Surprise 395

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Nr. 395 | 3. bis 16. März 2017 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Wie im Wallis Namibias Bauern zwischen Raubtieren und Herdenschutz


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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Löwen, Geparden, Nashörner – vor 40 Jahren wurden sie in Namibia noch wild abgeschossen. Dann führten Naturschützer ein neues Konzept ein: Die Gemeinden verpflichten sich zum Schutz der Fauna, dafür profitieren sie von den Touristen, die wegen der Wildtiere kommen. Das funktioniert zwar, dafür werden immer wieder die Kühe und Ziegen der Bauern gerissen. Und das ganze Konzept könnte schnell zusammenbrechen. Das Zusammenleben von Menschen und Wildtieren ist ein komplexes System, je nach Justierung profitieren die einen oder die anderen und manchmal sogar fast alle. Lesen Sie die Reportage aus Namibia ab Seite 10. Die beiden Tänzer Venter und Moloi sind immer wieder für Tanz-Workshops DIANA FREI in der Schweiz und können den Vergleich zwischen dem Leben hier und ih- REDAKTORIN rem Township in Südafrika ziehen. Venter hat davon geträumt, hierher auszuwandern. Aber ein Land besteht nicht nur aus Landschaften und Reichtum. Deshalb ist er nicht mehr so sicher, ob es gut wäre, als Einwanderer hier eine neue Rolle spielen zu müssen. Es wäre ein komplett anderes Lebensmodell. Das Gespräch ab Seite 16. Tadmor, Syrien: Davon zu sprechen, die ehemaligen Insassen des Foltergefängnisses würden Lebensmodelle ausprobieren, wäre zynisch. Aber es gibt einen Grund, wieso sie das Gefängnis nachbauen und in die Rollen von damals schlüpfen – auch in die ihrer einstigen Folterer. Lesen Sie ab Seite 19. Frau sein ist auch ein Lebensmodell, das je nach Gesellschaft anders gestaltet werden kann. Und das die Frauen selbst mitgestalten sollten. Lesen Sie mehr zu Petra Volpes Film «Die Göttliche Ordnung» ab Seite 23. Lebensmodelle: Wenn sie nicht stimmen, muss man sie nachjustieren.

BILD: WOMM

Titelbild: Willem Vrey

Editorial Lebensmodelle

Herzlich Diana Frei

10 Namibia Tourismus statt Wilderei SURPRISE 395/17

16 Südafrika «Wir sind noch nicht frei.»

BILD: ZVG

BILD: WILLEM VREY

BILD: LUCIAN HUNZIKER

Inhalt 04 Aufgelesen Letzte Ruhe 04 Vor Gericht Tatort: Gleis 43 05 Sozialzahl Institutionelles Outsourcing 06 Wir sind alle #Surprise Leonardo Nigro war dabei 07 All Inclusive Wegsehen. Hinsehen 22 Wörter von Pörtner Facebook ist das neue Rauchen 23 Film Göttliche Ordnung 25 Ausstellung Mirror Images 26 Film Tour de France 26 Ausgehtipps «Ich bin ja kein Rassist, aber …» 28 Strassenfussballer-Porträt Fabiano Martini 29 Surplus Eine Chance für alle 30 In eigener Sache Impressum

19 Film Licht aus der Hölle

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Aufgelesen News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Letzte Ruhe Nürnberg. Eine Viertelmillion Billig-Bestattungen werden jährlich in Deutschland durchgeführt. Das ergab eine Umfrage des Internetportals bestattungen.de. Eine solche Discount-Bestattung kostet ungefähr 1500 Euro. Meist bedeutet dies eine Feuerbestattung und eine anonyme Grabstelle. Im Vergleich dazu schlägt eine Erdbestattung mit rund 6000 Euro Kosten zu Buche. Als häufigster Grund für eine günstige Bestattung gaben die Befragten wenig oder keine Bindung zum Verstorbenen an.

Besser lesen London. Fünf Millionen Engländer haben keine ausreichenden Lesefähigkeiten, bemängelt eine Kampagne des Big Issue für den Erhalt öffentlicher Bibliotheken in Grossbritannien. Wer nicht lesen und schreiben könne, rutsche schneller in die Kriminalität ab. 40 Prozent der britischen Gefängnisinsassen verfügen über so geringe Lese- und Schreibkenntnisse, dass sie nach ihrer Entlassung kaum Arbeitsstellen finden können. Wer aber nach dem Gefängnis direkt einen Job bekommt, wird deutlich seltener rückfällig.

Länger zuhause Hannover. 62 Prozent der 18- bis 24-Jährigen wohnten im Jahr 2015 noch bei ihren Eltern. Über die letzten zehn Jahre hat sich daran praktisch nichts verändert, teilte das Statistische Bundesamt mit. Dabei leben deutlich weniger junge Frauen zuhause als junge Männer, das Verhältnis liegt bei 56 zu 68 Prozent. Zudem ziehen die urbanen Jugendlichen schneller aus als ihre ländlichen Altersgenossen: Während in der Stadt nur 45 Prozent noch bei Mama und Papa wohnen, sind es auf dem Land 78 Prozent.

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Vor Gericht Tatort: Gleis 43 Es war längst nach vier Uhr, als Max* mit 2,58 Promille Alkohol, Kokain und Cannabis intus die Party verliess und im Zürcher Hauptbahnhof die Rolltreppe zum Gleis 43 nahm. Von Weitem hörte er eine Betrunkene auf dem Perron krakeelen. «Stunde der Idioten» heisst das Phänomen des Zürcher Nachtlebens in Justiz- und Polizeikreisen, wenn die Clubs schliessen und es die Zugedröhnten und Frustrierten auf die Strasse spült. Dann reicht ein Funke zur Explosion und das Geplänkel eskaliert zur Gewalt. Was am frühen Sonntagmorgen des 20. Dezember 2015 im HB geschah, ist quasi ein Lehrbuchbeispiel. Max setzte sich zu der Unbekannten auf die Bank. «Vielleicht weil sie auch Deutsche ist», erklärt er dem Richter vage. Die beiden Landsleute warteten auf den Zug in die Agglo – und gerieten in Streit. «Hätte sie mich in Ruhe gelassen, wäre das nicht passiert.» Eine Überwachungskamera hielt fest: Punkt 04.58 Uhr stösst ein glatzköpfiger Mann eine Frau mit solcher Wucht rücklings weg, dass sie von einer anfahrenden S-Bahn erfasst, mehrere Meter mitgeschleift und überrollt wird. Schwer blutend, mit abgetrenntem linken Unterarm, schleppt sie sich auf den Perron zurück. Die Sanitäter brachten sie ins Krankenhaus, Max landete im Bau. Nun steht er wegen versuchter vorsätzlicher Tötung vor Gericht. «Ich geriet in Panik, als sie wutentbrannt auf mich zurannte», rechtfertigt sich Max. Er ist 33 Jahre alt, 1,85 gross, 87 Kilo schwer, Metzger von Beruf. «Vielleicht würde ich wieder so reagieren.» Dass der Zug eingefahren war und bereits wieder beschleunigte, habe er nicht bemerkt. «Ja, was denken Sie denn, was an

einem Bahnhof kommt?», ruft der Richter ungehalten. «Elefanten?» In der Nacht, als Sonja den Arm verlor, feierte sie mit Kollegen Weihnachten. Heute ist sie 100 Prozent arbeitsunfähig, in Psychotherapie und hat sich aus dem Sozialleben zurückgezogen. Der Arm musste nach einer Replantierung wegen Komplikationen wieder amputiert werden. Der Verteidiger hält es für eine kluge Strategie, die Schuld auf Sonja zu lenken. Sie hatte 2 Promille Alkohol und Kokain im Blut. «Die Frau pöbelte, kotzte, war aggressiv und provozierte alle.» Sein Mandant habe die Frau weder töten noch verletzen wollen und die Distanz zum Gleisbett falsch eingeschätzt. «Es war Notwehr, wenn auch mit fatalen Folgen.» Herr Max führe ein bürgerliches Leben, preist ihn der Verteidiger, sei Koch in bekannten Restaurants der Stadt gewesen, plane eine Ausbildung zum Chefmetzger, wolle seine Verlobte heiraten und eine Familie gründen. Diesen Plan wird Max aufschieben müssen. Der Richter verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten. Zwar habe er in einem Akt von «exzessiver Notwehr» gehandelt, doch zeugten die Videoaufnahmen von «unerträglichen Szenen». Und der Frau noch eine Mitschuld zu geben, sei nicht in Ordnung. Aus den Zuschauerrängen ertönt Unmut. «Eigentlich müsste die Frau für ihr Verhalten vor Gericht», raunen sich Max’ Verlobte und ein Bekannter empört zu und verlassen den Saal. * Name geändert

Isabella Seemann ist freie Journalistin in Zürich und porträtiert monatlich die kleinen und grossen Fische, die es in die Gerichtssäle geschwemmt hat.

Priska Wenger ist Illustratorin in Biel und New York. SURPRISE 395/17


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Die Sozialzahl Institutionelles Outsourcing Die Arbeitslosenstatistik des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO weist für das Jahr 2015 eine durchschnittliche Zahl von 200 973 Stellensuchenden aus. Diese Angabe ergibt sich aus den monatlich erfassten Personen, die bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren RAV gemeldet sind und dort Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beziehen. Die Zahl der Stellensuchenden umfasst arbeitslose und nicht arbeitslose Stellensuchende; die einen sind sofort in einen Job vermittelbar, die anderen nicht, weil sie in Zwischenverdiensten arbeiten, im Militärdienst sind, sich krankgemeldet haben oder Ähnliches mehr. Bekanntermassen zeigt die Zahl der Stellensuchenden nicht die ganze Wahrheit über das Ausmass an Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Hierzu sind die Angaben über die Erwerbslosigkeit, welche vom Bundesamt für Statistik publiziert werden, aussagekräftiger. Die Zahl von über 200 000 Stellensuchenden ist aber noch in anderer Hinsicht erklärungsbedürftig. Sie sagt nur aus, wie viele Personen im monatlichen Durchschnitt Unterstützungsleistungen von der Arbeitslosenversicherung bezogen, nicht aber, wie viele Personen insgesamt in diesem Jahr als Stellensuchende erfasst wurden. Dies zu wissen, ist aber für eine adäquate Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von grosser Bedeutung. Das kann mit einem Gedankenexperiment illustriert werden. Nehmen wir im ersten Fall an, dass sich im Januar 1000 Personen als Stellenlose melden, am Ende des Monats aber wieder einen Job finden. Das Gleiche im Februar und in den folgenden Monaten. Am Ende des Jahres ergäbe dies einen Durchschnitt von 1000 Stellensuchenden, aber eine Gesamtzahl von 12 000 von Arbeitslosigkeit Betroffenen. Nehmen

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BILD: ANNETTE BOUTELLIER

Vendor Week Standaktionen in Basel, Bern und Zürich, 6. bis 10. Februar In eurer Gesellschaft fühlt man sich wohl, ihr seid alle sehr lieb und Menschen mit Herz. Danke für die schönen Feste, ihr habt einen super Chor. Ich kann euch nur empfehlen.

Wir alle sind #Surprise Wer das Strassenmagazin kauft, tauscht mehr als Geld gegen Ware: Fast immer gibt es ein Lächeln dazu, oft werden ein paar Worte ausgetauscht – und manchmal sogar gegenseitiges Vertrauen aufgebaut. Viele Leserinnen und Leser berichten uns von ihren Begegnungen mit den Verkaufenden. Und sie schreiben der Redaktion, was sie gut gefunden haben und was weniger. Wir bedanken uns herzlich für diese Rückmeldungen – und teilen hier einige davon mit Ihnen.

Leserbrief

Vielen Dank für die wertvolle Arbeit. Surprise bringt mich immer wieder zum Staunen, Nachdenken, Lesen – in Gespräche. F. Dietrich-Keiser, Biel

BILD: DOMINIK PLÜSS

BILD: ROLAND SOLDI

M. Schieck, über Facebook

Stadtrundgang

Die Tour durch Basel war wunderbar. Wir konnten viel Neues lernen und haben Dinge gesehen (und gehört), auf die wir auch in Zukunft achten können. Vielen Dank für die tolle Arbeit und ein besonders grosses Dankeschön an Stadtführer Markus Christen für seine Flexibilität und Geduld mit unserer Gruppe. S. Papatheodorou, Imagine Schweiz, Basel

Leserbrief

An Surprise gefällt mir die standhafte Weigerung, sentimental, anklägerisch oder selbstbemitleidend wirken zu wollen. R. Dähler, Zürich

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Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Schreiben auch Sie uns – oder schicken Sie uns Bilder von Ihren Begegnungen mit Surprise! leserbriefe@vereinsurprise.ch oder Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel SURPRISE 395/17


All Inclusive Wegsehen. Hinsehen. Laut dem Bundesamt für Statistik lebten im Jahr 2015 auf Schweizer Landwirtschaftsbetrieben 347025 Schafe und 74269 Ziegen. Wieviele Menschen in der Schweiz zur selben Zeit zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen waren, kann das BFS nicht sagen. Aufgrund von Hochrechnungen geht man davon aus, dass ungefähr zwei Prozent der Bevölkerung weniger als 200 Meter oder gar nicht gehen können. Von einer schwerwiegenden Seh- und Hörbehinderung sind 1,3 beziehungsweise 1,1 Prozent der Bevölkerung betroffen. Schätzungen zufolge leben in der Schweiz insgesamt 1,6 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Zu keiner Art von Behinderung – inklusive psychischer oder chronischer Krankheiten – existieren derart exakte Erhebungen wie zur Anzahl der Schweizer Ziegen und Schafe. Die Wahrscheinlichkeit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung nimmt mit steigendem Lebensalter zu. Schweizer Altersorganisationen legen grossen Wert darauf, diese Einschränkungen als natürliche Alterserscheinungen und nicht als Behinderungen zu bezeichnen. Denn Behinderung klingt schlimm. Das will keiner haben. Alter klingt besser. Und ist ausserdem noch weit weg. Dass 95 Prozent der Behinderungen nicht seit Geburt bestehen, sondern durch eine Krankheit oder einen Unfall erworben werden, ist kaum jemandem bewusst. Und dass 50 Prozent der Bevölkerung SURPRISE 395/17

im Laufe ihres Lebens einmal psychisch erkranken, auch nicht. Physische wie psychische Verletzlichkeit gehört zum Leben dazu, ist also normal. Dennoch werden Behinderung und Krankheit als etwas Abnormales empfunden. Pro Infirmis, die grösste Schweizer Behindertenorganisation, wurde im Jahr 1920 unter dem Namen «Schweizerische Vereinigung für Anormale SVfA» gegründet. Menschen mit Behinderungen werden heute zwar nicht mehr als A(b)normale bezeichnet, im direkten Vergleich wird für Nichtbehinderte aber nach wie vor das Attribut «normal» benutzt. So sagte kürzlich ein langjähriger Betreuer einer Wohngruppe für Menschen mit geistiger Behinderung in einem Interview mit der Aargauer Zeitung: «In vielen Bereichen des Lebens verhalten sich Behinderte normaler als ‹normale› Menschen.» Was ist «normaler als normal»? Gibt es Menschen, die normal sind, Normalere und solche, die am Normalsten sind? Gibt es 50 Normalitätspunkte für Kinder, die gerne Kartoffelstock essen, und 100 Abnormalitätspunkte für solche, die Spinat mögen? Was genau ist denn das Abnormale an Menschen mit Behinderung? Dass sie für gewisse Dinge Unterstützung benötigen? Gibt es denn irgendjemanden, der alles selbst kann und nie auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen ist? Wir sind alle abhängig von anderen. Auch die

lautesten Hohepriester der Eigenverantwortung waren als Kinder auf die Fürsorge anderer Menschen angewiesen. Und bei vorübergehenden Erkrankungen oder im Alter werden sie es möglicherweise auch wieder sein. Das macht Angst. Diese Angst vor der eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit wird meist unbewusst auf Menschen mit Behinderungen projiziert. Viele Vorbehalte, Berührungsängste, Stigmatisierungen und Diskriminierungen, die Menschen mit Behinderungen entgegengebracht werden, liegen nicht so sehr in der vermeintlichen Andersartigkeit der Menschen mit Behinderungen begründet, sondern in der Unfähigkeit der (noch) Nichtbehinderten, die Gemeinsamkeiten zu erkennen und auszuhalten.

Marie Baumann ist eine profilierte Beobachterin der Schweizer Sozialpolitik. Seit 2009 schreibt sie den Blog ivinfo.wordpress.com

Rahel Nicole Eisenring ist freischaffende Illustratorin.

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Namibia gilt in Sachen Naturschutz als Vorzeigemodell. Bedrohte Wildtiere kehren zurück, der Tourismus boomt. Doch die Rückkehr der Wildtiere ist für viele eine existenzielle Bedrohung.

Namibia Tourismus statt Wilderei VON SIMON JÄGGI (TEXT) UND WILLEM VREY (BILDER)

Es ist früher Morgen in Kunene im Nordwesten Namibias. Die Sonne steht tief über den ockerfarbenen Hügeln. Eine Antilopenherde springt durch ein ausgetrocknetes Flussbett über dürre Büsche, Sand und Steine hinweg. Noch liegt die kühle Nachtluft über der Ebene. In den kleinen Siedlungen in den Tälern erwacht langsam das Leben. Der Bauer Yankee Amrein, ein Mann mit grauem Bart und Lederhut, lässt die übrig gebliebenen Ziegen aus dem Gatter. Über eine nahe Schotterstrasse fahren in schweren Geländewagen die ersten Touristen, ausgerüstet mit Feldstecher und Kamera. Den Blick in die Weite gerichtet, suchen sie nach Elefanten, Löwen, Giraffen und Nashörnern. Ihr Weg führt die Besucher mitten durch die Wildnis und zugleich durch bewohntes Gebiet. Jedes Jahr reisen über eine Million Touristen nach Namibia, auf der Suche nach wilder Natur. In Sachen Artenschutz gilt das Land als Erfolgsmodell. Es war vor 30 Jahren das erste weltweit, das den Naturschutz in der Verfassung verankerte. Seither sind die Wildtiere wieder auf dem Vormarsch. Löwenrudel ziehen durch die Steppen, in Kunene befindet sich die weltweit grösste freilebende Nashorn-Population. Und die Zahl der Elefanten, die in vielen anderen Ländern von der Bildfläche verschwinden, hat sich hier über die vergangenen zwei Jahrzehnte verdoppelt. Für seine Bemühungen erhielt Namibia zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt die Silbermedaille des WWF. Es sind die Tiere, welche das Land weltweit bekannt machen. Die vielleicht entscheidendste Rolle in dieser ökologischen Erfolgsgeschichte spielt jedoch die lokale Bevölkerung. Der Bauer Yankee Amrein schaut seinen Ziegen zu, die sich um dürre Sträucher drängen. Es hat hier seit vielen Monaten nicht mehr geregnet. Hinter seinem Rücken stehen einige ebenerdige Wohnhäuser aus

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Ziegelsteinen und Lehm, rund zwei Dutzend Menschen wohnen hier in Fontaina. Dahinter eine kleine Oase mitten in der steinigen Wüste, umgeben von Palmen, Feigen und Mangobäumen. Die Felder sind ausgetrocknet, der Metallzaun um den Garten niedergetrampelt. «Elefanten», sagt er. «Ich habe es aufgegeben, ihn zu flicken. Sie kommen immer wieder zurück.» Amrein hat sich vor rund 40 Jahren in Fontaina niedergelassen. Eine Zeit, in der noch klar war, wer hier die Überhand hat. «Wir schossen damals auf alles, was sich bewegte», sagt Amrein. Die Löwen galten unter dem Apartheidregime der südafrikanischen Mandatsmacht als Ungeziefer, für Elfenbein und Nashorn-Hörner zahlte der asiatische Markt bereits damals hohe Preise, und die übrigen Raubtiere, die Leoparden und Geparde, hatten nicht nur ein begehrtes Fell, sie bedeuteten für die Menschen auch eine grosse Gefahr. Die Bauern schossen und schossen, so schildert es Amrein, bis sie eines Tages merkten: «Wenn wir so weitermachen, bleibt am Ende kein einziges Tier mehr übrig. Dann leben wir in einem toten Land.» Löwen, Leoparden und Hyänen dringen ein Es war jene Zeit, als eine Gruppe weisser Umweltschützer aus Südafrika durch die Region reiste. Gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung wollten sie die verbliebenen Tierbestände retten. Und warben deshalb im ganzen Land für die Errichtung sogenannter Community-Based Conservancies. Das Konzept hinter diesen Gemeindeschutzgebieten, wie sie auf Deutsch heissen: Die Gemeinden verpflichten sich zum Schutz der Wildtiere und gelangen dafür durch den wachsenden Tourismus zu mehr Wohlstand. Hier, in der Gegend von Yankee Amrein, fanden die Umweltschützer Unterstützung. Zwischen steinigen Hügeln und Tälern entstand vor 20 Jahren das «Torra Conservancy», das erste Gemeindeschutzgebiet des Landes. Seither ist im gesamten Land ein Netz von SURPRISE 395/17


Nicht alle Nashörner sterben hier eines natürlichen Todes. Vereinzelt gibt es immer wieder Fälle von Wilderei.

grossen Probleme. Dem Park fehlten die Mittel und der Staat sei nicht über 80 solcher Schutzgebiete entstanden. Zusammen bedecken sie bereit, mehr zu bezahlen. knapp ein Fünftel des Landes, eine Fläche viermal so gross wie die Schweiz. Für offene Stellen Bewerber aus dem Schutzgebiet bevorzugt Amrein gehörte einst zu den engagierten Fürsprechern des TorraDoch lieber als von ungelösten Problemen spricht Davids von ErfolSchutzgebietes. Er hoffte, wie viele hier, auf neue Einkommensmöglichgen. Von den ehemaligen Wilderern, die heute als Parkranger arbeiten keiten, mehr Wohlstand, öffentliche Verkehrsmittel und eine bessere Geund zum Schutz der Tiere beitragen. Und den Geldquellen, die sich sundheitsversorgung. Manche seiner Hoffnungen haben sich erfüllt. durch den Tourismus erschlossen haben. Namibia hat sich in den verDoch sein Leben sei deshalb nicht einfacher geworden, sagt er. Denn die gangenen Jahren als beliebtes Reiseziel für Safari-Touristen etabliert. Rückkehr der Elefanten und Raubtiere, die Umweltschützer und TourisDie Tierwelt und die Landschaften locken jedes Jahr über eine Million tinnen freut, bedeutet für ihn und alle anderen Bauern eine existenzielBesucher in das Land. Seit der Gründung des Torra-Schutzgebietes wurle Bedrohung. Amrein erzählt von Löwen, Leoparden und Hyänen, die nachts um die Höfe schleichen und die Gatter überwinden. Von Familien, denen keine einziDicke Ordner mit Einnahmen und Ausgaben stapeln sich auf Davids’ lange Kuh mehr geblieben ist. Er selber habe im gem Tisch. «Wenn mir die Bauern von ihren Verlusten erzählen, kommen vergangenen Jahr über ein Dutzend Ziegen mir die Tränen», sagt er. verloren. Hinter seinem Hof auf einer Anhöhe ist der Boden schwarz verkohlt. «Dort oben den alleine in diesem Gebiet vier Lodges für Touristen eröffnet. Die verbrenne ich die toten Tiere.» Reissen Raubtiere sein Vieh, erhält er Unterkünfte geben einen kleinen Teil ihrer Übernachtungseinnahmen vom Staat eine kleine Entschädigung. Es sei viel zu wenig, um das veran die Gemeinden weiter, sie buchen bei der Parkverwaltung Ranger für lorene Tier zu ersetzen, sagt Amrein. «Wenn uns der Staat unsere Verdie Safaris. Und weil die Jagd auf Tiere wie Gazellen und Antilopen luste nicht angemessen entschädigt, werden die Bauern hier zugrunde weiterhin erlaubt ist, kann das Schutzgebiet eine staatlich festgelegte gehen.» Eine halbe Fahrstunde entfernt, am Eingang zum kleinen Dorf Anzahl Abschusslizenzen an Trophäen-Jäger verkaufen. Insgesamt erBersig, steht neben der breiten Schotterstrasse das Büro der Parkverwirtschaften die Conservancies pro Jahr umgerechnet über fünf Milliowaltung. Ein kleines Steinhaus mit vergitterten Fenstern. Darin sitzt der nen US-Dollar. Das ist viel Geld in Gegenden, wo zahlreiche Menschen Büroleiter Juphresius Davids, ein untersetzter Mann mit Trägershirt und mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen müssen. Die Torrakurzrasierten Haaren. Er kümmert sich um die Finanzen des Parks. DiParkverwaltung finanziert von den Einkünften 14 Vollzeitstellen, sie cke Ordner mit Einnahmen und Ausgaben stapeln sich auf dem langen zahlt den alten Menschen eine kleine Rente, unterstützt die Ausbildung Tisch. «Wenn mir die Bauern von ihren Verlusten erzählen, kommen von Jugendlichen und den Ausbau von Schulen und öffentlichen mir die Tränen», sagt er. Die fehlenden Kompensationen seien eines der SURPRISE 395/17

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Grßne Ebenen finden Touristen hier nicht: Manchmal herrscht monatelang Trockenheit. Und der Weg zur nächsten Wasserstelle ist oft weit.

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Ein notdürftiger Zaun schützt die Kühe vor den Löwen. Etwas Besseres können sich die meisten Bauern nicht leisten.

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kraft. Nach einem Jahr beförderte sie der Manager zur Kellnerin. Als sie Gebäuden. Der grösste wirtschaftliche Erfolg, sagt Davids, sei jedoch ein in eine andere Lodge ausserhalb des Schutzgebietes wechseln sollte, anderer. «Die jungen Leute haben endlich Arbeit.» Früher habe ausserkündigte Martoli. «Ich wollte meine Heimat nicht verlassen», sagt sie. halb der Landwirtschaft kaum jemand eine Beschäftigung gefunden. Stattdessen wechselte sie in das Service-Team der Palmwag-Lodge, wo Heute arbeitet aus fast jeder Familie jemand bei einer der Lodges, die sie vor einigen Monaten schliesslich zur Rezeptionistin aufstieg. Es ist dazu verpflichtet sind, bei offenen Stellen Bewerber aus dem Schutzgeeine der höchsten Positionen, die eine Mitarbeiterin hier einnehmen biet zu bevorzugen. kann. Doch Martoli, die mit ihrem auch für namibische Verhältnisse beVom Dorf Bersig und dem Büro der Parkverwaltung führt die unbescheidenen Lohn ihre Familie unterstützt, hat sich bereits ein weiteres festigte Strasse über flache Hügel und durch weite Täler, schnurgerade Ziel gesetzt: Sie möchte irgendwann selber Managerin einer Lodge werweiter in Richtung Norden. In den Ebenen stehen Giraffen und einzelne Zebras. Kurz bevor man das Ende des Schutzgebietes erreicht, zweigt eine kleine Piste ab. Amrein hoffte auf neue Einkommensmöglichkeiten, mehr Wohlstand, «Palmwag Lodge» steht auf einem Schild neöffentliche Verkehrsmittel und eine bessere Gesundheitsversorgung. ben dem Strassenrand. Hinter einer kleinen Manche seiner Hoffnungen haben sich erfüllt. Anhöhe versteckt steht eine Lodge wie aus dem Reisekatalog. Hohe Palmen, blühende den. «Meine Kinder sollen später unter besseren Bedingungen aufwachSträucher, dazwischen strohbedeckte Bungalows mit Klimaanlage. Am sen können, als ich es musste», sagt sie. Dann geht sie zurück zur ArRand der beiden rasenumwachsenen Swimmingpools sitzen amerikanibeit. Vor der Lodge wartet ein Pick-up mit laufendem Motor. In einem sche und europäische Touristen im Schatten. Vögel zwitschern, und nahen Tal sollen sich mehrere Elefanten aufhalten. Eine Gruppe älterer hinter der Rezeption im Eingangsbereich steht Simone Martoli. Sie ist eiTouristen steigt auf die überdachte Ladefläche des Fahrzeugs, nimmt ne von jenen jungen Menschen, die im Tourismus eine neue PerspektiPlatz auf den gepolsterten Sitzen und macht sich auf zur Safari. ve gefunden haben. In einer Pause erzählt sie unter einem Strohdach ihEs ist früher Abend, als Yankee Amrein von seinen Rindern zurückre Geschichte, die auf einem kleinen Bauernhof begann. Nicht weit von kehrt, die einige Kilometer entfernt weiden und die Nacht hinter einem hier und doch in einer anderen Welt. mit Stacheldraht bewehrten Zaun verbringen, umringt von einer Flutlichtanlage mit Bewegungsmelder. Die Verwaltung des Parks hat ihm Aufstiegsmöglichkeiten in der Lodge und ein paar weiteren Bauern diese Anlage zum Schutz vor Raubtieren Ein schöner Ort war es, sagt sie, aber ein hartes Leben. Sie musste finanziert. Für Amrein eine Lebensversicherung für seine Tiere und für täglich Holz zum Kochen sammeln, zu den Kühen schauen und an eiihn selbst. Ohne seine Kühe hätte er nichts mehr. Um alle Höfe zu vernem Brunnen Wasser holen. Strom gab es keinen. Bevor Martoli die sorgen, reichen jedoch die finanziellen Mittel des Parks nicht aus. Amobligatorische Schule abgeschlossen hatte, eröffnete in der Nähe des rein sitzt auf einem Mauervorsprung seines Hauses. Die Sonne steht tief Bauernhofs eine Safari-Lodge. Sie fand dort eine Stelle als Reinigungsüber den Hügeln. Das Wohl der Wildtiere und der Menschen sei hier eng miteinander verbunden, sagt er. «Nur wenn hier alle Menschen angemessen vom Schutzgebiet profitieren, können auch die Wildtiere langfristig überleben.» Sollten sich die Bewohner eines Tages gegen den Naturschutz entscheiden, müssten sie nicht lange nach neuen Einkommensquellen suchen. Die Wilderei ist noch immer ein lukratives Geschäft. ■

Ein Ranger im Park sucht anhand von Kot die Nashornfährten.

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Juphresius Davids kümmert sich um die Finanzen des Parks.

Simone Martoli hatte ein karges Leben. Jetzt ist sie Rezeptionistin in der Lodge.

«Die Elefanten trampeln den Zaun immer wieder nieder», sagt Bauer Amrein.

Die Ranger protokollieren jedes gesichtete Nashorn im Park.

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Pantsula verleiht FlĂźgel: Teboho Moloi (links) und Venter Teele Rashaba (rechts) beim Warm-Up vor einem Workshop in Liestal.

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Südafrika «Jetzt sind es Schwarze, die Schwarze unterdrücken» Seit zwei Jahren pendeln die Tänzer Venter Teele Rashaba und Teboho Moloi zwischen Workshops an Schweizer Schulen und ihrem Leben in einem Johannesburger Township. Ein Spagat zwischen den Welten.

VON SARA WINTER SAYILIR (INTERVIEW) UND LUCIAN HUNZIKER (BILDER)

fen. Zunächst konnte ich das nicht annehmen, ich mag solche Art der Wohltätigkeit nicht. Ich gebe die Hilfe, die ich bekomme, lieber gleich an andere weiter. Nun unterstützen sie meinen Sohn, der bei meiner ExFreundin und ihrer Mutter lebt. Ich bin sehr dankbar dafür.

Venter Teele Rashaba (26) und Teboho Moloi (30) sind Tänzer, ihr Tanz heisst Pantsula. Es ist ein schneller Strassentanz, entwickelt in den Spüren Sie Vorbehalte Ihnen gegenüber unter den Schülern und StuTownships der Fünfziger- und Sechzigerjahre im Südafrika der Apartdentinnen, mit denen Sie arbeiten? heid. Heute ist Pantsula mit seinen schnellen Bewegungen und der cooRashaba: Nein. Die Schüler in den Schulen sind fasziniert von «Life in len Art, tänzerisch kleine Geschichten zu erzählen, zu einer populären Progress» und von uns. Was ich aber sehe, ist, dass wir glücklich sind, Jugendkultur geworden. Es geht um Spass, aber auch um Kondition und und viele von ihnen nicht. Obwohl wir aus dem armen Südafrika komIdentität. Seit zwei Jahren unterrichten die beiden Johannesburger nun Schweizer Schülerinnen und Studenten in Pantsula. Angefangen hat diese Art des Kultur«Hier schaut man uns auf der Strasse an, als sei austausches 2015 mit ein paar Workshops anlässlich des Kinostarts von «Life in Progress», irgendwas nicht in Ordnung. Irgendwann fragst du einem Dokumentarfilm der Zürcher Filmemadich, warum gucken die so? Ist irgendwas in cherin Irene Loebell (siehe Surprise 348/2015). meinem Gesicht?» Über mehrere Jahre hatte Loebell die PantsulaTeboho Moloi Tanzgruppe Taxido im Johannesburger Township Katlehong mit der Kamera begleitet, Venter men und sie aus der reichen Schweiz. Aber ich glaube, indem wir an die Teele Rashaba und Teboho Moloi sind zwei ihrer Protagonisten. AufgeSchulen gehen und mit den Schülern diskutieren, ändern wir schon etwachsen in bitterer Armut und mit wenigen Chancen auf Bildung, bot was. der Tanz ihnen eine Alternative zu Kriminalität und Perspektivenlosigkeit. Inwiefern? Für die Workshops an Schweizer Bildungseinrichtungen kommen Moloi: Nachdem die Jugendlichen den Film «Life in Progress» geschaut Rashaba und Moloi extra für ein paar Wochen eingeflogen. Mit den teilund wir mit ihnen diskutiert haben, kommen sie zu uns und sagen: «Ihr nehmenden Jugendlichen schauen sie den Film an, stehen ihnen für habt uns gezeigt, wie wertvoll das Leben ist, das wir leben, und wir beDiskussion und Fragen zur Verfügung und geben dann eine Lektion merken es gar nicht.» Im Film sehen sie, dass es Menschen gibt, die unPantsula. Es ist ihr dritter Aufenthalt in der Schweiz, das Interesse an ter ganz anderen Bedingungen leben als sie selbst, unter viel schlechteweiteren Kursen – und damit weiteren Schweiz-Aufenthalten – ist hoch. ren Bedingungen. Ich erinnere mich an einen Jungen in St. Gallen, der sagte: «Ich glaube nicht, dass ich eine Woche im Township überleben Teboho Moloi und Venter Teele Rashaba, Sie sind zum dritten Mal in würde.» der Schweiz. Hat sich Ihr Eindruck von der Schweiz seit Ihrem erRashaba: Sollte es der Schweiz einmal nicht mehr so gut gehen, dann sten Besuch 2015 verändert? werden diese jungen Leute wenig Überlebenschancen haben. Sie haben Venter Teele Rashaba: Als wir 2015 hier ankamen, fiel mir auf, dass die nicht gelernt zu teilen, Verantwortung für andere zu übernehmen. Polizisten am Flughafen alle Weissen durchliessen und nur uns kontrollierten. Und das bringen Sie den Jugendlichen bei? Teboho Moloi: Auch jetzt schaut man uns auf der Strasse an, als sei Moloi: Bei uns lernen sie, die gute Seite zu sehen in Bezug darauf, wo irgendwas nicht in Ordnung. Irgendwann fragst du dich, warum gucken sie geboren wurden. Sie sehen, wie privilegiert sie sind, und lernen das die so? Ist irgendwas in meinem Gesicht? Manchmal glaube ich, die Leuzu schätzen, anstatt traurig darüber zu sein, dass das Leben nicht imte haben Angst, ich würde meine Jacke öffnen und alle in die Luft sprenmer perfekt ist. gen. Aber wir lachen darüber und nehmen es nicht allzu ernst. Die meisten Menschen hier sind sehr nett. Ich geniesse es, hier zu sein. Was bringt die Schweiz Ihnen bei? Rashaba: Wir sind Schlimmeres aus Südafrika gewohnt. Ich finde die Moloi: Immer wenn wir hier in eine Schule kommen, werden wir herzSchweiz immer noch sehr schön und freue mich auf unsere nächste lich aufgenommen und unsere Arbeit wird hoch geschätzt. Die MenTour. Ausserdem habe ich mich beim letzten Besuch in eine Schweizeschen behandeln uns mit Respekt, etwas, was wir so nie erwartet hätrin verliebt, die mich letzten Sommer in Südafrika besucht hat. ten. Und das Alter spielt keine Rolle. Wenn man hierzulande Lehrer ist, wird man respektiert, sogar von Gleichaltrigen. Wie haben Sie einander kennengelernt? Rashaba: In gewisser Weise ändert die Schweiz gerade mein Leben. In Rashaba: Ihre Familie hatte «Life in Progress» gesehen und wollte mich Südafrika wird das, was wir tun, nicht wertgeschätzt. kennenlernen. In ihren Augen verpflichtete sie ihr Wohlstand zum HelSURPRISE 395/17

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Woran liegt das? «Erst haben wir unter der Unterdrückung durch das Rashaba: Wir leben in einem Township. Das Apartheidsystem gelitten, nun sind wir immer ist ein Ort, der extra dafür geschaffen wurde, dass wir ohne irgendeine Form von Pernoch nicht frei. Nur ist es jetzt umso ärgerlicher, weil spektive oder Möglichkeiten dort leben. Wann es Schwarze sind, die Schwarze unterdrücken.» immer Vertreter des Staates ins Township komVenter Teele Rashaba men, sind es uniformierte Einheiten, die Drogenrazzien veranstalten, aber Bildung bringt oder an eine ordentliche Gesundheitsversorgung heranzukommen. Vor uns keiner. Erst haben wir unter der Unterdrückung durch das Aparnicht allzu langer Zeit musste ich operiert werden, ich schwebte in Letheidsystem gelitten, nun sind wir immer noch nicht frei. Nur ist es jetzt bensgefahr, aber das Krankenhaus wollte nicht operieren. Keine Versiumso ärgerlicher, weil es Schwarze sind, die Schwarze unterdrücken. cherung, kein Geld. Doch dann hat Irene sich dahintergeklemmt, die FilDeswegen habe ich meine eigene Organisation gegründet, um nicht memacherin aus der Schweiz, und plötzlich ging alles ganz schnell. mehr darauf zu warten, dass der Staat etwas tut. Weil sie das nötige Geld hat (lacht). Moloi (lacht ebenfalls): Sie haben gedacht: Schweiz? Oh nein, schnell Was für eine Organisation ist das? operieren. Bloss keine schlechte Presse. Rashaba: Meine Tanzschule. Sie bedeutet sehr viel für die Gemeinschaft Rashaba: Niemand hat es sich ausgesucht, in einer armen Familie gedort. Es gibt viele schlechte Einflüsse, viel Drogenmissbrauch, Kriminaboren zu sein. Ich fühle mich sehr unwohl, darüber zu reden. Ich bin lität. Ich bin wie eine helfende Hand, weil ich die Kinder an einem Ort fast gestorben, weil ich kein Geld hatte. Nur weil jemand aus der sammle und ihnen etwas beibringe. Damit verringere ich das Risiko, Schweiz sich eingesetzt hat, hab ich überlebt. Es gab viele dort im Krandass sie straffällig werden, nehme den Eltern Sorgen ab. Aber ich bekenhaus, denen es so ging wie mir, und für die hat sich keiner engagiert. komme nichts dafür, nicht einmal 100 südafrikanische Rand, um ein Einer ist gestorben. Es ist schrecklich. bisschen Essen zu kaufen. Was meinen die Familien der Tanzschüler zu Ihrer Arbeit? Schätzen die, was Sie leisten? Rashaba: Manche der Eltern ja. Sie rufen an und laden mich zum Abendessen ein. So ernähre ich mich zeitweise. Oder ich esse bei Freunden. Ich suche mir absichtlich keinen Brotjob, denn das würde bedeuten, all das fallenlassen zu müssen, was ich aufgebaut habe. Würde ich mich auf eine bezahlte Arbeit konzentrieren, wären die Kinder wieder auf der Strasse, würden im Gefängnis landen, drogenabhängig werden. Warum setzen Sie sich so für die Kinder ein? Rashaba: Ich bin allein aufgewachsen, ohne Eltern. Ich musste schauen, dass ich irgendwie an Geld für Essen kam. Also verkaufte ich beispielsweise Marihuana. Ich war sehr jung und hatte Kontakt zu vielen Kriminellen und Gangstern. Ich wusste nicht, was ich anderes hätte tun können. Immer wenn ich aus der Schule kam, fragte ich mich: Was werde ich essen? Dann fing ich mit dem Tanzen an. Das hat mein Leben verändert. Deswegen habe ich überlebt. Moloi (deutet auf seinen Freund): Venter hält die Kids von der Strasse fern, so dass sie die negativen Seiten des Lebens im Township gar nicht erst sehen. Sie sind immer am Proben, und wenn sie fertig sind, ist es dunkel, dann gehen sie nach Hause und schlafen. Am nächsten Tag gehen sie wieder zur Schule und danach zum Tanzen. Bekommen Sie Unterstützung vom Staat? Immerhin nehmen Sie ihm quasi Arbeit ab. Rashaba: Die lokalen Funktionäre des ANC (Regierungspartei African National Congress, Anm. d. Red.) wissen, was ich tue, sie kennen mich, haben mich aufwachsen sehen. Doch alles, was sie mir zu sagen haben, ist: «Wir haben auch klein angefangen.» Ich sehe das als Beleidigung. Südafrika wird in den Medien oft als Entwicklungsmotor dargestellt, der viele Arbeitsmigranten aus anderen Teilen des Kontinents anzieht. Das scheint mit dem Land, von dem Sie erzählen, wenig zu tun zu haben. Rashaba: Die Leute, die für Arbeit oder Bildung nach Südafrika kommen, bringen oft viel Geld von dort mit, wo sie herkommen. Und wenn du Geld hast, kannst du in Südafrika viel erreichen. Es geht um Korruption. Diese Immigranten gründen Firmen, und die laufen gut, weil sie Geld haben, um das System zu schmieren. Wir armen Südafrikaner haben keine Arbeit. Für uns ist es auch schwer, Wohnungen zu finden

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Im Film träumten Sie noch davon, zur Universität zu gehen und zu studieren. Ist dieser Traum inzwischen wahr geworden? Rashaba: Ja. Wenn auch nicht an der Universität, so doch an einem College. Es ist eines der besten in Afrika. Ich studiere Public Relations und Management, das kommt auch der Organisation zugute. Inwiefern? Moloi: Venter gibt das, was er am College lernt, auch an seine Schüler weiter, die sich das Studium nicht leisten können. Rashaba: Ich werde erst sagen, dass ich erfolgreich war, wenn ich das Leben der Leute im Township verändert habe. Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Jetzt träume ich davon, ein paar meiner Studenten in die Schweiz zu bringen. 2017 könnte es bereits so weit sein. Ausserdem würde ich gern für ein Studium in die Schweiz kommen, um hier zu leben und mich weiterzubilden. Aber es könnte sein, dass ich dann für den Rest meines Lebens diskriminiert werde. Das ist anstrengend. Ich möchte herkommen und zweifle gleichzeitig. Vielleicht ist es auch in Ordnung, zum Arbeiten hierher zu kommen und wieder nach Hause zu fahren. ■ Neue Workshops Venter Teele Rashaba und Teboho Moloi werden von Anfang Mai bis Mitte Juli wieder auf Workshop-Tournee in der Schweiz sein. Es gibt noch freie Daten. Anfragen bitte an contact@lifeinprogress.ch

Life in Progress Der Dokumentarfilm der Zürcher Filmschaffenden Irene Loebell liefert eine eindrückliche Einsicht in das Leben im Johannesburger Township Katlehong. Hier hat sich, auch 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid, die materielle Situation der Bewohner kaum verbessert. Über den Strassentanz Pantsula versuchen die Jugendlichen ihren eigenen Weg aus der Armut zu finden. Wir verlosen drei DVDs von «Life in Progress». Schicken Sie uns bis zum 20. März eine E-Mail mit Name und Adresse und Betreff «Progress» an redaktion@strassenmagazin.ch oder eine Postkarte an Redaktion Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel. SURPRISE 395/17


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Geschlafen wurde in Tadmor von 19 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Toilettengänge waren nachts verboten.

Film Licht aus der Hölle Im Dokumentarfilm «Tadmor» spielen ehemalige Häftlinge eines Foltergefängnisses ihre jahrelange Agonie nach. Warum soll man sich das ansehen? Weil es Hoffnung macht. VON AMIR ALI

Will man wissen, wie sauber in einem Restaurant wirklich gearbeitet wird, schaut man sich die Toiletten an. Der Umgang mit Hygienegeboten an diesem Nebenschauplatz, so heisst es, lasse auf die Verhältnisse in Küche und Service schliessen. Diese Faustregel mag alt sein und simpel, aber sie leuchtet ein. Analog dazu könnte man sagen: Will man wissen, wie es in einem Staat wirklich zu- und hergeht, schaut man sich die Gefängnisse an. Man weiss, dass sie da sind, aber man sieht sie nicht. Es sind verborgene Orte, Nebenschauplätze, die mindestens ebenso viel über Gesellschaften verraten wie all die Kultur und Religion, die sie vor sich hertragen, die Werte und die schönen Worte. Die Handlungen, die der Dokumentarfilm «Tadmor» thematisiert, liegen bereits über 15 Jahre zurück. Und dennoch kommt er genau zur richtigen Zeit. Tadmor ist der arabische Name für Palmyra. Für uns im SURPRISE 395/17

Westen war die antike Wüstenstadt mit ihren sagenhaften Ruinen bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges eines der beliebtesten Touristenziele im Nahen Osten. Heute, nachdem der selbsternannte Islamische Staat die Stadt zweimal eingenommen und zahlreiche der antiken Stätten zerstört hat, wirkt Palmyra als Symbol für den Fanatismus und die Gewalt, die den Nahen Osten fest im Griff zu haben scheinen. In der altsemitischen Sprache bedeutet Tadmor «Dattelhain» – ein guter Name für die vielen Restaurants, die es vor Ort bestimmt gab und in deren lauschigen Gärten es sich westliche Besucher bis zum Ausbruch des Krieges im Jahr 2011 gutgehen liessen. Hinter den Kulissen aber – oder, um im Bild zu bleiben, auf dem Abort – lag eine düstere Realität, die nicht einmal jene zu sehen bekamen, die sie sehen wollten: Das Militärgefängnis von Tadmor war bis 2001 eine der brutalsten Folterstätten der Welt. Für die Menschen in Syrien und im Libanon steht Tadmor nicht in erster Linie für die Geschichte der Zivilisation, sondern für die Barbarei der Gegenwart. Tadmor ist der viel-

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In Tadmor wurden selbst die alltäglichsten Gelegenheiten zur Demütigung der Gefangenen benutzt.

Während die Wärter prügelten, musste der Gefangene die Schläge zählen. Machte er einen Fehler, gings von vorne los.

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leicht düsterste Auswuchs eines totalitären Herrschaftssystems. Eine Anlage, die darauf ausgerichtet ist, Menschen zu brechen und zu vernichten. Und die Gesellschaft draussen einzuschüchtern und abzuschrecken.

tag nach: ein einziger Spiessrutenlauf, der auch nachts nicht aufhört. In den Interviewsequenzen zwischen den Reenactments beschreibt einer der Männer: «Raus aus der Zelle, Schläge, wieder rein – das war alles, was es im Gefängnis zu tun gab.» Dazwischen die grosse Langeweile, hinter der sich die Angst versteckt: «Wenn du die Angst in dein Herz lässt, dann kollabierst du», sagt der zerbrechliche alte Mann. «Heisst es nicht, das Gehirn sei alles? Nun, mein Gehirn sagte mir: Sei stark, damit du überlebst.»

Inspiration Nazi-Deutschland 2015 wurde das berüchtigte Gefängnis von den Kämpfern des IS gesprengt. Tadmor mag Geschichte sein, doch das System besteht weiter: Gerade hat Amnesty International den Bericht «Menschliches SchlachtDer Weg aus der Falle haus» über das Militargefängnis Saydnaya bei Damaskus veröffentlicht. Der Film zeigt die Schläge, die Folter, die Misshandlungen, die durchBasierend auf Interviews mit 84 Personen, darunter ehemalige Insassen aus dargestellt werden, wenn wohl in abgeschwächter Weise. Es sind und Wächter, schätzt die Menschenrechtsorganisation, dass das syriaber die leisen Szenen, in denen der Film seine Wirkung entfaltet: Etwa sche Regime in Saydnaya während der ersten fünf Jahre des Bürgerkriewenn einer, der fünf Jahre in einer Isolationszelle in Tadmor verbrachte, ges zwischen 5000 und 13 000 Menschen heimlich hingerichtet hat. erzählt, wie er nach den Schlägen jeweils in seine Zelle zurückkehrte und Ein Licht auf das Wesen des syrischen Repressionsapparats wirft dort mit den Ameisen sprach, mit den Kakerlaken, den Fliegen und Spinauch eine aktuelle Recherche des französischen Magazins XXI, die auf nen. Nicht etwa, weil er wahnsinnig geworden war: «Meine grösste Deutsch in der März-Ausgabe des Magazins Reportagen erschien. Zwei Journalisten verfolgten die Spur des Nationalsozialisten und gesuchten Kriegsverbrechers «Tadmor» erzählt von Gewalt und Folter. Erstaunlicherweise liegt darin Alois Brunner, der nach Kriegsende in den Nasehr viel Zärtlichkeit, Zartheit, Verletzlichkeit. hen Osten floh und bis zu seinem Tod 2001 unter dem politischen Schutz von Baschar al-AsAngst war, dass ich irgendwann rauskommen würde und nicht mehr sads Vater Hafiz in Damaskus lebte. Brunner, SS-Kommandant und ensprechen könnte. Dass mich die Menschen nicht mehr verstehen würden ger Mitarbeiter von Adolf Eichmann, wird für die Deportation von fast und ich sie nicht.» Und auch als er keine Hoffnung mehr auf eine Ent130 000 Juden aus ganz Europa verantwortlich gemacht. Hafiz al-Assads lassung hatte, redete er weiter, um sich geistig am Leben zu erhalten. Geheimpolizei soll er beim Aufbau des Staates als Berater gedient und Zeigte den Fliegen den Weg aus der Zelle: «Was willst du hier, draussen sie insbesondere in die Verhör- und Foltermethoden der Nazis eingebist du besser dran.» weiht haben. Es mag an den Protagonisten liegen oder an der fast unbemerkbar feiDer Repressionsapparat ist Ausdruck des gewalttätigen Patriarchats, nen Arbeit des Filmteams – erstaunlicherweise liegt in «Tadmor» sehr das die Gesellschaften im Nahen Osten prägt. Ob Familienoberhaupt viel Zärtlichkeit, Zartheit, Verletzlichkeit. Das beginnt gleich am Anoder Staatschef: das System basiert auf dem absoluten Gehorsam der fang, wo man sieht, wie die Männer beinahe vergnügt das FoltergeUntergebenen. Nach dieser Logik muss bestraft werden, wer selber fängnis nachbauen. Später, wenn sie von dem Unvorstellbaren erzähdenkt, widerspricht, sich wehrt. len, das sie erlebt haben, scheinen sie ihre Erinnerungen beinahe zu Und deshalb steht Tadmor auch für all das, wogegen sich die Menstreicheln. Als wollten sie bei jedem Wort darauf Acht geben, Mensch schen in zahlreichen Ländern der Region im Laufe des Jahres 2011 zu erzu bleiben, so wie sie es damals getan haben müssen in ihren Handheben begannen. Wir im Westen vergessen das gerne. Früher sahen wir lungen. «Tadmor» ist ein Zeitdokument, das auf aussergewöhnliche Palmyra und schwelgten im Orient. Heute sehen wir Palmyra und erWeise von Gewalt und Folter erzählt. Und von Männern, die nicht nur schrecken über das Kalifat. Aber wir sehen nicht Tadmor, nicht damals stark genug waren zu überleben, sondern auch einen Weg gefunden haund nicht heute. Natürlich ist der islamistische Fanatismus ein Problem. ben, die Geschichten ihrer Leben selbst weiterzuschreiben. Nicht Opfer Für die Menschen im Nahen Osten ein noch grösseres als für uns. Aber der Täter zu werden. Sich nicht entmenschlichen zu lassen. «Ich bin ohne die jahrzehntelange brutale Unterdrückung durch totalitäre Systenicht wirklich frei, wenn ich jemand anderem die Freiheit raube. Der me sähen die Gesellschaften in der islamischen Welt heute anders aus. Unterdrückte und der Unterdrücker verlieren beide ihre MenschlichEs sind diese Zusammenhänge, die dem Dokumentarfilm «Tadmor» keit», soll Nelson Mandela gesagt haben. Die Männer von Tadmor haseine Aktualität verleihen. Das deutsch-libanesische Filmemacher-Paar ben einen Weg aus dieser Falle gefunden. Monika Borgmann und Lokman Slim hat rund zwei Dutzend ehemalige ■ Insassen bei einem aussergewöhnlichen Vorhaben begleitet: Heute grauhaarige Herren, gehörten sie in den Achtziger- und Neunzigerjahren zu den Tausenden von Libanesen, die während des libanesischen Bürgerkriegs 1975 bis 1990 in den Kerkern des syrischen Regimes verschwanden, das damals im Nachbarland als Besatzungsmacht fungierte. Als Präsident Baschar al-Assad im Jahr 2000 nach dem Tod seines Vaters das Amt übernahm, kam für kurze Zeit politische Frühlingsstimmung auf. Er erliess eine Amnestie für viele politische Häftlinge und liess einige der berüchtigten Gefängnisse schliessen, darunter auch Tadmor. In jener Zeit kamen die letzten der Protagonisten des Films frei – einige von ihnen waren über 14 Jahre in Syrien inhaftiert gewesen. Als zehn Jahre später die Rebellion losbrach, nahm die syrische Regierung Tadmor wieder in Betrieb. Und die Männer entschlossen sich, Monika Borgmann, Lokman Slim: «Tadmor», Libanon/Frankreich/Schweiz/ ihr Schweigen zu brechen. In einem verlassenen Schulgebäude in der Katar/Vereinigte Arabische Emirate 2016, 103 Min., Arabisch mit dt., frz., engl. UT. Nähe der libanesischen Hauptstadt Beirut bauen sie den Ort nach, an Ab 9. März in den Deutschschweizer Kinos. Premieren in Anwesenheit der dem sie jahrelang inhaftiert waren und gefoltert wurden. Die Männer Regisseure und Amnesty International: Do, 9. März, 18 und 20 Uhr, Kino Stüssihof, schlüpfen in ihre einstige Rolle als Gefangene, einige auch in jene ihrer Zürich; Fr, 10. März, 18 Uhr, Stadtkino Basel; So, 12. März, 11 Uhr, Kino Cameo, eigenen Peiniger. Während 103 Minuten spielen sie ihren GefängnisallWinterthur; So, 12. März, 18 Uhr, Kino Uferbau, Solothurn. SURPRISE 395/17

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Film Aufruhr im Rollen-Gefängnis In Petra Volpes Spielfilm «Die Göttliche Ordnung» kämpft eine junge Mutter 1971 für das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Es werden dabei nicht nur Frauen befreit. Sondern auch Männer.

Schweiz, 1971: Nora Ruckstuhl (Marie Leuenberger), Hausfrau und zweifache Mutter, putzt im Pfeifenrauch des Schwiegervaters die gute Stube, und der Waschküchenhimmel hängt voll frisch gewaschener Wollsocken. Noras Träume beschränken sich auf die grosse weite Welt in Form eines Globus, der im Kinderzimmer steht. Hier sitzt sie mit ihren Buben im magischen Licht der Leuchtkugel, stellt sich den Ozean vor und die Fische, die da unten im Dunkel leben. Noras eigener Aktionsradius ist nicht grösser als der ihrer Kinder. Oder der der Fische, die nichts ahnen von den Sonnenstrahlen da oben. Zwar hat sie schon gemerkt, dass ihr Hans es nicht nötig findet, dass sie wieder arbeiten geht, aber als sie von Frauenrechtsaktivistinnen angesprochen wird, findet sie trotzdem: «Ich fühle mich nicht unfrei.» Die Schweiz als blinder Fleck in einer Welt, in der sich die gesellschaftlichen Umwälzungen auf blumigste Art und Weise entfalten und der Summer of Love die verkrusteten Strukturen auflöst. Und ganz langsam fügt sich das Weltbild doch auch für Nora neu zusammen. Die persönlichen Geschichten der Dorfbewohnerinnen werden dabei zu den nötigen Mosaiksteinchen, und nach ein paar Frauenrechtsbroschüren beginnt auch «s’Nööreli», eins und eins zusammenzuzählen. Dass sie wieder arbeiten gehen will, tut ihr Hans (Max Simonischek) zunächst mit dem Vorschlag ab: «Ich mache dir noch ein Kind, dann ist dir nicht mehr langweilig», und er tut es mit Charme, sodass man sich als Frau ja eigentlich geschmeichelt fühlen sollte. Und dann ist da die minderjährige Hanna (Ella Rumpf), die ins Frauengefängnis gesteckt wird, weil sie es sich nicht verbieten lässt, mit dem langhaarigen Johnny aufs Motorrad zu steigen. Und die bejahrte Vroni (Sibylle Brunner), die alles verloren hat, weil ihr verstorbener Mann das ganze Geld verjubelt hatte. «Als mein Produzent Reto Schärli sagte, man müsste einmal einen Film über das Frauenstimmrecht in der Schweiz machen, hat mich fast der Schlag getroffen, weil ich da

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VON DIANA FREI

Noras politische Erweckung erschüttert auch ihre Ehe mit Hans – und belebt sie später intensiv.

selbst noch nicht darauf gekommen war», sagt Drehbuchautorin und Regisseurin Petra Volpe. «Es ist eine derartige Kuriosität in der Geschichte der Schweiz und in unserer Demokratie.» Volpe fing also an zu recherchieren, redete mit etlichen älteren Frauen, mit Marthe Gosteli – der knapp 100 Jahre alten Vorkämpferin für das Frauenstimmrecht –, mit der eigenen Mutter, die 1971 gerade ein Baby zuhause hatte: Petra Volpe selbst. Sie recherchierte im Gosteli-Archiv bei Bern, wo eine Menge historischer Zeugnisse zur Geschichte der Frau in der Schweiz aufbewahrt werden, sie las wissenschaftliche Arbeiten. Kein Geld für Anti-Suffragetten «Mir war wichtig, sinnlich erfahrbar zu machen, wie die Situation der Frauen in der Schweiz Anfang der Siebzigerjahre war. Vom Eherecht her, von der Stimmung in der Gesellschaft her», sagt Volpe. «Interessant war für

mich die Atmosphäre, die in diesem Land geherrscht hat, in dem die Frauen so lange das Frauenstimmrecht nicht bekommen haben. Ich suchte nach dem Grund. Und kam zum Schluss: Es hat mit einem tief verwurzelten Konservatismus zu tun.» Petra Volpe fand im Gosteli-Archiv eine Notiz einer jungen Mutter und Hausfrau: Sie hatte auf einen Einzahlungsschein eines Anti-Suffragetten-Vereins gekritzelt, sie wolle dafür kein Geld geben. Und sie sei zum ersten Mal selbst versucht, politisch aktiv zu werden, weil sie es eine Frechheit finde, dass Frauen Frauen verbieten wollten, abstimmen zu können. Aus diesem Fund wurde die Nora im Film. Wie die historischen Fakten in die Figuren einfliessen, ist schönste Drehbucharbeit. Die politische Motivation ergibt sich direkt aus den privaten Konstellationen heraus. «Ich habe mich damit beschäftigt, in welcher Art Frauen in der Schweiz politisch, finanziell, sozial gesetzlich benachteiligt waSURPRISE 395/17


© PETRAVOLPE BILD: PETRA VOLPE

«Es geht im Grunde um die Verantwortung des Individuums in der Demokratie. Es geht darum, wie wichtig Zivilcourage ist.» Regisseurin Petra Volpe

ren, was sich natürlich stark am Eherecht festmachte. Ich fand es wichtig, dass man das in Figuren verpackt, deren Geschichten nachvollziehbar sind», sagt Volpe. Und so sind sämtliche zentralen Frauenthemen im Film zu finden: Das Eherecht in Noras verhindertem Wunsch, zu arbeiten (der Ehemann kann es ihr verbieten). Das vorherrschende Frauenbild in Hanna, die brav zu sein hat, während ihr Johnny auf seinem Motorrad unbehelligt Gas geben kann. Und die Tatsache, dass eine Frau nach der Heirat ihre Karriere aufgab, um mit Uni-Abschluss den Kinderwagen durch das Dorf zu stossen, steckt in der Figur der Juristin Magda. Schön auch, wie der «Bären» – Vronis durch ihren Mann heruntergewirtschaftete Dorfbeiz – vom Schauplatz einer vergeigten Existenz und Symbol einer gescheiterten Ehe nun zur Zentrale der Frauenbewegung des Appenzeller Dorfes wird. Gegen die «Politisierung der Frau» Und dann ist da noch die bemerkenswerte Tatsache, dass es allen voran eine Frau ist, die gegen die Interessen ihresgleichen kämpft und das Aktionskomitee gegen die Politisierung der Frau leitet. Eine Dissertation über Frauen, die sich selbst gegen das Frauenstimmrecht stellten, wurde für Petra Volpe zu einer der Hauptquellen für die Drehbucharbeit. So ist auch «Die Göttliche Ordnung» nicht einfach ein wohlklingender Filmtitel – es ist vielmehr ein Originalzitat aus einer Kampagne dieses «Vereins gegen das Stimmrecht der Frauen», der tatsächlich existierte: Frauen stellten sich gegen das eigene Geschlecht und kämpften gegen die «Politisierung der Frau», weil sie nicht der «göttlichen Ordnung» entspreche. «Die AntiSuffragetten waren sehr stark und sehr störrisch und sehr präsent. Die sind leider keine ErSURPRISE 395/17

findung», sagt Volpe. «Bei Frauen – im Grunde bei allen Grupperungen, die benachteiligt oder unterdrückt sind – kann man ein seltsames Phänomen beobachten. Es gibt eine Art und Weise, mit der man sich ein bisschen Macht sichern kann, indem man sagt: Das, was du mir nicht geben willst, das will ich gar nicht. Das machen Kinder ja auch. Es ist eine Form von Erhaltung der eigenen Würde und von Illusion von Macht.» So kämpft Frau Dr. Wipf im Film nun gegen das «leidige Frauenstimmrecht» an – auch, um ihre eigene Machtposition als unverheiratete Frau zu verteidigen. Der haarsträubende Jargon ist historisch belegt. Auch die Männer stecken im Korsett Das gesellschaftliche Korsett betrifft umgekehrt genauso die Männer, die nicht aus ihrer Rolle ausbrechen können. Werner, der Vater der weggesperrten Hanna, ist als Bauer unglücklich und versucht den Erwartungen trotzdem gerecht zu werden. Menschliche Gefühle dürfte er sich gar nicht zugestehen: Als Familienoberhaupt wird er dazu gedrängt, hart durchzugreifen – auch wenn ihm Frau und Tochter damit abhandenkommen. Als seine Frau Theresa von ihrem früheren gemeinsamen Traum erzählt, zusammen nach Kanada auszuwandern, fühlt man sich fast schon an Richard Yates’ Roman «Revolutionary Road» erinnert, in dem ein Paar ebenso exemplarisch wie tragisch an den gesellschaftlichen Normen zerbricht. Auch die persönliche Meinung von Noras Ehemann Hans ist spürbar davon beeinflusst, dass seine Werkstattkollegen finden könnten: «Em Ruckstuehl sini mue go schaffe.» «Dass die Gleichberechtigung den Männern genauso zugute kommt wie den Frauen und dass das Patriarchat, diese Form von Konservatismus, allen schadet, ist ein wichtiges Ele-

ment», sagt Volpe. «Alle stecken in einer Form von Rollen-Gefängnis. Auch die Männer sind offensichtlich in etwas gefangen, das ihnen als Individuen nicht entspricht. Es war mir extrem wichtig, dass der Film auf eine solche Aussage hinausläuft.» Und wenn sich Frau Dr. Wipf und die Männergesellschaft an der Info-Veranstaltung zum Frauenstimmrecht im Gemeindesaal über Nora und ihre Mitstreiterinnen lustig machen, wenn Papierkügelchen auf die Rednerbühne fliegen, wenn Übereinkunft darüber herrscht, dass man zuhause keine «Fünf-vor-Zwölfi-Frau» will, die noch schnell einen Zmittag auf den Tisch stellt, wenn Frau Dr. Wipf wohl wissend, dass in der herrschenden Stimmung niemand die Hand für das Frauenstimmrecht erheben wird, zur konsultativen Abstimmung aufruft – dann wird deutlich: Hier geht es mit dem Frauenstimmrecht zwar um ein grosses Thema, unten drunter liegt aber ein noch grösseres. «Das Frauenstimmrecht ist das historische Ereignis, das erzählt wird», sagt Petra Volpe. «Aber es geht im Grunde um die Verantwortung des Individuums in der Demokratie. Es geht darum, wie wichtig Zivilcourage ist. Wie wichtig es ist, dass man manchmal vorne hinsteht und seine Meinung sagt. Das ist schon ein grosser politischer Akt. Es ging mir ganz stark darum, dass der Film auch diese universelle Dimension hat: Es geht hier um das Wesen der Demokratie. Ich glaube, wir leben heute wieder in einer Zeit, in der wir Zivilcourage brauchen.» ■

Petra Volpe: «Die Göttliche Ordnung», CH 2016, 97 Min. Der Film läuft ab 9. März in den Deutschschweizer Kinos.

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Facebook ist das neue Rauchen Facebook macht krank, Facebook ist schuld an der Verrohung der Sitten, Facebook ist eine Hassschleuder, Facebook hat Donald Trump zum Präsidenten gemacht. (Oder waren es die Russen?) Trotzdem sind alle bei Facebook. Früher haben alle geraucht. Die Tabakkonzerne machten riesige Gewinne auf Kosten des allgemeinen Wohlbefindens. Sie schreckten selbst vor den miesesten Tricks nicht zurück, mischten suchtfördernde Stoffe in den Tabak. Facebook funktioniert ähnlich, es fördert die kurzfristige Dopaminausschüttung, die einen immer wieder zurückkehren lässt. Gegen das Rauchen gab es Widerstand, zum Beispiel wurden Zigaretten der Marke Marlboro boykottiert, weil diese als Symbol des amerikanischen Imperialismus galten. Trotzdem wäre fast niemandem in den Sinn gekommen, aus Protest

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mit dem Rauchen aufzuhören. Rauchen und Rauch waren so allgegenwärtig und selbstverständlich, dass jene, die sich darüber beschwerten oder die negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft beklagten, belächelt oder geächtet wurden. Über Facebook wird auch öfter geklagt, die Nutzerinnen und Nutzer appellieren an das Unternehmen, die übelsten Auswüchse seines Geschäftsmodells einzudämmen, was jeweils – ganz wie bei den Tabakmultis – versprochen, aber nicht getan wird. Aussteigen will auch hier niemand. Ein Boykott steht nicht zur Debatte. Wahrscheinlich würde Facebook der Abgang des Schweizer Mitte-links-Publikums etwa so wenig kratzen wie damals den Philipp-MorrisKonzern der Boykott eines ihrer Produkte durch antiimperialistische Kräfte in Westeuropa. Und doch, wenn die postfaktischen Hassbrüder und -schwestern auf Facebook nur noch unter sich wären, würde das wahrscheinlich bald zu deren Aufspaltung in immer kleinere, sich vehement bekämpfende Fraktionen führen. Denn ihr Hass wird nicht von jenen entfesselt, gegen die er sich richtet, er zielt bloss auf sie. Dieser Hass entströmt ihnen wie einst den Zigaretten der Rauch, der den Raum verpestete, egal ob es ein WG-Zimmer oder ein Luxusrestaurant war. Er nebelte alle Anwesenden gleichermassen ein. Selbst wer nicht mitmachte, war betroffen. Es sei denn, man blieb draussen. Doch dann, ein paar Jahre später, man weiss gar nicht recht,

wie es gekommen ist, war es plötzlich umgekehrt. Seither stehen die Raucher draussen. So unwahrscheinlich es zurzeit scheinen mag, ist es durchaus möglich, dass Mark Zuckerberg den Weg des Marlboro-Cowboys oder CamelManns gehen wird: von der bewunderten Ikone zum verachteten Verführer. Facebook geht es um Geld und Macht. In Amerika macht sich strafbar, wer sich mit einem fremden FacebookAccount einloggt. So sieht die Freiheit aus, auf die sich die mächtigen Internetkonzerne gerne berufen. Sie endet abrupt bei ihren Geschäftsbedingungen. Durch den Verkauf der von den Nutzern freiwillig zur Verfügung gestellten Daten sind ihre Kassen prallvoll, was massives Lobbying erlaubt, auch bei uns. Und Gesetze zu ihren Gunsten werden diensteifrig durchgewunken. Es gibt viele Gründe, Facebook den Rücken zuzukehren. Nach einer gewissen schwierigen Entzugszeit fühlt man sich besser und fragt sich, wie man je so einem Unfug aufsitzen konnte. Man hat wieder mehr Zeit für anderes und atmet freier. Man könnte direkt wieder anfangen zu rauchen. Stephan Pörtner steht in Zürich auch mal ohne Glimmstengel oder Mobiltelefon draussen vor der Tür. Manchmal ruft er Passanten zu, dass es ihm gefällt, was sie tun, und streckt den Daumen hoch.

Sarah Weishaupt ist freie Illustratorin aus Basel. SURPRISE 395/17


BILD: FRANÇOIS DOURY

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Erkenne dich selbst. Nicht ganz einfach, wenn man in sich selbst drinsteckt.

Ausstellung Wo fange ich an? Wo höre ich auf? Das Kunstmuseum Thun zeigt, wie fasziniert Künstler und Mediziner von Spiegeln sind. VON EVA HEDIGER

«Spiegel sind eigentlich sehr alte, alltägliche Gegenstände», erklärt Alessandra Pace, Gastkuratorin der Ausstellung «Mirror Images» in Thun. Bereits die Steinzeitmenschen wollten sehen, wie ihr Schmuck und die Körperbemalung wirkten – und blickten dafür in reflektierende Wasseroberflächen. Die ältesten Spiegel der Welt haben Archäologen in Anatolien gefunden, sie werden auf 6000 v. Chr. datiert. Es sind Relikte, mit denen die Menschen mit Göttern kommuniziert haben. Und heute? Der Spiegel ist ein Symbol für Weisheit und Einsicht, aber auch für Narzissmus. Und er fasziniert. Denn er konfrontiert uns mit der Frage: Wo fange ich an? Wo höre ich auf? «Unsere Ausstellung konzentriert sich auf diesen Raum zwischen Bild und Mensch», so Pace. Über 30 verschiedene Positionen von Künstlern, Medizinern und Neurowissenschaftlern aus den letzten 60 Jahren werden in «Mirror Images» präsentiert. So auch der Spiegelkasten, den der Verhaltensneurologe Vilayanur S. Ramachandran in den Neunzigerjahren konzipiert hat. Der Amerikaner entwickelte als Erster eine Therapie namens Mirror Visual Feedback. Sie richtet sich an Patienten, die unter Phantomschmerzen leiden. Statt Schmerzmittel einzunehmen, werden die Kranken mithilfe eines Spiegels behandelt: Wird ein gesundes Glied an die Stelle des fehlenden gespiegelt, erhält das Hirn die Botschaft, das fehlende Glied sei eigentlich gesund. So wird fast sofort Linderung geschaffen. Alessandra Paces Favorit ist eine Videoarbeit von Dalibor Martinis: 1978 filmte sich der damals 31-jährige Künstler, wie er seinem Ich auf Englisch Fragen stellt. Fast 40 Jahre später beantwortet der Kroate diese in seiner Muttersprache im öffentlichen Fernsehen. «Genial!», findet die Kunsthistorikerin diesen zweisprachigen, zeitüberschreitenden Dialog. «So entsteht eine Konkurrenzsituation zwischen einer einzigen Person.» Die Ausstellung, die Medizin und Kunst vereint, wurde in den letzten zwei Jahren bereits in Berlin gezeigt. Für Thun wurde «Mirror Images» mit Werken von nationalen und lokalen Künstlern erweitert. Der Thuner Paul Le Grand hat eine Installation auf dem Museumsplatz aufgebaut. Eigentlich klar, dass dieser Künstler nicht fehlen durfte: Er beschäftigt sich bereits seit Jahrzehnten mit Reflexion, Spiegelbild und Wahrnehmung.

01

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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ChemOil Logistics AG, Basel

03

Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

04

Institut und Praxis Colibri, Murten

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Rechtsanwalt Peter von Burg, Zürich

08

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

09

Hofstetter Holding AG, Bern

10

Hedi Hauswirth Privat-Pflege, Oetwil am See

11

Echtzeit Verlag, Basel

12

OpenTrack Railway Technology GmbH, Zürich

13

Intercelix AG, Basel

14

Naef Landschaftsarchitekten GmbH, Brugg

15

Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

16

PS: Immotreuhand GmbH, Zürich

17

Iten Immobilien AG, Zug

18

Proitera GmbH, Basel

19

Petra Wälti Coaching, Zürich

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Alfred Rappo-Kolenbrander, Breitenbach

21

Botanica GmbH, Sins

22

Brother (Schweiz) AG, Dattwil

23

InhouseControl AG, Ettingen

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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noline.ch GmbH, Buus

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

«Mirror Images – Spiegelbilder in Kunst und Medizin», bis 30. April, Kunstmuseum Thun, Hofstettenstr. 14, Thun, www.kunstmuseumthun.ch SURPRISE 395/17

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BILD: YOSHIKO KUSANO

BILD: ZVG

Ausgehtipps

Serge findet: «Ich fühle mich auch diskriminiert.» Far’Hook: «Ich lehre dich rappen.»

Kino Mein Frankreich, dein Frankreich Wer mag schon Fische im Zug?

Ein kunstmalender Gérard Depardieu trifft auf einen jungen Rapper aus der Pariser Banlieue. Aber nein, es ist nicht die Geschichte einer fruchtbaren Zusammenarbeit. VON DIANA FREI

Banlieue, Strassengangs, latente Aggression, der junge Rapper Far’Hook (gespielt vom französischen Rapper Sadek), dann das hellblau-rosarote Licht einer Schischa-Bar. Wir denken uns: Sollte das nicht ein Film mit Gérard Depardieu sein? Nur passt der hier so gar nicht dazu. Und wir liegen damit richtig: Depardieu spielt Serge, einen verbitterten Franzosen, dessen Drama es ist, dass er in sein Frankreich nicht mehr hineingehört. Sein Sohn hiess einmal Mathias, nennt sich nun Bilal und sagt «inschallah» am Telefon. Er ist zum Hipster-Moslem konvertiert, und Serge fühlt sich damit doppelt fremd in seiner Welt. Er rettet sich in die Unfreundlichkeit, in die Islamophobie und in sein Projekt: das Nachmalen von Frankreichs Häfen, wie es Claude Joseph Vernet im 18. Jahrhundert im Auftrag von Louis XV. getan hat. Mit seiner Staffelei macht sich Serge auf den Weg. Schon die Reise an sich ist ein gebrochenes Versprechen des Sohnes: Er hätte den Vater begleiten sollen, schickt stattdessen aber Far’Hook, dessen Musikproduzent er ist. Far’Hook ist arabischer Herkunft und rappt über Street Life und Diskriminierung. Für Serge ist Rap ein zweitklassiges Vergnügen. Da steht er in seinen Bermudas am Meer und macht vor, wie er sich das vorstellt: «Yo yo, bang bang», und als Far’Hook ihn zu etwas Revolutionärerem auffordert, kommt ihm nicht mehr in den Sinn als die französische Nationalhymne: «Aux armes, citoyens!» Serge reist den Schauplätzen vergangener Seeschlachten nach und sucht den gleichen Blick, die gleiche Kadrierung wie Vernet anno dazumal. Far’Hook erträgt seinen Rassismus und seine Islamophobie mit viel Geduld und fragt nur nach: «C’est vous, la France?» – «Sind Sie Frankreich?» Im Bistrot und auf der Strasse macht er Handyfilme in Musikclip-Ästhetik, mit Farbfiltern, verruckelt und in verzerrter Perspektive. Far’Hook bezieht sich auf die Welt um sich herum, Serge auf das Frankreich-Bild eines Malers aus dem 18. Jahrhundert. Sein Gefühl für Heimat ist genauso im Zerbröckeln begriffen, wie es für Far’Hook schon immer brüchig war. Und die Wut, die Serge mit sich herumträgt, ist jener der jungen Aussenseiter in der Banlieue gar nicht so unähnlich.

Bern Topsy-turvy und Malawi Im März werden im Schlachthaus-Theater etliche Stücke entweder zweisprachig oder in einfachem Englisch gespielt. Das ist interessant, aber nicht etwa Konzept, sondern Zufall. Da ist zunächst ein Kinderstück auf Frühenglisch: «Grüeni Eier mit Späck uf Änglisch». Einer soll hier dazu überredet werden, eben – grüne Eier mit Speck zu essen. Das Ganze führt zu wilden Verfolgungsjagden und Fluchtszenarien von Baumkrone durch Eisenbahntunnel zu wackliger Brücke, bis man feststellen muss: Topsy-turvy, hullabaloo, tohobohu and higgledy-piggledy popp! Im Zentrum der turbulenten Geschichte steht der klassische Eltern-Kind-Konflikt. Oder anders gesagt, die erste Ausprägung des Urkonfliktes von Gesellschaft und Individuum. Für das ältere Publikum wird es mit einem anderen Stück emotional anspruchsvoller: Malawi im Kampf gegen Ungerechtigkeit, Korruption, Polizeigewalt. Ein Aufständischer wird verletzt und sucht Schutz in einer Höhle, wo er auf einen Tiger trifft. Die Solo-Performance von Mbene Mwambene pendelt zwischen Dramatik und Komik, beschäftigt sich mit politischen Widersprüchen und dem Spiel mit der Angst, wie es nicht zuletzt in populistischen Wahlkämpfen anzutreffen ist. Mbene Mwambene, geboren in Zambia, ist freischaffender Theatermacher und Journalist und beschäftigt sich intensiv mit zeitgenössischem politischem Theater. (dif) «Grüeni Eier mit Späck uf Änglisch», ab 6 Jahren auf Frühenglisch, Mi, 8. März, Sa, 11. bis Di, 14. März, Sa und So, 18. und 19. März, unterschiedliche Spielzeiten; «Mbene Mwambene: The Story of the Tiger», Do, 23. März, 20.30 Uhr. www.schlachthaus.ch

Rachid Djaïdani: «Tour de France», F 2016, 95 Minuten, mit Gérard Depardieu, Sadek, Louise Grinberg u. a. Der Film läuft derzeit in den Deutschschweizer Kinos.

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BILD: MORAVSKÝ ZEMSKÝ ARCHIV V BRNEˇ

BILD: ZVG

BILD: BERNGEGENRASSISMUS.CH

«Ich bin ja kein Rassist, aber der Brunnen ist toll.»

Eine Holstein-Kuh in Aserbaidschan.

Marie von Ebner-Eschenbach machte gern Notizen.

Bern Kein «Aber»

Basel Fremde Kuh

Zürich Wen es überkommt

«Ich bin ja kein Rassist, aber …»: Dieser Satz, man weiss es, nimmt selten ein gutes Ende. In der Stadt Bern nimmt man diesen Schleier fadenscheiniger Political Correctness zum Anlass, öffentlich über Rassismus im Alltag nachzudenken: Wie gehen wir mit Aussagen um, die unter dem Deckmäntelchen der Objektivität daherkommen? Brauchen wir diesen einführenden Satz, um uns nicht mit der Tatsache konfrontieren zu müssen, dass wir rassistische Gedanken haben? Die Aktionswoche der Stadt Bern gegen Rassismus belässt es aber nicht beim Fragenstellen. Die Veranstaltungen postulieren auch: In Bern soll es kein «Aber» geben. Unter anderem mit der Fotoaktion «1000 Gründe gegen Rassismus», einem Referat über Political Correctness und einer Living Library, in der Menschen über ihre Erfahrungen mit Rassismus sprechen. Und wer das Gefühl hat, dass ihm das eigene «Aber» manchmal über den Kopf wächst, kann sich in der «Gruppentherapie der postmigrantischen Gesellschaft» auf die Couch legen. (ami)

Hoffnung Europa mal anders: In seinem Film «Holy Cow» erzählt Imam Huseynov die Geschichte eines Bauern in Aserbaidschan, der sich vom Import einer europäischen Kuh die Verbesserung seiner Lebensverhältnisse erhofft. Doch die Dorfbewohner sind misstrauisch gegenüber fremdem Vieh, sie sehen darin eine Gefahr für Land und Tradition. Wer sich in diesem Plot nicht wiederfindet, lebt wohl derzeit nicht in Europa. Drei Tage, acht Filme, ein Kindernachmittag und allerhand leckeres Essen: Das Cinema Querfeld auf dem Gundeldingerfeld in Basel ist eine Institution. (win)

Aktionswoche der Stadt Bern gegen Rassismus,

Den Eichhörnchen vorm Fenster zuschauen, wie sie sich die Bäume rauf- und runterjagen. An den Fingernägeln herumgnibbeln. Aufstehen, Tee kochen. Etwas zu essen suchen. Fenster aufmachen. Wieder zumachen. Die Höhe des Stuhls nachjustieren. – Sich vom Schreiben abzulenken, ist nicht schwer. Konzentriert über Stunden vor einem virtuellen Blatt Papier auf dem Bildschirm zu sitzen, gelingt nur selten. Doch wenn sie einen dann mal überkommt, die Inspiration, vergisst man Hunger und Durst, kühlt aus und tippt rastlos Wort um Wort, die Gedanken scheinen direkt vom Kopf durch die Finger auf den Bildschirm zu strömen. Manche wählen für die ungebremsten Gedankenflüsse Stift und Papier wie der türkische Bestseller-Autor Orhan Pamuk. Gnade dem, der dessen Riesenwälzer-Manuskripte abtippen muss. Wie Cocteau, Bichsel, Kerouac, Oppenheim, Proust und andere mit ihren Inspirationsmomenten umgingen und immer noch umgehen, dieser Frage widmet sich nun eine vielseitige Ausstellung mit verschiedenen Veranstaltungen im Strauhof. (win)

Sa, 18. bis Mo, 27. März an verschiedenen Orten in

«Schreibrausch – Faszination Inspiration»,

Bern. Detailliertes Programm unter:

Ausstellung und Veranstaltungen, bis 7. Mai, Mi und

www.berngegenrassismus.ch

Fr, 12 bis 18 Uhr, Do, 12 bis 24 Uhr, Sa und So,

Cinema Querfeld, 24. bis 26. März, Fr, ab 20 Uhr, Sa mit Kindernachmittag ab 14.30 Uhr, So mit Brunch ab 12 Uhr, Querfeld-Halle auf dem Gundeldingerfeld, Dornacherstrasse 192, Base, Vorverkauf: Café Bohemia, Dornacherstrasse 225, Basel, 061 333 80 00, bohemia.basel@gmail.com, www.cinema-querfeld.ch

11 bis 17 Uhr, Strauhof, Augustinergasse 9, Zürich. strauhof.ch/ausstellungen/schreibrausch

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Fussballer-Porträt «Ich bin kein kalter Hund» Fabiano Martini (52) spielte mit den Street Dogs Liestal in der Surprise Strassenfussball-Liga. Nach unzähligen Versuchen, vom Alkohol wegzukommen, hat er nun Halt durch eine frische Liebe gefunden.

«Ich bin in einer Beiz in Rheinfelden aufgewachsen. Der Alkohol war so schon früh Teil meines Lebens, mit etwa 14 hatte ich bereits meine ersten Räusche. Die Mutter hat uns verlassen, als ich drei Jahre alt war, was ich absolut verstehen kann bei dem Ehemann. Zwei Jahre später hatte sie dann einen Hirnschlag, war halbseitig gelähmt. Ich kenne meine Mutter eigentlich nur im Rollstuhl. Mit knapp 16 Jahren bin dann auch ich von zuhause weg. Rückblickend war ich dazu viel zu jung. Die Schule habe ich noch abgeschlossen, danach begann ich eine Ausbildung zum Hufschmied. Weil ich aber allergisch auf Kohlestaub reagierte, musste ich wieder abbrechen. Danach hatte ich wieder mehr Zeit für Drogen und Alkohol. Geld verdiente ich in der Feldschlösschen-Brauerei, da sass ich an der Quelle. Das war in einer Zeit, in der man während der Arbeit noch trinken konnte. Für mich war das natürlich verheerend. Ich war Anfang 30, als innert weniger Tage beide meine Eltern starben. Das war heavy. Der Vater war schwer krank, hatte Krebs. Mit ihm konnte ich noch ins Reine kommen, habe ihn begleitet in den Tod. Wie man meinem Namen anhört, bin ich Italiener. Der Wunsch meines Vaters war es, dass er in Italien beerdigt wird. Den habe ich ihm auch erfüllt. Drei Tage nach seiner Beerdigung, ich war immer noch in Italien, kriegte ich ein Telefon von meiner Tante. Heulend sagte sie, ich solle vorbeikommen. Ich fragte noch halb als Witz, wer denn jetzt gestorben sei. Es war meine Mutter. Die Beisetzung fand eine Woche später statt. Noch in Italien habe ich mich drei Tage in den Keller eingeschlossen und den Weinbestand leer gemacht. Bis mein Onkel kam, mir wortwörtlich links und rechts ein paar an die Ohren gab und mich unter die Dusche stellte. In dem Moment kam ich das erste Mal auf die Idee, dass ich einen Entzug machen könnte. Dass ich Hilfe brauche von aussen. Ich bin zurück in die Schweiz, hab im aargauischen Holderbank meinen ersten Entzug begonnen und wieder abgebrochen. In den Jahren darauf folgten immer wieder neue Klinikaufenthalte, neue Abbrüche und Abstürze. Ich hatte damals eine strube Phase, auch mit dem Koksen. Habe die falschen Leute kennengelernt, die falsche Richtung eingeschlagen. Auch mit dem Gefängnis hab ich Erfahrungen gemacht, durch meine zweite grosse Liebe, den FC Basel. Ich zählte mich damals zu den Hooligans. In dieser Zeit haben sich aber nur Leute gehauen, die das auch wollten. Als es dann damit anfing, dass auch neutrale Matchbesucher drangekommen sind, merkte ich: Das ist nicht meine Welt, und habe der Szene den Rücken gekehrt. Mein Gott! Wenn man irgendwann aufwacht und aus Fehlern lernt, ist es auch für etwas gut gewesen. Finanziell hielt ich mich eine Weile mit Gelegenheitsjobs über Wasser, wurde dann aber zum Sozialfall. Und das bin ich bis heute. Fussball spielte in meinem Leben immer eine grosse Rolle. Den hat man quasi für mich erfunden. Ich bin schon fussballverrückt. Vor einigen Jahren stellte ich auch eine Strassenfussball-Mannschaft auf die Beine, die Street Dogs. Das muss irgendwann im Februar 2012 gewesen sein, im selben Jahr wurden wir Schweizer Meister. Irgendwann haben

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BILD: ROLAND SCHMID

AUFGEZEICHNET VON SIMON JÄGGI

wir aber leider mehr gesoffen als trainiert, da habe ich die Reissleine gezogen. Weil ich wusste: So kriege ich meine Sucht nicht in den Griff. Das hat mir weh getan. Ich bin kein kalter Hund, ich habe geheult, als dieser Entscheid gefallen ist. Es folgten danach weitere Klinikaufenthalte. Zuletzt in der Psychi in Liestal und in einer Entzugsklinik im Kanton Bern. Seither habe ich meine Sucht im Griff. Die Kontrolle gewann ich fast so schleichend zurück, wie ich sie verloren hatte. In der Psychi, in der Abteilung B4 habe ich auch meine Michèle kennengelernt. Die ebenfalls ein Problem hat, es hat nicht nur Alkis dort. Aber sie hat es auch ganz gut im Griff. Und wir geben uns extrem Halt zusammen. Also, es sind Gefühle da, die ich so noch nie erlebt habe. Gerade haben wir zusammen eine Wohnung in Liestal bezogen, dort richten wir jetzt ein Malatelier ein. Manchmal muss ich mich kneifen, wie man so sagt, um zu merken, dass es nicht nur ein Träumli ist.» ■ SURPRISE 395/17


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Andreas Hossmann Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Roland Weidl Basel

Daniel Stutz Zürich

Markus Thaler Zürich

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

Telefon

Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

395/17 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 395/17

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Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name

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Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der Deutschschweiz um den Titel des Schweizermeisters. Einige Spieler nehmen am Homeless World Cup teil. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsleitung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (Mitglied der Geschäftsleitung), Jannice Vierkötter (Mitglied der Geschäftsleitung) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Beat Camenzind (bc), Diana Frei (dif, verantwortlich für diese Ausgabe), Simon Jäggi (sim), Thomas Oehler (toe), Sara Winter Sayilir (win) redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Eva Hediger, Lucian Hunziker, Roland Schmid, Willem Vrey Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 21 500, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising, Kommunikation T +41 61 564 90 50 Zaira Esposito, Katrin Pilling marketing@vereinsurprise.ch

Vertrieb Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Regionalstelle Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Christian Sieber, Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich zuerich@vereinsurprise.ch Regionalstelle Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Barbara Kläsi, Alfred Maurer Scheibenstrasse 41, 3014 Bern, bern@vereinsurprise.ch Café Surprise T +41 61 564 90 50 Zaira Esposito (Leitung), z.esposito@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassenfussball T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach), d.moeller@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T +41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Beat Jans

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: PC 12-551455-3, IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 SURPRISE 395/17


Buch: Standort Strasse Bewegende Lebensgeschichten

Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand 152 Seiten CHF 40.– inkl. Versand- und Verpackungskosten ISBN 978-3-85616-679-3

Die belebten Plätze und Strassen der Deutschschweizer Innenstädte sind bekannt. Die Lebensgeschichten der Surprise-Verkaufenden, die hier arbeiten, jedoch nicht. Das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» rückt diese Personen ins Scheinwerferlicht und zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Das Buch porträtiert zwanzig stolze Menschen, die trotz sozialer Not alternative Lebensentwürfe abseits staatlicher Hilfe gefunden haben. Die Angebote des Vereins Surprise haben ihnen dabei geholfen. Gastbeiträge sowie eine Fotoserie von Surprise-Standorten runden das Buch ab. Erfahren Sie mehr über die Lebensgeschichten unserer Verkaufenden und kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand». Ein Teil des Geldes kommt direkt den Surprise-Verkaufenden zugute. Bestellen bei Verkaufenden oder unter: www.vereinsurprise.ch/shop/


Gesucht: Der Fan-Schal für die Nati 2017! Die Strassenfussball Nati nimmt vom 29.8. bis 5.9. am Homeless World Cup in Oslo teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler auch in diesem Jahr ihren Gegnern zum Handshake original handgemachte Fanschals. Machen Sie mit! Der Schal sollte ca. 16 cm breit und 140 cm lang sein, am liebsten mit Fransen und – Sie hätten es erraten – in Rot und Weiss gehalten. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht! Die Spieler unserer Nati werden den schönsten Schal küren – der Gewinnerin oder dem Gewinner winkt ein attraktiver Surprise-Überraschungspreis!

Schicken Sie den Schal bis spätestens Freitag, 11. August 2017 an: Surprise Strassenfussball, Spalentorweg 20, 4051 Basel.


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