3 6 7 2 8 5 9 4

7 5 4 3 9 1 6 8 2

2 8 9 4 5 6 7 3 1

8 1 2 6 7 9 3 4 5

3 6 7 5 8 4 1 2 9

9 4 5 2 1 3 8 7 6 06010031769

Teuflisch schwer

6 4 2 9 7 5 1 3 8

5 7 3 1 6 8 9 2 4

1 8 9 4 3 2 7 5 6

8 3 1 5 2 6 4 9 7

7 9 6 3 1 4 5 8 2

2 5 4 7 8 9 6 1 3

3 6 5 8 9 7 2 4 1

9 2 8 6 4 1 3 7 5

4 1 7 2 5 3 8 6 9 06010030300

SURPRISE 379/16

31


«Kunst ist – Surprise verkaufen.» Ruedi Kälin Surprise-Verkäufer und -Stadtführer in Zürich

surprise@manifesta: Ein Projekt von Jürgen Krusche (ZHdK), Surprise Strassenmagazin und Surprise-Verkaufenden. Das Sonderheft erscheint am 12. August.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.