Surprise 383

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Nr. 383 | 9. bis 22. September 2016 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Stille Zeugen Was diese Insekten über die Atomkraft erzählen


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Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel Spendenkonto PC 12-551455-3

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Die Atomkraft spaltet die Menschen. Die einen sehen in jedem Reaktor ein potenzielles Fukushima. Die anderen halten alle für Träumer, die sich eine sichere Stromversorgung ohne AKW vorstellen können. So polemisch wird wohl auch die Diskussion zur Atomausstiegsinitiative verlaufen, die Ende November zur Abstimmung kommt und die Betriebsdauer von Schweizer AWKs auf 45 Jahre beschränken will. Dass die Debatte um die Atomkraft eine der lauten Töne ist, musste vor vielen Jahren auch die Zürcher Künstlerin Cornelia Hesse-Honegger erfahren. Sie sammelte Insekten in der Nähe von AKWs, zeichnete deren Deformationen und musste sich dafür Kritik von Wissenschaftlern gefallen lassen. Lesen Sie AMIR ALI REDAKTOR das Porträt auf Seite 8. Vor einigen Wochen machte auf Facebook ein Bild die Runde. Es zeigte einen Kioskaushang des Tages-Anzeigers vom 24. August. «Sozialhilfe: Junge werden jetzt härter angepackt», stand da in grossen Lettern. Und darunter etwas kleiner: «Post schickt Roboter statt Pöstler – so solls funktionieren». Die zwei Schlagzeilen bilden eine Kürzestformel für das Verhältnis zwischen Fortschritt, Wirtschaft und Gesellschaft: Unternehmen monetarisieren neue technische Möglichkeiten und lagern die Verluste – in diesem Fall die Stellen, die neu von Robotern übernommen werden sollen – an den Staat aus. Und der gibt die Verluste wiederum an die Betroffenen weiter. Diese Dynamik sehen wir jetzt schon, ohne Post-Roboter. Dass dies in vielen Fällen nicht haltbar ist, zeigt die Erfolgsquote bei den Einsprachen gegen Behördenverfügungen. Mein Kollege Beat Camenzind hat dazu recherchiert – lesen Sie ab Seite 14 die Geschichte darüber.

BILD: WOMM

Titelbild: Cornelia Hesse-Honegger, Skorpionsfliege aus Reuental, Nähe AKW Leibstadt. Beide Flügel auf der rechten Seite sowie das Abdomen sind deformiert. Aquarell, Zürich 1988. Reprofotografie: Peter Schälchli. © Pro Litteris.

Editorial Zeichnen gegen laute Töne

Herzlichen Dank, dass Sie Surprise kaufen, lesen und weiterempfehlen!

BILD:

© PRO LITTERIS

BILD: WOMM

BILD: FLURIN BERTSCHINGER

Inhalt 04 Aufgelesen Nicht genug 04 Vor Gericht Alles falsch gemacht 05 Basteln für eine bessere Welt Kein Papier 06 Porträt Volles Risiko 12 Ausschaffungen Ab jetzt mit Zweiklassenjustiz 20 Wörter von Pörtner Über-Opfer 21 Wir alle sind #Surprise «Kommt rüber» 22 Storyworlds Brecht im Silicon Valley 24 Kultur Modernes Mexiko 26 Ausgehtipps Irre Kunst 27 Challenge League Die syrische Feministin 28 Projekt SurPlus Eine Chance für alle 29 Stadtführer-Porträt Heiko Schmitz 30 In eigener Sache Impressum 31 Mehr als ein Magazin Schalalalala!

08 Strahlung Spuren des Unsichtbaren SURPRISE 383/16

14 Sozialhilfe Fragwürdige Amtspraxis

17 Flucht Vom Hardliner zum Helfer

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Aufgelesen News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Das Minimum reicht nicht Kiel. Wer in einer grossen deutschen Stadt wohnt und mit dem Mindestlohn von 1040 Euro netto auskommen muss, hat oft nicht genug Geld zum Leben. Das hat die Linksfraktion des Bundestags berechnet. Das Existenzminimum einer alleinstehenden Person liege bei 1053 Euro. Arbeitslosen geht es laut der Partei nicht besser: Immer mehr Bezüger von Arbeitslosen-Geld sind zusätzlich auf Hartz IV angewiesen. Inzwischen sind es 10 Prozent der Arbeitslosen.

Textilarbeiter entschädigt Hamburg. Ende 2012 brannte eine Textilfabrik bei Bangladeschs Hauptstadt Dhaka nieder. Über 100 Arbeiter kamen dabei ums Leben, rund 200 wurden verletzt. Die BilligArbeiter produzierten Kleider für bekannte Firmen wie C&A, Walmart oder KiK. Nun haben einige Firmen und Stiftungen Opfer und Hinterbliebene entschädigt. Von den 2,5 Millionen Dollar stammen eine Million von C&A. Der deutsche Discounter KiK spendete gerade Mal 150 000 Dollar, Firmen wie Karl Rieker gar nichts.

Jugend im Mittelmeer Hannover. Zehn Jugendliche aus dem norddeutschen Emden wollten nicht mehr tatenlos zusehen. Sie gründeten den Verein «Jugend rettet», sammelten 200 000 Euro an Spenden und kauften einen ausgemusterten Fischtrawler, den sie überholten und mit medizinischem Gerät ausrüsteten – geeignet, um Flüchtlinge zu retten. Bis zu 100 Menschen finden auf der «Iuventa» Platz. Unterstützt von Ärzten und Seeleuten sind die Jugendlichen jüngst Richtung Mittelmeer aufgebrochen.

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Vor Gericht Schulunordnung Schon mal von HSK-Unterricht gehört? Für Ahnungslose wie die Kolumnistin: Das Kürzel steht für Heimatliche Sprache und Kultur. In diesen Kursen werden Kinder mit Migrationshintergrund mit den Herkunftsländern ihrer Eltern vertraut gemacht. Ziel der Übung: Entwicklung einer mehrsprachigen und multikulturellen Identität – eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration. Gemäss Schulordnung des Kantons Zürich werden Kinder dafür grundsätzlich zwei Stunden wöchentlich von der Volksschule dispensiert. Auch der Angeklagte, ein Informatiker aus dem Libanon mit Schweizer Pass, und seine deutsche Ehefrau schicken ihre beiden Kinder in solche Kurse, die jeweils am Samstagvormittag um 10 Uhr stattfinden. Deshalb beantragte er deren Dispensierung für die zweite Hälfte eines samstäglichen Besuchsmorgens der öffentlichen Primarschule, an der die Kinder die 3. und 4. Klasse besuchen. Der Kontakt mit der Schule sei zuvor stets bestens gewesen, sagt der Mann, ein engagierter Vater: Für die Besuchstage unter der Woche nimmt er immer frei, um dabei zu sein. Für die ausserordentlichen Besuchstage am Samstag habe er bisher immer umstandslos eine Dispensation bekommen. Doch die neue Schulleiterin zeigt sich kleinlich und bewilligt den Dispens nicht ab 10 Uhr, sondern erst ab 11 Uhr. Daraufhin sucht der Angeklagte das Gespräch, doch die Schulleiterin geht nicht darauf ein und beharrt per E-Mail auf ihrer Entscheidung. Der Vater erhebt daraufhin Einsprache bei der Schulpflege und holt die Geschwister an dem

fraglichen Samstag kurzerhand um 10 aus dem Unterricht. Nun wendet sich die Schulleiterin ihrerseits an die Schulpflege, welche die Sache anzeigt, was den Eltern je einen Strafbefehl wegen Übertretung des Volksschulgesetzes und vorsätzlicher Vernachlässigung der elterlichen Pflichten einbringt. Pro Elternteil wird eine Busse von 200 Franken ausgesprochen, zuzüglich je 150 Franken Verfahrenskosten. Jetzt fühlt sich der Angeklagte endgültig gegängelt. Er empfindet das als Frechheit: «Ich vernachlässige meine elterlichen Pflichten nicht.» Während seine Frau die Busse zahlt, um ihre laufende Einbürgerung nicht zu gefährden, zieht der Mann vor den Richter. Mit Erfolg: Der spricht den Angeklagten frei und sagt, was wohl die meisten bei dieser Geschichte denken: «Es ist fragwürdig, dass man überhaupt hier landet wegen dieser Sache.» Schliesslich habe der Angeklagte ja keinen Dispens verlangt, weil er in die Ferien wollte. Zwar könne die Schule die Dispensierung aus gutem Grund verweigern, die HSK-Kurse hätten nicht per se Vorrang. Doch hier hätten die Behörden nicht nur den runden Tisch verweigert, sondern auch noch rechtlich alles falsch gemacht: In der ersten Benachrichtigung fehlte die Rechtsmittelbelehrung, und als sie nachgeliefert wurde, war es die falsche. Dass der Angeklagte seine Einsprache an die falsche Stelle gerichtet hatte, wurde ihm nie mitgeteilt. «Und nach der Einsprache», so der zuständige Einzelrichter, «passierte überhaupt nichts.» Der Strafbefehl erging, ohne dass es dafür eine Grundlage gegeben hätte. Yvonne Kunz ist seit 2008 als akkreditierte Gerichtsberichterstatterin wöchentlich an den Gerichten des Kantons Zürich unterwegs.

Priska Wenger ist Illustratorin in Biel und New York. SURPRISE 383/16


ILLUSTRATION: WOMM

Basteln für eine bessere Welt Besser ohne Wir alle sind Sans-Papiers – oder wie würden Sie den Moment auf dem stillen Örtchen nennen, wenn Ihnen klar wird: die Rolle ist alle? Eingeschränkte Bewegungsfreiheit, die allgegenwärtige Angst vorm Entdecktwerden, kaum Perspektive: Dass das Leben als papierlose Person hierzulande eine Tour de Force ist, sollte sich jeder vorstellen können. Was also tun? Der 66-jährige Beto, der seit 14 Jahren ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz lebt und den wir auf Seite 6 porträtieren, hofft auf sein Härtefallgesuch. Und wir Privilegierten? Machen wir das Beste draus. Und das geht so:

1. Sie brauchen: papierlose Klopapierrollen, Kleber, Klammern, Sprühfarbe, eine Schere.

2. Drücken Sie die Klopapierrollen platt und schneiden Sie diese in 1 cm breite Streifen.

3. Kleben Sie die Streifen zu einem Muster Ihrer Wahl zusammen. Fixieren Sie die geklebten Stellen vorübergehend mit Klammern, bis der Kleber trocken ist.

4. Sprühen Sie Ihre Kreation in Ihrer Wahlfarbe an und hängen Ihre Kreation an einer passenden Stelle auf. SURPRISE 383/16

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Porträt Nun zählt er die Tage Beto, 66, lebt und arbeitet seit 14 Jahren ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Jetzt will er sich nicht mehr verstecken: Ende September entscheiden die Behörden über sein Härtefallgesuch. VON MANUELA ZELLER (TEXT) UND ROLAND SCHMID (BILD)

von der Anlaufstelle für Sans-Papiers konnten ihm darauf keine befriedigende Antwort geben. Seine Dokumente sammelt er in seinem Schlafzimmer in einer überquellenden Klarsichtmappe. Ironischerweise verfügen Papierlose, wie Sans-Papiers auf Deutsch genannt werden, über stapelweise Papiere. Die Unsicherheit, nicht zu wissen, was bei der nächsten Kontrolle passiert, bedeutet für Beto, die Polizei lieber zu meiden. Also macht er sich unsichtbar. Seine Erscheinung ist ordentlich und unauffällig, er redet leise, lacht selten, nimmt kaum Raum ein. Selbst in der winzigen Wohnung wirkt er noch klein. Das Leben im Verborgenen zehrt an Betos Kräften. Erholung findet er in seinem Keller, wo er Trommeln und Gitarre spielt, peruanische Volksmusik. Und er kocht gerne. Die Küche seiner Heimat habe ein sehr hohes Niveau, erzählt er. Nicht gerade so wie die französische, aber doch sehr fein. Ob er sich noch einmal für ein Leben ohne Papiere entscheiden würde? Beto hat Schwierigkeiten, die Frage zu verstehen und ist genervt, dass seine Deutschkenntnisse nicht ausreichen. Sicherheitshalber hat er einen Tablet-PC mit Online-Wörterbuch bereitgelegt. «Könnte ich mich noch einmal neu entscheiden, würde ich mit einem Studentenvisum einreisen und hier studieren», sagt er schliesslich. «Inzwischen wüsste

Die Wohnung ist klein: Der Eingangsbereich dient als Esszimmer, links ist das Schlafzimmer mit Bett. Ansonsten: ein kleines Bad und eine Küche, die gerade genug Platz bietet, um zwei Teller abzustellen. Hier gibt es alles, was ein Stadtmensch zum Leben benötigt, nicht weniger und nicht mehr – ein Sinnbild für Betos Leben in der Schweiz. Kaum Bewegungsfreiheit, kein Quadratmeter zu viel. Sich in einem Café mit Freunden zu treffen, wäre ein Risiko. Beto, 66, Peruaner, fürchtet Polizeikontrollen. Noch – denn jetzt, nach 14 Jahren ohne Papiere in der Schweiz, hofft er auf eine Aufenthaltsbewilligung. Gemeinsam mit sieben anderen Sans-Papiers hat er im April ein Härtefallgesuch eingereicht, unterstützt von der Basler Zivilgesellschaft: Rund 30 Organisationen und über 3000 Einzelpersonen setzten ihre Unterschriften unter die Kampagne «Nicht ohne unsere Freund*innen», um den Härtefallgesuchen politisches Gewicht zu verleihen. Um halb acht Uhr abends sitzt Beto an seinem Küchentisch. Endlich Feierabend. Ohne Aufenthaltsgenehmigung steht ihm kein reguläres Arbeitsverhältnis offen. Also putzt er Häuser oder arbeitet in Gärten. Schwarz, bei Privatpersonen. Dabei liegt dem ausgebildeten Maschinenbauer sein Beruf immer noch am Herzen. «Bekomme ich eine Aufenthaltsbewilligung, Beto wurde schon zweimal von der Polizei kontrolliert – und wieder gehen werde ich versuchen, gebrauchte Maschinen gelassen. Anhand welcher Kriterien darüber entschieden wird, ist unklar. nach Peru zu exportieren», erzählt er, mit Maschinen kenne er sich aus und mit Peru ebenfalls. Derweil arbeitet er in Häusern und Gärten in Baselland, mal drei ich, wie ich legal bleiben könnte.» Nun hofft er auf einen positiven BeStunden in Reinach, mal zwei in Muttenz, jeden Tag mehrere kleine Aufscheid für sein Härtefallgesuch, um nach 14 Jahren Anonymität aus der träge. «Ich verbringe viel Zeit in Tram und S-Bahn», sagt er. Ein eigenes Sans-Papiers-Sackgasse herauszukommen. Am 26. September entscheiAuto zu haben, wäre kompliziert. Der Kauf, die Zulassung, die Versidet der Basler Justizvorsteher Baschi Dürr nach Empfehlung der Härtecherungen. «Mein peruanischer Führerschein ist vermutlich nicht mehr fallkommission darüber. Beto erfüllt die Kriterien, die Behörden hätten gültig», so Beto. genug Spielraum, um es zu bewilligen. Nun zählt er die Tage. Ein solAlles, wofür man einen Ausweis benötigt, muss er improvisieren. Die ches Gesuch einzureichen, bedeutet ein hohes Risiko: Beto musste seiWohnung lautet auf den Namen eines Freundes, der Handyvertrag ebenne Identität preisgeben. Bei einem negativen Bescheid wird er weggeso, und zu seiner Krankenversicherung hat ihm die Anlaufstelle für wiesen und muss sein Leben in der Schweiz innert kurzer Zeit aufgeben. Sans-Papiers verholfen. Schwierig wird es bei der Altersvorsorge. Sollte Der Fotograf kommt vorbei und stellt den Blitz auf. Drei Personen er einmal nicht mehr putzen können, werde er eben Maschinen exporund das Foto-Equipment, nun ist wirklich jeder Quadratzentimeter volltieren, erklärt Beto ruhig. «Am Schreibtisch arbeiten ist nicht anstrengestellt. «Machst du bitte ein Bild davon, wie ich fotografiert werde? Ich gend, das kann ich immer machen.» Mehr mag er dazu nicht sagen. schicke das dann meiner Familie», sagt Beto. Seine drei Töchter leben in Nicht nur die Zukunftsplanung, auch der Alltag ist geprägt von EinPerus Hauptstadt Lima, sie sind inzwischen erwachsen. Vor 14 Jahren schränkungen. «Wenn ich alleine unterwegs bin, passiert mir nichts. hat er sie zum letzten Mal gesehen. «Wir skypen», sagt er. Einmal hat Aber mit anderen Lateinamerikanern treffe ich mich nicht mehr», erihn eine Tochter in der Schweiz besucht. Aber auch das ist schon einizählt Beto. «Ich wurde schon zweimal kontrolliert, als ich mit lateinge Jahre her. Trotz der grossen Entfernung zu seinen Kindern und allen amerikanischen Freunden unterwegs war, einmal ganz in der Nähe von Schwierigkeiten zieht Beto das klandestine Leben in der Schweiz dem hier, bei der Bushaltestelle, und einmal an der französischen Grenze.» Leben in Peru vor. «Hier ist es sicher», erklärt er seinen Entscheid 1180 Franken Strafe musste er beim zweiten Mal zahlen. Wofür genau, knapp. Im Vergleich zu den existenziellen Herausforderungen in seinem ist ihm nicht klar. Von der Polizei kontrolliert zu werden, führt nicht Geburtsland kommen ihm Schweizer Alltagsprobleme einigermassen zwangsläufig zu Haft und Ausschaffung. Manchmal wird man auch einharmlos vor. Zwar seien die Menschen in Peru gelassener. Aber er fach wieder gehen gelassen. Manche Fälle werden aber dem Migranimmt es seinen Schweizer Freundinnen und Freunden auch nicht übel, tionsamt gemeldet, das dann über Wegweisung oder Ausschaffungshaft wenn sie sich über Kleinigkeiten die Haare raufen. Er versuche dann entscheidet. Anhand welcher Kriterien über das jeweilige Vorgehen enteinfach, sie zu trösten und sie daran zu erinnern, das Leben nicht ganz schieden wird, kann Beto nicht nachvollziehen, und auch die Berater so ernst zu nehmen. ■ SURPRISE 383/16

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Weichwanze aus der Nähe des Atomkraftwerks Gösgen. Der rechte Flügel ist kürzer.

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SURPRISE 383/16 BILD: CORNELIA HESSE-HONEGGER, AQUARELL, ZÜRICH 1988. REPROFOTOGRAFIE: PETER SCHÄLCHLI.

© PRO LITTERIS


Strahlung Das Schweigen der Wanzen Cornelia Hesse-Honegger sammelt Insekten in der Nähe von Atomkraftwerken und zeichnet deren Deformationen. Für ihre jahrzehntelange Arbeit über die kaum sichtbaren Auswirkungen von Radioaktivität wurde sie ausgezeichnet – und angefeindet.

VON STEPHANIE ELMER

Also wurde sie wissenschaftliche Zeichnerin. Im Zoologischen Museum der Universität Zürich schloss sie ihre Lehre ab. Ehrgeizig sei sie gewesen, sehr sogar. Sie schenkt sich Tee in die weisse Tasse nach. Brownies stehen in einer passenden Schale daneben. «Ich wollte die Beste sein», gibt sie zu, und fast glaubt man, ein Schmunzeln in den Augen zu erkennen. Unermüdlich schulte sie ihren Blick, verfeinerte ihre Technik. Bald konnte sie ihre Zeichnungen im Kulturmagazin Du veröffentlichen. Dass sie bei ihrer Arbeit an der Uni eine «Magd der Wissenschaft» war, wie sie es bezeichnet, störte sie nicht. «Das war mein Job», sagt sie. Irgendwann musste sie durch Röntgenbestrahlung mutierte Fliegen zeichnen, und was sie unter ihrem Mikroskop sah, erschreckte sie: «Die

Die lichtdurchfluteten Räume sind hoch. An den grossen weissen Wänden hängen ein paar kleine Bilder. Scheinbar zufällig zusammengewürfelt, gleichzeitig in perfekter Harmonie, könnte der Raum genauso gut einem Einrichtungsmagazin entsprungen sein. «Ich mag Ästhetik, das war schon immer so», sagt Cornelia Hesse-Honegger. Eines der Bilder hat sie selbst gemalt, rund eineinhalb Jahre hat sie daran gearbeitet. Feine Pastelltöne, ruhige runde Formen, die im schlichten hellen Holzrahmen etwas Beruhigendes ausstrahlen. «Das ist eine Wanze.» Zigfach vergrössert. Unten am Insekt ist ein schwarzer Punkt zu sehen. «Das ist wohl ein Geschwür», erklärt die 71-Jährige. Einmal hat sie ein Buch mit solchen Bildern veröffentlicht. «Heteroptera. Das Schöne und das Andere In Hesse-Honeggers Elternhaus gingen die grossen Künstler des 20. Jahroder Bilder einer mutierenden Welt» lautete hunderts ein und aus, auch Max Frisch kam zu Besuch. Das zeigte ihr: der Titel. Ein Kompendium über die Natur und Malen ja, von Beruf Künstlerin werden nein. das, was wir mit ihr machen: über Deformationen, ausgelöst durch atomare Strahlung. Eine unsichtbare Gefahr, für deren Wahrnehmung Cornelia Hesse-HonegTiere haben mich an Frankenstein erinnert. Ich war schockiert, welche ger seit vielen Jahren unermüdlich kämpft: mit dem Mikroskop, dem Auswirkungen menschliches Eingreifen in die Natur haben kann.» Zeichenstift und der leisen Waffe der Kunst. Dann kam Tschernobyl. Und mit dem unsichtbaren Strahlenschleier, Zeichnen und malen wollte Cornelia Hesse-Honegger bereits als der sich über die nördliche Hemisphäre legte, Angst und Bestürzung. Kind. Die Grossmutter war Beststeller-Autorin, die Mutter Grafikerin Noch immer die veränderten Fliegen im Kopf, war sich Cornelia Hesseund Herausgeberin einer Jugendzeitschrift und der Vater ein bekannter Honegger sicher, dass sich die wissenschaftliche Forschung nun auf die Künstler – Hesse-Honegger wusste früh, was das Künstlerleben bedeubestrahlten Insekten stürzen würde. Doch es geschah: nichts. Sie selbst tet. «Bei uns zu Hause gingen die grössten Künstler des 20. Jahrhunderts war erschüttert, der Schock sass tief, und irgendwie wollte sie den Exein und aus», erinnert sie sich, auch Schriftsteller wie Max Frisch kamen perten-Stimmen im Radio nicht so recht glauben, die auf Beruhigung abzu Besuch. Das zeigte der jungen Cornelia vor allem eines: Malen ja, zielten. «Ich war schon immer eine eigenständige Denkerin», sagt sie. von Beruf Künstlerin werden nein. «Das wäre damals keine Perspektive «Das ist etwas, das man nie ablegen darf. Nie. Nie. Nie.» Für einen Mogewesen», sagt sie. «Zu dieser Zeit und als Frau.» ment kommt Nachdruck in die sonst ruhige Stimme. SURPRISE 383/16

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© PRO LITTERIS BILD: CORNELIA HESSE-HONEGGER, AQUARELL, USA 1991. REPROFOTOGRAFIE: PETER SCHÄLCHLI.

Sichelwanze aus Rohr, Kanton Aargau, Nähe Atomkraftwerk Gösgen. Der rechte Flügel ist gewellt und deformiert.

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© PRO LITTERIS BILD: CORNELIA HESSE-HONEGGER, AQUARELL, ZÜRICH 2000. REPROFOTOGRAFIE: PETER SCHÄLCHLI.

BILD: CORNELIA HESSE-HONEGGER, AQUARELL, ZÜRICH 1988. REPROFOTOGRAFIE: PETER SCHÄLCHLI.

© PRO LITTERIS

Marienkäfer aus der Umgebung von Three Mile Island, Pennsylvania, USA. Auf dem linken Flügel hat sich eine Delle gebildet, in der sich ein schwarzer Auswuchs befindet.

Baumwanze aus Gugele, westlich des Paul Scherrer Instituts, Villigen, Kanton Aargau. Der rechte Flügel ist geschädigt. SURPRISE 383/16


BILD: MARKUS FORTE

Sie begann selbst zu recherchieren und reis«Da war dieses instinktive Wissen, dass die Wanzen mehr erzählen, als te nach Schweden – jenem Land, in dem die uns lieb ist. Dass es eine Katastrophe ist, was wir der Natur antun.» Strahlung in Westeuropa nach dem Unfall am höchsten war – und zeichnete, was sie sah. widerlegte Hesse-Honeggers Befund. Doch sie gibt nicht auf. Als sie er«Diese Pflanze hatte letztes Jahr noch grüne Blätter und rosa Blüten», fährt, Insekten würden gegenüber Strahlung als sehr unempfindlich einschrieb sie in kleinen, feinen Buchstaben neben eine ihrer Zeichnungen. gestuft, beginnt sie wieder mit dem Wanzen-Sammeln, diesmal in der Zu sehen ist jedoch Klee mit roten Blättern und gelben Blüten. Vor allem Nähe von Schweizer AKWs. Und beobachtet auch bei diesen Deformaaber begann Hesse-Honegger Wanzen zu sammeln, denn diese kleinen tionen. Für sie ist klar: Die Macht der sogenannten schwachen StrahTiere kannte sie von früheren Studien in Ghana gut. Noch im Hotel in lung ist grösser als bisher angenommen. Die Wanzen bleiben stumm. Schweden zeichnete sie all die Deformationen, die sie mit blossem Auge Doch für Hesse-Honegger sprechen die Veränderungen an ihren Körpern erkennen konnte. «Ich war verwirrt und aufgewühlt und fürchtete, übereine umso klarere Sprache. geschnappt zu sein», beschreibt sie diesen Augenblick in ihrem Buch 1989 werden ihre Beobachtungen im Magazin des Tages-Anzeigers «Die Macht der schwachen Strahlung», das dieses Jahr erschienen ist. veröffentlicht. Und erneut bricht eine Welle von Kritik von wissenWieder in der Schweiz, begann die Zeichnerin, selbst zu forschen. schaftlicher Seite über sie herein. «Nie hätte ich das gedacht», sagt sie An Wochenenden, in den Ferien, nachts, wenn ihre beiden Kinder heute. Sie spricht von «gesellschaftlicher Zensur», von der Atomindusschliefen. Daneben arbeitete sie als Lehrerin und stellte ihre naturwistrie, «die diktiert, was wir denken sollen». Hadernd klingt sie dabei senschaftlichen Zeichnungen grossen Modehäusern wie Yves Saint Launicht. «Aber wütend bin ich», sagt sie, ohne dabei ihren mütterlichen rent und Jil Sander zur Verfügung, die damit edle Stoffe zierten. So Charme zu verlieren. konnte sie sich ihre Forschung finanzieren. «Das Schöne und das AndeSeit der Katastrophe von Fukushima beginnen japanische Wissenre» – eine Janusköpfigkeit, die fortan ihr Leben bestimmte. Die Ferien schaftler, sich für ihre Arbeit zu interessieren, und tauschen sich mit ihr nutzte Hesse-Honegger, um in atomar verseuchte Gebiete zu reisen und aus. 17 000 Wanzen hat Cornelia Hesse-Honegger bisher gezeichnet und neue Wanzen zu sammeln. Nein, mit Mut habe das nicht viel zu tun, feinsäuberlich archiviert. Für ihre Arbeit erhielt sie im Herbst letzten meint sie bestimmt. «Da war dieses instinktive Wissen, dass die WanJahres den «Nuclear Free Future Award». Doch die Reise ist noch nicht zen mehr erzählen, als uns lieb ist. Dass es eine Katastrophe ist, was wir zu Ende, die Atomenergie noch nicht Geschichte. Cornelia Hesseder Natur antun. Dies aufzuzeigen, ist bis heute meine Motivation.» Honegger forscht und zeichnet weiter. Aus der «Magd der Wissenschaft» Daran hält sie fest, auch als die Wissenschaft ihre Beobachtungen zuist eine Umweltaktivistin geworden. Keine, die lautstark fordert. Eine, rückweist. Es fehle eine Kontrollgruppe aus einem unbelasteten Gebiet, die leise malt. Aber das mit unbeugsamem Willen. lautete eine Argumentation. Eine entsprechende Studie des Bundes ■

Die Künstlerin in ihrem Zürcher Atelier. SURPRISE 383/16

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Ausschaffungen Menschenrechte auf der Kippe In gut drei Wochen tritt die Ausschaffungsinitiative in Kraft. Ab dann hat die Schweiz europaweit eines der strengsten Gesetze für Ausländer. Sie werden bei bestimmten Delikten härter bestraft als Schweizer. Das verstösst gegen die Menschenrechte und wird für Klagen sorgen – aber auch für Einbürgerungen.

VON BEAT CAMENZIND

1,3 Millionen Schweizer haben am 28. November 2010 die Ausschaffungsinitiative angenommen. 1,2 Millionen haben gegen die Vorlage gestimmt. Rund 2,4 Millionen Stimmberechtigten war der Gang an die Urne zu beschwerlich, sie haben den Termin verschlafen oder ihnen war die Sache schlicht egal. Damit steht fest: Wenn am 1. Oktober das Gesetz zur Initiative in Kraft tritt, werden die zwei Millionen Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz Menschen zweiter Klasse. Denn der Initiativtext verlangt, dass Ausländer, die wegen bestimmter Straftaten verurteilt wurden, zusätzlich für fünf bis fünfzehn Jahre das Land verlassen müssen. Das gilt auch für Ausländer, die missbräuchlich Geld von Sozialversicherungen oder von der Sozialhilfe bezogen haben. Die Initiative verstösst damit gegen die Menschenrechte und die Verfassung. Die Gleichheit vor dem Recht und die Verhältnismässigkeit von Richtersprüchen sind nicht mehr für alle Menschen in der Schweiz garantiert. Um dies abzufedern, hat das Parlament bei der Umsetzung der Initiative eine Klausel für Härtefälle ins Gesetz geschrieben. Dennoch sind Klagen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) absehbar. Besonders stossend: Bei einigen Delikten im Strafkatalog sind für Ersttäter bedingte Strafen und Bussen vorgesehen. Das sind vergleichsweise niedrige Sanktionen. Sie stehen in einem grotesken Missverhältnis zum Landesverweis als obligatorische Zusatzstrafe für Ausländer. Folgende Beispiele machen deutlich, wie absurd das Schweizer Strafrecht ab Oktober mit Ausländern umgeht. ❯ Schwere Körperverletzung (Art. 122 StGB) Ali aus Ägypten lebt seit fünfzehn Jahren in der Schweiz. Er geht mit seinen Freunden ans Dorffest. Einige Jugendliche provozieren ihn aufgrund seiner Hautfarbe und seines Akzentes. Die Stimmung wird gehässig, die Männer schubsen sich herum, irgendwann fliegen die Fäuste. Ali wird angeklagt, einem jungen Mann die Niere zerquetscht zu haben, sodass sie entfernt werden musste. Der Richter verurteilt Ali zu einer bedingten Geldstrafe von 200 Tagessätzen à 40 Franken und einer Landesverweisung von fünf Jahren. ❯ Aussetzung (Art. 127 StGB) Niklas, schwedischer Staatsangehöriger, in der Schweiz niederlassungsberechtigt, liebt Riverrafting. Zum 12. Geburtstag schenkt er seinem

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Sohn eine Tour auf einem Bach im Berner Oberland. Die beiden unterschätzen das Gewässer und geraten in Lebensgefahr. Zwei Wanderer helfen den beiden mit einem Ast, sich an Land zu ziehen. Sie können nicht nachvollziehen, warum Niklas seinen Sohn dieser Gefahr ausgesetzt hatte und zeigen ihn an. Der Richter verurteilt ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 100 Franken und verweist ihn für die Dauer von fünf Jahren des Landes. ❯ Angriff (Art. 134 StGB) Bei einer Demonstration eskaliert die Lage: Die Polizei sperrt die Hauptstrasse ab, die Demo ist blockiert. Einige Teilnehmer beginnen zu randalieren, die Polizei setzt Wasserwerfer und Gummigeschosse ein. Eren, ein 20-jähriger Türke, der seit dem achten Lebensjahr in der Schweiz lebt, wird von einem Geschoss aus wenigen Metern Entfernung getroffen. Er dreht durch und wirft einem Polizisten seine Bierflasche ins Gesicht. Die Platzwunde muss genäht werden. Der Richter verurteilt Eren zu einer bedingten Geldstrafe von 160 Tagessätzen à 60 Franken, einer Busse von 1000 Franken, und er wird für die Dauer von sieben Jahren des Landes verwiesen. ❯ Förderung des rechtswidrigen Aufenthalts (Art. 116 AuG) François, senegalesischer Staatsangehöriger, hilft bei einem SansPapiers-Kollektiv mit. Unter anderem leitet er die Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung an, wie sie sich erfolgreich den Behörden entziehen können und so einer Ausschaffung entgehen. Als einer der Sans-Papiers auffliegt, kommt ans Licht, dass das Kollektiv mehrere Menschen dem Zugriff der Behörden entzogen hat, indem sie ihnen unentgeltlich und klandestin bei einzelnen Mitgliedern, darunter auch bei François, Unterkunft gewährten. Er wird zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 60 Franken verurteilt und muss die Schweiz für fünf Jahre verlassen. ❯ Unrechtmässiger Bezug von Sozialleistungen (Art. 148a StGB) Ricarda, brasilianische Staatsangehörige, hilft ihrer Schweizer Freundin am Samstag bei der Gartenarbeit. Die Freundin drückt ihr 200 Franken in die Hand. Ricarda ist beim RAV gemeldet, bezieht Arbeitslosenentschädigung und unterschlägt dem RAV ihren kleinen Verdienst. Sie verplappert sich und die RAV-Angestellte meldet das Vergehen. Ricarda wird zu 60 Tagessätzen à 50 Franken bedingt verurteilt. Gleichzeitig wird sie für die Dauer von fünf Jahren des Landes verwiesen. SURPRISE 383/16


«Ich war stinksauer» Manch ein Ausländer in der Schweiz überlegt sich, die Schweizer Staatsbürgerschaft anzunehmen. Dies auch als Reaktion auf die immer strengeren Gesetze für Menschen ohne roten Pass.

❯ Diebstahl mit Hausfriedensbruch (Art. 139; 186 StGB) Ein paar Jugendliche klettern über den Zaun einer Badeanstalt, drücken das Fenster des Kiosks auf und stehlen Zigaretten, Bier und eine Flasche Schnaps. Der serbische Staatsangehörige Milos hat am nächsten Tag ein schlechtes Gewissen und meldet sich bei der Badeanstalt. Diese erstattet Anzeige. Der Richter verurteilt Milos zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 40 Franken und einer Landesverweisung von fünf Jahren. Das Parlament will mit der Härtefallklausel grobe Missverhältnisse zwischen der Schwere der begangenen Tat und den rechtlichen Folgen für Ausländer vermeiden. Insbesondere im Fall von Secondos und Ausländerinnen, die hier Familie haben, können Richter vom Landesverweis absehen. Wie das die Richter dereinst im Einzelfall handhaben, ist noch unklar. Klar ist, dass das Ausländerrecht verschärft ist und dass die neuen «Ausschaffungsartikel» die Menschenrechte aushebeln können. Das wird zu Rekursen führen. Die ersten Fälle werden vom Bundesgericht aber frühestens 2017 behandelt. Erste Urteile vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind kaum vor 2020 zu erwarten. Da die Rechtsprechung des EGMR für die Schweiz nach wie vor verbindlich ist, wäre ein Landesverweis von Secondas und Ausländern mit Angehörigen in der Schweiz nicht vereinbar. Zudem knüpft das neue Gesetz den Landesverweis unabhängig vom Verschulden an bestimmte Delikte. Es lässt ausser Acht, ob der Täter rückfällig werden könnte und er die öffentliche Sicherheit gefährdet. Allerdings: Menschen, für die das Freizügigkeitsabkommen mit der EU (FZA) gilt, können laut Bundesgericht nur ausgeschafft werden, wenn sie die öffentliche Sicherheit gefährden. Deshalb ist das «Ausschaffungsgesetz» nicht mit dem FZA vereinbar. ■

Die Härtefallklausel (Art. 66, Absatz 2) Das Gericht kann ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind. SURPRISE 383/16

Rund zwei Millionen Ausländer leben in der Schweiz. Ab Oktober gelten für diesen Viertel der Schweizer Bevölkerung strengere Gesetze als für den Rest. Begehen sie bestimmte Delikte können sie für fünf bis fünfzehn Jahre aus der Schweiz gewiesen werden. Sorgt das für Unmut unter den Betroffenen? Es ist gar nicht so einfach, jemanden zu einer Aussage zu bewegen. Manch eine Ausländer-Organisation betreibt zwar eine schöne Homepage. Politische Äusserungen über den Umgang der Schweiz mit den Zuwanderern finden sich da aber selten. Vereinzelt melden sich deren Vertreter und zeigen Interesse. Dann herrscht Funkstille. Lass mich in Ruhe mit deinen Fragen, ich will mein Leben hier unaufgeregt führen, ist wohl die Haltung. Ähnlich reagieren die Nachbarn: Das deutsche Paar etwa überlegt lange. Nach zwei Wochen Bedenkzeit folgt die Absage: «Wir möchten uns lieber nicht dazu äussern.» Ein anderer Bekannter hat weniger Hemmungen. Der Brasilianer Diego Carvalho ist 31, arbeitet als Zolldeklarant und lebt seit 1995 in der Schweiz. Die neuen Gesetze akzeptiert er, und er versucht so zu leben, wie das Gesetz es verlangt, «schliesslich bin ich nicht in meinem Land». Carvalho fügt noch an, Gesetze sollten aber gerecht sein. Eine Einbürgerung ist für ihn «eine Überlegung wert», bisher hatte er aber «nie das Bedürfnis» dazu. Sogar bei eingebürgerten Politikern herrscht Zurückhaltung. Zwei Nationalrätinnen antworten nicht auf die Anfrage. Der St. Galler Kantonsrat Etrit Hasler hingegen ruft sofort zurück. Er wurde eingebürgert, als sich seine Schweizer Mutter vom kosovarischen Vater scheiden liess. Die Behörden verpassten ihm den Nachnamen der Mutter. Sie fanden Jashari sei für ein Schweizer Kind nicht zumutbar. Hasler kritisiert den Ruf der Schweizer nach strengeren Regeln für ausländische Kriminelle: «Ein Mörder, der erst zwei Jahre hier lebt, kann jetzt schon ausgeschafft werden.» Wenn ein Ausländer, der in der Schweiz geboren und aufgewachsen ist, drogenabhängig werde, seien die hiesigen Lebensumstände dafür mitverantwortlich. Verkauft er Drogen und wird erwischt, droht ihm ab Oktober die Ausschaffung. «So entledigt sich die Schweiz eines Problems, das sie mitverursacht hat.» Der Sinn der Strafe in der Schweiz wäre die Resozialisierung. Wird diese Person stattdessen ausgeschafft, nimmt man ihr diese Chance. Haslers Rat: «Ich empfehle jedem, sich einbürgern zu lassen.» Auch wenn das Verfahren, die Kosten und die Auflagen manch einen abschrecken. Zahlen des Bundes belegen: Von den zwei Millionen Ausländern in der Schweiz leben über 700 000 Menschen schon länger als fünfzehn Jahre hier, erfüllen also die zeitliche Vorgabe für die Einbürgerung. Daria Vogrin will das demnächst an die Hand nehmen. Ein erster Versuch scheiterte. Die 22-jährige Bieler Juso-Politikerin erhielt von der Gemeinde falsche Informationen und liess es dann bleiben. «Ich war stinksauer, weil mich das noch 200 Franken gekostet hat», sagt die Österreicherin. Ein nächster Anlauf soll bald folgen. Vogrin ist politisch aktiv, da ist die Einbürgerung nur logisch, sie will auch das Wahlund Stimmrecht. Nicht zuletzt wegen der Ausschaffungsinitiative: «Diese mindert die Chancengleichheit und teilt die Gesellschaft in zwei Klassen.» Das macht sie wütend und ratlos. Die Annahme der Initiative zeige auch, «wie tief die Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz verwurzelt ist». Das Forschungsinstitut GfS belegte das 2015 mit einer Studie: Jeder Vierte in der Schweiz ist fremdenfeindlich. (bc)

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Sozialhilfe Arm und ohne Recht Nimmt man den Umgang mit Sozialhilfe-Empfängern zum Massstab, steht es schlecht um das Schweizer Volk: Für diese Menschen gelten bisweilen nicht einmal die Grundrechte. Beispiele aus der Praxis. VON BEAT CAMENZIND

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ART. 9 BUNDESVERFASSUNG

ART. 7 BUNDESVERFASSUNG

Beispiel 1: Eine psychisch stark angeschlagene, alleinerziehende Mutter reichte dem Sozialamt die Unterlagen zu spät ein. Gleichzeitig hatte sie um Wechsel der zuständigen Sozialarbeiterin ersucht, weil diese im Dorf schlecht über sie redete. Daraufhin strich ihr das Sozialamt per sofort die Sozialhilfe.* Wer Sozialhilfe beantragt, wird durchleuchtet und muss Daten liefern: vom Steueramt, von der AHV, der Bank, der Krankenkasse und anderen Versicherungen, Quittungen der Miete, Angaben über Motorfahrzeuge. Prüfungen durch die Behörden reichen bis zu unangemeldeten Kontrollen in der Wohnung. Sozialdetektive können bei Verdacht die Unterwäsche durchwühlen, um herauszufinden, wie viele Personen in einem Haushalt leben. Sozialhilfe-Bezüger sind so stark den Behörden ausgeliefert, dass sie sich selbst kaum mehr als mündige Bürger wahrnehmen können. Und dauernd lastet der Vorwurf, zu wenig für die Verbesserung der eigenen Situation zu tun. In einigen Städten werden Sozialhilfe-Bezüger in Arbeitsprogramme gesteckt. Wer sich weigert, erhält kein Geld. «Der Sozialstaat garantiert den Ärmsten nicht mehr ein menschenwürdiges Dasein, sondern ist ein Instrument zur Disziplinierung (…).» Das sagte der Soziologe Kurt Wyss in einem Vortrag Mitte April 2016 an der Universität Fribourg. Das Thema: Ohne Schutz der Menschenwürde gibt es keine Demokratie. Wyss argumentierte, der Schutz der Würde sei zwar in der Verfassung verankert, der Staat selber aber hindere mit Gesetzen seine Bürger daran, tatsächlich in Würde leben zu können.

Beispiel 2: Die Sozialarbeiterin bezeichnete einen transsexuellen Klienten als «Schwuchtel». Sie fand, er habe im Dorf nichts zu suchen, und wollte ihn zwingen, eine Arbeit zu suchen. Das, obwohl er Arztzeugnisse vorlegen konnte, die belegen, dass er keine körperliche Arbeit verrichten kann. Zudem weigerte sich das Sozialamt, Verfügungen zu erlassen, die man hätte anfechten können.* Kleine Gemeinden wie Oberwil-Lieli, Rekingen oder Riniken im Aargau, aber auch grössere wie Rorschach SG tun viel dafür, dass keine Sozialhilfe-Bezüger ins Dorf ziehen. Vermieter werden angehalten, die Wohnungen nicht an Sozialhilfe-Bezüger zu vergeben. Andernorts ist es Usus, bei einem Antrag erst mal nichts zu tun. Antragsteller erhalten keine Antwort, schon gar nichts Schriftliches, das von einem Anwalt angefochten werden könnte. Die Gemeinden hoffen darauf, dass ihnen das Geld für die Miete ausgeht und sie wegziehen müssen. Viele Betroffene überlegen es sich zweimal, ob sie sich wehren sollen. Schliesslich sind sie auf das Geld vom Sozialamt angewiesen. Und ohne schriftliche Verfügung ist es schwierig, bei der richtigen Stelle und in der richtigen Frist Beschwerde einzureichen. Zudem sind Verfügungen oft fehlerhaft: Sie sind nicht nachvollziehbar begründet und werden vollzogen, bevor sie rechtskräftig sind. Manch ein Sozialhilfe-Bezüger weiss nicht einmal, dass und wie er einen Entscheid des Sozialamtes anfechten könnte (siehe Kasten).

ART. 12 BUNDESVERFASSUNG

ART. 8 BUNDESVERFASSUNG

Die Sozialhilfe ist in der Schweiz kleinteilig organisiert. Jeder Kanton hat sein eigenes Gesetz, die Leistungen unterscheiden sich sogar von Gemeinde zu Gemeinde. Lediglich die Bundesverfassung gibt im einzigen Sozialhilfe-Artikel 12 die vagen Grundlagen vor. Die Gleichheit vor dem Recht ist nicht vollständig gewährleistet. Wer etwa Sozialhilfe bezieht und gleichzeitig arbeitet, kann einen Teil des Lohnes als «Freibetrag» behalten. Dieser variiert von Kanton zu Kanton stark. Auch bei der Berechnung der Sozialhilfe aus dem Grundbetrag und allfälligen Zulagen ist die Gleichbehandlung nicht garantiert. Nur einem Drittel der Sozialhilfe-Bezüger werden laut einer Studie diese Zulagen gewährt.

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Beispiel 3: Ein Sozialhilfe-Empfänger erhielt auf einmal keine Überweisung vom Sozialamt mehr. Er machte das Amt mehrfach darauf aufmerksam – vergeblich. Als Konto und Kühlschrank leer waren, wandte er sich mit einem Anwalt an die Leiterin des Sozialamtes. Daraufhin erhielt er sein Geld wieder.* Es kommt immer wieder vor, dass die Sozialhilfe verweigert wird. Etwa, wenn jemand nicht an einem Arbeitsprogramm teilnehmen will. Aus Bern sind Fälle bekannt, bei denen sich Personen weigerten, für die «Citypflege» Bern bei einem Lohn von 2600 Franken monatlich zu arbeiten. Die Sozialhilfe strich den Personen die Unterstützung gleich ganz. Das Verwaltungsgericht korrigierte dies. Die Sozialhilfe durfte nur für die Zeit des Programms gestrichen werden. Doch solche Urteile sind selten – sehr selten (siehe Kasten).

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Sozialhilfe Kaum einer widerspricht Zahlen aus sechs Städten zeigen: Gegen Entscheide von Sozialämtern gibt es kaum Einsprachen. Und das, obwohl es manchmal ums letzte Hemd geht. VON BEAT CAMENZIND

ART. 29 BUNDESVERFASSUNG

«Der Zugang zum Recht ist schwierig», sagt der Anwalt Pierre Heusser. Mit fünf weiteren Fachpersonen betreibt er die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht. Die Fachstelle ist einzigartig in der Schweiz: Sie ist die einzige unabhängige Anlaufstelle für Sozialhilfe-Bezüger, die sich gegen einen Entscheid des Amtes wehren müssen. «Die Sozialämter machen nicht alles falsch», stellt Heusser im Gespräch klar. Nicht jeder, der bei der Fachstelle anruft, geht am Ende auch gerichtlich gegen das Sozialamt vor. Oft reicht es, wenn Heusser seine Klienten über ihre Rechte aufklärt und sie berät. Zudem ist eine Beschwerde anstrengend und aufwendig, die Verfahren dauern lange, die Klienten müssen auch selber aktiv werden. Das fängt schon beim Beschaffen der Akten an: Bis Heusser jeweils alle relevanten Akten beisammen hat, verstreicht wertvolle Zeit. In der Stadt Zürich etwa muss Heusser jeweils persönlich beim Amt vorsprechen, man weigerte sich, die Akten per Post zu senden. Eine Einsprache hat zudem oft keine aufschiebende Wirkung für den Entscheid des Sozialamtes. Streicht das Amt einem Klienten ungerechtfertigt die Sozialhilfe, muss dieser sein Geld bis zum Gerichtsurteil anderweitig besorgen. Es droht die Obdachlosigkeit. Vor allem die unteren Gerichtsinstanzen verweigern den Klägern oft die Anträge auf unentgeltliche Rechtsvertretung. Einem Kläger, dem die Sozialhilfe ungerechtfertigt gestrichen wird, droht also nicht nur die Obdachlosigkeit, er soll auch noch die Anwaltskosten berappen. Für Heusser ist klar: «Es gibt wohl kaum ein grösseres Bedürfnis für Rechtsschutz. Sozialhilfe-Bezüger sind stark vom Staat abhängig und brauchen ein kostenloses Verfahren ohne Hürden.» ■

260 000 Menschen werden in der Schweiz von der Sozialhilfe unterstützt. Im Jahr 2015 fällten das Bundesgericht und die Verwaltungsgerichte aller Kantone zusammen nur rund 300 Urteile, welche Entscheide von Sozialämtern betrafen. Ist das ein Beweis, dass die Ämter kaum falsch urteilen? Pierre Heusser von der Unabhängigen Fachstelle Sozialhilferecht (UFS) in Zürich bezweifelt das. Er spricht von Sozialhilfe-Bezügern, die gar keine oder keine schriftliche Verfügung erhalten, die ihre Rechte nicht kennen, nicht wüssten, an wen sie sich wenden sollen, und sich schlicht keinen Anwalt leisten können. Und er stellt eine einfache Rechnung auf: «Drei bis vier Prozent der Klienten betrügen die Sozialhilfe. Wieso sollten also nicht auch mindestens drei bis vier Prozent der Entscheide von Sozialämtern falsch sein?» Das wären dann zwischen 7800 bis 10 400 Menschen, die fälschlicherweise Kürzungen oder gar den Entzug der Sozialhilfe hinnehmen müssten. «Das Tragische ist, dass es hier um die Existenz geht.» Hat ein Sozialhilfe-Bezüger ein Problem mit der Behörde, kann er sich in grösseren Städten an die Ombudsstelle wenden. Eine Umfrage unter den Ombudsmännern und -frauen von Zürich, Basel, Bern, St. Gallen, Winterthur und Luzern zeigt: Nur 0,1 (Winterthur und St. Gallen) bis 1,4 Prozent (Bern) aller Sozialfälle wenden sich an eine Ombudsstelle. Dabei geht es allerdings nicht in jedem Fall ums Geld, sondern auch um Umgang oder Verhalten. Die Zahlen stammen aus den Jahren 2014 oder 2015, je nach Verfügbarkeit. Praktisch alle Fälle lassen sich im Gespräch klären. Hier ist von Fällen, nicht von Personen die Rede. Ähnlich tief liegt die Anzahl von Einsprachen gegen Entscheide der Sozialhilfe-Behörden. Der Vergleich zwischen der Anzahl SozialhilfeDossiers der sechs Städte und der Anzahl Einsprachen gegen Beschlüsse der Sozial-Behörden ergibt folgende Zahlen: Zwischen eins (Winterthur, Luzern) und vier Prozent (Zürich) der Sozialhilfe-Fälle versuchen sich in den sechs Städten gegen eine Einstellung, Kürzung oder andere Beschlüsse der Behörden zu wehren. Und den Gang an die nächst höhere Instanz wagt kaum einer. Am Beispiel der Stadt Bern sieht das so aus: Gegen 60 Verfügungen gab es 2015 Einsprachen. Elf Entscheide wurden ans Verwaltungsgericht weitergezogen. Sechs Fälle landeten beim Bundesgericht. Das Sozialamt der Stadt Bern vermeldet auf Anfrage stolz: «In 96 Prozent der Beschwerden obsiegte das Sozialamt der Stadt Bern.» Alles in Ordnung bei den Sozialämtern also? Das ist ein Trugschluss: Die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht hat bei ihren Rechtsverfahren Erfolgsquoten von rund 80 Prozent. Im Jahr 2015 hat die Fachstelle 56 Fälle abgeschlossen, 43 endeten im Sinne der Sozialhilfe-Bezüger. Mit der richtigen Unterstützung könnte sich manch eine Einsprache also lohnen.

* Die zitierten Beispiele sind Jahresberichten der Unabhängigen Fachstelle Sozialhilferecht (UFS) entnommen.

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Flucht Kein Sonntalk wie jeder andere Christoph Burgherr wählte ein Leben lang stramm rechts, Migranten waren für ihn «dieses Pack» – bis er am Fernsehen Roger Köppel über Eritreer reden hörte. Mittlerweile ist sein drittes Flüchtlingsprojekt gestartet.

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VON AMIR ALI (TEXT) UND FLURIN BERTSCHINGER (BILDER)

«Mich kennt er», sagt sie. «Ich war für ihn nie eine anonyme Gefahr.» Es gab Konflikte. Mehr als einmal wäre die Beziehung an der Flüchtlingsfrage beinahe zerbrochen, sagen beide. Aber Burgherr blieb bei seiner Meinung.

Es war ein Freitag im Oktober 2015, als sich Christoph Burgherr vor die 200 Flüchtlinge in der Zürcher St. Jakob-Kirche stellte und mit seiner Präsentation begann: zehn Seiten Powerpoint mit Trainingsdaten, Statussymbol aus dem alten Leben Laufrouten und Bildern vom vergangenen Silvesterlauf, der Ende Jahr Bis zu einem Sonntag im vergangenen Sommer, als er vor dem Fernwieder das grosse Ziel sein würde. seher sass und sich wie so oft die Diskussionssendung Sonntalk auf TeNach drei Folien stellte Burgherr die Präsentation ab und fing an, mit le Züri anschaute. Thema: «Flüchtlings-Tragödie: Machtloses Europa?» den Armen zu rudern und die Knie hochzuziehen. «Das funktioniert Als Gast, unter anderen: Roger Köppel, damals im Wahlkampf für die hier nicht so, wie ich es aus der Businesswelt kenne», lautete seine ersSVP, mittlerweile bestgewählter Nationalrat aller Zeiten. Köppel liess te Erkenntnis aus dem direkten Kontakt mit Geflüchteten. Die zweite Ersich nicht zweimal bitten und zog, völlig enthemmt, gegen Geflüchtete kenntnis: «Aber es funktioniert.» Am Ende standen 60 junge Männer um ihn herum. Er kritzelte einen Fresszettel voll: Datum des ersten Trainings. Uhrzeit. Nummer Natürlich waren da die Debatten um Kontingente, die Bilder des Sommers der Tramlinien, die zum Bucheggplatz hoch2015, «der tote Bub am Strand», sagt Burgherr. «Aber gekippt bin ich wirkfahren. Und die jungen Männer knipsten den lich nach der Sendung.» Zettel ab mit ihren Smartphones. Jenen Smartphones, von denen Christoph Burgherr noch im Allgemeinen und aus Eritrea im Besonderen vom Leder. Abgesehen wenige Wochen zuvor gesagt hätte, es könne doch nicht sein, dass jedavon besetzte er einen grossen Teil der Sendung damit, sich darüber zu dem Asylanten auf Kosten des Steuerzahlers das neuste Telefon nachbeklagen, dass man ihn nicht zu Wort kommen lasse. geschmissen werde. Heute sagt er: «Smartphones sind für die FlüchtlinFür viele Zuschauer wohl einfach ein weiteres, schreckliches Stück ge überlebenswichtig.» Schweizer Polit-Fernsehen, war die Sendung für Christoph Burgherr «eiBurgherr – Jeans, weisses Hemd, über den Schultern ein Hilfiger-Pulne Offenbarung», wie er es heute nennt. «Ich realisierte zum ersten Mal, li und an den Füssen schwarze Lacoste-Sneakers – sitzt zwischen groswie die SVP funktioniert», sagt er. Konkret: Die eigene Botschaft durchsen Topfpflanzen auf der Dachterrasse eines trendigen Vegi-Restaurants drücken, ohne auf die Diskussion einzugehen. Und in jedem Satz ein an der Zürcher Bahnhofstrasse. Aus dem Hintergrund dringt zu laute Schlagwort. «Das können sie meisterhaft», sagt Burgherr. «Aber damals Loungemusik. Burgherr senkt gleichwohl die Stimme, wenn er von frümerkte ich: Das ist alles nur Show. Ein Trick.» her spricht. Einmal sucht er nach einem anderen Begriff als «rechtes GeBurgherr war verunsichert. Er wusste, dass er etwas ändern musste. dankengut», um seine frühere Haltung zu beschreiben. Um dann zu sa«Bevor ich weitermache», habe er sich gesagt, «muss ich mir selbst ein gen: «Doch, das war es.» Bild machen.» Nach ein paar Tagen googelte er drei Wörter: hilfe für flüchtlinge. «Ich war verliebt» Dann spielte der Zufall: Eine Woche später fand ein Infoabend der ZürFlüchtlinge seien für ihn «dieses Pack» gewesen, kriminelle Schmacher Organisation Solinetz statt. Burgherr fuhr in seinem schweren Volrotzer, die hier nichts verloren hätten. Die SVP fand er «super». Wenn vo XC90 vor, den er heute «ein Statussymbol aus dem alten Leben» nennt. seine Mutter sagte, er könne nicht immer auf seiner Meinung beharren, Er verliess den Anlass mit einer Aufgabe, die sein erster Schritt in ein neumüsse andern auch zuhören, dann lautete Burgherrs Standardantwort: es Leben sein sollte: Als eine Frau jemanden suchte, der mit Flüchtlingen «Hört ihr einfach dem Blocher zu, der hat recht und schaut, dass die für den Silvesterlauf trainiert, meldete sich Burgherr. «Ich schwitzte Blut, Schweiz nicht ausverkauft wird.» weil ich wusste: Jetzt muss ich mit denen», erinnert er sich. Gleichzeitig Ausländer waren für ihn «Männer, die uns die Arbeit wegnehmen». habe ihm sein Verstand gesagt: «Du kannst nichts verlieren dabei.» Da wo er herkomme, erklärt er, werde so gedacht, damals und bis heute. «Gleich geschieht etwas Gutes» Seinen ursprünglichen Beruf sieht man Burgherrs Händen noch imEin halbes Jahr später hat Burgherr seinen gutbezahlten Managerjob mer an: Als Maurer im ländlichen Aargau waren seine Arbeitskollegen aufgegeben und lebt vorerst von seinem Ersparten. Unter seine Emails Schweizer und Italiener. «Und der Chef», so Burgherr, «sorgte auch dasetzt er «solidarische Grüsse», auf Facebook postet er tränenlachende für, dass ihm kein Tamile oder Türke auf die Baustelle kam.» Dann Smileys über ein Video, das SVP-Hardliner Andreas Glarner auf die wechselte er in die Tieflohnbranche Gastronomie, und Ausländer wurSchippe nimmt. Und über die SVP spricht er heute in der 3. Person Pluden seine direkten Konkurrenten. Noch später, als Geschäftsleiter einer ral: «Die Kampagnen, die sie machen, die hauen mir den Nuggi raus.» Filiale der Cash & Carry-Kette Top CC, verantwortlich für 40 Angestellte Kann es tatsächlich sein, dass 20 Minuten hysterisches Polit-Fernseund ein zweistelliges Millionenbudget, musste er sich zwar nicht mehr hen einen Menschen verändern? Natürlich waren da die Debatten um direkt bedroht fühlen – seine Meinung aber blieb. Kontingente, die Bilder des Sommers 2015, «der tote Bub am Strand», Sie blieb auch, als er mit seiner heutigen Partnerin zusammenkan. Eisagt Burgherr. «Aber gekippt bin ich wirklich nach der Sendung.» ner Lehrerin, die, wie sie selbst in breitestem Berndeutsch sagt, einer Natürlich sei das Thema da gewesen, sagt seine Partnerin, schon län«typischen SP-Familie» entstammt. Und deren kongolesischer Vater ihr ger und immer akuter. Aber: «Es gab bei ihm keine Zeit des Ringens.» einen sichtbaren Migrationshintergrund mitgegeben hat. Burgherr sei klar gewesen in seiner Haltung, vorher und nachher. «Sie ist hier geboren, hier aufgewachsen. Für mich ist sie Schweize«Ich stürze mich in Sachen», sagt Burgherr. Jeden Morgen, wenn er rin», sagt Burgherr. «Und ich war verliebt.» aus dem Haus geht, blicke er auf das Schild an seiner Tür, auf dem steht: «Er sagte immer, ich solle mich nicht angesprochen fühlen», sagt sie. «Gleich geschieht etwas Gutes.» «Und ich dachte: Meinungsfreiheit.» Trotzdem habe sie sich hin und So extrem, findet Burgherr, sei sein Wandel gar nicht, «es ist einfach wieder überlegt, ihn aus dem Haus zu werfen, wenn er wieder über das etwas Menschlichkeit dazugekommen». Als Linker jedenfalls will er «Pack» herzog. sich nicht verstanden wissen: «Wenn ein Ausländer sich nicht richtig «Wir hatten ganz unterschiedliches Gedankengut», sagt Burgherr. verhält, muss er die Konsequenzen tragen. Nicht alle sind gut, und nicht «Wenn man sich kennenlernt, spricht man ja nicht gleich über solche alle brauchen unseren Schutz.» Sachen.»

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«Wenn ich von einem Tag mit den Flüchtlingen nach Hause komme, dann bin ich glücklich»: Christoph Burgherr inmitten seiner Laufgruppe.

Die Arbeit als Geschäftsleiter, die Verantwortung über Geld und MitMittlerweile hat Burgherr seine eigene Organisation gegründet: Soliarbeiter, die Boni: das habe ihm auch gefallen, sagt er. «Aber ich kam darus.ch soll zum Netzwerk werden für alle, die ein Projekt aufziehen nicht ein einziges Mal so zufrieden nach Hause wie jetzt, wenn ich mit wollen. Autonome Finanzierung, geteilte Logistik: Burgherr will das Prinzip Cash & Carry in die Flüchtlingshilfe bringen. So extrem, findet Burgherr, sei sein Wandel gar nicht, «es ist einfach etwas Er selbst trainiert weiterhin jeden SamstagMenschlichkeit dazugekommen». morgen mit der Laufgruppe für den nächsten Silvesterlauf, daneben hat er ein wöchentliden Flüchtlingen etwas gemacht habe.» Zurück ins alte Leben, in seine ches Fussballtraining aufgebaut. Sein drittes Projekt, ein Deutschkurs alte Gedankenwelt: das könne ihm nicht passieren, sagt Burgherr. Es gefür Geflüchtete, ist vor einigen Wochen in der Zürcher Erlöserkirche gehe um Menschlichkeit, um direkte Begegnungen. Oder einfacher: startet. Vor allem aber, sagt Burgherr, wolle er ein Gefühl vermitteln: «Wenn dich etwas am Herz packt, dann kannst du nicht mehr zurück.» «Ihr gehört hier dazu, und hier sind Leute, die euch schätzen und sich Dann dreht sich Burgherr zu seiner zwölfjährigen Tochter um, die ihn um euch kümmern.» zum Interview begleitet hat und die ganze Zeit still am Handy spielte. Dass sein Engagement wirke, habe er beim etwa dritten oder vierten Wie es für sie gewesen sei, als sie zum ersten Mal mit ins Lauftraining Lauftraining im Wald über Zürich realisiert. Die Flüchtlinge lachten. Das ging? «Als ich all die dunkelhäutigen Männer sah, bekam ich Angst», hatten sie bis dahin nie getan. sagt das zierliche, strohblonde Kind. Als sie dann auf sie zugekommen Wenn man Christoph Burgherr fragt, ob sein Engagement nicht doch seien und sie begrüsst hätten, sei aber alles in Ordnung gewesen. auch eine Art Selbstbefriedigung sei, dann erzählt er die Geschichte je«Das hast du schön gesagt», lächelt Christoph Burgherr. «Genau so nes Abends, an dem sie ihn in die Flüchtlingsunterkunft eingeladen hatwar es bei mir auch.» ten. Drei Tibeter, ein Syrer und der Sudanese, den Burgherr und seine ■ zwölfjährige Tochter «50 Cent» nennen, weil er genau so aussieht wie der US-Rapper. Da standen dann vier Männer in der Küche und kochten für die beiden, «ein ungewohntes Bild», so Burgherr. Er hatte «nicht alles gern, was sie kochten», aber er ass von allem. «Das war für mich eine Wertschätzung, das hat mir etwas gegeben.» Natürlich könne er sich davon nichts kaufen. Aber Motivation sei ihm wichtiger: «Wenn ich von einem Tag mit den Flüchtlingen nach Hause komme, dann bin ich glücklich.» SURPRISE 383/16

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Schlechte Verlierer Donald Trump kündigt es schon an: Sollte er die Präsidentenwahl verlieren, ist er Opfer eines Betrugs geworden. Ein Nationalrat wittert in der verlorenen Volksabstimmung einen Sieg der Elite. Vergessen die eigene Maxime: Wenn das Volk entschieden hat, muss die Regierung schweigen. Wenn das Volk anders entscheidet als gewünscht, ist es ganz einfach nicht mehr das Volk. Ein Kabarettist, bei dem es nicht mehr so läuft wie auch schon, sieht sich als Opfer von Verleumdung und Verschwörung. Unmöglich, dass die Niederlage etwas mit dem eigenen Verhalten zu tun haben könnte, undenkbar, nicht recht zu haben. Die schlechten Verlierer sind allesamt Leute, die gern und viel austeilen und für jene, die sich über ihre mitunter heftigen und unfairen Attacken beklagen, nur Hohn und Spott übrighaben. Werden sie selber angegriffen, erweisen sie sich als Mi-

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mosen und Jammerlappen. Man kennt diesen Typus vom Spielplatz: grosse Klappe, die Kleineren drangsalieren, ihnen alles wegnehmen, und wenn sich jemand wehrt, heulend zusammenbrechen. Manche Kinder wachsen aus diesem Verhalten heraus, andere wachsen als Erwachsene erst hinein. Weil sie überzeugt sind, dass ihre Meinung – egal, wie widersprüchlich oder widerlegbar – die Wahrheit ist. Und nicht nur das: Es ist die einzig mögliche Wahrheit und die würde sich – so ihre narzisstische Allmachtsfantasie – durchsetzen, ginge es denn mit rechten Dingen zu. Andernfalls kann es sich nur um Schiebung handeln. Fakten spielen keine Rolle. Kritik an ihren Thesen dulden sie nicht. Um nicht auf ihre Argumente eingehen zu müssen, diffamieren sie ihre Gegner als böswillig oder dumm. Selbst als Opfer sind sie die Grössten. Sie werden nicht kritisiert, sie werden gesteinigt, gelyncht, gekreuzigt. Darunter machen sie es nicht. Der GRÖSCHWAZ (Grösste Schweizer aller Zeiten) stellt sich mit den Opfern des Holocaust gleich, wenn er eine Abstimmung verliert. So gefährlich ist Meinungsvielfalt. Nun könnte man das Gezeter der schlechten Verlierer mit einem Achselzucken abtun, wie auf dem Spielplatz. Doch schlechte Verlierer sind gefährlich. Sie schieben die Schuld für ihr Versagen auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe. Egal, wie marginal und intern zersplittert diese ist, wie wenig Einfluss sie hat, wie

wenige Medien sie kontrolliert, laut den schlechten Verlierern bildet sie eine einheitliche und übermächtige Front, die nach Belieben schalten und walten kann. Klassische Verschwörungstheorie. Und natürlich kann eine so kleine, dumme Minderheit nur mit unfairen Mitteln an die Schalthebel der Macht gelangt sein. Die schlechten Verlierer sind die Anständigen, die aufgrund ihrer Anständigkeit stets zum Scheitern verurteilt sind, weil die (hier Name der beschuldigten Gruppe eintragen) keine andere Meinung gelten lässt und die Wahrheit mit allen Mitteln unterdrückt. Klar, dass sie sich das nicht ewig bieten lassen können. Eines Tages werden sie gegen die Unfairen mit unfairen Mitteln vorgehen müssen, um Wahrheit und Anstand zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Opfer sind dann selber schuld und verdienen kein Mitleid. Darauf läuft das Geschrei der schlechten Verlierer hinaus.

Stephan Pörtner ist Autor und Übersetzer in Zürich und haut gerne Neuwortschöpfungen in die Pfanne.

Sarah Weishaupt ist freie Illustratorin aus Basel. SURPRISE 383/16


Ausgabe 380

«I’m surprised!»

Daniel Stutz, was für ein grossartiger Text und Mensch. Surprise ist das beste Kunstmagazin der Zukunft, besser als artforum und andere. Marco Schmitt, Künstler, Urheber des von Daniel Stutz besprochenen Werks

Eyob Ghebrehiwet

steht bei Kälte und Sonne an seinem Platz, auch wenn er stundenlang nichts verkauft. Von seiner Geduld und Ausdauer könnten wir alle etwas lernen. Er gibt sich grosse Mühe mit der deutschen Sprache und versucht auch, mit seinen Kunden ins Gespräch zu kommen. Zudem ist für ihn das Aufrunden des Preises keine Selbstverständlichkeit, sondern jedes Mal von Neuem eine grosse Freude. Sein Lachen ist mir Dank genug! A.Q. Scheuing, Ittigen

Wir alle sind #Surprise

Ausgabe 378

Wer das Strassenmagazin kauft, tauscht mehr als Geld gegen Ware: Fast immer gibt es ein Lächeln dazu, oft werden ein paar Worte ausgetauscht – und manchmal sogar gegenseitiges Vertrauen aufgebaut. Viele Leserinnen und Leser berichten uns von ihren Begegnungen mit den Verkaufenden. Und sie schreiben der Redaktion, was sie gut gefunden haben und was weniger. Wir bedanken uns herzlich für diese Rückmeldungen – und teilen hier einige davon mit Ihnen.

ten in Nr. 378 haben mich nicht gepackt. Enttäuscht legte ich das Heft weg. Als in der nächsten Nummer nochmals eine Reihe Geschichten erschien, begann ich ohne Erwartungen zu lesen. Und jetzt, da ich alle Geschichten gelesen habe – zwei davon mit offenem Mund und erregtem Herzklopfen – Seite 6 und Seite 18 – gratuliere ich Ihnen zur Auswahl!

Ausgabe 380

H. Müller, Basel

«Herzklopfen» Die Geschich-

«Enttäuschung»

Normalerweise lese ich Surprise sehr gerne und blicke jedem neuen Heft gespannt entgegen, da es mir sehr gefällt, dass darin die Vergessenen und Zukurzgekommenen ein Medium finden. Als ich nun die neueste Ausgabe entdeckte, auf welcher der Titel durch das Wort «Empört» ersetzt worden war, freute ich mich schon darauf, über empörende Missstände aufgeklärt zu werden, an denen ja wirklich kein Mangel herrscht. Insofern war denn der Inhalt dieses Heftes leider eine einzige Enttäuschung. Wäre auf dem Titelbild (wie auf dem der Umschlagrückseite) ersichtlich gewesen, dass es sich um ein Sonderheft zur Manifesta handelt, hätte ich es nicht gekauft. Wenn der Inhalt derart belanglos ist, drücke ich dem Verkäufer beim nächsten Mal lieber gleich sechs Franken in die Hand, dann hat er wenigstens den gesamten Betrag für sich und nicht nur die Hälfte. O. Lötscher-Schnell, Zürich

Ausgabe 380 SURPRISE Überrascht Hält in Bann Beschäftigt Lässt die Zeit stehen Bereichert Kritisch Kommt rüber Spritzig frisch ERFREUT N. Carballido, Basel

Ausgabe 380

«Surprenant» Tief anregend, aufregend, lebendig. Ich streiche über das glatte farbige Papier und schlage Seite um Seite auf. Dazwischen räume ich Lärchenzapfen, vom Sturmwind gestreute, biegsame Holztriebe zur Feuerstelle. Surprise über Surprise im Herzen. Ich danke euch. P. Gerber-Egli, Wattenwil

Ausgabe 379

«Unverbrauchte Bilder»

Herausragend: «Gesteinsschmelze» von Milena Ana Keller. Die Kurzgeschichte beginnt alltäglich, fast banal, wird zunehmend melancholisch, beinahe trübsinnig, und löst gegen Ende das Rätsel dieser angestauten Schwermut mit starken, unverbrauchten Bildern. Ein Text, der leise daherkommt und mitten ins Herz trifft. Grossartig! G. Anwander, via Facebook SURPRISE 383/16

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«Gelungen»

Herzlichen Dank für die überraschende Ausgabe. Ich hatte grosse Freude, insbesondere, da ich diesmal tatsächlich lachen musste, weil plötzlich die Buchstaben auf dem Kopf standen. Vor Jahren war ich der Ansicht, dass Surprise viel zu negativ ist, das hat sich mittlerweile extrem geändert. M. Reich, Wiesendangen

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Schreiben auch Sie uns – oder schicken Sie uns Bilder von ihren Begegnungen mit Surprise! leserbriefe@vereinsurprise.ch oder Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel

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BILD: ZVG

«Polder» bricht nicht nur Naturgesetze. Er liegt auch recht quer in der Schweizer Filmlandschaft.

Storyworlds Orte der Sehnsucht Je unübersichtlicher die Welt, desto stärker vermischen sich die Erzählformen. Und fressen sich in mehrjährigen Grossproduktionen ins Leben der Zuschauer ein. VON DIANA FREI

Wir sehen ein Landschaftstableau. Eine Heidi-Welt mit einem Heidi. Eine Schweizerfahne, die keine ist, sondern das Firmenlogo des GameKonzerns Neuroo-X trägt. Im Hintergrund der Fujiyama statt eine Bündner Alp. Das Tableau scheint darauf zu warten, dass ein Gamer den Startknopf drückt und die Welt zu bewegen beginnt. Aber da läuft das Heidi ganz von alleine in die Wiese hinein und es erscheinen Untertitel, die sagen: «Ich bin eine Bewusstseins-Entität von Marcus.» Man klappert sich mit dieser Tastatur-Schrift durch weitere Bilder: Drei Kinder in Zeitlupe vor einer Hütte. Dann die Kinder als Erwachsene in Berlin. Wir haben Szenen mit Bildstörungen und einen Text, der vorgibt, Bewusstsein zu sein. Und wir fragen uns: Ist das Vorstellung? Aufzeichnung? Ist es menschlich? Ist es entmenschlicht? Oder ist es einfach ein auktorialer Erzähler, der schon in der nächsten Szene sein Geheimnis verlieren wird? Was es ziemlich sicher ist: Ein Spiel mit Realität und Fiktion. «Become a Game», lautet die Tagline, «Werde zum Spiel»: die direkte Auf-

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forderung, die Welten zu vermischen. Im Film stirbt Marcus, der Chief Development Manager von Neuroo-X, kurz vor der Lancierung des ultimativen Spielerlebnisses. Worauf seine Witwe Ryuko über Marcus’ Laptop in eine paranoide Welt der Hexen, Terroristen und der Magie eintaucht, bis sie sich selbst darin verliert. Der «Polder» hat 2009 als Theaterprojekt mit Game-Elementen – den sogenannten Urban Games in Bern und Zürich – begonnen, unterdessen ist er ein Gesamtpaket aus Film, Game und App. Letztere erinnert an Pokémon Go, indem sie uns an reale Schauplätze führt, um eine Hexe zu besiegen. Der Film dauert 90 Minuten, die Vorstellung dauert aber 120 Minuten, weil die Zuschauer auf einen Audiowalk nach draussen geschickt werden, wo sie virtuellen Figuren begegnen: Kino soll wieder zum Ereignis werden. Die Co-Regisseure Samuel Schwarz und Julian M. Grünthal und ihre Truppe reisten hierfür durch die Welt, nahmen an Symposien zu künstlicher Intelligenz teil und vernetzten sich mit GameEntwicklern und Cosplayern: Die Recherchearbeit erinnert an die eines Thinktanks zur medialen Veränderung der Welt. SURPRISE 383/16


BILD: ZVG

Snake: Die biblische Schlange wird zur Game-Figur.

Schwarz und Grünthal waren noch vor ein paar Jahren nicht als Filmregisseure, sondern als 400asa bekannt – als Theatergruppe aus der freien Szene. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass das Spiel mit ganzen Storyworlds seit einiger Zeit ausgerechnet aus dem Theater herauswächst. Anfang Jahr war im Theater Winkelwiese der Fantasy-Mehrteiler «Memetuum Plex» zu sehen, und zurzeit läuft in Basel die Theatergrossproduktion «Elysium» der Theaterfalle. Fiktive Welten haben einen hohen Abstraktionsgrad und eine hohe Reflexionsebene. Das sind fast schon virtuelle Qualitäten, weshalb diese Storyworlds dazu prädestiniert sind, das Menschsein im digitalen Zeitalter zu verhandeln. Brecht im Silicon Valley Das Theater ist auf den ersten Blick zwar die kleinere Illusionsmaschine als das Kino, aber wohl gerade deshalb kennen wir die Metaebene, wie sie im «Polder» stark vorhanden ist, eher von der Bühne als aus dem Kino. Auch das Verhältnis von Mensch und Technik war dem Theater noch nie fremd. «Schon Bertolt Brecht und Erwin Piscator waren technikaffin», sagt «Polder»-Drehbuchautor Samuel Schwarz. «Gerade Brecht sah die Welt als veränderbar an. Und heute trifft man die kalifornischen Brechts im Silicon Valley wieder an.» Wenn «Polder» nun ein Mix aus Game-Kultur und Film, aus Fantasy, Horror, Medienwissenschafts-Vorlesung und Nietzsche ist, sind das also nicht nur intellektualisierte Bubenträume, sondern es ist die Überzeugung: Wir leben in einem technischen Zeitalter und müssen damit umzugehen lernen. «Polder» und das «Elysium» der Theaterfalle haben einiges gemeinsam: Sie haben Fantasy-Elemente, es sind mehrjährige multimediale Grossproduktionen, beide spielen mit der Vermischung von Realität und Fiktion. Und: Die Sehnsucht nach einem erträglichen Zustand des SURPRISE 383/16

Menschseins ist bei beiden ein zentraler Begriff. «Polder» wie «Elysium» sind Sehnsuchtsorte. Ein Polder ist laut der «Encyclopedia of Fantasy» «eine Enklave verdichteter Wirklichkeit, die durch magische Grenzen von der umgebenden Welt getrennt ist». Wie zum Beispiel Tolkiens Auenland, das Land Oz oder Harry Potters Hogwarts. Ein Polder ist vielleicht auch das Elysium, die Insel der Seligen in der griechischen Mythologie. Oder Nimmerland, wie eine der vier «Elysium»-Episoden heisst. Die Gesamtproduktion verhandelt die biblische Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies, aber medial sind die Episoden unterschiedlich angelegt. Das reicht vom klassischen Schauspiel draussen in der Natur bis zu theatralen Rauminstallationen. Kritik am bestehenden Kino In «Nimmerland» wird die Schlange zu Snake und das Stück wird zum Game mit Fantasy-Charakter – zu einer multimedialen Schnitzeljagd. «Es geht dabei um die Frage, wer wie mit der Tatsache umgeht, dass er aus dem Ursprungszustand hinausgeworfen wurde», sagt Sarah Gärtner, die das Gesamtprojekt zusammen mit der Theaterleiterin Ruth Widmer erarbeitet hat. «Fantasy-Welten sind für viele eine paradiesische Vorstellung. Für andere ist der Paradiesgedanke daran gekoppelt, dass man in der Unübersichtlichkeit der heutigen Welt wieder Verantwortung abgeben möchte», sagt Gärtner. «Hier spielt die Technik eine elementare Rolle. In einen ursprünglichen Zustand zu finden kann auch heissen: sich ausloggen, offline sein. Die Technik kann eine Stütze sein, sie kann aber auch überfordern.» Im «Polder» dagegen bedeutet Sehnsucht Überwindung des jetzigen Zustands. «Wir sind zurzeit in einem Konflikt zwischen Mensch und Maschine», sagt Samuel Schwarz. «Die Sehnsucht wäre also die nach Verschmelzung, nach dem Einswerden der Welten, die einen zerreissen.» Was mit Film, Game und App erst mal nach cleverer Vermarktungsstrategie aussieht (und es natürlich auch ist), ist auch als Kritik am bestehenden Kino gemeint. Schwarz findet klare Worte: «Arthouse ist zur Unterhaltung für ein saturiertes Publikum geworden. Im klassischen Sozialdrama schaut das Bürgertum zu, wie schlecht es armen Leuten geht. Ich finde das moralisch fragwürdig, weil es nicht darauf angelegt ist, irgendetwas zu verändern. Die Welt ist aber unkontrollierbar geworden, und wir müssen uns darauf einlassen. Wir wollen die bestehenden Narrative infrage stellen.» 400asa wollen mit ihrer «Polder»Storyworld daher auch die Schweizer Filmlandschaft und -förderung aufmischen. So war es Schwarz wichtig, mit «Polder» wirtschaftliche Interessen zu verfolgen und Firmen zusammenzuführen. Ohne Staatsgelder finanziert man in der Schweiz kaum einen Film, aber in das gesamte Transmedia-Projekt von 4,5 Millionen sind auch viele Gelder von Privaten und Sponsoren eingeflossen, Firmen aus der Unterhaltungsindustrie waren eingebunden. Auch die Theaterfalle fährt in «Elysium» mit Theatergames, AudioRundgängen, verstecktem oder mobilem Theater im öffentlichen Raum alle Formen des multimedialen Erzählens auf – ihr Ziel war es von Beginn an, verschiedene Sparten, Methoden und Medien miteinander in Verbindung zu bringen. Was in «Elysium» also eine Art Werkschau zum Abgang der Gründerin Ruth Widmer ist, ist beim «Polder» die Überzeugung, dass die Welt sich verändert und wir uns mit ihr verändern müssen. Ganz im Sinne Brechts. ■

Samuel Schwarz, Julian M. Grünthal: «Polder», CH 2015, 90 Min., mit Nina Fog, Christoph Bach, Philippe Graber u. a. Der Film läuft zurzeit in den Deutschschweizer Kinos. Mit der App «Der Polder» kann das Publikum in ausgewählten Städten von Hörspielen geführt noch weiter in die «Polder»-Storyworld eintauchen. Erhältlich im iTunes-App-Store und über GooglePlay. www.derpolder.com

Sarah Gärtner, Ruth Widmer: «Elysium», Gesamtprojekt bis Oktober 2018, «Nimmerland», 15. bis 30. September 2016. www.theaterfalle.ch

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Erfinden ist: denken, bis es Funken schlägt.

Schutz oder Flucht? – Betsabeé Romeros «Piel de casa» (Haushaut).

Buch Erfindungs-Reichtum

Ausstellung Den Machismo unterwandern

Ein unterhaltsamer Wälzer erzählt von 1001 Erfindungen und den Geschichten dahinter.

Die Ausstellung «Without Restraint» zeigt das moderne Mexiko aus der Perspektive seiner Künstlerinnen.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON VALERIE THURNER

Ende 2015 verbreitete sich ein spannendes Gedanken-Experiment des Philosophie-Blogs «Wait But Why?» im Internet: Eine Hexe versetzt die Menschheit in einen Zustand wie vor 200 000 Jahren, ohne all die Errungenschaften, aber mit dem Wissen von heute. Der Fluch wird erst dann aufgehoben, wenn es den Menschen gelingt, ein iPhone 6S zu bauen. Wie lange würde das wohl dauern? Dieses Experiment ist ein echter Augenöffner. Denn was heisst das, bei Null anfangen? Allein schon die Grundbedürfnisse abzudecken – Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf –, bevor man überhaupt an eine darüber hinausgehende technische Entwicklung denken kann, ist eine gewaltige Herausforderung. Und plötzlich wird man sich der Fülle an zivilisatorischen Errungenschaften bewusst, die uns umgibt – und wie selbstverständlich wir all das nehmen. Das Sammelwerk «1001 Erfindungen, die unsere Welt veränderten» hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen Teil dieser gewaltigen Fülle in knappen, unterhaltsamen Artikeln zu erfassen, wobei es sich auf die technischen Erfindungen beschränkt. Chronologisch geordnet spannt es den Bogen von der Vor- und Frühgeschichte bis ins Internetzeitalter, von den ersten Steinwerkzeugen bis zur Inbetriebnahme des Teilchenbeschleunigers im Genfer CERN. Natürlich finden sich hier die Meilensteine der Zivilisation, wie etwa Rad, Pflug, Dampfmaschine, Transistor und Computerchip, ohne die Fortbewegung, Ackerbau, Industrialisierung und unser High-Tech-Zeitalter nicht denkbar wären. Aber daneben auch allerlei der «kleinen» Erfindungen, die unseren Alltag nicht weniger prägen: Zahnpasta und WC-Papier, Hängematte und Luftballon, Kaugummi und Büroklammer, BH und Lippenstift oder auch das Schweizer Armeemesser. Hinter all diesen Erfindungen aber stehen immer auch die Erfinder und ihre Geschichten – spannende, dramatische, amüsante. Geschichten mit einem Touch von 1001 Nacht, die zum Schmökern einladen. PS: Das iPhone findet sich übrigens erst an 999. Stelle.

Mit der Gruppenausstellung «Without Restraint» im Kunstmuseum Bern legt die Kuratorin Valentina Locatelli den Fokus bewusst auf Kunst von Frauen. Sieben international renommierte mexikanische Künstlerinnen sind mit über 30 Werken vertreten. «In der westlichen Welt ist ein exotisch überhöhtes Bild von ‹authentisch› mexikanischer Kunst von Frauen noch weit verbreitet», sagt Locatelli. Ziel der Ausstellung ist, solche Stereotypen zu entkräften. «Ausserdem wollte ich einer von der etablierten Kunstszene nach wie vor vernachlässigten Minderheit eine Plattform geben.» Die Auswahl der Künstlerinnen widerspiegelt die geografische, ethnische und soziale Vielschichtigkeit Mexikos. Teresa Serrano (geb. 1936) ist die älteste, Maruch Sántiz Gómez (geb. 1975) die jüngste Vertreterin. Dazwischen liegen Ximena Cuevas, Teresa Margolles, Betsabeé Romero, Claudia Fernández sowie Melanie Smith. Auch wenn in Mexiko das Frauenstimmrecht fast 20 Jahre früher als in der Schweiz eingeführt wurde – nämlich 1953 –, regiert noch über weite Strecken das Patriarchat. Die Opfer eines pervertierten Machismo, des Drogenkriegs und des Menschenhandels sind sehr oft Frauen. Teresa Serrano zeigt in ihrer Videoarbeit «La piñata» einen jungen Mann, der auf eine Frauengestalt aus Papiermaché einschlägt. Das Video entstand als Reaktion auf die unzähligen Vergewaltigungen und ungesühnten Morde von Frauen, die sich seit den Neunzigerjahren in Ciudad Juárez an der Grenze zum USBundesstaat Texas ereignen. Die Gleichstellungsfrage in Mexiko ist eng mit der ethnischen Zugehörigkeit verwoben. Maruch Sántiz Gómez reibt sich als emanzipierte Künstlerin und gleichzeitig indigene Tzozilfrau an den traditionellen Rollenzuschreibungen ihres Volkes. Die Ausstellung soll die Frauen aber nicht in ihren Opferrollen begreifen, so Locatelli: «Die Ausstellung ist thematisch nach drei kritischen Räumen künstlerischer Interventionen angeordnet – das Haus, der weibliche Körper und die Stadt. Diese Dreiteilung konzentriert sich auf die aktive Produktion von Raum: Die Künstlerinnen festigen neue gesellschaftliche Verhältnisse und unterwandern somit die überlieferten Hierarchien von Macht und Geschlechterrollen.»

Jack Challoner (Hg.): «1001 Erfindungen, die unsere Welt veränderten», Edition Olms 2015. 37.90 CHF http://waitbutwhy.com/table/iphone-thought-experiment

«Without Restraint. Werke mexikanischer Künstlerinnen aus der Daros Latinamerica Collection», noch bis zum 23. Oktober, Kunstmuseum Bern. www.kunstmuseumbern.ch

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BILD: BETSABEÉ ROMERO 2001 (AUS: DAROS LATINAMERICA COLLECTION, ZÜRICH)

BILD: ZVG

Kultur


BILD: ISTOCKPHOTO

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Versuchen Sie einmal, das Fleisch so langsam zu essen, wie es gegart wurde.

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Scherrer + Partner GMBH, Basel

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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten

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Coop Genossenschaft, Basel

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Treuhand U. Müller GmbH, Bern

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Lions Club Zürich-Seefeld, Zürich

Statt das Fleisch zu hacken, um es zart zu machen, garen wir es lange. Bis es buchstäblich von der Gabel fällt.

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Supercomputing Systems AG, Zürich

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Fraumünster Versicherungstreuhand AG,

VON TOM WIEDERKEHR

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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AnyWeb AG, Zürich

Bisher war es hippen Foodtrucks an trendigen Strassenecken vorbehalten, Pulled Pork Burger anzubieten. Aber spätestens seit die Schnellimbiss-Kette mit dem grossen M den am langsamsten gegarten Burger für sich beansprucht, wird es Zeit, dass wir uns hier mal damit beschäftigen. Rein technisch sorgen niedrige Temperatur und lange Gardauer für eine teilweise Lösung des Kollagen im Bindegewebe des Fleisches und die Bildung von Gelatine. Das Bindegewebe wird unter Hitze also weicher. Genau dieser Effekt sorgt dafür, dass das Schweinefleisch nach etlichen Stunden Gardauer so weich und zart ist, dass nur eine Gabel benötigt wird, um es zu zerteilen. Pulled Pork heisst die Zubereitung also nicht, weil man das Fleisch quasi aus der Sau zerrt. Die Köche von den Foodtrucks lassen ihr Pork in der Regel über Nacht in einem Smoker garen, so dass das Fleisch zusätzlich den typischen Rauchgeschmack annimmt. Aber mit einem haushaltüblichen Backofen geht das auch. Und eine Marinade sorgt dafür, dass das Fleisch dennoch einen feinen Geschmack bekommt. Für die Trockenmarinade – oder den Rub, wie die Streetfood-Hipster sagen würden – je einen Teelöffel Koriander- und Senfsamen, Pfeffer sowie zwei Teelöffel Salz im Mörser mahlen. Mit je einem Teelöffel Piment d’Espelette, Rosenpaprika, Pimenton de la Vera, Knoblauchpulver und wenig gemahlenem Zitronengras vermischen. Zwei Kilo Schweineschulter rundherum mit dem Rub einreiben und über Nacht – am besten 24 Stunden – im Kühlschrank marinieren lassen. Mit einem kleinen Trick überlisten wir den Backofen, welcher das Fleisch sonst eher austrocknen würde: durch eine Injektionsnadel, die man in der Apotheke bekommt, impfen wir die Schweineschulter gleichmässig mit 5 dl Ananassaft. Die Schweineschulter bei 100°C auf einen Rost in den Backofen geben. Unter den Rost ein Blech zum Auffangen des Fleischsaftes schieben. Die Schweineschulter immer wieder mit dem austretenden Saft bestreichen. Das Pulled Pork ist fertig, wenn es eine Kerntemperatur von 88°C erreicht hat, das dauert etwa zehn bis elf Stunden. Jetzt acht am besten selbstgemachte Brioche-Buns – das Rezept steht in Surprise 344 oder auf dem Blog – mit ebenfalls selbst gemachtem Ketchup bestreichen, mit Krautsalat und dem mit der Gabel zerteilten Pulled Pork belegen. Langsam in den saftigen Burger beissen und sich dabei wie ein echter Hipster fühlen.

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A. Reusser Bau GmbH, Recherswil

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Kreislauf 4+5, Zürich

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Hervorragend AG, Bern

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Frank Türen AG, Buchs

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Schweizerisches Tropen- und Public Health-

Bezugsquellen und Rezepte: http://www.piattoforte.ch/surprise

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Piatto forte Langsames Fast Food

Zürich

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Institut, Basel 20

Familie Iten-Carr Holding AG, Zug

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Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Imbach Reisen AG, Wanderreisen, Luzern

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Institut und Praxis Colibri, Murten

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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Francis Alÿs zeigt: Manchmal führt etwas zu nichts.

Chur Komm, geh!

Performance «We Ate Lobster: Twenty Four», Mi, Fr

Wir kennen Alberto Giacomettis «L’homme qui marche», das dürre Männchen, das so bedächtig einen Fuss vor den andern setzt, dass man nur hoffen kann, dass dieser eine Schritt tatsächlich Teil eines ganzen Gehens ist. Gehen ist gedankliches Vorwärtskommen und Wahrnehmen. Und Gehen ist daher auch künstlerische Methode, das wissen wir nicht erst seit Robert Walser. Das zeigt die Ausstellung SOLO WALKS in Chur (umgeben von Bergen, die zum Wandern einladen), die neben Direktor Stephan Kunz die beiden Literaturkritiker Juri Steiner und Stefan Zweifel kuratiert haben, die zusammen schon Dada ins Landesmuseum brachten. Sie schicken uns auf einen Parcours durch verschiedene Räume, der selbst zu einer grossen Erzählung über das Gehen wird. Hier kann man sehen, was Gehen für Bruce Naumann oder Francis Alÿs heisst, und kommt sich im Vergleich recht normal und fast ein bisschen langweilig vor. Die SOLO WALKS werden flankiert von vielfältigen Sonderveranstaltungen. Regisseur Fredi M. Murers Protagonisten laufen viel, schnell und manchmal sogar rückwärts, und das kommt nicht von irgendwo, sondern von Charlie Chaplin, dessen «The Kid» ihn schwer beeindruckt hat. Darüber redet er nun – über das Trampen im Film. Ueli Jäggi und Jürg Kienberger, beide dem Marthaler-Gefolge zugehörig (bei dem sich auch ab und zu einer mal etwas eigen bewegt, tendenziell aber langsamer als Chaplin), lesen und singen Robert Walsers «Der Spaziergang», und Franz Hohler macht eine Spaziergangslesung: «Franz qui marche». (dif)

und Sa jeweils 20 Uhr; Denkwerkstatt «Jung, talen-

«SOLO WALKS – Eine Galerie des Gehens», noch bis

tiert & krank?», Sa, 14.30 Uhr, mit Anmeldung

zum 6. November. Sonderveranstaltungen: Spazier-

unter info@wildwuchs.ch, anschliessend Podiums-

gang mit Stadtwanderer Benedikt Loderer,

diskussion, 17 Uhr, Roxy, Muttenzerstrasse 6,

Mi, 14. Sept., 18 Uhr; «Als die Filme noch liefen» mit

Birsfelden. www.wildwuchs.ch

Fredi M. Murer, Do, 6. Okt., 18 Uhr; «Der Spazier-

Was ist schon normal?

Basel Wahnsinnspausen Löcher in die Luft starren, Luftschlösser bauen und ausmalen, singen oder Handstand üben: Was macht man eigentlich mit seiner Zeit in der Psychiatrie ausserhalb der eigentlichen Therapiesitzungen? Das Performance-Kollektiv We Ate Lobster bringt in «Twenty Four» auf die Bühne, was Patienten der Basler Jugendpsychiatrie ihnen von ihrer Wirklichkeit berichtet haben. In der Denkwerkstatt mit anschliessender Podiumsdiskussion, «Jung, talentiert & krank?», sprechen Jugendliche darüber, wie sie mit ihrer Erkrankung und der daraus resultierenden Krise in ihrem Umfeld umgehen: Wie behält man die Hoffnung? Und was ist schon normal? (win) Wildwuchs Extra, Mi, 14. bis Sa, 17. September.

BILD: ZVG

BILD: FRANCIS ALŸS & GALERIE PETER KILCHMANN, ZURICH; 1997

BILD: KIRA VAN EIJSDEN/TWENTY FOUR

Ausgehtipps

Über seelische Wunden singen – und sprechen.

Zürich Musik als Aufruf Die Zürcher Sängerin und Pianistin Verena von Horsten ist seit dem Winter mit ihrem neuen Album «Alien Angel Super Death» auf Tour. Die Musik vermischt Pop und Rock zu einem schweren, energiegeladenen Sound. Dazu ist sie mit ihrer Stimme stark präsent. In der Band helfen gestandene Leute wie David Langhard, Ephrem Lüchinger und Simon Britschgi mit. Bevor die Truppe nach Deutschland auf Tournee geht, spielt sie ein Gratis-Konzert im Zürcher Stall 6. Von Horsten verarbeitet in ihren Liedern den Selbstmord ihres Bruders. Der sah vor vier Jahren keinen anderen Ausweg mehr und setzte seinem Leben ein Ende. Von Horsten konnte nicht anders, als damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie versteht die Musik und die Texte als Aufruf, Selbstmord und die Gründe dafür nicht weiter zu verschweigen. Erst wenn man offen darüber spreche und nicht wegschaue, lernen die Menschen, mit seelischen Wunden umzugehen. (bc) Verena von Horsten, Do, 15. September, 20 Uhr, Stall 6, Gessnerallee 8, Zürich. www.verenavonhorsten.com

gang», Fr, Sa, 21. und 22. Okt, jeweils 18 Uhr; «Franz qui marche», Mi, 26. Okt, 20 Uhr u. v. m. Bündner Kunstmuseum, Chur. www.buendner-kunstmuseum.ch

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BILD: FLURIN BERTSCHINGER

Challenge League Die Herzen der Männer

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Neue Kolumne

Saniha Izo, Feministin

gagiert sich Izo. Mithilfe des Sozialamts hat sie einen Arabischlehrgang für geflüchtete syrische Kinder aufgebaut. «Jedes Kind hat das Recht, seine Muttersprache korrekt zu lernen», sagt sie. Sie hat bereits 14 Schülerinnen und Schüler. Saniha selbst lernt jeden Tag Deutsch. «Es ist schwierig. Aber es ist das Wichtigste», sagt sie, die von einem Soziologiestudium träumt. «Die Schweiz hilft mir und meiner Familie viel durch Sozialhilfe», fügt sie an. «Aber ich will selber arbeiten.»

Der kurdische Journalist Khusraw Mostafanejad, 31, floh 2011 aus seiner Heimat Iran und lebt heute als anerkannter Flüchtling in der Schweiz. Hier erzählt er von den Menschen, die er auf diesem Weg kennengelernt hat – und davon, wie sie sich ihren Platz in der neuen Heimat erarbeiten.

BILD: FLURIN BERTSCHINGER

Bis im Sommer 2014 lebte ich im Asylzentrum Schwanen, einem ehemaligen Hotel für Rucksacktouristen in Stein am Rhein. In meinem letzten Winter dort war da plötzlich diese Frau: Sie schien mit einigen Geflüchteten aus Syrien bekannt zu sein, meistens Familien. Sie spielte mit den Kindern, und wenn sie mit einem sprach, hatte sie stets ein Lächeln auf den Lippen. Das erste Mal unterhielten wir uns auf Arabisch und sprachen, natürlich, über Politik. Beim nächstem Mal war sie überrascht, dass ich Kurde bin und früher, während meiner Zeit im Irak, mit Feministinnen gearbeitet habe. Das war der Beginn unserer Freundschaft. Später arbeiteten wir zusammen an der Sonderausgabe des Blicks, die im Herbst 2015 von 13 Geflüchteten gemacht wurde. Saniha Izo, 40, entstammt einer kurdischen Mittelschichtfamilie aus Syrien. Mit 15 zwang ihre Mutter sie zur Heirat, mit 16 bekam sie ihr erstes Kind. Mit ihrem Ehemann zog sie in die Hauptstadt Damaskus, wo sie in das blühende kulturelle Leben eintauchte und merkte, wofür sie kämpfen wollte: für jene Frauenrechte, die ihr selbst durch die Verheiratung genommen worden waren. «Wir mussten fast heimlich arbeiten, um die Regierung nicht zu verärgern», sagt sie über den Verein, in dem sie sich damals engagierte. Als 2011 der Aufstand begann, brach sie ihr Archäologiestudium ab, «um die Stimme der Frauen in die nachrevolutionäre Gesellschaft zu tragen», wie sie sagt. Doch der Krieg veränderte alles, und das Aufkommen radikalislamistischer Kräfte sowieso. Seit Januar 2014 ist Izo in der Schweiz. Ihr Asylgesuch wurde rasch akzeptiert und sie konnte ihre vier Kinder zu sich holen. «Ich habe hier viel Hilfe erfahren», sagt sie. Auch im Exil ist sie als Frauenrechtlerin aktiv. Ihr Verein «Das Leben ist Frieden» hat den Hauptsitz in der Schweiz und Ableger in den zwei kurdischen Städten Kobani und Hasaka im Norden Syriens. Ihre Utopie: «Ich will die gleichen Rechte für Frauen und Männer, egal wo auf der Welt.» Die Nachricht von den Belästigungen in der Kölner Silvesternacht habe sie erschüttert, sagt Izo: «Das ist eine Schande, aber jetzt können sich die Europäer vorstellen, gegen was Feministinnen im Nahen Osten kämpfen. Ich will die Gedanken und Herzen dieser Männer ändern.» Die Situation der Frauen im Westen sieht sie nüchtern: «Europas Frauen sind zwar frei, aber ihre nackten Körper werden in der Werbung und in den Medien kommerzialisiert. Die Frauen sind auch hier noch nicht gleichberechtigt, aber es ist viel besser als bei uns.» Auch in ihrer neuen Heimat Schaffhausen en-

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Tatjana Georgievska Basel

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Andreas Hossmann Basel

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Roland Weidl Basel

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Stadtführer-Porträt «Ich liess mir helfen, das war nicht einfach für mich» Job, Frau, Wohnung: Heiko Schmitz hat alles verloren und lebte zwei Jahre unter der Brücke. Seine Geschichte zeigt: Es kann jeden treffen. Und es geht schneller, als man denkt.

«Entschuldigen Sie bitte, wenn ich undeutlich spreche, aber ich hatte kürzlich eine Auseinandersetzung. Dabei ist meine Zahnprothese kaputt gegangen. Ich bin Heiko Schmitz. Geboren bin ich vor 50 Jahren in Köln. Gelernt habe ich Sportfachverkäufer. Das war aber nicht meins. Ich habe in jungen Jahren eine Firma gegründet und mit acht Angestellten Häuser in Holzbauweise erstellt. Das ging so lange gut, bis zwei Kunden nicht bezahlt haben. Wegen der Schulden musste ich die Firma aufgeben. Als Bauleiter in Dänemark, Schweden und Holland versuchte ich zu Geld zu kommen, ohne Erfolg. 2004 war ich konkurs. Zwei Jahre später zog ich in die Schweiz. Hier habe ich für ein Gipser-Unternehmen auf Grossbaustellen 30 bis 40 Mitarbeiter geführt. Ich malochte 12 bis 14 Stunden pro Tag, zum Teil auch sonntags. Fünf Jahre lang machte ich keine Ferien. Die Folge: ein Burnout. Ich liess das nicht behandeln, und kurz darauf erlitt ich einen Arbeitsunfall. Dabei rissen praktisch alle Bänder meiner linken Schulter. Die Unfallversicherung wollte nicht bezahlen und ich war wieder verschuldet. Kaum ging es mir ein wenig besser, schrieb mir meine Frau ein SMS. Sie wollte nach 22 Jahren Ehe die Scheidung. Zu allem Übel fand mein Arbeitgeber wenig später, ich sei unfallanfällig, und entliess mich. 2013 hatte ich nichts mehr: keinen Job, keine Wohnung, keine Beziehung, ich landete auf der Gasse. Und wenn ich Gasse sage, dann meine ich das auch so: Ich habe unter der Brücke geschlafen, 25 Monate lang. Der erste Aufsteller in dieser Zeit waren die Leute in der Gassenküche. Sie fanden: ‹Heiko, du bist ein Ruhiger, du kannst hier bei der Arbeit helfen.› Von wegen ruhig, die kannten mich noch nicht. Aber mit dem Job in der Gassenküche hatte ich die erste Hürde weg von der Gasse genommen: Ich liess mir helfen. Das war nicht einfach für mich. Als ich mich einigermassen gefangen hatte, starb meine Tochter 2014 bei einem Autounfall. Ich liess mich komplett gehen, trank 25 bis 30 Dosen Bier pro Tag. Unterdessen habe ich meinen Alkoholkomsum auf fünf Dosen pro Tag reduziert – und zwar ohne ärztliche Hilfe, worauf ich stolz bin. Bei der Gassenküche hat man später doch noch bemerkt, dass ich eine grosse Klappe habe, und mich an den Verein Surprise vermittelt. Die suchten 2015 einen Stadtführer (ich hätte auch liebend gern im Strassenchor gesungen, es hiess aber, ich sänge zu laut und zu falsch). «Heiko, du kannst das», fanden die Leute dort. Die Einarbeitung war sehr anstrengend. Ich zweifelte lange, ob ich das kann, hatte immer wieder Abstürze. Doch bei Surprise glaubte man an mich. Auch wenn ich lethargisch war oder alles über den Haufen werfen wollte, schickten sie mir eine SMS: ‹Komm Heiko, wir reden über alles.› Seit Ende 2015 bin ich Stadtführer. Dabei erzähle ich auch von der Ausgrenzung der Obdachlosen. Pärke werden so ‹neu gestaltet›, dass Übernachten fast nicht mehr möglich ist: Bänke ohne Lehnen, Sprinkleranlagen, die nachts um zwei losgehen, oder Toiletten, die nachts schliessen und tagsüber 1.50 kosten. Und da sind die Kontrollen: Im Bahnhof hat mich die gleiche Polizei-Patrouille drei Mal behelligt. ‹Herr Schmitz, zeigen Sie doch den Ausweis›, hiess es beim dritten Mal. Wer kein gültiges Zugticket hat, den weist die SURPRISE 383/16

BILD: LUCIAN HUNZIKER

AUFGEZEICHNET VON BEAT CAMENZIND

Polizei weg. Wer mehrmals erwischt wird, erhält eine Busse wegen Hausfriedensbruchs: 2700 Franken. Neben der Gassenküche besuchte ich das Tageshaus für Obdachlose oder den Schwarzen Peter. In Ersterem kann man seine Kleider waschen, duschen oder neue Kleider mitnehmen. Der Schwarze Peter bietet eine Meldeadresse an. Mittlerweile sind in Basel über 430 Menschen darauf angewiesen, erschreckend, finde ich. Das Allerwichtigste an solchen Einrichtungen sind aber die sozialen Kontakte. Denn das Leben auf der Strasse isoliert einen. Wo ich jeweils geschlafen habe, verrate ich niemandem: Unter Obdachlosen wird alles geteilt, das letzte Bier, die letzte Zigarette, nur der Schlafplatz, der bleibt geheim. Inzwischen habe ich eine neue Beziehung und ich kann bei meiner Freundin schlafen. So, und zum Schluss merkt euch eines: Es kann jeden treffen. Job- und Wohnungsverlust kommen schneller, als man denkt. Ich hoffe, dass ihr nie obdachlos werdet.» ■

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Surprise – mehr als ein Magazin

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Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration ‹ › 20, 4051 Basel Spalentorweg F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der Deutschschweiz um den Titel des Schweizermeisters. Einige Spieler nehmen am Homeless World Cup teil. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsleitung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (Mitglied der Geschäftsleitung), Jannice Vierkötter (Mitglied der Geschäftsleitung) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami, verantwortlich für diese Ausgabe), Beat Camenzind (bc), Diana Frei (dif), Thomas Oehler (toe), Sara Winter Sayilir (win), redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Flurin Bertschinger, Stephanie Elmer, Markus Forte, Lucian Hunziker, Roland Schmid, Valerie Thurner, Manuela Zeller Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 20 400, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Sara Huber, Christian Sieber, Kanzleistr. 107, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Fabian Steinbrink Scheibenstrasse 41, 3014 Bern, bern@vereinsurprise.ch Café Surprise T +41 61 564 90 50 Zaira Esposito (Leitung), z.esposito@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassenfussball T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach), d.moeller@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T +41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Beat Jans

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 383/16


Surprise – mehr als ein Magazin

Schalaktion Viel Wärmendes am Homeless World Cup BILD: LBE

Zum vierten Mal wurden wunderschöne und liebevoll angefertigte Schals für die Surprise Nati ins Surprise-Büro in Basel geschickt oder persönlich vorbeigebracht. Mit 60 Schals im Gepäck konnten die Spieler in Glasgow vor Beginn des Spiels allen gegnerischen Mannschaften einen Schal überreichen und auch einzelnen Spielerinnen und Spielern aus unterschiedlichsten Ländern eine grosse Freude machen. An dieser Stelle möchten wir unseren herzlichen Dank an alle Strickerinnen, Häklerinnen und Näherinnen aussprechen und sie alle dazu ermuntern, jetzt schon mit der Schalproduktion für nächstes Jahr zu beginnen! 2017 wird die Nati nach Oslo reisen. Nicht nur ein Schal, sondern zwei Schals wurden von den Spielern und dem Coach-Assistenten kurz vor der Abreise zum Homeless World Cup als schönste Stücke gewählt. Zum dritten Mal hat Claire Geiser aus Tavannes, die anscheinend genau weiss, was das Herz von Street-Soccer-Spielern begehrt, gewonnen. Ebenfalls gewonnen hat eine Gruppe von zwölf Schülerinnen der Klasse 6b vom Schulhaus Tössfeld in Winterthur, die einen ganz besonderen Patchwork-Schal designt und genäht haben. Zwei sehr unterschiedliche Kreationen also, die den Spielern gleich gut gefallen haben und beim Finalspiel dem Team Holland feierlich überreicht wurden. Wir gratulieren zum Sieg und wünschen allen viel Spass an unserem ebenfalls textilen Preis, nämlich Surprise-Badetüchern. (lbe) Dank der langjährigen Unterstützung von:

BILD: DMO

BILD: DMO

Im Uhrzeigersinn ab Ruedi Kälin (mit Surprise-Mütze): Burhan Akkaya, Filmon Brhane, Raphael Garot, Matthias Steiner, Eric N’de, David Aellen.

Die Surprise Nati 2016 bei der Parade in Glasgow.

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Die Schalübergabe an Team Holland vor dem Finalspiel.

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