Surprise 382

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Nr. 382 | 26. August bis 8. September 2016 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Einer gegen alle Yanis Varoufakis kämpft gegen Brüssel, um Europa zu retten


Ist gut. Kaufen! Trendige Surprise Taschen in bunten Sommerfarben! Gemeinsam mit dem Secondhand-Shop Zweifach aus Basel haben wir diese trendigen Surprise Taschen entworfen! Die Taschen werden umweltfreundlich aus nicht mehr gebrauchten Lastwagenplachen genäht und mit Autogurten versehen. Sie sind geräumig und verfügen innen über ein grosses Zwischenfach. Erhältlich sind sie in den Farben Rot, Blau, Grün, Orange und Schwarz. Je nach Vorrat kann die Lieferung bis zu drei Wochen in Anspruch nehmen. Zweifach ist ein Betrieb der Eingliederungsstätte Baselland und bietet jungen und erwachsenen Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit, im beruflichen Alltag Fuss zu fassen. Tun Sie sich, Zweifach und auch Surprise etwas Gutes und bestellen Sie noch heute ihre Tasche in ihrer Lieblingsfarbe! Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 45.– (exkl. Versandkosten) schwarz orange grün blau rot

Der Surprise Schriftzug soll folgende Farbe haben schwarz weiss silber

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

Sommeraktion. Grosses Badetuch 100 × 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Strandtuch (100×180 cm) Aktionspreis: CHF 55.– (anstatt CHF 65.–) 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

Alle Preise exkl. Versandkosten.

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Titelbild: Keystone

Die EU macht es mir als Schweizer nicht einfach. Würde ich morgen an der Urne zu einem Schweizer EU-Beitritt befragt, wäre meine Antwort ein klares Nein. Die real existierende EU hat mir zu viele Mängel: Ihren politischen und administrativen Prozessen mangelt es an Transparenz, ihren Institutionen an Rechenschaft gegenüber den fast 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern. Gleichzeitig scheint mir klar, dass es Europa ohne die Europäische Union nicht geben kann. Das Europa der unabhängigen Nationalstaaten, das sich Rechtskonservative zurückwünschen, hat nie funktioniert. Verbindende Elemente wie das Christentum, der Säkularismus oder die Aufklärung haben die Europäer nie davon abgehalten, sich zu bekriegen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist ein Prozess des Zusammenrückens und AMIR ALI der institutionellen Anbindung im Gange, der zu Verbindlichkeit und damit Sicher- REDAKTOR heit geführt hat. Rechte EU-Skeptiker wie der britische Abstimmungsgewinner Nigel Farage sprechen gerne von einer «Zwangsunion», in die korrupte Eliten die Menschen heimlich und schrittweise hineingeführt hätten. Und es sollte den Verantwortlichen in Brüssel zu denken geben, dass es von der anderen Seite des politischen Spektrums fast genauso tönt. So nennt etwa der ehemalige griechische Finanzminister und linke Ökonom Yanis Varoufakis die EU einen «undemokratischen, oder vielmehr antidemokratischen, Zirkel von Bürokraten und Institutionen». Weshalb er die EU dennoch retten will, erklärt er in unserem Interview ab Seite 10. Wer die europäische Geschichte betrachtet, kommt um den Gedanken nicht herum, dass es diese «Zwangsunion» ist, die Europa bis heute zusammengehalten und damit 70 Jahre Frieden ermöglicht hat. Die lose Bindung durch Freihandelsverträge, aus denen man jederzeit aussteigen kann, bietet nicht dieselbe Garantie. Wobei man seit dem Votum der Briten sagen muss: vermeintliche Garantie. Denn der Brexit hat gezeigt: Es gibt in Europa keine Gewissheiten mehr. Was geht das uns als Schweizerinnen und Strassenmagaziner an? Ein Auseinanderbrechen der EU hätte Konsequenzen für die Schweiz: Noch mehr Menschen würden ihre Stelle verlieren oder keine finden. Und noch mehr Menschen würden auf den hiesigen Arbeitsmarkt drängen. Dass von einer solchen Entwicklung exakt jene politischen Kräfte proftieren würden, die sich jetzt lautstark über das britische Votum zum Austritt freuen, versteht sich von selbst. Ich wünsche Ihnen eine erhellende Lektüre. Amir Ali

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 382/16

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BILD: WOMM

Editorial Was geht uns das an?


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10 Europa Er ist wieder da Yanis Varoufakis kam jeweils mit dem Motorrad, und er ging mit einem grossen Eklat: Als Finanzminister Griechenlands verscherzte er es sich zuerst mit Brüssel und schliesslich mit seiner eigenen linken Regierung. Als er im vergangenen Sommer zurücktrat, war fast niemand traurig. Jetzt ist Varoufakis zurück auf dem politischen Parkett – und nimmt nationalistische Euroskeptiker und EU-Eliten gleichermassen ins Visier. Gespräch mit einem, der Brüssel den Kampf angesagt hat, um Europa zu retten.

14 Homeless World Cup Wenig Tore, viel Fairplay Ganz egal, auf welchem Platz die Surprise Strassenfussball Nationalmannschaft am Homeless World Cup schliesslich gelandet ist: Bei diesem Turnier zählen Fairplay und Begegnungen jenseits des Rasens mehr als der Punktestand. Sogar das Wetter im schottischen Glasgow tat der Laune keinen Abbruch.

BILD: DAVID MÖLLER/HWC

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Inhalt Editorial Gewissheiten, die einmal waren Die Sozialzahl Unerwartete Falltypen Wir alle sind #Surprise Hut ab Vor Gericht «Amore» und die 50 Gramm Randnotiz Quelle für Positives Porträt Kalte Ware, warmes Lächeln Moumouni … … spricht deutsch Krimi Anthologie des Grauens Kultur Ausgemustert und angehört Ausgehtipps Mitten im Spektakel Verkäuferporträt Ermias Teklay Projekt SurPlus Eine Chance für alle In eigener Sache Impressum INSP

BILD: DIMITRI KOUTSOMYTIS

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16 E-Sport Traumberuf: Gamen

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BILD: PHILIPP BREU

Der junge Schweizer Karim Benghalia hat geschafft, wovon viele seiner Generation träumen: Er verdient sein Geld mit Computerspielen. Und zwar viel Geld. Die Meisterschaften des Spiels League of Legends füllen in Asien und in den USA ganze Stadien, die Ligen und Weltmeisterschaften sind ein Millionengeschäft. Und auch in Europa nimmt das Computerspielen als Sportart an Fahrt auf. Einblick in eine Welt, die immer weniger verborgen ist.

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BILD: WOMM

Privathaushalte in der Sozialhilfe nach Falltypen und Nationalität, Schweizer Haushalte (in Prozent)

2014

Ausländische Haushalte (in Prozent)

4,2

8,7

16,6 31 47,8

34,4

31,3 25,7 Einpersonenfälle

Alleinerziehende

Paare mit Kindern

Paare ohne Kinder

Quelle: Bundesamt für Statistik: 10 Jahre Schweizerische Sozialhilfestatistik.

Die Sozialzahl Einsame Fälle Wer bezieht in der Schweiz Sozialhilfe? Diese Frage kann man in unterschiedlichsten Varianten beantworten. Eine orientiert sich an Falltypen, womit verschiedene soziale Lebensformen gemeint sind: Ein-Personen-Haushalte, Alleinerziehende, Paare mit Kindern und Paare ohne Kinder. In der Jahresstatistik der Sozialhilfe 2014 sind knapp 40 Prozent der unterstützten Fälle Einpersonenhaushalte. Die nächstgrösste Gruppe sind mit 29 Prozent die Alleinerziehenden. Weitere 25 Prozent der Sozialhilfefälle sind Paare mit Kindern und rund 6 Prozent der Fälle sind Paare ohne Kinder. Zwei Dinge sind an dieser Momentaufnahme bemerkenswert: Blickt man zehn Jahre zurück, so zeigt sich eine deutliche Entwicklung bei den Einpersonenfällen und den Alleinerziehenden. Zwischen 2005 und 2014 nimmt die Zahl der unterstützten Einpersonenfälle um mehr als ein Drittel, jene der Alleinerziehenden um rund 15 Prozent zu, während jene der Paare mit Kindern nur ein Wachstum von 5 Prozent verzeichnet. Die Zahl der unterstützen Paare ohne Kinder bleibt nahezu konstant. Heute beläuft sich die absolute Zahl der Einpersonenfälle auf über 95 000, jene der Alleinerziehenden auf rund 27 000. Das zweite, noch erstaunlichere Momentum zeigt sich, wenn man zwischen schweizerischen und ausländischen Falltypen unterscheidet. Das nationale Muster fällt sehr unterschiedlich aus. Unter den Schweizer Fällen dominieren die Einpersonenhaushalte mit einem Anteil von rund 48 Prozent das Bild. Paare mit Kindern erreichen nur einen Anteil von knapp 17 Prozent. Umgekehrt sieht es bei den ausländi-

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Neuchâtel, 2016.

schen Sozialhilfefällen aus. Hier weisen die Paare mit Kindern mit etwas mehr als 34 Prozent den höchsten Anteil aus, gefolgt von den Einpersonenhaushalten mit 31 Prozent. Obwohl in der sozialpolitischen Debatte zu Recht sehr viel von den armutsbetroffenen Familien und Alleinerziehenden die Rede ist, sind die Sozialarbeitenden in ihrer täglichen Arbeit also sehr viel öfter mit alleinlebenden Personen konfrontiert. Das Armutsrisiko hat für diese Menschen deutlich zugenommen. Zu zwei Drittel sind es Männer, oft geschieden, arbeitslos, gesundheitlich eingeschränkt und mit geringen Aussichten auf eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation. Sie stellen eine besondere Herausforderung in der Sozialberatung dar, weil die Problemlagen dieser Menschen oft sehr komplex sind. Eine rasche Ablösung ist darum selten von Dauer. Wenn die prekäre Lebenslage nicht stabilisiert werden kann, kommen die Betroffenen immer wieder zum Sozialdienst. Das Armutsrisiko «Kinder haben» ist natürlich trotz dem hohen Gewicht der Einpersonenfälle in der Sozialhilfe nicht vom Tisch. Unter den ausländischen Fällen beträgt der Anteil von sozialen Lebensformen mit Kindern über 60 Prozent. Auch hier braucht es sehr spezifische Hilfsangebote, um eine drohende soziale Vererbung der Armut zu vermeiden. Das Hauptaugenmerk sollte auch in diesen Fällen nicht auf eine rasche Einstellung der Unterstützungsleistungen gelegt werden, sondern auf eine gute Integration der Kinder und Jugendlichen in Schule und Berufsausbildung. Prof. Dr. Carlo Knöpfel ist Dozent am Institut Sozialplanung, ule Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochsch . für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz

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Roger Meister

ist ein freundlicher Verkäufer. Ich beobachte ihn oft, wie er auf die Leute zugeht, ihnen die wichtigsten Aspekte des Strassenmagazins vermittelt und sie so auf die Themen von Surprise hinweist. Dies bringt mich dazu, das Magazin zu kaufen.

F. Beyeler, Basel

Anita Pfister ist seit Jahren eine sehr vergnügte und engagierte Verkäuferin von Surprise. C. Wehrli-Streiff, Zürich

Wir alle sind #Surprise Wer das Strassenmagazin kauft, tauscht mehr als Geld gegen Ware: Fast immer gibt es ein Lächeln dazu, oft werden ein paar Worte ausgetauscht – und manchmal sogar gegenseitiges Vertrauen aufgebaut. Viele Leserinnen und Leser berichten uns von ihren Begegnungen mit den Verkaufenden. Und sie schreiben der Redaktion, was sie gut gefunden haben und was weniger. Wir bedanken uns herzlich für diese Rückmeldungen – und teilen hier einige davon mit Ihnen.

Ausgabe 376

«Auf Biegen und Brechen»

Ich habe mich sehr gefreut über Ihren Artikel über die alten Eltern. Endlich wird einmal darüber geschrieben, was die Wünsche der Eltern für die Kinder bedeuten. Es stört mich schon lange, dass bei all den neuen Möglichkeiten, einen Kinderwunsch zu erfüllen, immer nur die (potenziellen) Eltern Thema sind, aber niemals über die so entstandenen Kinder gesprochen wird und was ihre Entstehungsgeschichte für sie bedeutet. Nur der Kinderwunsch zählt, der auf Biegen und Brechen erfüllt werden muss. Und nun kann mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) auch noch gewährleistet werden, dass ein gesundes Kind zur Welt kommt. Was denkt es wohl, wenn es erfährt, dass es aus zehn Embryonen ausgewählt wurde und seine neun potenziellen Geschwister nicht leben durften (inklusive der Fantasien darüber, wie und wo diese entsorgt wurden)? Dass dies niemals Thema ist, finde ich erschreckend.

Ausgabe 377

«Hilfe ist nötig»

Ich kaufe Ihre Zeitung regelmässig und habe Sie auch sonst schon unterstützt. Im Heft 377 habe ich den Artikel «Auf Entzug in der Luxusklinik» mit Missfallen gelesen. Daraus spricht hauptsächlich Neid und Missgunst, es fehlt jegliche Empathie. Das Problem der Suchtabhängigkeit ist enorm, Hilfe ist nötig. Hingegen hat der Artikel «Heimat ist, wo dein Salat wächst» mich wirklich berührt. Im Allgemeinen lese ich Ihre Zeitung mit Interesse. N. Reinhart, Winterthur

Ein Kompliment für Ihre Zeitschrift, Chapeau! M. Schweizer, Russikon

E. Leuthard, Schaffhausen

Fiqi Ibrahim Ali ist mir von Anfang an aufgefallen durch seine Ruhe und Freundlichkeit. Wenn er nicht vor dem Eingang zum Coop Stabhof in Liestal steht, vermisse ich ihn. Es freut mich zu wissen, dass er regen Kontakt mit seiner Familie in Somalia pflegen kann und – so sagt er mir – nur das warme Klima seines Heimatlandes vermisst. B. Rüegg, Seltisberg

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Haile Abraha Asrat steht immer ruhig vor der Kantonalbank in Luzern, dunkelhäutig mit ergrautem Haar. Fast unauffällig, eher schüchtern steht er da und hält das Surprise Strassenmagazin in die Höhe. Er ist immer sauber und ordentlich gekleidet. Deshalb ist er für mich «Mister Adrett». Letzthin begegnete ich ihm im Supermarkt, begrüsste ihn und fragte ihn nach seinem Namen. Nun ist er für mich «Mister H. Adrett». Gestern habe ich ihn erneut angetroffen. Ich gab ihm zur Begrüssung die Hand. Natürlich habe ich ihm wieder die neueste Nummer abgekauft, die wie immer spannend ist. M. Gisler-Guber, Luzern

Schreiben auch Sie uns – oder schicken Sie uns Bilder von ihren Begegnungen mit Surprise! leserbriefe@vereinsurprise.ch oder Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel SURPRISE 382/16


Randnotiz Gesucht: Filter

Vor Gericht Von «Amore» verführt Frau Kareyce Steiner* ist eine kernige Person von 51 Jahren, trägt Dutzende farbige Zöpfchen, Jeanshose und -jacke. Und trotzdem macht die Angeklagte einen schutzlosen Eindruck, zieht die Schultern hoch, kreuzt die Arme und beginnt sie zu streicheln, als wolle sie sich selbst trösten. «Ich habe mein Leben lang gekämpft und mich allein durchgeschlagen», sagt sie auf Französisch, mit einem Zittern in der Stimme. Tränen schiessen ihr in die Augen, der früh verbitterte Mund bebt. «Immer habe ich gekämpft.» Das beantwortet zwar nicht die zweimalige Frage des Bezirksrichters, weshalb sie trotz einschlägiger Vorstrafe erneut mit Drogen dealte, doch Frau Steiner lässt sich nicht beirren. «Ich muss Ihnen meine ganze Lebensgeschichte erzählen, damit Sie verstehen.» Sie ist nicht glücklich, hat die falschen Freunde. Wissen kann man das nicht, nur vermuten, wenn man ein paar Fakten hört. Über sich selbst sagt sie nur das Nötigste, aber nicht das Wesentliche. Als Teenager verliess sie ihr Elternhaus in einem Dorf Kameruns, wo sie mit einem Dutzend Geschwistern aufgewachsen war, bekam eine Tochter, die an Aids erkrankte, und heiratete mit 25 einen Schweizer, «der mich fast totschlug». Mit dem Afroshop im Langstrassenquartier habe sie sich eine eigene Existenz aufgebaut – jetzt sei sie wieder bei Null. «Als hätte ich nichts gelernt.» Sie habe sich nicht bereichern wollen, sondern aus Not gehandelt. Das Geschäft mit den Flechtfrisuren und dem Haareglätten lief mehr schlecht als recht. Die Schulden drückten, die Verwandtschaft in Afrika forderte Geld, die Tochter braucht MeSURPRISE 382/16

dikamente. Das Unglück häufte sich, mit und ohne Schuld. Und dann kam ein Mann des Weges, der sich als «Amore» vorstellte und sie verführte. Warum nicht Kokain ins Ladensortiment aufnehmen? Das Drogenbusiness floriert in Zürich, die Nachfrage ist unvermindert hoch. So kaufte sie bei «Amore» 50 Gramm Kokain, das sie in ihrem Afroshop portionierte und zu 80 Franken pro Gramm verkaufte. Bald schon war das Kokainlager leer, derweil die Perücken im Regal Staub ansetzten, und so bezog sie von «Amore» weitere 50 Gramm. Doch die Freude über die wachsende Kundschaft war von kurzer Dauer, schon bald hatte die Polizei sie im Auge. Vor einigen Monaten war sie zu einer bedingten Strafe wegen Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden. «Das hat mich nicht beeindruckt», gibt Frau Steiner unumwunden zu. «Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann, der mir zuhört. Deshalb geriet ich erneut in Versuchung.» Aber diesmal sei es ihr eine Lehre. Sie hebt hilflos die Hände, weint. «Bitte, bitte berücksichtigen Sie meine Situation.» Der Richter tut genau das – und erkennt keine günstigen Verhältnisse, nur Absichtserklärungen. Seit der letzten Verurteilung habe sie nichts geändert in ihrem Leben, sagt er und verkündet das Urteil: 18 Monate unbedingt. «Es ist davon auszugehen, dass Sie weiter delinquieren würden, wenn die Strafe bedingt ausfällt.» * alle Namen geändert Isabella Seemann ist freie Journalistin in Zürich und

Ich bin eine Pflanze in der Welt der Gesellschaft. Am Anfang tröpfelte es nur und ich war dankbar für die Feuchtigkeit. Dann zogen immer mehr Wolken auf, es war kein Wolkenbruch, ich stand plötzlich im Dauerregen. Alles, wofür ich so dankbar war – Informationen und Vernetzung mit anderen Menschen – wurde in dieser neuen Quantität zur Belastung. Ich bin auch eine Glühbirne. Eine, die flackert. Zu viel Strom, bis es die Sicherung raushaut. Was anfangs nährt, kann im Überfluss zu einer Überforderung werden. Die Stimmen sind zu einem lauten Gewirr geworden. Ich bin totaler Reizüberflutung ausgesetzt. Kann den Input nicht mehr verarbeiten und bin gezwungen, ihn durchströmen zu lassen, weil er mich sonst verstopft. Mein Bild von der Gesellschaft hat sich verändert. Schlimme Nachrichten aus der ganzen Welt prasseln auf mich herab, bis ich das Gefühl habe, dass alles schlecht ist. Das bringt weder mir noch meinem Umfeld etwas. Mir wurde bewusst, dass ich einen Filter brauche, der für mich aussiebt, was mich erreichen soll, und den Rest im grossen Strom der Informationen an mir vorbeifliessen lässt. Einen solchen Filter einzurichten ist keine einfache Aufgabe. Ich muss mich besinnen, was mir wichtig ist und was mich positiv nährt. Ich muss mir meiner Werte bewusst werden, mich konzentrieren und fokussieren. Ich muss bereit sein, selbst aktiv zu sein und das Infotainment so zu reduzieren, dass ich aus dem Konsum herauskomme. Ich brauche die richtigen Quellen und Zeit zum Verarbeiten, Reflektieren und Einordnen. Sonst kann ich nicht reagieren, in irgendeiner Form, und die ganzen Informationen bleiben ohne Sinn. Ich will, dass mein Leben eine produktive Dynamik bekommt und nicht alles nur laut und schnell ist. Ich will, dass ich Ruhe und Sinnlichkeit finden kann, um eigene Gedanken zu entwickeln und ohne externen Dauerlärm meine eigene Stimme wahrzunehmen. Der richtige Input ist stimulierend, Qualität ist Reduktion – und das bedeutet Platz für Eigenes. Ich brauche eine Quelle für Positives, damit ich meinen Respekt dem Leben gegenüber aufrechterhalten kann und Energie finde, meinen Weg optimistisch zu gehen.

porträtiert als akkreditierte Gerichtsreporterin monatlich die kleinen und grossen Fische, die es in die Gerichtssäle geschwemmt hat.

Priska Wenger ist freie Illustratorin in Biel und New York.

Florian Burkhardt war erfolgreicher Sportler, Model, Internetpionier und Partydesigner. Sein Leben war als Dokumentarfilm «Electroboy» in den Schweizer Kinos zu sehen.

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Porträt Ein kühler Traum Hans Peter Rubi verlor mit Ende 50 seine Stelle. Statt Trübsal zu blasen, nutzte er die Gelegenheit, um sich einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen. VON RAMONA THOMMEN (TEXT) UND ELLEN MATHYS (BILD)

ein gesundes Nahrungsmittel, das die Magensäfte anregt und so eine gute Verdauung unterstützt», meint der Mittsechziger. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt – ein Satz, den Rubi oft fallen lässt, wenn er von seinem Leben erzählt. Nach dem Lehrabschluss arbeitete er zwar immer wieder in der Gastronomie- und Lebensmittelbranche, der Traum vom eigenen Glaceladen rückte allerdings in den Hintergrund. Bis zu dem Moment, als Rubi nach einem Jahrzehnt bei der Firma Leisi die Kündigung erhält; er dürfe jetzt in Frühpension gehen, teilte man ihm mit. Daran hat Rubi kein Interesse. Aber zu diesem Zeitpunkt ist er bereits Ende 50 – ein denkbar schlechtes Alter für die Stellensuche. Rubi meldet sich arbeitslos und beschliesst, dass dies der Moment ist, endlich seinen Traum zu verwirklichen: Er will sein eigenes Glace produzieren und verkaufen. Er macht mehrere Weiterbildungen beim innovation.tank Olten, einem Projekt, das arbeitslos gewordene Kader mit Kleinunternehmern zusammenbringt, damit letztere vom Erfahrungsschatz ersterer profitieren können. Dort lernt Rubi, was es für den eigenen Laden braucht. Begraben muss er allerdings seine ursprüngliche Idee von einer Glace-Produktion im Berner Oberland, von wo er ursprünglich stammt, weil der betriebswirtschaftliche Aufwand kaum zu decken ist. Stattdessen beschliesst er, die Produktion und den Verkauf in seinem Wohnort Olten zu belassen. Er fährt nach Deutschland an die Eisfachschule, um sein Wissen in Seminaren aufzufrischen. Und er nimmt mit Kontakt auf mit Freunden in Kanada, die er von einem Auslandaufenthalt kennt, den er als junger Mann gemacht hatte. Sie stellen «MacKay’s Cochrane Ice Cream» her, eine der bekanntesten Glacemarken in Nordamerika. «Zwar produzieren sie dort American Hard Ice Cream, was sich vom Schweizer Glace und dem italienischen Gelato stark unterscheidet», sagt Rubi, «aber Grundwissen und Grundver-

«Einen schöneren Beruf könnte ich eigentlich nicht haben», sagt er, während er die Bestellung eines Kunden vorbereitet: Hans Peter Rubi, weisses Haar, weisse Mütze, hält seine Hände unter den Desinfektionsapparat, verreibt die Flüssigkeit, legt die Quittungen auf der Gefriertruhe aus und nimmt den Glacelöffel. Er hält ihn in einem kleinen Spülbecken an der Wand unter den Wasserstrahl, dann spritzt er ihn mit Flüssigstickstoff ab. «So kann man bessere Kugeln machen», erklärt Rubi. Schliesslich öffnet er eine der Kühltruhen, in denen er die Glacekübel lagert. Nur in Kanada verwendet man dieselben, etwas grösseren Behälter. Rubi rollt eine Kugel Orange Grand Marnier, wendet sich zur Theke zurück und übergibt den gefüllten Eisbecher der Kundin. «Die Menschen, die zu mir kommen, sind immer glücklich und zufrieden. Denn meistens scheint draussen die Sonne», sagt der Gelataio. «Und wenn sie mein Geschäft verlassen, ist ihr Grinsen im Gesicht noch breiter.» Denn dann halten sie hausgemachte Swiss Exotic Ice Cream aus Rubis «Glace Gallery» in ihren Händen, Sorten wie Salted Caramel, Savory Basilikum oder Kürbissorbet. Rubis Markenzeichen sind überraschende Glace-Kreationen, doch auch für Vanille und Schokolade ist in seinen Kühlvitrinen immer Platz. Auch wenn er es kaum lassen kann, auch diese Klassiker etwas abzuwandeln. Derzeit tüftelt er etwa an einem veganen Schokoladeeis herum, das er aus Konfiserieschokolade herstellt. Inspirieren lässt er sich von allem. So findet sich zum Beispiel auch Glace aus dem lokalen DreiTannen-Bier in seinem Sortiment. Sein Geschäft hat Rubi in der Oltner Altstadt eingerichtet: Im vorderen Teil läuft der Verkauf, hinten stehen seine Glacemaschinen, mit denen er immer neue Sorten und Mischungen aus lokalen Milchprodukten und ohne künstliche Zusatzstoffe herstellt. Viele Stunden verbringt der fröhliche Eismann täglich in seinem Laden, die Öffnungszeiten «Glace ist keine Süssigkeit, das ist ein gesundes Nahrungsmittel.» richtet er nach den Kundenbedürfnissen. Zwischendurch erhält er immer wieder Besuch von seiner jugendlichen Tochter, die ihm Eis essend von ihrem Schulständnis der Materie sind doch gleich.» So ist das amerikanische Ice alltag erzählt. «Ich habe lange Präsenzzeiten und arbeite sicher mehr als Cream härter als das hiesige, weil es einen höheren Fettgehalt hat, der früher», sagt Rubi. Doch das sei kein Problem, sagt er lächelnd, schliesshierzulande dem Lebensmittelgesetz widerspricht. Italienisches Gelato lich «macht es auch mehr Freude». hingegen ist weicher, weshalb es auch gespachtelt wird, und süsser, anEr betont aber auch, dass es nicht ganz einfach sei, sich selbständig ders als das schweizerische und das amerikanische Glace. zu machen. Da ist das Startkapital, das man aufbringen muss; er kratzIm Spätsommer 2014 dann bedient Rubi erstmals Kunden über die te sein Erspartes zusammen und lieh sich da und dort etwas Geld aus. Theke – seine Theke. Wer bei ihm im Laden steht, merkt schnell, dass Und die laufenden Kosten, die nur im Idealfall von den Einnahmen geseine kalten Köstlichkeiten gut ankommen: Ob alt, jung, klein, gross – deckt werden. Deshalb, so Rubi, hoffe er auf viele strahlende Sonnentaalle verlassen die «Glace Gallery» mit einem Lächeln. Und was macht ge und darauf, dass die begeisterte Kundschaft auch wiederkomme. Hans Peter Rubi selbst glücklich? «Dass alles so gekommen ist, wie es Mit seiner Produktion und dem Altstadtladen hat sich Rubi einen gekommen ist», sagt er, während er eine junge Mutter mit ihrem Kind Traum erfüllt, den er bereits als Jugendlicher während seiner Lehre zum bedient. «Mami, lüpf mich ufe, ich wott min Glace-Maa gseh!», verlangt Confiseur hegte: Glace herstellen und verkaufen, das fand er schon dader kleine Kunde. Und schon wird auch Hans Peter Rubis Grinsen ein mals interessant und sinnvoll. Denn: «Glace ist keine Süssigkeit, das ist bisschen breiter. ■ SURPRISE 382/16

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Europa «Wer gewinnt diesmal?» Der griechische Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis ist ein scharfer Kritiker der EU und gleichzeitig ein überzeugter Verteidiger der europäischen Idee. Ein Gespräch über die Fehler Brüssels, die Kräfte des Lichts und der Dunkelheit und die Strassenzeitung als Rettungsleine. VON LAURA KELLY (INTERVIEW) UND DIMITRI KOUTSOMYTIS (BILD)

Herr Varoufakis, wenn man durch Athen geht, dann sind die Auswirkungen der Krise augenfällig. Ist der Tiefpunkt erreicht, oder werden noch mehr Menschen obdachlos? Die Lage wird sich bis nächstes Jahr noch deutlich verschlimmern. Und zwar aus einem bestimmten Grund: In den kommenden zwei bis drei Monaten beginnen die Zwangsräumungen von Immobilien, deren Bewohner die Hypotheken nicht mehr bedienen können. Es wird schnell und brutal geschehen.

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Vor drei Jahren entstand die griechische Strassenzeitung Shedia auch als Reaktion auf die Krise. Was kann sie bewirken? Wann immer ein Land zusammenbricht, sind die Medien auch in einer Art moralischer und journalistischer Krise. Die kommerzielle Presse in Griechenland beginnt den Medien der Sowjetunion während der Siebziger- und Achtzigerjahre zu ähneln. Damals gab es eine einzige offizielle Parteimeinung, und die wurde von der Presse ständig wiedergekäut, auch wenn niemand sie glaubte. Die schlechte Nachricht ist also, dass es zurzeit kaum ernstzunehmenden Journalismus gibt und dass aus jedem Fernseher und Radio dieselbe schäbige und giftige Parteimeinung SURPRISE 382/16


dröhnt, mit der einen oder anderen Ausnahme seitens unabhängiger Medien. Die gute Nachricht ist, dass niemand mehr an diese Propaganda glaubt. Somit werden Zeitungen wie Shedia zu einer Rettungsleine. Was ist mit der sozialen Komponente? Sind Projekte wie Shedia, die Menschen aus sozialen Randgruppen beschäftigen, eine Antwort auf die Krise? Nein, das sind sie nicht. Sie sind sehr wichtig, aber sie sind kein Ausweg, weil die Krise viel zu umfassend ist. Solidarität auf der Ebene der Familie, des Quartiers oder der Gemeinde kann den Schmerz etwas vermindern und lindern. Aber solche Initiativen bieten ein Beispiel für alternative Unternehmensformen, die eines Tages Teil einer komplett veränderten, sozialeren Volkswirtschaft sein könnten. Das setzt jedoch Investitionen in grossem Massstab voraus, die weder von den Gemeinden noch von den Aktivisten kommen werden. Hier ist staatliches Engagement gefragt. In Brüssel hatten Sie als Finanzminister wenig Freunde. Aber auch hier in Griechenland sind Sie eine kontroverse Persönlichkeit. Die Elite hasst mich. Bei den Nicht-Eliten bin ich keine Hassfigur. Unternehmen und Organisationen, die abhängig sind von Geld aus Brüssel, sehen mich natürlich als Gefahr, weil ich mich gegen Brüssel stelle. Sie wissen sehr gut, welche Hand sie füttert.

wollten. Wir wollten durch eine nachhaltige Struktur die Schulden beherrschbar machen; damit würden wir ein Ende der Sparauflagen erreichen, um der griechischen Wirtschaft Raum zum Atmen zu verschaffen; und dann würden wir Reformen einleiten. Wir waren uns auch einig, dass wir nach Hause gehen würden, wenn wir scheitern. Wir wollten die ersten Politiker sein, die wirklich meinten, was sie sagten, und sagten, was sie meinten. Sie sind gegangen, weil Sie gescheitert sind? Im vergangenen Juli baten wir das griechische Volk um seine Unterstützung. Es sollte in einem Referendum über das Rettungsabkommen befinden, das die Troika vorgeschlagen hatte und das unsere Regierung ablehnte. Ich persönlich habe nie daran geglaubt, dass wir die Abstimmung gewinnen würden, mit den Medien gegen uns und den dichtgemachten Banken. Und dann bekamen wir 62 Prozent! Tragischerweise sagte Premierminister Tsipras am selben Abend zu mir: «Yanis, es ist Zeit aufzugeben.» Ich antwortete: «Nein! Wir haben 62 Prozent der Stimmen, wir können nicht aufgeben.» Aber er war der Regierungschef, und er hatte entschieden, sich trotz des Siegs an der Urne dem Spardiktat der EU zu unterwerfen. Wäre ich im Amt geblieben, dann hätte ich mit ihm zusammen aufgeben und mich der schädlichen Politik Brüssels beugen müssen. Ich hätte die Vereinbarung brechen müssen, die wir mit dem griechischen Volk hatten.

Sie haben sich im Vorfeld der Brexit-Abstimmung für den Verbleib Sie haben sich als Finanzminister mit sehr deutlichen Worten gegen des Vereinigten Königreiches in der EU eingesetzt. Weshalb? die Rückzahlungsvereinbarung und die Budgetauflagen für GrieDie Brexit-Befürworter argumentierten zu Recht, dass die demokratichenland gestellt. Den Geldgebern Griechenlands haben Sie zum sche Souveränität weitgehend an einen undemokratischen, oder vielBeispiel «finanzielles Waterboarding» vorgeworfen. Aber welche mehr antidemokratischen, Zirkel von Bürokraten und Institutionen abVeränderungsmöglichkeiten sehen Sie? getreten wurde. Ich war aus zwei Gründen trotzdem gegen den Brexit: Schauen Sie sich unsere Tourismus-Hochburgen wie zum Beispiel MyErstens kann man gar nicht austreten. Man steckt im Einheitsmarkt fest, konos an. Da zahlt niemand Steuern. Auf dieser Insel werden Unsumder viel mehr ist als eine Freihandelszone. Es gibt gemeinsame Indumen an Geld verdient. Und wann immer ein Steuerbeamter aus Athen nach Mykonos fährt, weiss jeder dort im Voraus Bescheid. Wo immer er dann auftaucht, «Wir wollten die ersten Politiker sein, die wirklich meinten, was sie werden brav Quittungen ausgesellt, doch sobald er abreist, hört das wieder auf. Die einzisagten, und sagten, was sie meinten.» ge Möglichkeit wäre, die Geschäftsleute in Todesangst davor zu versetzen, dass ihr nächster striestandards, und jedes Unternehmen unterliegt denselben Regeln. Kunde ein verstecktes Mikrofon am Körper trägt. Diesen Vorschlag haUmweltschutzbestimmungen, Handelsbestimmungen – alles kommt aus be ich als Finanzminister gemacht, und man hat mich dafür geschmäht. Brüssel. Mit dem Austritt haben die Briten ihren Einfluss auf all diese Natürlich denke ich, dass man etwas tun könnte, aber es ist schon iroRegeln an eine fremde Macht abgetreten, an der sie nicht einmal mehr nisch, dass man mich gleichzeitig dafür angegriffen hat, Reformen abteilhaben. Und zweitens wird der Brexit den Prozess des politischen Zerzulehnen und Reformen vorzuschlagen. falls in Europa beschleunigen, was wiederum die Wirtschaftskrise verschärfen wird. Das wird auch Grossbritannien zurück in die Rezession Können Sie die Wut der Menschen auf die EU verstehen? reissen. Europäer wenden sich gegen die EU, weil sie scheinheilig ist. Letztes Jahr brachte die EU unser Bankensystem zum Erliegen, um die RegieSehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem undemokratischen rung zu Budgetkürzungen zu zwingen. Es gibt keine grössere EinmiWesen der EU und dem Aufstieg rechtsextremer, populistischer und schung in das Leben eines Landes, als seine Banken zu schliessen. fremdenfeindlicher Parteien? Wenn aber nationale Regierungen klar gegen EU-Recht verstossen, wie Wann immer es eine Krise gibt, in der die öffentlichen und privaten wir es anhand der Flüchtlingskrise in Ungarn, Polen oder Rumänien beSchulden ansteigen und gleichzeitig die Einkommen und Preise sinken, obachten mussten, dann heisst es, man mische sich nicht in innere Anschlüpft die Schlange aus dem Ei. In solchen Zeiten kann das Establishgelegenheiten ein. Ich sage das als jemand, der sich den Zerfall der EU ment die radikale Veränderung der Ordnung nur abwenden, indem es nicht wünscht. Ich sehe aber auch, dass es immer schwieriger wird, die immer autoritärer wird. Die Kombination aus Hoffnungslosigkeit, steiMenschen davon zu überzeugen, dass wir ihren Untergang nicht hingenden Schulden und zunehmendem Autoritarismus seitens des Staates nehmen sollten. führt dann zu einer Spaltung der Bevölkerung. Einige glauben der simplen Geschichte, in der die Ausländer die Sündenböcke sind. Die andeSie hatten als Finanzminister Macht. Warum haben Sie aufgegeben? ren radikalisieren sich auf die andere Seite und folgen Leuten wie Bernie Es ist eine Sache, in der Regierung zu sein, aber ganz etwas anderes, an Sanders in den USA oder dem britischen Labour-Chef Jeremy Corbyn. der Macht zu sein. Wir waren eine Regierung ohne Macht. Ich habe es Dann kommt es zum finalen Kampf zwischen den Mächten des Lichts mir erlaubt, ins Ministerium einzuziehen, weil wir in der Partei eine Verund der Dunkelheit. In den Dreissigerjahren hat die dunkle Seite geeinbarung darüber hatten, dass wir ein besseres Abkommen mit der wonnen. Die Frage ist also: Wer gewinnt diesmal? Troika, den Geldgebern von der EU, der EZB und dem IWF, erzielen SURPRISE 382/16

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Bernie Sanders zählen Sie also zu den Mächten des Lichts. Die demokratische Kandidatin in den USA heisst aber Hillary Clinton. Was halten Sie von ihr? Als Progressiver stehe ich vor einem grossen moralischen Dilemma. Hillary Clinton macht mir Angst. Sie ist ein Falke. Sie repräsentiert das hässliche Gesicht des Establishments, selbst wenn sie im Vergleich zu Trump zivilisiert wirkt. Ich befürchte, dass sie als Präsidentin die Welt destabilisieren würde. Ich habe keinen Zweifel, dass sie einen neuen Krieg anzetteln würde. Gleichzeitig ist sie aber die Einzige, die Trump, dieses ordinäre Biest, aufhalten kann. Am Ende müssen wir Hillary unterstützen, weil man einen Rohling wie Trump einfach nicht akzeptieren kann. Aber schauen Sie sich mal das Video an, in dem Clinton – damals noch als Aussenministerin – auf die Verstümmelung und Ermordung Muammar al-Gadhafis reagiert. Sie freut sich sichtlich darüber. So eine Person sollte die Hand nicht am Atomknopf haben und nicht militärische Oberbefehlshaberin der USA sein. Zurück zur EU: Würden Sie den Griechen im Falle eines AustrittsReferendums ebenfalls raten, drin zu bleiben? Ja, und das habe ich auch schon getan. Ich vertrete klar die Botschaft des Widerstands von innen: Wir bleiben in der EU und bekämpfen die Führungselite. Ich nenne das Regierungs-Ungehorsam. Das ist unsere einzige Chance. Und wie würde dieser Regierungs-Ungehorsam aussehen? Wir blockieren alles durch Vetos, und zwar so lange, bis wir einen vernünftigen Beschluss darüber haben, was die EU sein und tun soll. Wir schlagen weder ein Referendum noch einen Austritt vor. Wir setzen uns für unsere Wahl in nationale Regierungen und in das Europäische Parlament ein, um von innen den Ungehorsam gegen die Dummheit und die Irrationalität europäischer Politik auszuüben. Die britische Regierung hatte viele Gelegenheiten, ein Veto gegen törichte oder autoritäre Entscheidungen aus Brüssel einzulegen. Aber sie hat es nie getan.

Was bedeutet das für Menschen wie unsere Strassenverkäufer und Leserinnen? Diejenigen, die Zeitungen produzieren: Macht ein gutes Produkt. Ausserdem müsst ihr sicherstellen, dass die Armutsbetroffenen Teil des Prozesses bleiben, dass sie an allem so viel wie möglich beteiligt sind. Und zum Dritten: Findet Wege, euer Projekt in die breiteren politischen Widerstandsbewegungen einzubinden. Und was ist mit denen, die keine Zeitungen machen? Sollen sie sich einer Widerstandsbewegung anschliessen? Sollen sie demonstrieren gehen? Haben solche Dinge noch eine Bedeutung? Aber natürlich! Sie werden immer einen Sinn haben. Deshalb stecke ich all meine Zeit in die Bewegung DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025). Sie hat zum Zweck, die politische Infrastruktur dafür zu schaffen, dass sich all diese europäischen Bewegungen vereinigen können. Ich sage es immer wieder: Es geht nicht darum, ob wir gewinnen. Unser Einsatz an sich hat schon viele heilsame Nebenwirkungen. Wirklich? Meistens fühlt man sich als Demonstrationsteilnehmer doch eher ignoriert. Natürlich wird man ignoriert. Aber diese heroischen Niederlagen schaffen die Bedingungen, unter denen sich etwas Neues entwickeln kann. Was müssen linke Parteien tun, um den Sprung in die Zukunft zu schaffen? Sie sollten ihre traditionellen Werte wie Solidarität und die Unterstützung der Schwachen mit dem technologischen Fortschritt verknüpfen. Investition in Hightech interessiert auch die Jungen, die sich nicht für Politik interessieren, sondern die nächste App entwickeln und für viel Geld an Google verkaufen wollen. Auch sie müssen lernen zu verstehen, dass ihr Leben hässlich, brutal und kurz sein wird, wenn sie nicht Teil einer breiteren sozialen Bewegung werden. ■ Aus dem Englischen von Veronica Koehn.

Sie sind also Europäer, obwohl Sie die Brüsseler Strukturen ablehnen? Schauen Sie, was hätte ein echter, engagierter Pro-Europäer in den Zwanziger- und Dreissigerjahren getan? Ich glaube, damals hätte er sich den europäischen Mächten entgegengestellt. Pro-Europäer sind Humanisten, die nicht wollen, dass Europa auseinandergerissen wird. Und auch heute müssen wir gegen Brüssel, Frankfurt und die Machthaber kämpfen. Aber in einer Weise, die das Auseinanderfallen unseres Bündnisses nicht beschleunigt.

DiEM25 Im Februar 2016 gründete er mit Mitstreitern die Bewegung Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25), an der Politiker von SYRIZA, aus der Partei Die Linke, der britischen Labour Party oder der spanischen Protestpartei Podemos sowie Prominente wie der Regisseur Ken Loach und der Wikileaks-Gründer Julian Assange beteiligt sind. DiEM25 hat sich den Kampf gegen die fehlende demokratische Legitimation der «Brüsseler Bürokratie» auf die Fahne geschrieben. In ihrem Manifest propagiert die Bewegung die Demokratisierung der EU als dritten Weg neben dem «Rückzug in den Kokon» des Nationalstaats und der «Unterwerfung unter Brüssels demokratiefreie Zone». Die Forderungen der Bewegung reichen von sofortiger Transparenz – etwa durch die Veröffentlichung von Sitzungen von EU-Gremien via Livestream – bis zur Reorganisation der Zuständigkeiten zwischen EU und den Mitgliedstaaten in Feldern wie Finanzpolitik, Migration und Armut. Das ultimative Ziel ist die länderübergreifende Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, um die EU zu einer «voll entwickelten Demokratie mit einem souveränen Parlament» zu machen. (ami)

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Das Gespräch wurde an der diesjährigen Konferenz des International Network of Street Papers INSP in Athen geführt, wo Varoufakis als Hauptredner auftrat.

Mit freundlicher Genehmigung von INSP News Service www.insp.ngo

Yanis Varoufakis Der 55-jährige promovierte Ökonom dozierte an Hochschulen in Grossbritannien, Australien, Griechenland und in den USA. Von Januar bis Juli 2015 war er griechischer Finanzminister im ersten SYRIZAKabinett. Als die Regierung trotz des Sieges beim Referendum die Sparauflagen der Troika akzeptierte, trat Varoufakis zurück. SURPRISE 382/16


Europa EU-Kritik – und dann? Nationalistische und konservative Kräfte in ganz Europa machen Stimmung gegen die EU. Doch auch Linke kritisieren Brüssel seit Langem. Diese Auswahl an Aussagen zeigt, wo sich Links und Rechts treffen – und wo der entscheidende Unterschied liegt.

«Europa braucht eine Verfassung, durch die seine Entscheidungen demokratisch legitimiert und transparent sind, es braucht ein Parlament, das den Namen verdient und so eine europäische Öffentlichkeit schafft. Es braucht eine Ökonomie, die nicht nur einen gemeinsamen Markt, sondern eine gemeinsame Politik hat, die Eingriffe in nationale Haushalte ermöglicht, aber auch gerechten Finanzausgleich und die Angleichung der Lebensverhältnisse vorsieht.»

«(Die EU ist) eine Expertokratie, die sich immunisiert hat gegen jeglichen demokratischen Einfluss, sei es aus nationalen Parlamenten oder aus dem Europäischen Parlament. Paradoxerweise braucht aber nicht nur die EU mehr Demokratie, die Demokratie braucht auch die EU. Denn – und das unterscheidet uns von den Nationalisten – der Nationalstaat kann nicht liefern, was die Demokratie eigentlich verspricht: nämlich Einfluss nehmen auf das eigene Leben.»

Navid Kermani, Schriftsteller und Islamwissenschaftler in der FAZ, 29. Juni 16

Andreas Gross, Alt-Nationalrat SP und Vertreter der Schweiz im Europarat von 1995 bis 2016 im Tagesgespräch von Radio SRF, 30. Juni 16

«Die EU ist nicht so sehr undemokratisch, sondern antidemokratisch. Eine demokratische EU ist unmöglich. (Sie würde) keine Mehrheit finden. Niemand will in den ‹United States of Europe› leben. Europa ist kein Land. Wir verstehen einander nicht. 500 Millionen Einwohner sind zu viel für eine funktionierende, transparente Volksregierung.» Thierry Baudet, Jurist und Leiter des rechtskonservativen Think Tanks Forum voor Democratie in der Weltwoche, 28. Juli 16

«Wenn ein Rechter sagt: ‹Wir müssen raus aus der EU›, ist das einfach. Als Linker kritisiere ich und muss gleichzeitig sagen, warum sie wichtig ist. Das ist eine kompliziertere Antwort. Es gibt einen entscheidenden Grund: die Erhaltung des Friedens zwischen ihren Mitgliedsländern. Das ist mein wichtigstes Anliegen. Ausserdem hätten die alten Nationalstaaten einzeln weder ausreichend politische noch wirtschaftliche Bedeutung weltweit, gegenüber den USA, China und anderen.»

«Die EU leidet nicht einfach unter einem Demokratiedefizit. Ihr Problem ist, dass das EU-Parlament gar kein richtiges Parlament ist. Darum sollte jetzt ein ordnungsgemässes Parlament geschaffen werden, das in der Lage ist, die regierende EU-Kommission zu entlassen.» Yanis Varoufakis in der WOZ, 30. Juni 16

«Warum unterstützt (die Grossbank) Goldman Sachs die EU? Weil sie sie in der Hand haben! Die EU ist einer der grössten Erfolge des Korporatismus. (…) Ich hoffe wirklich, dass die EU untergeht und auseinanderbricht. Ich will, dass wir in einem Europa leben, in dem wir Handel treiben und zusammenarbeiten wie Nachbarn. Aber wir sollten Brüssel loswerden mit seiner Bürokratie und der Verachtung für demokratische Prozesse.» Nigel Farage, Ex-Chef der nationalistischen United Kingdom Independence Party UKIP am Parteitag der USRepublikaner, 20. Juli 16

Gregor Gysi, Bundestagsabgeordneter Die Linke auf taz.de, 26. Juni 16

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BILDER: DAVID MÖLLER/HWC

Über den Kampf fanden die Schweizer ins Spiel.

Homeless World Cup Durch Höhen und Tiefen Das Schweizer Strassenfussball-Nationalteam hat am Homeless World Cup in Glasgow wenige Tore geschossen. Dafür haben die Spieler neuen Mut für ihr Leben in der Schweiz gefasst. VON BEAT CAMENZIND

«Es war eine supergeile Woche», sagt Eric N’de. Der Mann von der Elfenbeinküste war mit der Schweizer Strassenfussball Nationalmannschaft im schottischen Glasgow. Dort spielte das Team am Homeless World Cup (HWC). 64 Teams mit 512 Spielern aus 52 Nationen kämpften Mitte Juli um den Pokal. Doch beim Turnier ging es um mehr als sportliche Ehre: «Wir haben gelernt, für Fairplay zu spielen», sagt Raphael Garot, der Schweizer Stürmer mit brasilianischen Wurzeln. Beim HWC zählen nicht nur Siege: Kassiert ein Team viele Strafen, verspielt es die Chance auf den Fairplay-

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Pokal. Und es verbaut sich auch den sportlichen Erfolg, denn bei Punktgleichheit zählt die Fairplay-Wertung. Für die Schweizer Strassenfussballer war die Reise nach Schottland auch Genuss: Top-Skorer Matthias Steiner redet von einem «SuperEvent» für «Menschen, die es nicht immer einfach haben». Am HWC nehmen Obdachlose, Suchtkranke und Flüchtlinge teil. Die Spieler hatten zwischendurch auch einfach mal Spass und schlossen Freundschaften mit Teilnehmern aus aller Welt – und das «ohne Stress», wie Mittelfeld-Arbeiter David Aellen sagt. Burhan Akkaya, der Stimmungsmacher im Schweizer Team, bestätigt: «Es ist etwas Grossartiges, so viele verschiedene und doch fast gleiche Menschen zusammenzubringen.» SURPRISE 382/16


Die Schweizer Strassenfussballer mussten sich erst mit dem Spielgerät anfreunden.

Die Italiener boten Anschauungsunterricht.

Das Schweizer Spiel trieb Coach David Möller bisweilen Sorgenfalten ins Gesicht.

In der Vorrunde gab es 32 Gegentreffer.

Am Ende war die Freude trotzdem gross ...

... und man jubelte über die Medaille und die neuen Freunde aus aller Welt.

Bei so viel Freude und persönlichem Gewinn werden sportliche Niederlagen zur Nebensache. Und das ist gut so: Denn die Schweizer Strassenfussballer schossen in der Vorrunde gerade mal fünf Tore. Da sie 32 Gegentore kassierten, konnten sie Platz 1 schon mal abschreiben. In der Zwischenrunde lief es mit zwei Siegen und zwei Niederlagen besser. Bei den abschliessenden Klassierungsspielen harzte es auch mit dem Tore schiessen, die Strassenfussballer landeten auf Platz 38 (von 47 Teams). «Ich habe weitergespielt, auch wenn wir verloren hatten. Das ging dem ganzen Team so: Wir hielten zusammen und liessen uns nicht demotivieren», beschreibt der eritreische Mittelfeldstratege Filmon Brhane die Stimmung in der Mannschaft. Das ist auch ein Verdienst von NatioSURPRISE 382/16

nalcoach David Möller: «Nie naaloh! war das Motto und die Jungs wurden dem gerecht, trotz menschlicher Konflikte und sportlicher Rückschläge.» Beim Motivieren half ihm Assistent Günther Rothenfluh. Der war 2011 in Frankreich selber noch Spieler in der Strassenfussball-Nati. Nun konnte er seine Erfahrungen an das neue Team weitergeben. «Es galt, die Spieler durch Höhen und Tiefen zu begleiten.» Das hat die Mannschaft und ihn selber weitergebracht. Rothenfluh ist nicht der Einzige, der in Glasgow viel gelernt hat. Burhan Akkaya etwa weiss nun, dass er «stärker ist, als er dachte, und Hindernisse überwinden kann», und Torwart Ruedi Kälin hat erfahren, dass er sehr gut zuhören kann und «es mehr als nur Surprise-Heftli gibt». ■

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E-Sport Eine Welt so gross wie ein Bildschirm Karim liebt Gaming. So sehr, dass er dafür die Lehre abgebrochen hat und heute einer der wenigen professionellen Schweizer Videogame-Spieler ist. Er lebt den Traum vieler junger Menschen – ein Traum, der in der Realität schnell an Glamour verliert. 16

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VON KARIN WENGER (TEXT) UND PHILIPP BREU (BILDER)

ist Nebensache. Kartonverpackungen von Tastaturen stapeln sich im kahlen Raum, leere Wasserflaschen stehen neben den Tischen, dazwischen liegen lose einige Pizzaschachteln. Der Zeitplan der Spieler ist streng: Sonntag bis Mittwoch trainieren sie, bis es draussen dunkel ist. Zuhause wird meistens noch weitergespielt, jede Trainingsstunde mehr bedeutet, ein Quäntchen besser zu werden. Donnerstag und Freitag – so wie heute – erklärt ihnen der Teamanalyst die gegnerischen Spielstrategien. Wie sie deren Schwachstellen ausnutzen und die eigenen Stärken ausspielen, diskutieren sie danach eine Stunde lang mit dem Trainer. Die Welt von Airwaks ist nicht beständig. Mehrmals pro Monat wird League of Legends aktualisiert. Spielfiguren verlieren zum Beispiel Kräfte, weil sie zu mächtig werden. Eine Herausforderung für alle Spieler auf Topniveau: Die teils gravierenden Veränderungen müssen nur Tage später im Match beherrscht werden. Die Updates lassen die Welt von League of Legends sich weiterdrehen, doch gleichzeitig führen sie dazu, dass sich einige Topspieler nicht mehr darin zurechtfinden. Auch Airwaks: «Das Spiel hat sich so entwickelt, dass es mir nicht mehr wirklich liegt, was ich noch mag, sind die Wettkämpfe.» Um drei Uhr nachmittags mahnt Teammanager Tomislav Mihailov zur Eile: «Wir hätten vor zehn Minuten fahren sollen», ruft er seinem Team zu. Karim ist gerade dabei, mit grünem Filzstift mögliche Strategien auf ein Flipchart zu schreiben. Die fünf Jungs schnappen sich die Rucksäcke und hasten die Treppe runter, raus in die grelle Sommerhitze. Ein weisser Transporter mit Chauffeur wartet bereits. Zäh bewegen sich die Autokolonnen durch den Berliner Freitagnachmittag. Hinter den abgedunkelten Autoscheiben murmeln die Spieler, unterschiedliche Englischakzente vermischen sich. Das Team wurde auf die laufende Saison hin frisch zusammengewürfelt – und es muss bereits perfekt harmonieren. Zwei Koreaner, ein Franzose, ein Schwede und ein Schweizer. «Ich würde sie noch nicht als meine Freunde bezeichnen», sagt Karim. Normalerweise leben die Teams in der Welt von League of Legends in grossen Villen, sogenannten Gaming Houses. Unten wird gelebt, oben gespielt. Anders beim Team Roccat: Karim wohnt zusammen mit dem Franzosen und dem Schweden, nebenan leben die Koreaner und der Teammanager Tomislav. Er hat entschieden, die Arbeit von den Wohnungen zu trennen. «Ich will, dass sie ihre Emotionen im Büro lassen und sich in der Wohnung zurückziehen können», sagt der 26-jährige Bulgare. Die Spieler

Karim Benghalia lebt in einer Welt, die es nicht gibt. Zumindest nicht hier, noch nicht. Auf der anderen Seite der Erde, in China und Südkorea, sind Typen wie er Superstars. Zieren die Etiketten von Softdrinks, werden auf der Strasse von Fans verfolgt, ihre Spiele live im Fernsehen ausgestrahlt. Karim ist professioneller Gamer – Pro Player werden sie genannt, Jungs, oft nur wenige Jahre aus der Schule, die mit Spielen ihr Geld verdienen. Sie gehören zu einer Welt, die in Ostasien Dimensionen angenommen hat wie jene des Fussballs in Italien oder Spanien. Eine Welt, die allmählich auch in Europa entdeckt wird. Karim Benghalia aus Genf, bald 22-jährig, ist einer der ganz wenigen Schweizer, für die das Spielen am Computer Arbeit bedeutet. Der Tag beginnt für Karim mit dem Schlafengehen. Um fünf Uhr morgens legt er sich in der Wohnung in Berlin ins Bett, manchmal auch auch erst um sechs. Am Mittag steht er auf, er fühlt sich müde, wenn er erwacht. Er startet seinen Computer und spielt ein erstes Game, um sich aufzuwärmen. Frühstück holt er sich beim Türken um die Ecke. Dönerbox mit Zwiebeln, Take-away. Jeden Tag Kebab zum Frühstück? «Nein, es kommt drauf an, manchmal auch Pizza», sagt Karim. Eigentlich möchte er seinen Rhythmus in Ordnung bringen – um zehn oder elf Uhr aufzuwachen fände er gut. Kebab esse er ja bloss zum Frühstück, weil er beim Aufstehen so hungrig sei. Die Dönerbox nimmt er mit zur Arbeit. Ein Industriegebiet, Autos donnern auf der Strasse vorbei. An einer Laterne hängt ein gelbes Schild, «Teppichland Berlin» steht schwarz darauf, «Lacke + Farben» einen Laternenpfahl weiter. Zehn Minuten zu Fuss braucht Karim von der Wohnung ins «Office», wie er und seine Kollegen den Ort nennen, an dem sie trainieren. Im elektronischen Sport, kurz E-Sport, treten Menschen wettkampfmässig in Computerspielen gegeneinander an. In mehreren Ländern ist E-Sport als Sportart mittlerweile anerkannt. Und wird gefördert: In den USA vergeben Hochschulen inzwischen Sportstipendien an Gamer. Der Deutsche Olympische Sportbund hingegen lehnt die Anerkennung von E-Sport ab. In der Schweiz gibt es zwar Turniere, immer mehr und immer grössere, und auch die Preisgelder steigen stetig, wenn auch in viel kleineren Dimensionen als anderswo. Viel zum Hype beigetragen hat vor allem ein Spiel: League of Legends, ein Echtzeit-Strategiespiel. Das heisst: Die richtige Massnahme zur richtigen Zeit am richtigen Ort durchführen, immer in Absprache mit dem Team. GeJeden Tag Kebab zum Frühstück? «Nein, es kommt drauf an, manchspielt wird fünf gegen fünf. Das Ziel: das Hauptquartier des gegnerischen Teams zerstömal auch Pizza», sagt Karim. ren. Auf dem höchsten Level zählt vor allem die Strategie, für Anfänger bietet das Spiel eiwürden sich dadurch aber weniger gut kennenlernen als in einem Ganen hohen Spassfaktor. 27 Millionen Menschen klicken sich nach Anming House. Das sieht er klar als Nachteil für das Spiel. gaben des Herstellers täglich in das Game, 67 Millionen pro Monat. LeTomislav ist ein alter Hase in der Branche. Schon viele Jungs hat er ague of Legends, das ist die Welt von Karim. Hier heisst er Airwaks. Die aufsteigen und wieder aufgeben sehen. Fragt man ihn nach seiner FunkNamen der Gamer zieren die Rücken ihrer Teamtrikots und füllen untion als Teammanager, antwortet er: «Mami, Papi, grosser Bruder, bester zählige Statistik-Tabellen, Analysen zu Spielverhalten, Team- und EinFreund.» Er organisiert alles rund ums Spiel, geht mit seinen Schützlinzelleistungen. gen eine Runde spazieren, wenn sie sich zu stark unter Druck setzen. Sein Telefon klingelt, wenn die Pizza um drei Uhr morgens nicht gelieTraining streng nach Plan fert wird. Und er klärte auch schon Streitereien mit Freundinnen der Karim hat heute keine Zeit für eine Dönerbox. Er ist spät dran. Am Spieler – jede Ablenkung ist Gift für das Game. Abend spielt sein Team Roccat, finanziert vom gleichnamigen Hersteller von Gaming-Zubehör, zwei Matches in der höchsten europäischen Liga. Schnell Puder aufs Gesicht Sie müssen Punkte sammeln, wollen in der Tabelle hochklettern. Im Der weisse Van biegt von der Hauptstrasse links ab, wieder InduBüro warten sie schon auf ihn: vier Teamkollegen, der Trainer und der striegebiet. Er hält vor einem grauen Gebäude, das überall stehen könnTeammanager. Jeden Tag treffen sie sich hier um halb zwei, ausser am te. Drin versteckt sich eine inszenierte Parallelwelt. «Ihr habt genau fünf Samstag, ihrem freien Tag. Minuten Zeit zum Essen!», ruft Tomislav den Spielern zu, die durch eiIm Büro im zweiten Stock des grauen Industriegebäudes sind die ne Glastüre diese andere Welt betreten, die für sie total normal gewormeisten Fenster mit Postern und schwarzen Tüchern abgedeckt. Nur den ist. Fünf Minuten also für Hähnchen mit Kartoffeln. zwei Dinge zählen hier: Computer und Internetanschluss. Alles andere

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Karim Benghalia beim Training in Berlin. SURPRISE 382/16

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«Mami, Papi, grosser Bruder»: Teammanager Tomislav Mihailov.

Strategiesitzung im Büro: Profispieler Benghalia (m.) mit Teamkollegen.

wird hier auf einem Grossbildschirm gezeigt, zuhause sitzen weitere Danach ein Stockwerk tiefer ins Makeup-Studio, schnell Puder aufs hunderttausend Zuschauer vor dem Computer. Die Spieler starren wie Gesicht, damit die Haut später im Scheinwerferlicht natürlich wirkt. Die versteinert in den Bildschirm. Nur ihre Finger hämmern auf der Maus Welt von League of Legends, sie wurde rund um ein Computerspiel heund der Tastatur. Mit bis zu sechs Anschlägen pro Sekunde. Und mit rum konstruiert. 15 000 Fans haben die Weltmeisterschaft im letzten Tape am Unterarm gegen Sehnenscheidenentzündungen. Sie pressen Jahr live im Stadion geschaut, zuhause sassen weitere 36 Millionen die Lippen zusammen, kauen auf der Innenseite der Backen. Derweil Zuschauer vor den Bildschirmen. Hier im Studio in Berlin gibt es zwei johlen und klatschen die Fans auf der Tribüne, die Kommentatoren reSäle für insgesamt 450 Fans, rund zehn Euro kostet ein Ticket. In der den sich in Ekstase. Eingangshalle riecht es nach Popcorn, ein kleiner Junge drückt sich die Karim liebt diesen Moment. Purer Wettkampf. Mit zehn begann er zu Nase platt an einer Vitrine mit Spielfiguren. gamen, mit zwölf gab er sein Hobby Fussball auf, gamte jeden Abend Noch 15 Minuten bis zum ersten Spiel. Karims Team Roccat betritt nach der Schule. Seine Noten wurden schlecht, seine Eltern wütend. Sie die Bühne, die Spieler stöpseln Tastatur und Maus ein und setzen sich verboten ihm, unter der Woche zu spielen. Mit 16 entdeckte er League hinter die schwarzen Bildschirme. Das Studio wird beleuchtet von farof Legends. Wollte in diesem Game der Beste sein. Er begann eine Lehbigen Lichtinstallationen, die sich im schwarz glänzenden Boden spiere als Informatiker und brach nach eineinhalb Jahren wieder ab. «Ich geln. Eine Hochglanzwelt, in der kaltes Business zählt. Die Verträge der meisten Spieler laufen nicht länger als eine Saison. «Wenn ich schlecht spiele, verdiene ich 15 000 Fans haben die League-of-Legends-Weltmeisterschaft im es auch nicht, dass sie meinen Vertrag verlänletzten Jahr live im Stadion geschaut, zuhause sassen weitere 36 gern», sagt Karim. League of Legends erinnert an eine UnterMillionen Zuschauer vor den Bildschirmen. haltungsindustrie, die so professionell produziert wird wie grosse Sportveranstaltungen. glaubte daran, professioneller Spieler zu sein», sagt er. «Du tust nichts!», Dahinter steckt die Herstellerfirma Riot Games aus Los Angeles, die alsagten seine Eltern. Ein ganzes Jahr tat er nichts ausser spielen, kämpfles bis ins letzte Detail kontrolliert. Und kräftig investiert. Sie will das te sich hoch in den Rankings. Und erhielt schliesslich als 18-Jähriger eiSpiel auch in Europa zum Massensport machen. In Südkorea hat sich Enen Vertrag. Sein Vater, Tunesier, findet es gut, dass sein Sohn jetzt Geld Sport schon um die Jahrtausendwende etabliert. Das Strategiespiel Starverdient. Seine Mutter, Portugiesin, fragt ihn oft: «Was tust du, wenn alcraft wurde zum Volkssport. Während E-Sport in Seoul Stadien füllte, les vorbei ist?» wurde Gamen in Europa als Zeitverschwendung abgestempelt. Langsam Über seinen Verdienst darf Karim keine Auskunft geben. Teammanaändert sich das: Investoren fluten den Markt, auf diese Saison hin kaufger Tomislav antwortet auf die Frage: «Die Spieler in den höchsten Ligen te etwa der deutsche Bundesliga-Fussballclub Schalke 04 ein eigenes verdienen bis zu 30 000 Euro pro Monat. Irgendwo da stehen auch unTeam. In der Schweiz stieg vor Kurzem der Telekommunikationsanbiesere Jungs.» ter UPC Cablecom als erster grosser Konzern ins Geschäft ein. Und in Johlen von der Tribüne. League of Legends ist wie gemacht für die einem anderem Game namens Dota 2 wurde dieses Jahr erstmals eine Zuschauer: Die Partien dauern zwischen einer halben und einer Stunoffizielle Schweizer E-Sport-Meisterschaft ausgetragen. de, gespielt wird in der Vogelperspektive – nicht aus einem Ego-BlickKarim findet seinen Beruf immer noch aussergewöhnlich: «Wenn winkel, wie dies bei Shooter-Games der Fall ist. Heute sitzt im Berliner mich jemand fragt, was ich arbeite, sage ich Gamer. Aber ich sage es mit Studio eine Gruppe Mädchen in Hotpants in der ersten Reihe. Begeistert einem Grinsen.» schiessen sie Fotos mit ihren Handys. Ein paar Reihen dahinter verfolgen Primarschüler den virtuellen Kampf, begleitet von ihren Eltern. Was, wenn alles vorbei ist? Daneben einige junge Männer mit Bartstoppeln, zwei Frauen mit pink Der Countdown läuft, die Show beginnt. Live im Studio kommentiegefärbten Haaren. Das Durchschnittsalter an E-Sport-Veranstaltungen ren zwei Moderatoren in Anzug und Krawatte die Spielzüge, das Game

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Professionelle Unterhaltungsindustrie: Publikum beim Wettkampf.

Findet seinen Beruf aussergewöhnlich: Karim Benghalia vor dem Match.

ist tief. Und auch wenn die Szene wie eine Karims Schwester sagt ihm, dass er ins Fitness gehen soll. «Ich Männerwelt wirkt: Schätzungsweise 30 Promöchte gehen, aber dann fehlt mir die Motivation», sagt er. Auch zent der Spieler weltweit sollen Frauen sein. besser ernähren möchte er sich. Aber wenn er koche, bleibe ihm weIn den professionellen Teams hingegen sind niger Zeit zum Spielen. sie so gut wie inexistent. Als Kommentatorinnen bei Liga-Spielen hingegen sind Frauen besser vertreten. Karim spielt zwar in einer Welt ohne Grenzen, in einem Universum Auch in Berlin: Eine Analystin in einem sonnengelben Kleid komder Superlative, von dessen Existenz viele seiner Mitmenschen nichts mentiert bereits mit zwei Kollegen jeden Spielzug. Die Partien im Studio wissen. Eine Welt des Gamens, das seinen Siegeszug durch Europa ansind mittlerweile zu Ende, und die Enttäuschung steht den Spielern von getreten hat. Doch Karim weiss, er ist auch Teil einer anderen Welt. Roccat ins Gesicht geschrieben. Die Gegner haben sich geschickter Immer vor dem Einschlafen, um fünf Uhr morgens, scrollt er sich auf durch die Spiele geklickt. «Nehmt eure Sachen, wir fahren nach Hause», seinem Smartphone durch die Nachrichten der App von «20 minutes». sagt Tomislav. Still verstauen sie ihre Tastaturen in den Rucksäcken und Er liest jeden Artikel. «Ich muss», sagt er, «ich will zumindest ein bissfolgen ihrem Teammanager durch die dunklen, kühlen Gänge zur Glaschen etwas über das Leben wissen.» türe. Raus in die Sommerhitze, zurück in den Berliner Verkehr. Vor Ka■ rims Autofenster zieht die Stadt vorbei, in der er seit zwei Jahren lebt und die er noch kaum kennengelernt hat. Er ist wütend auf sich. «Wir hätten das erste Spiel gewinnen sollen», denkt er. Poker statt Pyramiden Zuhause will er seinen Kopf frei bekommen. Er setzt er sich vor seinen Computer – und spielt League of Legends. Kein Wettkampf, nur zum Spass mit ein paar Freunden aus Frankreich. «Ich game nun mal gerne», sagt er. So gerne, dass er fast jede Nacht bis um fünf Uhr morgens vor dem Bildschirm sitzt. Zur Abwechslung spielt er an seinen freien Samstagen auch gerne Online Poker oder geht ins Casino. Karims Schwester sagt ihm immer wieder, dass er ins Fitness gehen soll. «Ich möchte gehen, ich denke es ist gut, aber dann fehlt mir die Motivation», sagt er. Auch besser ernähren möchte er sich. Aber wenn er koche, bleibe ihm weniger Zeit zum Spielen. Am meisten vermisst er Rösti mit Kalbsbratwurst, das kocht ihm sein Vater, wenn er in der Zwischensaison von September bis Januar zurückkehrt nach Genf. Viel möchte er eigentlich tun: den Ausländer C Ausweis gegen den roten Pass tauschen, Autofahren lernen, die Pyramiden in Ägypten sehen. Karim könnte all diese Träume verwirklichen, Geld hat er genug verdient – was ihm fehlt, ist die Zeit. Trotz vieler Nullen im Kontostand, beim Einkaufen achtet Karim genau auf den Preis. Das habe er von seinem Vater gelernt. Auch hat er in Deutschland keinen Handyvertrag abgeschlossen. Er hält sich eh meistens in Räumen mit WLAN auf. «Und wenn ich draussen bin, kann ich auch zwei Stunden ohne Internet leben.» SURPRISE 382/16

Nachtrag Wie schnell alles vorbei sein kann: Kurz nachdem ihn unsere Autorin in Berlin getroffen hatte, war für Karim Benghalia Schluss. Das Team Roccat ersetzte ihn durch einen neuen Spieler, da sie «mit seiner Leistung nicht mehr 100 Prozent zufrieden waren», wie es auf Anfrage heisst. Karim sagt, er habe sich wohl zu wenig angestrengt. «Ich bin weniger motiviert, vielleicht liegt es am Game, vielleicht auch daran, weil ich es seit Jahren nonstop spiele.» Zurzeit ist er zurück in Genf. Was er in Zukunft machen wird, ist offen. Vielleicht wird er versuchen, wieder einen Vertrag zu kriegen. So genau weiss er das noch nicht.

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Neue e n Kolum

Moumouni … … spricht deutsch Als ich das erste Mal in der Schweiz mit weissen Deutschen über Diskriminierung gesprochen habe, musste ich lachen. Da sitzen diese bei der Uni angestellten Steffis und Thorbens mit mir in einer Runde, sind für mich kaum unterscheidbar von den Leuten, die mich in Deutschland immer fragen, wo ich denn «wirklich» herkomme, und beklagen sich über Rassismus und Diskriminierung aufgrund ihrer Herkunft. Das klang einfach absurd für mich. Ich bin in München geboren, schwarz (zumindest halb, aber genug, um ständig für mein gutes Deutsch gelobt zu werden), muslimisch und eine Frau. Ich verdiene mein Geld teilweise damit, für One-Love-Veranstaltungen Texte über Rassismus zu schreiben, vorzutragen und dafür Beifall, Wohlfühlgelaber oder gar Mitleid zu bekommen. Ich studiere Ethnologie und Wirtschaft; wenn jemand fragt, was

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man damit werden kann, sage ich spasseshalber «Menschenhändlerin», in Wahrheit ist es nämlich nichts. Ich könnte also sagen, ich kenne mich aus mit Diskriminierung, sei es aufgrund meiner Hautfarbe, Religion, meines Geschlechts oder Studienfachs. Hier in der Schweiz habe ich gelernt, aufgrund meiner bisher einzigen nicht-diskriminierbaren Eigenschaft – deutsch sein – gedisst zu werden und habe fast ein bisschen Freude daran. Aber klar, ich verstehe, dass es für Leute, die Diskriminierung nicht gewohnt sind, schwierig ist und weh tut, das zu erleben. Das tut mir leid. Die Steffis und Thorstens wohnen seit mehreren Jahren in Zürich, haben einen guten Job und teilweise kaum Schweizer Freunde. Zürcher seien weniger kontaktfreudig. Am Arbeitsplatz haben sie sich zur Crew der Deutschen zusammengetan. Wir sprechen über die Sprache, keiner von ihnen kann Schweizerdeutsch. Ich überlege, ob ich einen zynischen Witz in Richtung «Integration?!» oder «Parallelgesellschaft!» machen soll, Begriffe, die in Deutschland hauptsächlich einem rassistischen, islamophoben Diskurs dienen. Ein Freund von mir, Deutschtürke, freute sich, als er hier das erste Mal als «Scheiss Dütsche» beschimpft wurde: «Endlich erkennt mal jemand, dass ich deutsch bin! In Deutschland heisst es immer ‹Scheiss Kanake!› » Ich lebe seit fünf Jahren in der Schweiz. Ich hatte das Glück, mit meinen kleinen Cousinen

Schweizerdeutsch zu lernen. Glück, weil es nicht so amüsant ist, das in ungeschütztem Rahmen zu tun. Schweizer reagieren oft empfindlich darauf, wenn es noch nicht authentisch klingt. Ein «-li» zu viel und schon bekommt man den einen oder anderen hässigen Kommentar. Inzwischen lachen mich meine Freunde in Deutschland für meine Helvetismen aus, denn ich habe angefangen, fliessend und einigermassen fehlerfrei eine Mischung aus Züri- und Aargauerdütsch zu schwätzen (Der Rest der Deutschschweiz schreit: «Ou, gruusig!»). Es hat lange gedauert, bis ich das Kinderschweizerdeutsch losgeworden bin, (Pfusimockä, Füdli, Nuggi, Schnäbi, etc.) und sich mein Sprech an mein Alter angepasst hat (hueregeil, lässig, futzdumm, etc.). Ich fühle mich wohl hier, und die meisten meiner Freunde sind Schweizer. Wenn man mein Sprachniveau quantifizieren möchte, so habe ich wahrscheinlich C2. Das ist die Stufe, auf der man eloquent über «diä huere Dütsche» ablästern kann. Fatima Moumouni ist Spoken-Word-Artistin. Ihre Kolumne erscheint ab sofort einmal monatlich an dieser Stelle – zwar zu einem Hungerlohn, aber immer noch besser, als Menschenhändlerin zu werden. www.fatimamoumouni.com

Rahel Nicole Eisenring ist freie Illustratorin für zahlreiche Zeitungen und Magazine. www.raheleisenring.ch SURPRISE 382/16


Buch Helvetischer Blutdurst BILD: CHRIS MAROGG

Bereits zum zweiten Mal haben die beiden Schweizer Krimi-Autorinnen Mitra Devi und Petra Ivanov Kriminalgeschichten aus allen Landesteilen in einer Anthologie zusammengetragen. Sie zeigen damit, wie vielseitig sich das boomende Genre hierzulande entwickelt. VON MONIKA BETTSCHEN

Es war auf einer Zugfahrt, als die beiden befreundeten Autorinnen Mitra Devi und Petra Ivanov beschlossen, eine Anthologie mit Schweizer Krimi-Kurzgeschichten zu veröffentlichen. «Wir waren auf der Rückfahrt von der Ausstellung ‹Mord und Totschlag› im Historischen Museum Bern, schauten aus dem Zugfenster und malten uns aus, was sich wohl hinter den Fassaden abspielen mochte. So entstand die Idee, Krimis in einem Buch unter dem Titel ‹Mord in Switzerland› zu vereinen», sagt Mitra Devi. Seit dieser Zugfahrt sind vier Jahre vergangen, der erste Band war ein Erfolg, und Ende August erscheint nun die zweite Anthologie, diesmal auch mit Übersetzungen von Autoren aus den anderen Sprachregionen. «Man merkt diesen Texten die andere Mentalität an. So ist zum Beispiel die Geschichte aus Genf urban und kosmopolitisch, während jene aus dem Bündnerland alpin gefärbt ist», so Devi. Damit wird auch die Vielfalt der Schweizer Krimiszene offensichtlich. Seit einem guten Jahrzehnt erlebt das Genre einen regelrechten Boom. «Es gibt zahlreiche Krimis, die sich regional sehr gut verkaufen, da ihre Handlungen in einem Ort verankert sind», erklärt Mitra Devi. Die Geschichten würden tendenziell immer individueller, und häufig spiele der Background der Autoren hinein, wie etwa beim indisch-stämmigen Autor Sunil Mann und dessen Hauptfigur Detektiv Vijay Kumar. Der Schweizer Kriminalroman werde je länger je globaler. Die Autorinnen und Autoren würden mit einem stärker werdenden Selbstverständnis in grösseren Dimensionen denken. «Man überlässt Stoffe wie internationale Drogenkartelle oder Pharmamultis nicht mehr nur den Autoren aus den USA oder Skandinavien», freut sich Devi. Dem skandinavischen Krimi eile der Ruf voraus, sehr abgründig zu sein, dem amerikanischen haftet das Image des Thrillers mit beschränktem Tiefgang an und englische Krimis gelten als besonders psychologisch. «Was ein typisch schweizerischer Krimi genau ist, wird sich erst langsam entwickeln. Unsere Krimis vereinen die grossen Strömungen zu etwas Eigenem», stellt Devi fest. Unter dem Einfluss von TV-Krimiserien wie zum Beispiel CSI lässt sich in den Krimis eine Veränderung im Schreibstil beobachten. «Man springt von Szene zu Szene und baut Cliffhanger ein. Es ist eine visuelle Sprache erkennbar», sagt Devi. Krimischreiben sei für sie auch deshalb so reizvoll, weil dieses Genre von Tempo, Spannung und dem Aufdecken von Geheimnissen angetrieben werde. Die These, dass das Bedürfnis nach Krimis ansteige, je friedlicher ein Land sei, findet Mitra Devi schlüssig. «Auch Skandinavien ist politisch sehr stabil, doch die Krimis von dort sind aussergewöhnlich düster. Ich habe einmal Arabischunterricht bei einem Lehrer aus dem kriegsgeplagten Irak genommen, der sich dafür nach harmonischen Inhalten sehnte, wie sie in Liebesromanen vorkommen.» Wahrscheinlich gehe es bei der Wahl des Lesestoffs um einen Ausgleich. «In jedem Menschen existiert Hell und Dunkel. Der Fall Natascha Kampusch hat gezeigt, dass SURPRISE 382/16

Die können kein Wässerchen trüben. Aber schreiben können sie so, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft: Petra Ivanov (l.) und Mitra Devi.

unsere beschaulichen Dörfer trügerische Idyllen sein können, und im Buch wagen wir den Blick in diese nahen Abgründe», so Devi. Auch wenn Krimis populär sind, werden sie im deutschsprachigen Raum oft nicht als Literatur, sondern als Unterhaltung betrachtet und in Feuilletons dementsprechend kaum besprochen. «Zu Unrecht. Selbstverständlich dienen Krimis der Unterhaltung, aber sehr viele haben Tiefgang und transportieren eine Message», sagt Devi. Auch die Wertschätzung der literarischen Arbeit in Form von Honorar ist bescheiden. Hier offenbaren sich die Schattenseiten des Autorendaseins. «In der Schweiz können vielleicht ein knappes Dutzend Autoren ausschliesslich vom Schreiben leben, die anderen müssen parallel dazu in verwandten Berufen arbeiten, um über die Runden zu kommen», sagt Mitra Devi. Wolle man wirklich vom Schreiben leben, müsse man sich auf ein Leben als Allrounder einstellen. «Neben dem Schreiben muss man sich selbst vermarkten, eine gute Homepage haben, Netzwerke pflegen und an Lesungen präsent sein.» Durch all die Gratiszeitungen seien viele Leute nicht mehr bereit, Literatur fair zu honorieren und erwarten nicht selten Leistung fast zum Nulltarif. «Der arme Poet ist auch in der Krimiszene weit verbreitet.» ■ Mitra Devi und Petra Ivanov (Hrsg.): «Mord in Switzerland – 18 Kriminalgeschichten», Band 2, Appenzeller Verlag, ab Ende August im Schweizer Buchhandel

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Kultur

Rosis Gespür für knackende Äste ist ein Gespür für die Welt.

Dieser Mann hat einst John Travolta zum Tanzen gebracht.

Kino Funkstimmen in der Luft

Filmfestival Grease im Gerbergässli

Gianfranco Rosis «Fuocoammare» ist ein Dokfilm über das Flüchtlingsdrama vor Lampedusa. Er zeigt sinnliche und schöne Bilder, die nichts beschönigen.

Das 8. Gässli Film Festival in Basel zeigt 50 Werke lokaler und internationaler Regisseure. Und lässt das Publikum über New York fliegen.

VON DIANA FREI

VON EVA HEDIGER

In den Weiten der Landschaft knattert ein Mofa. Karge Felsen. Ein offenes Meer. Lichtkegel gleiten übers Wasser. Unterwasseraufnahmen eines Tauchers. Dann zwei Jungs, die konzentriert Steinschleudern basteln. «Fuocoammare» ist ein sinnlicher, poetischer Film über ein schweres Thema. In Lampedusa, vor dessen Küsten in den letzten Jahren Tausende afrikanischer Bootsflüchtlinge gestorben sind, hören wir italienische Schnulzen und sehen einen Radiomoderator, der Wünsche an die Liebsten entgegennimmt: mit tanto amore, das Radiowunschkonzert wird zum letzten Hort der heilen Welt. Selbst ein Lied wie «Fuocoammare», Feuer auf See, wirkt nur noch nostalgisch, auch wenn es auf den Zweiten Weltkrieg anspielt. Gianfranco Rosis Dokumentarfilm hat ein Gespür für die Landschaft, für die Stimmung der Insel, und er hat ein Gehör für die knackenden Äste in der Dunkelheit, wenn die beiden Lausbuben mit der Steinschleuder in der Hand durch die Nacht streifen. Es folgen brüchige Stimmen über Funk, die von Flüchtlingsbooten in Seenot berichten, und die Montage führt uns vom Meeresrauschen direkt zu Überwachungsmonitoren: Der Rhythmus bleibt, die Assoziationen ändern sich. Die Tragödie schleicht sich ganz langsam ein. Gesichter hinter Scheiben zunächst, nicht viel mehr. Das Elend wird sich im Verlauf des Films subtil steigern, bis hin zu den Toten in den Leichensäcken und den Rettungsleuten in Schutzanzügen. In langen Einstellungen nimmt der Film den Ort und die Menschen in sich auf. Die goldenen Wärmepelerinen wirken für einen Moment wie eine glitzernde Weihnachtsbaumverzierung: schön als Bild, ohne beschönigend zu sein. Denn da sind gleichzeitig die Körperkontrollen durch die Sicherheitskräfte, der medizinische Mundschutz des Personals, die Fotos der Flüchtlinge, die nummeriert sind wie Sträflinge. Rosi bewegt sich nah an einer Spielfilmdramaturgie, indem er in mehreren Einzelepisoden den kleinen Geschichten der Insel nachspürt, um die Flüchtlingstragödie für die Zuschauer erst später über die Idylle hereinbrechen zu lassen. Die Toten verdrängen die Einzelepisoden zunehmend, der Fokus verschiebt sich. Und die grossen Sorgen der Welt brechen in die Welt der kleinen Geschichten ein.

Das neue Autokino in Pratteln und das etablierte Gässli Film Festival mitten in der Stadt: Beides verdanken die Basler Giacun Caduff. Er studierte in den USA Film, kehrte vor sieben Jahren zurück – und führte wenige Monate später das erste Gässli Film Festival durch. Im letzten Sommer haben es rund 2000 Menschen besucht – ein neuer Rekord. Der mehrtägige Anlass findet noch immer auf dem – kleinen – Rümelinsplatz beim Gerbergässlein statt. «Auch an der Grundidee halten wir fest», erklärt Festivalgründer Giacun Caduff. «Wir wollen die Basler Szene stärken.» Die Werke, die um den Gässli-Hauptpreis und um den Nachwuchspreis kämpfen, müssen irgendwie mit der Stadt verbunden sein. «Das kann durch einen Basler Kameramann sein oder durch einen Regisseur, dessen Heimatstadt Basel ist.» Insgesamt werden in vier Kategorien Preise vergeben. «So werden alle Levels abgedeckt», meint Giacun Caduff. «Wir möchten dem Publikum schliesslich zeigen, was andere Kreative so machen. Nicht nur in der Schweiz.» Deshalb sind auch Filme zu sehen, die bereits mit einem Oscar ausgezeichnet wurden. Filmproduzent und Festivalleiter Caduff lädt an jedes Gässli Film Festival einen Ehrengast ein, der seine Werke vorstellt, Tipps gibt und Tricks verrät. Dieses Jahr reist Randal Kleiser an, wie Giacun Caduff verrät. «Heute ist er vielleicht in Vergessenheit geraten, aber in den Achtzigerund Neunzigerjahren hat er grossartige Filme gedreht.» So mag es sein, dass der Name Kleiser dem breiten Publikum nicht mehr viel sagt, während die berühmtesten Filme des heute 70-jährigen Regisseurs jeder kennt: «Grease» mit John Travolta und «The Blue Lagoon» mit Brooke Shields. Dieses Jahr bietet das Programm zudem einen besonderen Schwerpunkt: Vom 29. August bis zum 4. September ist auf dem Gässli eine Virtual-Reality-Experience-Installation zu sehen. Ein Kino-Erlebnis, bei dem sich das Publikum spezielle Brillen aufsetzt und so das Gefühl hat, mitten im Geschehen zu sein. «Solche Filme wurden noch nie an einem Deutschschweizer Festival gezeigt», erklärt Giacun Caduff. Besonderes Highlight? Zwei Tage lang haben die Besucherinnen und Besucher Zeit, die Installation «Birdly» zu erleben: Sie zeigt New York aus der Vogelperspektive.

Gianfranco Rosi: «Fuocoammare», 108 Min., I/F 2016. Der Film läuft ab

Gässli Film Festival, Mo, 29. August bis So, 4. September, Gerbergässli, Basel

1. September in den Deutschschweizer Kinos.

www.baselfilmfestival.ch

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

«Löcher und Tore» heisst die Fotoarbeit zur Audio-Installation.

Audio-Installation Der Adlerblick der Ausgegrenzten Ein Rechercheprojekt der Berner Künstlerin und Soziologin Julia Weber thematisiert die Ursachen und Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit. VON MONIKA BETTSCHEN

Es ist nicht einfach, in der heutigen Arbeitswelt seinen Platz zu behaupten. Die Grenze zwischen Beruf und Freizeit ist verwischt, stundenlanges Pendeln ist Standard und nicht nur der Arbeitgeber, sondern auch man selbst stellt hohe Ansprüche an die eigene Leistung. Eine Kursabweichung kann eine Abwärtsspirale in Gang setzen, an deren Ende man sich ganz weit unten wiederfindet, ausgemustert und entkräftet. Die Berner Künstlerin und Soziologin Julia Weber leitet seit vier Jahren Fotoworkshops für Langzeitarbeitslose. «Berührt von diesen Begegnungen reifte in mir der Wunsch, in einem Kunstprojekt die Stimmen dieser Menschen hörbar zu machen», sagt Weber. «Wer nach Kündigung oder Krankheit schon mehrere Jahre ausserhalb des Erwerbslebens steht, hat oft eine kritische Distanz zu Machtstrukturen in der heutigen Gesellschaft. Dieser Adlerblick lässt Betroffene sehr reflektiert darüber erzählen, wie Ein- und Ausgrenzung funktionieren und wie sie darin verwickelt sind.» Die Künstlerin führte mehrstündige Interviews. Entstanden ist ein Audio-Archiv mit Lebensgeschichten, das stetig anwächst. Die Audioskripte, eine Mischung aus Verdichtungen und Fiktion, setzen sich aus biografischen Ereignissen zusammen. Die Geschichten werden von einer Schauspielerin und einem Schauspieler gesprochen. Da ist zum Beispiel jener Mittfünfziger, der eine steile Karriere im Versicherungssektor hinlegte, nach der Scheidung ins Ausland auswanderte, zurückkehrte, mit 42 einen Herzinfarkt erlitt und so Schritt für Schritt den Anschluss verlor. 600 erfolglose Bewerbungen und schliesslich ein erfolgloser Selbstmordversuch. Unerbittlich reiht sich Ereignis an Ereignis. Und während man zuhört, wird einem bewusst: Es kann jeden treffen. Das macht betroffen, ein Denkprozess über das Verhältnis zum eignen (Arbeits-)Leben setzt sich in Gang. «Flexibilisierung und Beschäftigungsformen wie Teilzeit oder Temporär begegnen vielen in irgendeiner Form einmal. Ich möchte aufzeigen, dass ganz unterschiedliche Biografien in einem Dilemma münden können. Die Prekarisierung von Arbeit und Leben betrifft uns alle, unabhängig vom sozialen Milieu», so Julia Weber.

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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten

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Coop Genossenschaft, Basel

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Treuhand U. Müller GmbH, Bern

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Lions Club Zürich-Seefeld, Zürich

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Supercomputing Systems AG, Zürich

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Fraumünster Versicherungstreuhand AG, Zürich

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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AnyWeb AG, Zürich

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A. Reusser Bau GmbH, Recherswil

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Kreislauf 4+5, Zürich

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Hervorragend AG, Bern

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Frank Türen AG, Buchs

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Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

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Familie Iten-Carr Holding AG, Zug

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Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Imbach Reisen AG, Wanderreisen, Luzern

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Institut und Praxis Colibri, Murten

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Julia Weber: «Sie ist eine Wiederverwerterin – eine Rechercheprojekt zu Prekarität, Arbeit und Widerstand», Mi, 24. August bis Sa, 17. September, Kunstraum Les Complices, Zürich, www.lescomplices.ch SURPRISE 382/16

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Ausgehtipps

Spektakuläres auch in der Luft.

Zürich Strassenkunst am See Das Theaterspektakel lockt am Rande Zürichs wieder mit seinem üppigen Programm. Wer sich nicht entscheiden kann oder nicht über das nötige Kleingeld verfügt, kann auch einfach mal spontan vorbeischauen. Neben international renommierten Aufführungen bietet der Anlass immer auch eine Bühne für Strassenkünstler aus der ganzen Welt. Da tanzen Kinder von den Strassen der malischen Hauptstadt Bamako, da versucht sich das Istanbul Queer Art Collective jeglicher Könnerschaft zu entziehen, ein Kinderbuch über den Tod kommt auf die Bühne oder zwei Akrobaten wollen herausfinden, wie sie ihre Angst überwinden können. (bc) Theaterspektakel Zürich, täglich bis 4. September jeweils spätnachmittags, Zentralbühne, Landiwiese,

Die vier Schweden von Millencolin – ohne Rollbrett.

Zeit für eine neue Farbe?

Luzern Kultur im Knast

Basel Textiles tauschen

Auf einem Hügel am Rand von Luzern steht der Sedel. Die Aussicht vom Dach des ehemaligen Gefängisses ist berauschend: Wer nach Norden blickt, sieht die Luzerner Agglo, das Hinterland, den Aargau. Nach Süden erhascht man Rotsee, Pilatus, die Alpenkette. Doch das interessiert die meisten Benutzer des Gebäudes wenig: Seit 1981 – nach den Luzerner «80er Unruhen» – dienen die Zellen der lokalen Musik- und Künstlerszene als Proberäume und Ateliers. In der ehemaligen Kantine treten Bands aus Luzern und der ganzen Welt auf. Das tun sie auch am 2. und 3. September. Für einmal allerdings spielt die Musik draussen: Zum 35-jährigen Bestehen des Sedel-Kulturzentrums verlassen die Bands die Zellen und treten ans Tageslicht und auf die Openair-Bühne. Dazu erhalten sie Unterstützung aus dem Ausland, am Samstag etwa von den schwedischen Rollbrett-Punkern Millencolin. (bc)

Sie kennen das: Der Kleiderschrank platzt fast aus allen Nähten – und doch findet man nichts zum Anziehen. Die Hose passt nicht mehr, der Rock ist einen Tick zu lang, das Hemd hat die falsche Farbe und der neue Pulli vom letzten Einkauf, tja, den hätte man doch lieber im Laden gelassen. Kein Problem – zumindest in Basel. Raffen Sie alles zusammen, packen es in eine Tasche und gehen Sie zur Kleiderparty ins Quartierzentrum LoLa. Hier kann all das, was einem nicht mehr passt, gegen Kleidungsstücke eingetauscht werden, die anderen nicht mehr passen. Und am Schluss haben alle neue Klamotten im Schrank und sind glücklich – ohne einen Franken ausgegeben zu haben. (win) Kleidertausch-Party, Fr, 9. September, 14 bis 17.30 Uhr, Quartierzentrum LoLa, Lothringerstrasse 63, Basel, www.quartiertreffpunktebasel.ch/lola

Sedel Openair, Fr, 2. September ab 18 Uhr und Sa, 3. September ab 14 Uhr, Sedelhof 2, Emmenbrücke. www.openair.sedel.ch

Anzeige:

Kreuzworträtsel GewinnerInnen aus Heft Nr. 379 1. Platz Urs Binggeli, Steffisburg

Zürich.

2. Platz Patrik Suter, Ennetbaden Robert Seiffert 3. Platz Rosemarie Imhof, Allschwil Miriam Rothen, Allschwil Alois Bloch, Arlesheim

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Mandala malen mit der Maschine.

Vom Estrich geholt: Schaupuppen waren einst der letzte Schrei.

Bern Maschinen können auch Kunst

St. Gallen Die Welt zu Gast

Roboter tun alles, was man ihnen sagt. Andres Wanner nutzt das in seinem Projekt «The Robot Quartet» aus. Er gibt vier Zeichnungsrobotern dieselben Anweisungen. Die Wägelchen fahren auf einer kleinen Leinwand los und kommen sich in die Quere. Daraus ergibt sich ein abstraktes Bild – mit Fehlern und Unvorhergesehenem. Wanner hat diese Installation schon 2012 in Kanada gezeigt. Nun ist sie am 9. September im Naturhistorischen Museum in Bern zu Gast, im Rahmen des «Mad Scientist Festival». Die Veranstaltung nimmt sich der Beziehung zwischen Mensch und Maschine an: Sind Maschinen Monster oder beste Freunde? Neben weiteren Installationen lädt das Museum zu Film, Musik, Tanz und Performances. Dazu zeigt das Kino Rex ab 26. August eine Filmreihe eigens zum Thema «intelligente Künstlichkeit». (bc)

Die Ostschweizerische Geografisch-Commercielle Gesellschaft St. Gallen versuchte Ende des 19. Jahrhunderts neue Märkte in Afrika zu erschliessen. Eine Gruppe Industrieller förderte eine Firma in Südafrika mit 100 000 Franken, doch die Geschäfte liefen nicht. Nach einigen Jahren brachen die Kontakte nach Afrika ab. Übrig blieb eine Sammlung von Kunst- und weiteren Gegenständen. Um diesen eine Heimat zu geben, half die Gesellschaft bei der Gründung des Völkerkundemuseums 1921. Und man stattete das Museum auch gleich mit Schaupuppen aus. Diese lebensgrossen Figuren waren damals schwer in Mode. Es gab kein TV, Reisen war gefährlich und teuer. Und so bildete man Menschen mit Puppen nach und stattete sie mit Kleidern und Accessoires aus der Ferne aus (laut Kritikern nahm es die Hersteller-Firma dabei nicht immer genau). So konnte das St. Galler Publikum damals einen Kajakfahrer aus Grönland, einen Häuptling aus Fidschi, einen Indianer aus Oregon, einen Krieger der Massai oder einen Pygmäen bestaunen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Figuren nicht mehr gefragt, einige landeten auf dem Estrich. Nun hat das Museum 16 davon restauriert. (bc)

Mad Scientist Festival, Sa, 9. September, 19 bis 2 Uhr, Naturhistorisches Museum, Bernastrasse 15, Bern. www.madscientist-festival.ch

Stille Gäste aus aller Welt, Ausstellung noch bis 10. September, Historisches und

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Völkerkundemuseum, Museumsstrasse 50, St. Gallen

Aarau Bargeflüster Sex on the Beach, Singapore Sling und Cuba Libre – jeder halbwegs erwachsene Mensch weiss, dass es sich um Cocktails dreht, wenn diese Namen fallen. Aber was haben Cola, Zitrone, Eis und Rum mit einem «freien Kuba» zu tun? Und welchen Rum muss man nehmen, damit es möglichst gut schmeckt? Diese und andere Geheimnisse erzählt Ihnen der Barkeeper in der Waldmeier Bar in Aarau. Jeden Dienstag können interessierte Gäste dort tief ins Glas gucken und dabei lernen, was hinter den bunten Mischgetränken mit den kreativen Namen steckt. Und damit der Tag danach nicht mit Kopfschmerzen winkt, hält sich die Bar strikt an die Regel: ein Cocktail und seine Geschichte pro Abend. Chin-chin! (win) Waldmeier Bar, jeden Dienstag, 20 bis 20.30 Uhr, Graben 31, Aarau, ohne

Einer Theorie nach bedeutet «Mojito» sowas wie «kleiner Zauber». SURPRISE 382/16

Voranmeldung und gratis

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Verkäuferporträt «Hauptsache, ich kann arbeiten» Ermias Teklay (40) stammt aus Eritrea und lebt seit acht Jahren in der Schweiz. Fast so lange wohnt er in Langenthal, wo er auch Surprise verkauft. Er hofft auf eine Festanstellung, damit er selbst für sich und seine kleine Tochter sorgen kann.

«Ich bin 2008 in die Schweiz gekommen und lebte fast von Anfang an in Langenthal. Dort war ich lange Zeit einer von wenigen dunkelhäutigen Menschen – ich hatte sogar das Gefühl, ich sei überhaupt der erste. Als ich vor sieben Jahren angefangen habe, beim grossen Coop und auf dem Markt in Langenthal Surprise zu verkaufen, habe ich jedenfalls fast nie andere Dunkelhäutige gesehen. Zu den Leuten in Langenthal, die ich unter anderem durch den Heftverkauf kenne, habe ich einen guten Kontakt. Manchmal gehe ich mit meinen Bekannten, darunter sind jüngere und ältere Menschen, Kaffee trinken. Es kommt auch vor, dass wir zusammen essen, bei mir oder bei ihnen. Wenn mich die Leute längere Zeit nicht an meinem Verkaufsort sehen, machen sie sich Sorgen und fragen beim nächsten Mal, ob bei mir alles in Ordnung ist. Es ist auch passiert, dass sie mich deswegen angerufen haben, und sogar Briefe habe ich schon erhalten! Ich bin den Menschen in Langenthal sehr dankbar dafür, wie sie mich aufgenommen haben. Durch den Surprise-Verkauf habe ich nicht nur Kontakte zu den Leuten in Langenthal geknüpft, sondern habe auch angefangen, Strassenfussball zu spielen. Das macht grossen Spass, nur leider fehlt mir jetzt wegen der Arbeit und meinem veränderten Privatleben die Zeit dazu. In Langenthal gefällt es mir sehr gut, und ich möchte eigentlich überhaupt nicht wegziehen. Aber vielleicht werde ich es trotzdem eines Tages tun, weil ich in Genf eine kleine Tochter habe. Sie heisst Diamond und wird im September zwei Jahre alt. Auf die Welt kam sie mit einem nach innen gedrehten Fuss. Bis jetzt war eine Operation nötig, und in der Nacht muss sie eine Schiene tragen. Zudem hat sie Spezialschuhe. Ihre Mutter und ich sind zwar nicht mehr zusammen, aber ich kann meine Tochter trotzdem über das Wochenende besuchen gehen. Dass mir oftmals das Geld für den Zug nach Genf fehlt, macht mich sehr traurig. Und es deprimiert mich auch, dass ich meinen Teil des Unterhalts für sie nicht bezahlen kann. Diamond ist für mich alles, und ich möchte als Vater gut für sie sorgen können. Seit ich in der Schweiz bin, hat es leider noch nie mit einer Festanstellung geklappt. An meine Erfahrungen aus Eritrea konnte ich nicht anknüpfen. Dort habe ich als Autospengler gearbeitet und bei einer Firma, die Aluminium-Fenster herstellte. Meine Kenntnisse reichen hier in der Schweiz nicht aus, um auf diesen Gebieten zu arbeiten. Deshalb habe ich einige Zeit in der Zug-Reinigung bei Team Sauber von Bernmobil, also den Berner Verkehrsbetrieben, gearbeitet und ein halbjähriges Praktikum als Reinigungsmitarbeiter in einem Altersheim absolviert. Im Moment bin ich im Integrationsprojekt maxi.mumm der Stadt Langenthal, wo ich zweimal pro Woche beim Bewerbungen schreiben unterstützt werde und wo ich jeweils vormittags im Bereich Hauswartungen mitarbeite. Wir reinigen Treppenhäuser, schauen zu den Pflanzen rund um die Häuser und jäten Unkraut. Das sind zum Teil Arbeiten, die ich schon von meinem anderen Job bei einer Gartenbaufirma in Wiedlis-

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AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

bach kenne. Dort kann ich, sofern das Wetter gut ist, am Nachmittag arbeiten. Blöd ist es, wenn es so viel regnet wie im Juni, da habe ich viel weniger verdient. Sowohl die Hauswartsarbeiten wie auch die Gartenarbeiten gefallen mir, und ich hoffe nun, dass ich mit den Erfahrungen, die ich momentan sammle, und mit der Unterstützung der Bewerbungswerkstatt so bald wie möglich eine Stelle finde. Es kann auch in einem ganz andern Bereich sein, auf der Baustelle oder im Strassenbau. Hauptsache, ich kann arbeiten und genügend Geld verdienen, damit ich mir keine Sorgen mehr machen muss, wie ich Miete, Krankenkasse, Versicherung, meine Arbeitskleider oder die 62 Franken für den Zug nach Genf bezahlen soll.» ■ SURPRISE 382/16


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Andreas Hossmann Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Oliver Guntli Bern

Roland Weidl Basel

Daniel Stutz Zürich

Markus Thaler Zürich

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

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382/16 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 382/16

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Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

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Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der Deutschschweiz um den Titel des Schweizermeisters. Einige Spieler nehmen am Homeless World Cup teil. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsleitung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (Mitglied der Geschäftsleitung), Jannice Vierkötter (Mitglied der Geschäftsleitung) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami, verantwortlich für diese Ausgabe), Beat Camenzind (bc), Diana Frei (dif), Thomas Oehler (toe), Sara Winter Sayilir (win), redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Philipp Breu, Eva Hediger, Laura Kelly, Dimitri Koutsomytis, Ellen Mathys, Isabel Mosimann, Ramona Thommen, Karin Wenger Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 20 300, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Sara Huber, Christian Sieber, Kanzleistr. 107, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Fabian Steinbrink Scheibenstrasse 41, 3014 Bern, bern@vereinsurprise.ch Café Surprise T +41 61 564 90 50 Zaira Esposito (Leitung), z.esposito@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassenfussball T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach), d.moeller@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T +41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Beat Jans

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 382/16


BILD: ZAE

Surprise – mehr als ein Magazin

Café Surprise Setzen Sie sich! Ein Kaffee ist mehr als ein Kaffee: Meist ist die Konsumation von Getränken oder Speisen notwendig, um in einem Gastronomiebetrieb verweilen zu können. Der Verein Surprise hat aus diesem Grund vor zwei Jahren das Projekt «Café Surprise» lanciert. Die Idee dahinter ist einfach: Mit einem von anderen Gästen spendierten Kaffee erhalten armutsbetroffene Menschen die Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilzuhaben, zu beobachten, Bekannte und Fremde zu treffen oder ganz einfach mittendrin zu sein. Dies fördert ihre Lebensqualität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für Gäste und Gastronomen ist es eine einfache und charmante Möglichkeit, sich sozial zu engagieren. Bietet ein Gastronomiebetrieb Café Surprise an, so können Gäste zusätzlich zum selbst konsumierten Getränk einen Kaffee spendieren. Dieser wird Café Surprise genannt und ist gut sichtbar mit einem Strich an einer Tafel im Gastraum notiert. Er kann von einer Person mit bescheidenem Portemonnaie gratis bestellt werden. Dieses Solidaritätskonzept ist als neapolitanische Tradition mit dem Namen «Caffè sospeso» vor über hundert Jahren entstanden und wird in dieser Stadt noch heute erfolgreich weitergeführt. Statt auf einer Tafel werden hier die Kaffees auf einem Zettel notiert und sogar mit dem Namen des Spenders vermerkt. Pino De Stasio, Geschäftsführer der historischen Bar Settebello in Neapel, die seit einigen Jahren «Caffè sospeso» anbietet, äussert sich sehr positiv in Bezug auf das Angebot. Dieses, hebt er hervor, wird in der süditalienischen Stadt von armutsbetroffenen Menschen sehr geschätzt und regelmässig in Anspruch genommen. Seit diesem Jahr arbeitet De Stasio sogar mit sozialen Institutionen zusammen und gibt ihnen regelmässig Gutscheine für kostenlose Kaffees in seiner Bar. Dazu organisiert er einmal monatlich einen literarischen Abend, in dessen Rahmen die spendierten Kaffees bezogen werden können. In der Schweiz haben sich zum Start des Projekts «Café Surprise» unter Vermittlung des Vereins Surprise acht Cafés und Restaurants in Bern, Zürich und Basel zusammengetan. Mittlerweile hat sich die Anzahl der beteiligten Gastronomiebetriebe mehr als verdoppelt. So kann sich der Verein Surprise nun auf ein Netzwerk von 24 Cafés, Bars und Restaurants in der gesamten Deutschschweiz stützen, unter anderem eine Buvette am Rhein in Basel und ein Kiosk. Geschätzt wird Café Surprise auch von den Verkaufenden des Strassenmagazins Surprise. «Café Surprise finde ich sehr gut», sagt Markus Christen, Surprise-Verkäufer und Stadtführer. «Das Ziel darf aber nicht sein, irgendwelche Nobelschuppen für das Projekt an Land zu ziehen. Denn da gehen Armutsbetroffene nie rein. Bodenständig mit starkem Quartierbezug, das ist eine gute Grundlage.» Nicht nur der Verein Surprise bewirbt das Angebot bei Spendern und potenziellen Kaffeetrinkern. Auch die beteiligten Gastronomiebetriebe unternehmen oft Initiativen, um Café Surprise zu fördern. So hebt Beat Junker von der Kammgarn Beiz in Schaffhausen hervor: «Café Surprise SURPRISE 382/16

Der Geschäftsführer der historischen Bar Settebello in Neapel ist ein Pionier des spendierten Kaffees: Pino De Stasio.

ist eine sehr schöne Idee und wurde von unseren Gästen sehr gut aufgenommen.» Um den Konsum zu fördern, bietet das Lokal seit diesem Jahr dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk die Möglichkeit, mit Sprachschulklassen für Migranten im Restaurant Unterricht durchzuführen und dabei einen Café Surprise zu beziehen. Auch von den Mitarbeitenden und Kunden des Joli Mont in Thun wurde Café Surprise bis vor Kurzem bei den Kaffeetrinkern aktiv beworben: Diese sprachen aktiv Strassenmusiker oder Obdachlose an und luden sie zu einem Kaffee ein. Von zentraler Wichtigkeit für die Förderung der Bekanntheit des Projekts erweist sich gemäss der Geschäftsführerin, dass die Gastronomiebetriebe die «Café Surprise-Philosophie» teilen und aktiv bewerben. In enger Zusammenarbeit mit den beteiligten Gastronomiebetrieben will sich Surprise durch ein relativ einfaches Konzept für eine solidarische Gesellschaft einsetzen, in der es mehr Platz für armutsbetroffene Menschen gibt: was auch heisst für einen Sitzplatz im Café.

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Eine Tasse Solidarität! Machen Sie mit: Zwei bezahlen, eine spendieren. Café Surprise gibt es hier: In Basel BackwarenOutlet, Güterstr. 120 Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 10 Café Flore, Klybeckstr. 5 Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 Kiosk Amann, Claragraben 101 Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 Rest. Les Gareçons, Schwarzwaldallee 200 Rest. Manger et boire, Gerbergasse 81 Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 In Biel Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d In Schaffhausen Kammgarn Beiz, Baumgartenstr. 19

In Bern Café Kairo, Dammweg 43 Café Tscharni, Waldmannstr. 17a Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 Rest. Genossenschaft Bras. Lorraine, Quartiergasse 17 Rest. Löscher, Gotthelfstr. 29 Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 In Zürich Café Zähringer, Zähringerplatz 11 Sphères, Hardturmstrasse 66

www.vereinsurprise.ch/cafesurprise Ein Projekt des Vereins Surprise.


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