Surprise 396

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Nr. 396 | 17. bis 30. März 2017 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Grenzerfahrungen Journalisten berichten von ihrer Flucht


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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Eine Tasse Solidarität! Machen Sie mit: Zwei bezahlen, eine spendieren. Café Surprise gibt es hier: In Basel BackwarenOutlet, Güterstr. 120 Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 10 Café Flore, Klybeckstr. 5 Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 Kiosk Amann, Claragraben 101 Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 Rest. Les Gareçons, Schwarzwaldallee 200 Rest. Manger et Boire, Gerbergasse 81 Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 In Luzern Jazzkantine zum Graben, Garbenstr. 8 Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 In Rapperswil Café good, Marktgasse 11 In Schaffhausen Kammgarn Beiz, Baumgartenstr. 19

In Bern Café Kairo, Dammweg 43 Café MARTA, Kramgasse 8 Café Tscharni, Waldmannstr. 17a Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 Rest. Genossenschaft Bras. Lorraine, Quartiergasse 17 Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 Zentrum44, Scheibenstr. 44 In Biel Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d In Zürich Café Zähringer, Zähringerplatz 11 Sphères, Hardturmstr. 66

www.vereinsurprise.ch/cafesurprise Ein Projekt des Vereins Surprise.


John Refugee nennt sich einer von vielen berichterstattenden Flüchtlingen auf Facebook. Er berichtet über die Barackensiedlung hinter dem Belgrader Bahnhof, wo er gestrandet ist, und hofft, den Menschen in Europa dadurch die Augen zu öffnen. Er könnte scheitern mit seiner Hoffnung, denn mit seinen Posts erreicht er kaum andere Leute als diejenigen, die weltanschaulich bereits auf seiner Seite stehen. Warum John Refugee, Saboor und Grosi, der Schweizer, trotzdem weiter aus den Krisenherden berichten, lesen Sie ab Seite 10.

BILD: WOMM

Titelbild: Keystone, Istvan Ruzsa (gestrandete Flüchtlinge an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn, Horgos)

Editorial Scheitern

Hossam Abdel-Rehim hat als Therapeut täglich mit kriegstraumatisierten Menschen zu tun. Er wird mit Gedächtnisverlust konfrontiert, mit Depressionen und DIANA FREI Alpträumen. Solch komplexe posttraumatische Belastungsstörungen sind nicht REDAKTORIN heilbar, und trotzdem würde Abdel-Rehim seine Arbeit vermutlich nicht als Scheitern bezeichnen. Die Gefahr ist vielmehr, dass wir als Gesellschaft an der Herausforderung scheitern, die betroffenen Menschen zu integrieren. Das Interview mit Hossam Abdel-Rehim ab Seite 14. Und unsere Autorin Birgit Ludwig ist oft genug im Privaten gescheitert – so sieht sie es selbst: an der Partnerwahl, am Traum vom Familienglück, an der Jobsuche. Aber in der Krise lernt man Seiten von sich kennen, die man sonst nie kennengelernt hätte. Lesen Sie ihre persönliche Geschichte ab Seite 17. Herzlich Diana Frei

BILD: ROLAND SOLDI

BILD: TVOT

10 Medien Reporter statt Opfer SURPRISE 396/17

BILD: BIRGIT LUDWIG

Inhalt 04 Randnotiz Über die Vergänglichkeit 04 Vor Gericht Hiebe statt Liebe 05 Basteln für eine bessere Welt Die Quadratur des Kreises 06 Wir alle sind #Surprise «Sicherheit als Schutzargument» 07 Challenge League Widerstand 08 Porträt «Ich mache gerne die Wohnungstüre zu» 22 Moumouni ... zollt Respekt 23 Literatur «Aus der Verwirrung mache ich Geschichten» 24 Theater Das Niederdorf entsorgen 25 Buch Leseleben 26 Ausgehtipps Musik aus der Schreibmaschine 28 Verkäuferporträt Eyob Kiflemariam 29 Surplus Eine Chance für alle 30 In eigener Sache Impressum

14 Traumata «Mich erschreckt nichts mehr»

17 Lebenserfahrung Irren macht menschlich

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Randnotiz Über die Vergänglichkeit In den Neunzigerjahren war ich ein weltweit erfolgreiches Männermodel. Firmen wie Gucci und Prada warben mit meinem Gesicht für ihre Produkte. 20 Jahre später ist mir von der jugendlichen Schönheit wenig geblieben: Mein Gesicht ist gezeichnet, die körperliche Pracht ist weg. Ich bin jetzt jemand ganz anderes. Das wirklich Besondere an manch Schönem ist seine Vergänglichkeit. Dass sie vergänglich sind, macht Zustände, Erlebnisse und Lebensphasen erst zu etwas Wertvollem. Denn was ewig währt, hat im Moment wenig Wert. Was zum Beispiel Blumen oft nur Wochen vergönnt ist, das Leben, können die meisten von uns wunderbar viele Jahrzehnte geniessen. Jeder einzelne Tag hat Potenzial und trägt die Möglichkeit von Genuss und Veränderung in sich. Alles verändert sich um uns herum, wieso sollten wir selbst das Gleiche bleiben wollen? Veränderungen setzen aber oft voraus, dass wir wissen, wo wir stehen. Der Gewinn jeder Zeit liegt im Erleben ihrer Aktualität. Mein Partner hat mir beigebracht, mich auf das Positive und die eigenen Fähigkeiten zu konzentrieren und dankbar zu sein. So setzen wir uns jeden Abend an den Tisch und stossen darauf an, was der Tag Schönes gebracht hat, egal wie scheinbar banal es war. Das hat mir geholfen, mehr im Moment zu leben und die Gegenwart bewusster wahrzunehmen. Das ist wichtig, denn die Gegenwart gibt es immer nur gerade jetzt. Und es wäre schade, sie nicht zu spüren, weil ich mich in der Vergangenheit suhle oder daran denke, was die Zukunft bringen soll. Schritt für Schritt geht es weiter, und ich versuche jeden ganz bewusst zu gehen. Im Leben ist nicht das Ankommen – also der Tod – das Ziel, sondern die Reise selbst. Diese Wanderung ist alles, was wir haben. Sie ist ein Geschenk, und wir dürfen es geniessen. Das gelingt uns am besten, wenn wir uns auf den Weg konzentrieren und mit Dankbarkeit die Aussicht betrachten, statt in Gedanken in die Ferne zu schweifen. Präsenz ist das Wichtigste. Zu fühlen, was wir gerade tun und wer wir gerade sind. Wir sind immer nur das, was wir im Augenblick sind. Und das soll nicht verschwommen und ohne Boden sein, denn sonst verschenken wir diesen kostbaren Moment.

Florian Burkhardt war bis zu einer schweren Erkrankung erfolgreicher Sportler, Model und Internetpionier. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert.

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Vor Gericht Hiebe statt Liebe Im Gerichtssaal ist immer vom schrecklichen Ende die Rede, die romantischen Anfänge bleiben im Vagen. Anna lernte Ricardo* in den Ferien in Barcelona kennen. Vielleicht auf einer Tanzfläche, als sein Blick ihr mitten ins Herz schoss. Mit ihm konnte sie den Roger vergessen, der sie wegen dieser neuen Tusse im Büro verlassen hatte. Ricardo strahlt Sicherheit aus, sein T-Shirt spannt über den Muskeln, Clubs, Bars und Diskos sind sein Terrain, hier hat er im Gegensatz zu anderen Schauplätzen des Lebens durchschlagenden Erfolg, hier ist Ricardo ein Mann der Tat. Sie nahm den gebürtigen Kolumbianer, der in Spanien lebte, nach einigem Hin und Her mit nach Zürich, obwohl mit dem ersten Lächeln, der ersten Berührung der Zenit ihrer Liebe schon erreicht war. Aber man will doch jemanden zum Kuscheln haben in dieser kalten Schweiz. Sie feierten eine weisse Hochzeit. Ein paar Mal vermittelte ihm Annas Verwandtschaft Jobs; drei Wochen lang malte er Wände und Decken an, dann wurde ihm auf der Leiter von den Dämpfen schwindlig und er blieb zuhause. Anna arbeitete für zwei, tagsüber im Büro, abends als Babysitterin oder im Service. Er ging jeden Tag ins Fitnesscenter, nachts mit Freunden in den Ausgang, und zwischendurch träumte er von seiner Heimat und einer kleinen Bar am karibischen Meer. So lief das vier Jahre lang. Es kam vor, dass Anna, wenn sie von der Arbeit kam, eine Welle der Wut überrollte. Sie begann, Ricardo zu verachten: Du bist kein Mann, du hast bloss Muskeln, aber wozu, zum Arbeiten jedenfalls nicht. Da hat er sie erstmals geschlagen. Weshalb sie es damals für sich behielt, steht nicht

zur Debatte. Im Seelenlabyrinth einer Ehe herrschen Gefühle, nicht Gesetze. Irgendwann lernte sie Patrick kennen, er war Verkäufer, lud sie zum Essen ein und brachte sie zum Lachen. Anna reichte die Scheidung ein. Ricardo terrorisierte sie mit Anrufen, lauerte ihr auf, sagte, die Sache sei noch lange nicht vorbei. Er beschimpfte, beleidigte, bedrohte sie. Auf dem Weg zum Anwalt schlug er sie zusammen. Ricardo konnte nicht fassen, dass sie ihn wirklich verlässt, wegen eines anderen. Er schlug zu, blind vor Zorn, mit der Faust ins Gesicht, bis das Blut spritzte. «Ich dachte, er schlägt mich tot», hatte sie später der Polizei gesagt. Ricardo ist wegen Körperverletzung, Tätlichkeiten und Drohungen angeklagt. Kleinlaut, artig, ängstlich beantwortet er die Fragen des Richters. Ganz leise spricht er, sein Rücken in der braunen Lederjacke ist krumm. «Ja, ich habe sie geschlagen, sie hat mich provoziert, das lasse ich mir nicht gefallen», fügt er mit gewissem Stolz hinzu. Der Richter verurteilt ihn zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu 60 Franken, also insgesamt 10 800 Franken, aber weil sein Strafregister bisher rein war, kommt er mit Bewährung davon, nur die Busse von 500 Franken muss er bezahlen. Er solle lernen, mit Frustrationen umzugehen, gibt ihm der Richter noch auf den Weg. «No hay problema», sagt Ricardo, er habe kein Problem. Vor dem Gerichtsgebäude wartet eine langhaarige Blondine, Ricardo legt seinen Arm um sie. * persönliche Angaben geändert

Isabella Seemann ist freie Journalistin in Zürich und porträtiert monatlich die kleinen und grossen Fische, die es in die Gerichtssäle geschwemmt hat.

Priska Wenger ist Illustratorin in Biel und New York. SURPRISE 396/17


ILLUSTRATION: WOMM

Basteln für eine bessere Welt Die Quadratur des Kreises Im Scheitern kann man über sich selbst hinauswachsen, wie uns der Text auf S. 18 eindrücklich erzählt. Er zeigt uns aber auch: Scheitern ist, wie viele guten Dinge, auch sehr, sehr anstrengend. Und mitunter schmerzhaft. Für alle, die eine Pause davon brauchen und sich mal wieder so richtig gut fühlen wollen, haben wir das perfekte Gegenmittel. Auch wenn wir ein wenig schummeln und uns zur Bewerkstelligung der sprichwörtlichen Quadratur mit zwei Kreisen statt einem behelfen.

Sie benötigen: 2 Streifen Papier, Schere, Leimstift

1. Kleben Sie die Papierstreifen zu zwei kreisrunden Schleifen.

2. Die Papierschleifen wiederum kleben Sie so aufeinander, dass eine Art verdrehte Acht entsteht.

3. Schneiden Sie den einen Kreis längs entzwei, auch durch die Klebestelle hindurch. Dann tun Sie dasselbe beim zweiten Kreis. Schon ist es vollbracht: Aus zwei Kreisen haben Sie ein Quadrat gezaubert.

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Leserbrief Ausgabe 393, Umfrage «Wer darf wo was?»

Einige Befragte wundern sich darüber, dass in der Schweiz das Grillieren im Park erlaubt ist. Auch ich wundere mich darüber. Das Aufstellen eines mehrere hundert Grad heissen Grills an einem Ort, wo Kinder spielen, ist sehr gefährlich. Es heisst zwar oft, die Leute, die neben dem Grill sitzen, passten schon auf. Aber ich habe keine Lust, die Verantwortung für mein Kind an fremde Leute abzugeben. Es heisst auch, bis jetzt sei noch nie etwas passiert. Muss denn zuerst ein schlimmer Unfall passieren, bis das Grillieren im Park verboten wird? Einen harmlosen Unfall mit einem Grill gibt es nämlich nicht. F. Hiroshige, Basel

Wir alle sind #Surprise Wer das Strassenmagazin kauft, tauscht mehr als Geld gegen Ware: Fast immer gibt es ein Lächeln dazu, oft werden ein paar Worte ausgetauscht – und manchmal sogar gegenseitiges Vertrauen aufgebaut. Viele Leserinnen und Leser berichten uns von ihren Begegnungen mit den Verkaufenden. Und sie schreiben der Redaktion, was sie gut gefunden haben und was weniger. Wir bedanken uns herzlich für diese Rückmeldungen – und teilen hier einige davon mit Ihnen.

Leserbrief Ausgabe 393, Ortsgeschichten «Wer gestaltet den öffentlichen Raum?»

In Bern sind auch alle Pärke, gar Kindergartenareale durch Ausforstung der schönsten Bäume und von diversem Niedergehölz gelichtet worden. Dabei fungiert die Sicherheit als Schutzargument. Wenn Kinder kaum mehr Versteckis spielen können, Eichhörnchen, Igel und andere Tiere aus den Pärken verschwinden (mangels Versteckmöglichkeiten) und Rückzugsmöglichkeiten für die gestressten Städter gänzlich fehlen, dann haben wir es mit Paranoia und Sicherheitswahn zu tun. Dabei sollte man bedenken, dass es grössere Risiken gibt – wie Autoverkehr, elektromagnetische Umweltverschmutzung durch Handyantennen und andere –, welche die Gesundheit und das Leben bedrohen können. Wenn der Schatten und die lauschigen Plätze aus dem Park vertrieben werden, ist ein Park nur noch ein aufgeräumter Rasen mit ästhetischem Schnickschnack, eine öde Landschaft mit gestutzten Baumüberresten, und kein Ort der Erholung mehr. R. Egli, Milken

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Stadtrundgang Ein spezieller Dank an Markus Christen: durch seine Herzlichkeit und sein breites Wissen war der Stadtrundgang ein tolles Erlebnis für unsere Jugendlichen und für uns selbst. R. Bollag, Wohngruppe Thor, Liestal

Kadi Haliye Dirye steht seit Jahren an den strategisch wichtigen Punkten von Wädenswil. «Schon alt!», ruft er meist und strahlt trotz seiner Sorgenfalten. Dann erscheinen mir meine eigenen Sorgen plötzlich nur noch halb so wild. Er erkundigt sich nach meinen Kindern und Enkeln, dann entlässt er mich mit einem Surprise-Heft, falls es für mich heute eben ein neues ist. A. Moya, Wädenswil

Leserbrief Ausgabe 393

Welch ein Heft! Stadtforschung, Ortsgeschichten, alles um das Thema Öffentlicher Raum. Ein Muss für alle Ämter der Entwicklungsplanung. Und uns Bewohner*innen werden die Augen für die Problemzonen geöffnet. Zugleich ist Ihr Heft eine Aufforderung mitzumachen und über die Zukunft des – nein, unseres – Raumes mitzubestimmen. Herzliche Gratulation. I. Wanner, Baden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Schreiben auch Sie uns – oder schicken Sie uns Bilder von Ihren Begegnungen mit Surprise! leserbriefe@vereinsurprise.ch oder Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel SURPRISE 396/17


BILD: KHUSRAW MOSTAFANEJAD

In Erbil im Nordirak Kindern auf der Strasse beim Kämpfen zuzusehen, erinnerte den Autor an seine eigene Kindheit.

Ich wurde im Dorf Zamziran ganz im Westen Irans geboren. Als ich sechs war, zog ich in die etwa 35 Kilometer entfernte Stadt Sardasht, um zur Schule zu gehen. Jeden Sommer kehrte ich zurück ins Dorf, half meinen Eltern auf dem Hof und genoss die Berge. Am letzten Tag der Sommerferien im Paradies gingen meine Geschwister und ich wieder in die Stadt, mit viel Früchten und Gemüse für die Klassenkameraden im Gepäck. Einmal, am ersten Schultag der sechsten Klasse, bemerkte ich, dass eine neue Familie mit einem Sohn und einer Tochter in unserem Alter im Haus gegenüber eingezogen war. Ich ging mich vorstellen, um mit ihnen zu spielen. Sie sagten aber etwas Fremdartiges, etwas, das ich nicht verstand. Ich war damals zwölf, mein Bruder und mein Cousin waren mit mir in derselben Klasse. Ich sass vorne und blickte müde im Klassenzimmer herum. Die meisten Schüler waren dieselben wie im Jahr zuvor, aber ganz hinten in der Ecke sass einer und blickte neugierig nach vorn: Es war der Sohn unserer neuen Nachbarn. Eine dicke Brille lag steil geneigt auf seiner Nase, er sass neben dem Fenster und hörte aufmerksam dem Lehrer zu. Das brachte mich zum Lachen. Er schaute mich verschüchtert an. Auf dem Heimweg stellte er sich vor, aber ich verstand ihn nicht gut. Er hiess Diako und war aus Sanandaj, einer anderen kurdischen Stadt 500 Kilometer weiter im Osten. Mandana, seiSURPRISE 396/17

ne Schwester, gefiel mir sehr, obwohl sie mich nur wortlos anschaute. Zuhause erfuhr ich von meinen älteren Geschwistern, dass die iranische Regierung Diakos Vater, der kurdischer Aktivist gewesen war, hingerichtet und die Familie vertrieben habe. Ich war wütend und hatte Mitleid mit Mandana und Diako. Mit der Zeit spielte ich öfter mit ihnen und lernte ihren Akzent gut verstehen. Ich fand ihren Dialekt wirklich schön. Einmal wollte ich Mandana beim Sprechen küssen, weil sie die Lippen so niedlich bewegte, aber ich war zu schüchtern. Der Kuss fehlt mir bis heute. In der Klasse waren viele eher zurückhaltend gegenüber Diako, weil sie ihn als Fremden sahen. Wir stritten in der Schule oft, und manchmal kämpften wir auch, in Gruppen oder einer gegen einen. Die Rasenfläche eines Parks in der Nähe war unser Schlachtfeld. Wir hatten auch Regeln: kein Blut, nicht ins Gesicht schlagen. In der Schule war meine Gruppe – mit meinem Bruder, meinem Cousin und zwei anderen Schülern, die alle vom Dorf waren – die stärkste, und wir entschieden fast jeden Kampf für uns. Diako fühlte sich deshalb stark mit mir. Einmal begann er einen Streit mit einem starken Schüler. Als sich das Problem nicht löste, einigten sich die beiden auf einen grossen Kampf im Park, und jeder suchte Verbündete in der Klasse. Die Klasse war in viele Gruppen aufgeteilt. Die starken, aggressiven Schüler stellten sich auf die Seite von Diakos Gegner. Die Schüler, die eher aus Mittelstandsfamilien stammten, unterstützten diese aggressive Gruppe. Die sozialeren Schüler erklärten sich für neutral.

Auch meine Gruppe unterstützte Diako nicht, denn ein Kampf gegen die Hälfte der Klasse hätte nur eine Niederlage bedeuten können. Ich versuchte Frieden zu stiften, aber Diako brüllte mich an: «Ich kapituliere nicht!» Nach der Schule gingen wir zum Park, und wie immer kamen gegen 100 Schüler, um sich den Kampf anzuschauen. Unterwegs versuchte ich nochmals, Diako umzustimmen, aber er verweigerte sich komplett. Abseits des Schlachtfelds setzte ich mich auf eine Bank, denn ich wollte diesen ungleichen Kampf nicht sehen. Ich hörte die Schüler, die Zuschauer waren, auf ihre Bücher schlagen, so wie bei einem Gladiatorenkampf. Nach einem Moment der Stille begann die Schlägerei, und ich hörte, wie Diako litt. Es war auch für mich schmerzhaft. Als alles vorbei war und die Schüler abzogen, wartete ich auf Diako, aber er kam nicht. Ich rannte hin. Diakos dicke Brille war zerbrochen, seine Bücher zerrissen. Ich fand ihn auf dem Rücken liegend, als ob er bewusstlos wäre. Ich erschrak und ging wortlos davon. Da öffnete er plötzlich die Augen, stand blitzschnell auf und rief: «Widerstand!» Der kurdische Journalist Khusraw Mostafanejad, 31, verliess 2011 seine Heimat Iran und wurde 2015 in der Schweiz vorläufig aufgenommen. Hier erzählt er Geschichten vom Fliehen und vom Ankommen.

BILD: FLURIN BERTSCHINGER

Challenge League Widerstand

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Porträt «Ich mache gerne die Wohnungstüre zu» Der Berner Schriftsteller Michael Fehr musste erst scheitern, um auf Umwegen zur Literatur zu finden. VON GISELA FEUZ (TEXT) UND KARIN SCHEIDEGGER (BILD)

Fehr nach fünf Jahren sein Studium abbrechen musste. «Zum Glück», wie er heute sagt. Nach dem Studienabbruch bewarb sich Michael Fehr kurzfristig am Literaturinstitut Biel, wo er, wie er selber sagt, «erstaunlicherweise» aufgenommen wurde. Interessanterweise habe er vor der Disziplin Literatur nie Angst gehabt. «So ein bisschen etwas zusammenerfinden und dann aufschreiben, das kann ja wohl jeder, habe ich damals gedacht», sagt er und lacht. So einfach sei es dann natürlich doch nicht gewesen. Aber er habe sich in der Beschäftigung mit Sprache und Ausdruck enorm frei gefühlt. «Ich hatte keine Ambitionen in dieser Disziplin, weswegen auch kein Druck da war. Nachdem ich mich dann aber einmal für die Literatur entschieden hatte, nahm ich sie mit voller Schaffenskraft enorm ernst.» Nach dem Studium in Biel wechselte Fehr ans Y Institut an der Hochschule der Künste Bern, das sich mit Kunst und dem Denken im spartenübergreifenden Sinn beschäftigt, und veröffentlichte bald einmal sein erstes Buch. Es folgten Theaterstücke und drei weitere zum Teil preisgekrönte Bücher. Seine Texte verfasst der sehbehinderte Schriftsteller zurzeit mit Hilfe der Spracherkennung des Mobiltelefons, das ändere sich aber je nach Stand der Technik oder Art des Vorhabens. 2014 wurde Michael Fehr an den renommierten Ingeborg-BachmannWettbewerb eingeladen, wo er Teile aus seinem Roman «Simeliberg» rezitierte. Sein Vortrag sei von «krasser Modernität», beurteilte ein Jurymitglied den Auftritt des Berner Autors. Wenn Fehr auf der Bühne steht und seine Texte vorträgt, dann glaubt man tatsächlich kaum, dass dieser Mann von sich selber behauptet, er habe immer ein bisschen Angst, aus der Komfortzone herauszutreten. Seine Texte zeichnen sich durch grosse Musikalität aus. Anstatt linear Geschichten zu erzählen, arbeitet Fehr lieber mit Rhythmik und Klang. Mit rauer Stimme schmettert er seine Textfetzen in den Raum, manchmal schreit er, manchmal stöhnt und ächzt er und manchmal ist er nahe am Gesang und klingt wie eine Kreuzung aus Tom Waits und James Brown. Die Intensität, mit welcher Emotionen auf der Bühne aus ihm herausbrächen, sei ihm bisweilen selber nicht ganz geheuer, sagt Fehr. «In diesen Momenten bin ich enorm im-

«Ich mag es, wenn alles klar, berechenbar und schön ordentlich aufgeräumt ist», sagt Michael Fehr. «Draussen ist das ja leider nie so, und deswegen mache ich sehr gerne die Wohnungstüre zu. Zumindest dann, wenn ich in der Wohnung drin bin», sagt er und lacht. In der Behausung des 35-jährigen Berner Schriftstellers ist alles an seinem Platz. Allerdings gibt es auch nicht viel, was in Unordnung geraten könnte. Fehr mag es spartanisch. Das lässt sich wohl damit begründen, dass er an juveniler Makuladegeneration, also an einer angeborenen Sehbehinderung, leidet und beinahe blind ist. Zwecks Orientierung ist Ordnung zentral. Die Kargheit der Wohnung widerspiegelt aber auch den Charakterzug eines Mannes, der sich selber lange mit grosser Strenge und Disziplin begegnet ist. Aufgewachsen ist Michael Fehr als Einzelkind im beschaulichen Gümligen nahe Bern. Er sei schon als kleiner Bub ein ängstlicher Mensch gewesen, dem der Schritt vor die Türe nicht leicht gefallen sei. Die Erkenntnis, dass er aufgrund seines stark eingeschränkten Sehvermögens anders sei als alle anderen, habe sich früh eingestellt. Er habe sich aber gesträubt, eine Schule für Sehbehinderte zu besuchen, erzählt Fehr. «Ich wollte möglichst unabhängig bleiben und wollte mir so wenig wie möglich helfen lassen, vielleicht aus Angst, irgendwie zu verweichlichen», sagt er. Das Lesen habe ihn wahnsinnig angestrengt, in eine Buchseite habe er gut und gerne eine Viertelstunde investieren müssen, und danach sei er meistens erschöpft gewesen. Trotzdem biss sich Fehr in regulären Institutionen durch Schul- und Gymnasiumszeit. «Ich habe immer ein sehr hartes Programm gefahren und stets mehr gemacht, als ich eigentlich konnte.» Heute ist Fehr allerdings davon überzeugt, dass er von der damaligen unerbittlichen Gangart profitierte: «Ich habe mir so diverse Methoden angeeignet, um mit meiner Behinderung klarzukommen.» Das Ausmass der Strenge, die Michael Fehr sich selber gegenüber walten liess, würde man auf den ersten Blick nicht vermuten, zumal der grossgewachsene, schlanke Mann ein freundlicher und vergnügter Gesprächspartner ist, «Ich habe immer ein sehr hartes Programm gefahren und stets der durchaus auch über Selbstironie verfügt. mehr gemacht, als ich eigentlich konnte.» Und doch hat er es sich nicht leicht gemacht, zum Beispiel auch mit der Wahl seines Studienfaches. Seine grosse Liebe habe ja eigentlich immer den Perkussionsinstrumenten gegolten, erzählt Fehr, der lanpulsiv, aber eigentlich ist dies eine Seite an mir, die mir ein bisschen ge Zeit Schlagzeug gespielt hat. «Als ich etwa 20 Jahre alt war, hat sich Angst macht, denn rational erklären kann man das ja nicht.» dann aber bei mir die Gewissheit eingestellt, dass ich nicht gut genug Offenbar schlummert da unter der ganzen Sehnsucht nach Ordnung war, um eine professionelle Karriere als Perkussionist einzuschlagen», und Strukturen auch noch etwas, was ausbrechen muss und es auf der sagt Fehr. Das sei ein herber Schlag gewesen, weil mit dieser Erkenntnis Bühne dann darf. Die emotionalen Explosionen des Michael Fehr dürfein Lebenstraum geplatzt sei. Es sei überhaupt eine schwierige Zeit geten auch eine Folge davon sein, dass der Berner Autor nicht mehr ganz wesen damals. Er habe mit sich und der Welt gehadert und habe, quasi so streng mit sich selber ins Gericht geht, wie er dies vor Jahren noch um sich selber für sein musikalisches Unvermögen zu bestrafen, eine tat. Tatsächlich verspüre er mittlerweile oft eine Art Milde und Freiheit. Studienrichtung gewählt, die allem widersprochen habe, wofür er sich «Und manchmal gar ein Bedürfnis zu ziemlich kompromissloser Unfügbis anhin interessiert hatte. «Ich entschied mich, ein gesellschaftsfähiger samkeit, Unfügsamkeit gegenüber dem Kontrollierten und Gängigen», Halsabschneider zu werden, und studierte Wirtschaft und Recht.» Weil sagt er und lächelt. ■ das Lesen für ihn ausserordentlich anstrengend gewesen sei, habe er in Grundschule und Gymnasium immer nur das Nötigste gelesen. An der Michael Fehrs viertes Buch «Glanz und Schatten», eine Sammlung kurzer ErzählunUni war diese Taktik dann allerdings nicht mehr ausreichend, weswegen gen, erscheint Ende März im Verlag Der gesunde Menschenversand.

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Medien Reporter statt Opfer Geflüchtete Journalisten, berichterstattende Geflüchtete: Mit Internet und Social Media können sich auch jene Gehör verschaffen, deren Stimme sonst untergeht. VON BENJAMIN VON WYL

Es ist der 29. Januar 2017. Mein Bauch ist gefüllt mit Palow, afghanischem Essen. Bei der Vorbereitung durfte ich nicht helfen, abwechslungsweise argumentierte Saboor, dass ich es falsch mache und dass es sich für einen Gast nicht gehöre zu helfen. Gast sein. Im Asylzentrum Sonnenhof in Emmenbrücke, wo die Aussicht auf die Alpen wunderbar ist, die Innenausstattung aber trotzdem an ein Gefängnis erinnert, oder zumindest an eine Jugendstrafanstalt. Saboor Nadem, sein engster Freund Mehran und ich machen einen Verdauungsspaziergang durch die Luzerner Agglogemeinde. Wir unterhalten uns darüber, dass in der Schweiz Frauen und Männer dasselbe Schwimmbad besuchen – für die beiden Afghanen erstmal ungewohnt, auch wenn sie prinzipiell nichts dagegen haben. Wir sprechen aber auch darüber, was die Taliban mit Saboor machen würden, wenn sein Asylantrag abgelehnt würde. Saboor ist Vollblut-Journalist. Das war er zuhause in der afghanischen Provinz Ghor. Das war er während seiner Flucht, und das ist er auch im Schweizer Asylverfahren geblieben. Wenn er nicht gerade kocht, Deutsch lernt, an der Reception im Sonnenhof arbeitet oder auf Neuigkeiten von den Schweizer Behörden wartet, postet Saboor tägliche Updates auf Facebook, jeweils auf Englisch und Dari. Manchmal bereitet er internationale News auf und gibt die Quelle an, zumeist BBC oder Deutsche Welle. Manchmal berichtet er auch von den Dingen, die ihm in der Schweiz begegnen, etwa von einer Regenbogenflagge mit «Fuck Trump»-Banner am Ufer des Zürichsees. Das Zielpublikum von Saboors Nachrichten sind Flüchtende unterwegs und Geflüchtete in Frankreich, Deutschland, der Schweiz. Seine Posts, jeder mit Foto versehen, erzielen beachtliche Resonanz auf Social Media: viele Likes, aber auch traurige und wütende Emoticons. Denn oft handeln die Updates von Anschlägen in Pakistan und Afghanistan oder von Geflüchteten, die sich aus Verzweiflung umgebracht haben. Saboor will berichten – und zwar

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das, was wahr ist. Deshalb sei er Journalist geworden: «Vor etwa sechs Jahren habe ich begonnen, als Journalist zu arbeiten. Es ist ein schwieriger Job – in jedem Land, aber in Afghanistan speziell. Ich wollte Journalist werden, um die Stimme der armen Leute hörbar zu machen, die Stimme aller, deren Anliegen von der Regierung nicht gehört werden. Aber immer, wenn wir etwas Relevantes gesendet haben, bekamen wir Anrufe, Briefe, Drohungen. Von der Regierung ebenso wie von den Taliban oder anderen lokalen bewaffneten Gruppen.»

«Durch meine Arbeit kann ich mir etwas Würde erhalten, egal in welcher Situation ich bin.» Saboor Nadem Ordnung ins Chaos bringen Während der zwei Monate, die ich bisher als unabhängiger Freiwilliger in Serbien war, habe ich einige geflüchtete Journalisten getroffen. Fast alle von ihnen mussten wegen ihrer Arbeit fliehen. Auch wenn ich wenig über ihre Themen und ihre Arbeitsbedingungen weiss, ist unser Blick auf das Geschehen verwandt: Was erleben wir hier gemeinsam? Immer mit dem Moment: bildungsbürgerlicher Westeuropäer und auf der Balkanroute Steckengebliebene. Immer mit dem Moment: Unsere Position in dieser Situation könnte nicht gegensätzlicher sein. Wie kann man das, was passiert, einordnen? Die Herangehensweise, das Suchen nach Informationsbrocken, das Suchen nach Ordnung und Verortung im chaotischen Jetzt verbindet uns. SURPRISE 396/17


Manche Flüchtende entdecken erst unterwegs die Handlungsmöglichkeiten, die ihnen Social Media bieten: zum Beispiel einer, der sich auf Facebook John Refugee nennt. Sein Anliegen: Die Welt darauf aufmerksam zu machen, dass hinter dem Bahnhof von Belgrad ein Dschungel steht, ein kleines Idomeni, ein Calais im Zentrum einer Millionenstadt. Auf seiner Facebook-Seite – über 850 Likes – postet John Refugee Fotos aus Belgrad. Intime Bilder, nie ohne Begleittext:

boor erzählte, dass er Journalist sei. Als die 2-Liter-Flasche Coca Cola leer war, beluden sich Saboor und zwei andere mit Zelten, die in Horgos dringend gebraucht werden. Horgos ist ein selbstverwaltetes Camp – besser: ein zwangsweise selbstverwaltetes Camp – direkt am ungarischen Grenzzaun. Die Flüchtenden in Horgos warten auf den legalen Grenzübertritt von Serbien nach Ungarn. Damals wurden pro Tag etwa 30 Menschen nach Ungarn gelassen, aber jeweils nur ein bis zwei alleinreisende Männer. Die Zahl änderte sich täglich, und die Listen, in die sich die Flüchtenden eintragen konnten, wurden von sogenannten Chiefs verwaltet: einem Afghanen für die Afghanen, einem Pakistaner für die Pakistaner, und so weiter. Nur NGO-Vertreter, die Polizei und Angehörige des serbischen Kommissariats für Flüchtlinge dürfen das Lager von Horgos betreten, und damals waren sowohl das Kommissariat als auch die Polizei besonders nervös. Etwa 300 Meter vom Camp entfernt protestierten 120 Flüchtende gegen die Schliessung der ungarischen Grenze. Eine Woche zuvor hatte die Stadtregierung von Belgrad begonnen, die Parks umzugraben, in denen hunderte Flüchtende verharrten. Als Folge davon organisierten Flüchtende eine Protestkundgebung, die zum Marsch Richtung Grenze wurde und schliesslich in den Hungerstreik mündete, der für uns Westeuropäer Anlass war, nach Horgos zu fahren. Wenige Tage später logge ich mich bei Facebook ein und sehe, was mein neuer Freund gepostet hat: «Hallo, ich bin Saboor! Ich berichte hier von der serbisch-ungarischen Grenze ...»

Erreicht Saboor Nadem mit seinen Videos die Richtigen?

Oft genug sind die Berichte der geflüchteten Reporter verstörend, wie im Falle dieses 12-jährigen Afghanen, dessen Flucht ihm den Verstand gekostet hat.

John Refugee friert auch jetzt, Ende Februar 2017, noch selbst in den Baracken beim Belgrader Bahnhof. Er hat einfach begonnen zu berichten. «Auf diese Weise kann ich die Situation hier in die Welt hinaustragen und auch Leute in der EU erreichen», schreibt er mir per Privatnachricht. Ich bringe es nicht übers Herz nachzufragen, ob er wirklich daran glaubt, dass er so die europäische Grenz- und Asylpolitik verändert. Auch Saboor will wiedergeben, was er sieht und erlebt, was ihm widerfährt. Und natürlich wünscht er sich eine andere Politik in Europa. Wie hätte er nicht versuchen können, im ungarischen Gefängnis zu filmen, in dem er Anfang August 2016 einen Monat verbringen musste? Doch seine Zelle wurde jede halbe Stunde kontrolliert. Filmen, Nachrichten lesen, posten, Belege suchen: Das alles tut Saboor, und er schöpft dabei sein journalistisches Handwerk aus. Während seiner Flucht habe ich Saboor kennengelernt. Es war der 24. Juli 2016, etwa 22 Uhr. Wir, eine Gruppe aus westeuropäischen Freiwilligen und Flüchtenden aus Afghanistan, sassen an der Raststätte beim Grenzübergang Horgos-Röszke vor einer 2-Liter-Flasche Cola. SaSURPRISE 396/17

In einem Viereinhalb-Minuten-Video schätzt Saboor die Lage der Hungerstreikenden ein und lässt mehrere zu Wort kommen. «Kannst du dich bitte vorstellen?», «Weshalb bist du hier?», «Was sind deine Forderungen an die Europäische Union?» Eine saubere Reportage, mit dem Handy aufgenommen. Saboors Video läuft auf der Facebook-Seite der NGO The Voice of Thousands. Es wird mehr als 16 000 Mal angeschaut und 250 Mal geteilt. Am selben Tag veröffentlicht er ein zweites Video, das weitere 50 Mal geteilt wird. Unter einer der Videoreportagen von Saboor kommentiert jemand: «lauter mediengeile wirtschaftsrefugees!» Dieser Kommentar ist wohl der wertvollste auf einer Plattform wie The Voice of Thousands, denn natürlich ist jede Öffentlichkeit wertvoll, aber wenn die On-the-Ground-Berichte in der linksliberalen Bubble verharren, dann ist diese Öffentlichkeit nur scheinbar. Rampensau zurücknehmen, nicht skandalisieren In Horgos, einige Wochen bevor ich ihn kennengelernt habe, traf Saboor auf der Staubstrasse zwischen der Raststätte und dem HorgosCamp zufällig Grosi. Grosi heisst eigentlich Michael Grossenbacher, ist in Meiringen aufgewachsen und machte in seinem früheren Leben Karriere als Sänger und Comedian. Mittlerweile ist er sieben Tage pro Woche für The Voice of Thousands unterwegs, bei Hilfseinsätzen, in politischer Lobbyarbeit und via Live-Streams auf Facebook. Als ich ihn ans Telefon bekomme, erklärt er mir die NGO: «The Voice of Thousands

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nennt sich so, weil wir mittlerweile mehr als 3000 Unterschriften von Flüchtenden auf der Balkanroute haben, die uns damit autorisiert haben: Ja, ihr dürft in meinem Namen sprechen.» Grossenbacher nimmt die Rampensau in sich zurück, er will nicht skandalisieren. Was er auf Lesbos, in Idomeni und anderswo gesehen hat, soll für sich selbst sprechen. Was passiert, ist Skandal genug. Wer Falschwahrheiten verbreite, schade dem eigenen Anliegen. «Wir prüfen alle Beiträge, bevor wir sie veröffentlichen. Falschdarstellungen, die aus politischer Propaganda gespeist sind, helfen niemandem.»

Mit der Öffentlichkeit ist es so eine Sache: Man darf sich keine Illusionen über ihre Wirkung machen. Insbesondere, wenn man keine neuen Informationen generiert, sondern lediglich das Erfahrene vermittelt. Das weiss Saboor, das weiss auch Michael Grossenbacher. The Voice of Thousands will explizit nicht politisch berichten. Politisch wirkt man da, wo die politische Macht ist: in der Wandelhalle, mit Lobbyarbeit für die Geflüchteten, wobei man Bürgerliche ebenso einbezieht wie das linksgrüne Lager. «lauter mediengeile wirtschaftsrefugees» – ich erinnere mich an den Kommentar unter Saboors Video. Zum Problem der Filterblase meint

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Grossenbacher: «Klar gehören viele aus unserem Publikum eher zum linken Spektrum, aber was wir berichten, soll auch zu Argumenten verhelfen. Unsere Community soll durch The Voice of Thousands Argumente bekommen, die sie dann in ihren Alltag trägt. Beispielsweise auch zur Bäuerin im Berner Oberland.» Grosi ist mittlerweile auch ein Freund von Saboor geworden, hat Saboor besucht, als es ihm schlecht ging auf seiner ersten Station in der Schweiz, in der Asylunterkunft auf dem Glaubenberg, zwischen Entlebuch und Sarnen, 1540 m. ü.M. Saboor in der Schweiz – das war seltsam. Im September, ich war gerade wieder nach Belgrad gereist, erschien auf meiner Facebook-Timeline ein Foto von Saboor in Zürich. Saboor vor dem Prime Tower; ich in Serbien. Saboor war für mich noch immer verbunden mit dem ungarischen Grenzzaun. Social-Media-Ortsverwirrung. Niemand kann dich schützen Social Media – schon Saboors Werkzeug, als er noch in Afghanistan Radio machte – ermöglicht ihm zu tun, was er tut. Und zu spüren, dass er etwas tun kann. Mitte Februar 2017 gehört Saboor für mich zur Innerschweiz, Palow – das Essen – gehört zu den Tagen mit ihm, und ich füge mich ohne Widerstand in meine Rolle als Gast. Heute interviewe ich ihn zu seiner SURPRISE 396/17


Arbeit in Afghanistan. Saboor vermisst das Radio. Bei Radio Firoz Koh in der Provinz Ghor war er Programm-Manager, koordinierte Sendungen und Reporter und war glücklich, dass er manchmal Zeit fand, um rauszugehen und zu berichten. Etwa über die Lage von Binnengeflüchteten, die aus einer anderen Provinz vor den Taliban geflohen waren.

Radio Firoz Koh, benannt nach einer historischen Stadt in der Region, ist ein Privatradio mit 25 Mitarbeitern, einem Empfangsradius von 300 km und etwa 25 000 Hörern pro Tag. Firoz Koh sendet MusikwunschSendungen, Musik macht einen bedeutenden Anteil des Programms aus. Aber Firoz Koh sendet auch drei Stunden Nachrichten pro Tag, und das ist der Grund, weshalb Saboor Afghanistan verlassen hat. Wenn ein kritischer Bericht über die Polizei gesendet wurde, bekam Saboor einen Anruf von der Lokalregierung. Eines Tages – am 19. Juli des Jahres 1394 nach dem persischen Kalender, also am 11. Oktober 2015 – erhielt Saboor einen Brief mit dem Stempel des «Islamischen Emirats», also der Taliban. Sie drohten ihm mit dem Tod, wenn er seine Berichterstattung nicht ab sofort in ihre Dienste stelle; sie schrieben auch, dass man seine Personalien in ganz Afghanistan gestreut habe. Man werde ihn finden. Saboor fürchtete sich und holte Erkundigungen ein. Bei der Lokalregierung, die ihm nicht zu helfen wusste. Beim regionalen Journalisten-Beirat, einem guten Freund. Bei einer lokalen NGO, der Afghanistan Independent Human Rights Commission. Niemand konnte ihm helfen, mehrere Stellen händigten ihm die schriftliche Bestätigung aus, dass man ihm weder helfen noch für seine Sicherheit garantieren könne. Du wirst mit dem Tod bedroht und es gibt noch nicht mal jemanden, der zumindest behauptet, er könne für deine Sicherheit garantieren. Saboor reist am 14. Februar 2016 mit einem Visum in den Iran. Über die

«Auf diese Weise kann ich die Situation hier in die Welt hinaustragen und auch Leute in der EU erreichen.» John Refugee Türkei kommt er nach Griechenland – und in Griechenland entscheidet er, dass er weiter als Journalist arbeiten will. Saboor war Journalist geworden, weil er die Stimme derer verstärken wollte, die in einer schwierigen Situation sind. Jetzt war er selber in Schwierigkeiten, und er begann seine Stimme zu nutzen. «Egal, in welcher Gesellschaft ich lande: Ich will Journalist bleiben. Wenn mich die Schweiz aufnimmt, dann will ich hier weiterarbeiten. Je fremder mir die Kultur ist, desto interessanter wird mein Beruf für mich. Ausserdem kann ich mir so etwas Würde erhalten, egal in welcher Situation ich bin», so Saboor. Saboor reagierte mit Unverständnis auf meine Frage, ob er nicht befürchte, dass seine öffentliche Flucht mit Spuren auf Facebook und Youtube ihm schaden könnte. «Solange ich die Wahrheit publiziere und nicht gegen Leute anschreibe, habe ich keine Angst. Was ich schreibe oder sage, ist nicht meine Idee. Es ist die Situation. Ich gebe die Situation wieder.» In den Befragungen der Schweizer Behörden hat er alles offengelegt. Er begreift Öffentlichkeit als Chance, und gleichzeitig ist er sich bewusst, dass ihn seine Arbeit in keiner Weise schützt. Am Ende sind es die Schweizer Behörden, die über seinen Status entscheiden, und nicht die Facebook-User. ■

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Hossam Abdel-Rehim ist der einzige arabischsprachige Psychiater in der Deutschschweiz, der sich auf die Therapie von kriegstraumatisierten Menschen spezialisiert hat. Ein Gespräch über Humor als Therapie, den Schrecken des Krieges und die Grenzen der Integrierbarkeit.

Traumatherapie «Mich erschreckt nichts mehr»

VON SIMON JÄGGI (INTERVIEW) UND ROLAND SOLDI (BILDER)

Krieg, Folter, Flucht: Jede zweite geflüchtete Person in der Schweiz leidet unter einem schweren Trauma, wie eine kürzlich an der Universität Zürich veröffentlichte Studie zeigt. Doch die Zahl an Therapieplätzen ist viel zu knapp, die Wartezeiten betragen bis zu einem Jahr. Hossam Abdel-Rehim, 56, ist der einzige arabischsprachige Therapeut in der Deutschschweiz, der sich auf die Behandlung von Psychotraumata spezialisiert hat. Täglich behandelt er in seiner Praxis Menschen, die aus dem Krieg geflohen sind. Abdel-Rehim empfängt zum Gespräch in seiner kürzlich neu bezogenen Praxis in Rapperswil. Im Treppenhaus riecht es noch nach frischer Farbe. Wer durch die Tür tritt, landet in einer Zwischenwelt, irgendwo zwischen der Schweiz und Ägypten, wo Abdel-Rehim aufgewachsen ist. Ein süsser Geruch liegt in der Luft. An den Wänden hängen Bilder mit gemalten Strassenszenen aus Kairo, goldgerahmte Koransuren, auf den dunklen Holzmöbeln stehen mit Ornamenten verzierte Schatullen. Der grossgewachsene Abdel-Rehim setzt sich im Behandlungsraum in einen dunklen Ledersessel und schlägt die Beine übereinander.

dan, das hat aber abgenommen. Insgesamt sind die Männer etwas in der Überzahl. Das Durchschnittsalter liegt zwischen 30 und 45. Von den Frauen, die ich behandle, kommen derzeit die meisten aus Syrien. Viele von ihnen sind alleine mit ihren Kindern nach Europa geflüchtet, nachdem sie ihren Mann im Krieg verloren haben. Oft durch Bombenangriffe. Jeder zweite Ihrer Patienten leidet unter einer sogenannten komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Was macht ein Trauma aus? Im Medizinstudium lernen wir, ein Trauma ist die Ausübung von äusserer Gewalt auf den Körper. Ein Knochenbruch nach einem Sturz beispielsweise. Wie der Knochen kann unter ausserordentlicher Belastung auch die Seele so erschüttert werden, dass sie dadurch Schaden nimmt oder zusammenbricht. Bei Menschen, die aus Kriegen geflohen sind, sind solche Traumata besonders häufig.

Herr Abdel-Rehim, wann haben Sie bei Ihrer Arbeit zuletzt gelacht? Das war vor etwa einer Stunde. Es war gerade eine Klientin aus Syrien hier, eine Kurdin. Sie wurde von ihrem Ex-Mann wiederholt heftig geschlagen. Seither fühlt sie sich verfolgt und sieht aufgrund ihrer extremen Ängste manchmal Geister zuhause.

Welche Ereignisse können ein Trauma auslösen? Das komplexe Trauma wird durch andauernde oder wiederkehrende emotional schwer verletzende Erlebnisse ausgelöst, von denen die Betroffenen nicht fliehen konnten. Folter beispielsweise, Gefängnis, Krieg, Flucht oder sexueller Missbrauch. Doch nicht jeder, der ein Trauma erlebt, erkrankt später auch daran. Das hängt von der Persönlichkeit ab, manchmal von der Bildung. Und davon, welche Erfahrungen man bereits in der Kindheit gemacht hat.

Das klingt nicht unbedingt nach einem humorvollen Thema. Warten Sie. Die Frau hatte mir von einer verstorbenen Jugendliebe erzählt, der sie immer noch nachtrauert. Weil der Mann Araber war, hatte sich die Familie damals gegen eine Beziehung gewehrt. Ich sagte ihr, sie müsse sich einfach nochmals verlieben. Sie brauche einen neuen Mann, dann sehe sie auch keine Gespenster mehr. Da lachten wir beide. Es geht eben darum, dass man die Patienten auch auf die Ressourcen anspricht und nicht nur auf das Tragische. Bei Patienten mit komplexen psychischen Traumata ist es besonders wichtig, dass sie wieder etwas mehr Normalität zurückgewinnen. Und das Lachen kann dabei sehr hilfreich sein.

Sie sind vor 30 Jahren als Arzt aus Ägypten in die Schweiz gekommen. Warum haben Sie sich entschieden, mit traumatisierten Menschen zu arbeiten? Das war Zufall. Ich hatte in den Neunzigerjahren meine Ausbildung abgeschlossen und gerade meine erste Praxis eröffnet, als die Truppen von Saddam Hussein in Kuwait einmarschierten und der erste Golfkrieg begann. Ich war damals Mitte 30 und einer der einzigen arabisch sprechenden Therapeuten in der Deutschschweiz. Plötzlich erlebte ich einen Ansturm von schwer traumatisierten Flüchtlingen aus dem Irak, viele hatten in den Gefängnissen von Saddam Hussein oder der Amerikaner gesessen. Darunter waren viele Folteropfer.

Was für Menschen kommen zu Ihnen? Die meisten kommen aus arabischsprachigen Ländern, vor allem aus Syrien und dem Irak. Früher hatte ich viele Patienten aus dem Südsu-

Wie haben Sie auf diese Entwicklung reagiert? Diese Menschen wollten, dass ich ihnen helfe. Damals wusste ich jedoch kaum etwas über Psychotraumatologie. In der Schweiz hatten sich

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Therapeuten kaum je mit dem Thema befasst. Wir sind ja zum Glück ein neutrales Land, das keine Kriege erlebt hat. Wir waren auch keine Kolonialmacht. Deshalb waren wir auch kaum je mit solchen Formen der Traumatisierung konfrontiert. Mit welchen Hoffnungen kommen die Menschen zu Ihnen? Viele wünschen sich, dass sie ihren inneren Frieden wiederfinden.

Hemmschwelle nochmals höher, gerade wenn es um so heikle Themen wie sexuelle Gewalt geht. Wie gross ist die Nachfrage? Ich sage nie ab, habe aber sehr lange Wartefristen. Und ich kann nicht immer die Therapie machen, die ich gerne machen würde. Wenn ich eine vertiefte Therapie mache, dann kann ich maximal drei Patienten pro Tag betreuen. Mehr würde ich seelisch nicht aushalten. Entscheide ich mich für eine stabilisierende Therapie, die weniger intensiv ist, kann ich pro Tag fünf Personen betreuen. Das ist immer ein Abwägen. Insgesamt gibt es in der Schweiz aber viel zu wenig Therapieplätze für Menschen mit komplexen Traumata. Am Ambulatorium für Kriegs- und Folteropfer in Zürich beträgt die Wartezeit zurzeit anderthalb Jahre.

Können Sie diese Hoffnungen erfüllen? Meine Rolle ist die des Arztes, meine Aufgabe ist es, die Menschen medizinisch zu behandeln. Dieses Bewusstsein hilft mir auch, mich ein Stück weit abzugrenzen. Doch komplexe posttraumatische Belastungsstörungen sind nicht ganz heilbar. Wer mehrere Jahre in Gefangenschaft gefoltert worden ist, der findet nicht mehr zu einem gewöhnlichen Alltag zurück. Ich beglei«Plötzlich erlebte ich einen Ansturm von schwer traumatisierten te die Patienten auf dem Weg, dass sie sich und ihr Leiden besser aushalten können. Und ich Flüchtlingen aus dem Irak, viele hatten in den Gefängnissen von versuche, dass sie wieder Vertrauen zu andeSaddam Hussein oder der Amerikaner gesessen.» ren Menschen aufbauen können. Das ist bei komplexen psychotraumatischen BelastungsWeshalb, glauben Sie, ist das Angebot nicht grösser? störungen oft eine riesige Herausforderung. Denn der Betroffene ist in Es braucht für diese Arbeit Leute, die spezifisch ausgebildet sind und seinen Grundfesten erschüttert. Er hat seinen Platz im Leben durch die diese Arbeit aushalten. Hinzu kommen die kulturellen Hindernisse. Gewalt anderer Menschen verloren. Und oft nur deshalb, weil er zu eiWenn sie mit der Kultur des Patienten nicht vertraut sind, wird es oft nem politischen System Nein gesagt hat. Und manchmal nicht einmal schwierig, ihn zu verstehen. Zudem tut die Politik wenig dafür, das Andas. Dieses Vertrauen wieder herzustellen braucht viel Zeit. gebot zu vergrössern. Ich denke, man hat Angst vor einer Kostenexplosion und fürchtet den Vorwurf, die Schweiz werde zu attraktiv. Das ist In welcher Form äussern sich die Folgen von komplexen traumatiaus einer ökonomischen Perspektive verständlich. Als Folge davon gibt schen Erlebnissen? es aber zu wenig Angebote. Komplexe posttraumatische Belastungsstörungen zeigen sich durch sehr unterschiedliche Symptome. Viele der Erkrankten leiden unter AffektWie beurteilen Sie das als Therapeut? störungen. Sie können ihre Wut nicht kontrollieren, sind ausfällig Rational ist es für mich nachvollziehbar. Denn die Therapien kosten viel gegenüber Mitmenschen oder fügen sich selber Verletzungen zu. GeGeld. Aber ethisch habe ich Mühe damit, dass man Menschen, die so dächtnisverlust und Bewusstseinsveränderungen wie Depersonalisasehr leiden, keine Behandlung ermöglicht. Und die Probleme verlagern tionserleben und Entfremdung gegenüber der Umwelt sind ebenfalls sich. Statt zur Therapie gehen Betroffene jede zweite Woche zum Hausverbreitet. Häufig leiden die Betroffenen auch unter Depressionen und arzt, entwickeln Folgeerkrankungen und sorgen so weiterhin für hohe Alpträumen. Ein Mann, der zu mir kommt, wurde in Syrien mit Hunden Kosten. Wer keine Therapie besucht, verursacht häufig auch im gesellgefoltert und träumt jede Nacht von den Tieren. schaftlichen Zusammenleben grosse Probleme. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, wie unterschiedlich das Gehirn von traumatisierten MenErschrecken Sie manchmal darüber, was Ihnen die Menschen an schen funktioniert. Wenn sie beispielsweise Bilder von lachenden GeGrausamkeiten erzählen? sichtern anschauen, reagiert im Gehirn jenes Zentrum, das gewöhnlich Nein, mich erschreckt eigentlich nichts mehr. Ich habe so viel gehört mit Ärger verbunden ist. Sie können also einen Traumatisierten anlaund kenne all die verschiedenen Foltermethoden, so grausam sie auch chen und er erlebt sie als Bedrohung. Als Folge rasten die Menschen sind. Ich weiss inzwischen, wozu der Mensch fähig ist. Er kann auch aus, in der Familie oder auf offener Strasse. Lust und Freude am Quälen empfinden. Deshalb erschrickt man nicht mehr. Weil man nicht mehr so blauäugig ist zu glauben, dass alles schön Integration erscheint unter solchen Bedingungen ein schwer erist auf der Welt. Es gibt das Böse. Aber es ist schwer, diese Berichte imreichbares Ziel. mer wieder zu hören und zu ertragen. Integration ist etwas, das wir alle gerne hören. Das Wort Integration hat auch bei mir seine Faszination. Ein vollkommener Zustand. Aber wie Wie hat diese Arbeit Ihren Blick auf die Welt verändert? soll das gehen, wenn Sie Ihre Affekte nicht kontrollieren können? InteIch bin in Ägypten sehr, sehr wohlbehütet aufgewachsen. Und ich dengration ist oft schwierig, gerade bei Menschen, die aus dem Krieg gefloke das ist ein wichtiger Grund dafür, dass ich diese Arbeit seit so vielen hen sind. Jahren aushalte. Mein Vater war ein leitender Orthopäde, meine Mutter arbeitete als Lehrerin an einer pädagogischen Hochschule. Ich hatte eiWie weit beeinflussen diese Traumatisierungen die gesellschaftline sehr glückliche Kindheit, sonst hätte ich vielleicht diese enorme Beche Wahrnehmung der Flüchtlinge insgesamt? lastung nicht über längere Zeit ausgehalten. Die eine reagiert mit Empathie und Engagement, der andere mit Skepsis und Sorge, was medizinische und kulturelle Herausforderungen dieser Wie gross ist die Hemmschwelle der Patienten, zu Ihnen zu komMenschen betrifft. Zweifelsohne stellen diese Traumatisierungen und men? ihre Folgeerkrankungen aber eine Last dar, die manchmal die gesellDadurch, dass ich aus derselben Kultur komme, ist die Hemmschwelle schaftliche Wahrnehmung der Asylsuchenden negativ beeinflusst. ■ möglicherweise etwas tiefer als bei einem anderen Arzt. Die Ägypter haben zudem unter den arabischen Ländern einen relativ guten Status. Das ist ein Bonus, den ich hier habe. Viele, die zu mir kommen, wollen aber auf keinen Fall, dass jemand davon erfährt. Bei den Frauen ist die

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Komplexe posttraumatische Belastungsstörung Der Begriff Trauma ist ein Sammelbegriff für psychische und körperliche Beschwerden, die als Folge eines negativen, erschütternden Ereignisses auftreten. Besonders schwere, wiederholte oder langanhaltende Traumatisierungen können zu sogenannten posttraumatischen Belastungsstörungen führen. Auslöser sind psychische, körperliche oder sexuelle Gewalterfahrungen oder auch Erfahrungen von Vernachlässigung in der Kindheit. Flüchtlinge aus Kriegsgebieten sind besonders häufig betroffen. Das Universitätsspital Zürich kam in einer Studie aus dem Jahr 2014 zum Schluss, dass 54 Prozent aller Asylsuchenden in der Schweiz unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Zu den typischen Symptomen von Betroffenen zählen Momente des Wiedererlebens, die sich tagsüber in Form von Erinnerungen an das Trauma, Tagträumen oder Flashbacks, nachts in Angstträumen äussern. Im Alltag haben Betroffene oft grosse Schwierigkeiten, mit den eigenen Emotionen umzugehen. Diese Überforderung kann zu Wutausbrüchen, Selbstverletzungen oder Alkoholmissbrauch führen. In schweren Fällen erleben Betroffene häufig Veränderungen des Erlebens, Denkens und Fühlens. Komplex Traumatisierte berichten zudem von Episoden, in denen sich ihr bewusstes Erleben von der Aussenwelt zurückzieht, ausgeprägten Erinnerungslücken oder Phasen, während denen die Umwelt oder die eigene Person distanziert und wie unwirklich erscheinen. Hinzu kommen oft körperliche Beschwerden, für die keine organische Erklärung gefunden werden kann. Besonders häufig sind chronische Schmerzzustände, Erschöpfung, Schwindel sowie Beschwerden im Bereich des Herzens oder der Verdauung. Quelle: Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie

Hossam Abdel-Rehim eröffnete seine Praxis, als der erste Golfkrieg ausbrach. SURPRISE 396/17

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Lebenserfahrung Irren macht menschlich Alles falsch gemacht, Mist gebaut, selber schuld. So kann man es sehen, wenn man gescheitert ist. Oder man kann an sich beobachten, wie man zu einem neuen Menschen wird. VON BIRGIT LUDWIG (TEXT UND BILDER)

Damals drehte ich fast durch. Sass mit den zwei kleinen Kindern auf dem Land zwischen den Reihenhäuschenbesitzern, mit denen ich nichts anfangen konnte, versuchte mich zu motivieren, einen Job zu finden und herauszufinden, was ich eigentlich wollte. Gespräche mit dem Ex gestalteten sich als unmöglich – er war auf der Flucht vor der Beziehung, ich versuchte ihn festzuhalten. Ich hatte Verlustängste.

Die grösste Niederlage meines Lebens musste ich einstecken, nachdem ich wegen des Vaters meiner zweiten Tochter 1000 Kilometer aus Hamburg in die Schweiz gezogen war. Zusammen mit meiner älteren Tochter, die dafür in Kauf nehmen musste, damit von ihrem eigenen Vater weit wegzuziehen. Die Trennung kam zwei Jahre später. So dass ich, Fehleranalyse mit offenen Wunden die nie hatte alleinerziehend sein wollen, mit zwei kleinen Kindern alDazu kam mein Gefühl, auf der ganzen Linie versagt zu haben. Im lein dastand. In einem fremden Land, in das ich gar nicht gewollt hatte, Kriseninterventionszentrum, wo wir die Beratung als Paar gesucht hatohne Job, ohne Einkommen, ohne Wohnung, ohne Trauschein, ohne ten, wechselte ich zu einer eigenen Psychologin, die versuchte, die Unterhaltsvertrag, ohne Geld und ohne Auto. Ohne Schweizer Pass, ohScherben meines Selbstwertgefühls aufzusammeln. Allein schon dass ne Plan und ohne Zukunft. sie zuhörte, half. Schliesslich hatte ich mich ja früher auch auf meine eiDie Beratungsstelle, die wir gemeinsam auf meinen Wunsch gene Wahrnehmung verlassen können. Wieso jetzt eigentlich nicht? aufsuchten, und von der ich mir Klärung erhoffte, war in meinen AuAber beim Scheitern oder in einer Krise gibt es eben kein Richtig oder gen mit uns überfordert. Mein Ex-Partner, eloquenter UnternehmensbeFalsch. Man verliert die Orientierung. «Scheitern ist etwas sehr Indivirater, erklärte mir und der Mediatorin in der zweiten Stunde, dass er duelles», sagt Dr. Christoph Stucki, Leitender Psychologe und Leiter des mittlerweile eine neue Freundin habe. Die Mediatorin, die eigentlich Klinisch Psychologischen Dienstes der Poliklinik am Inselspital Bern, zu neutral hätte sein sollen, war seiner Autorität nicht gewachsen und erdem auch das Kriseninterventionszentrum Bern gehört: «Während etklärte mir nach der ersten Stunde im Aufzug, dass sie die Sitzungen nicht mit seiner, sondern nur mit meiner Krankenkasse abrechnen würde. Sie war nicht in Ich hatte mich ja früher auch auf meine eigene Wahrnehmung der Lage klarzustellen, worum es bei der Trenverlassen können. Wieso jetzt eigentlich nicht? nung eigentlich ging, und dass wir gar nicht mehr an dem Punkt standen, an der Beziewas für den einen eine kleine Sache ist, können andere daran zerbrehung zu arbeiten, sondern dass das Ziel nur noch darin bestand, dass chen.» Das unterliegt der individuellen Beurteilung und der Vorerfahsich mein Ex möglichst geräuschlos aus dem Ganzen verabschieden rung mit dem jeweiligen Thema: Wie bin ich bisher damit umgegangen, konnte. Er, der Angst hatte, dass ich aus dem Land verschwinden würwie wurde ich von anderen bewertet, bin ich viel kritisiert worden? Es de mitsamt den Kindern. sind letztendlich die bereits bestehenden Erfahrungen, die die aktuelle Ich suchte die nächste Beratungsstelle auf. Der ältere Sozialarbeiter Situation so schmerzhaft machen. unserer Gemeinde, den ich beim nächsten Versuch hinzuzog, hatte Bei mir waren es genau diese alten Wunden, die da aufgerissen wurimmerhin die Chuzpe, mir auf den Kopf zuzusagen, dass sich mein Ex den: nicht ausgereicht zu haben, verlassen worden zu sein, allein dawohl schon innerlich verabschiedet habe. Die Einzige, die es bis dahin zustehen – dieses Gefühl gab es schon einmal. Und deshalb wollte ich noch nicht gemerkt hatte, war ich. Etwas, was ich nach dieser kurzen einfach nicht wahrhaben, was da passierte. Beziehungsdauer und all dem Aufwand, den wir betrieben hatten, um Diese Krise hätte mir eigentlich die Gelegenheit geboten, hinzuschauin einem neuen Land mit zwei Kindern gemeinsam neu anzufangen, aben: Was stimmt in meinem Leben eigentlich nicht? Warum nimmt mich solut nicht verstehen konnte.

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Der Plan wären Familienferien zu viert gewesen. Autorin Birgit Ludwig sass dann mit ihren TÜchtern allein auf Mallorca. SURPRISE 396/17

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all das so mit? Wo könnte ich mich anders verhalten? Doch in der akuten Trennungssituation damals konnte ich mich nicht ändern oder gar Fehleranalyse betreiben – ich war mental vollkommen am Anschlag, musste aber wegen der Kinder trotzdem funktionieren. Christoph Stucki sagt: «Die Menschen, die zu uns in die Krisenintervention kommen, stehen unter grossem Druck, haben Angst, Entscheidungen zu treffen, leiden unter Schlafstörungen, haben Existenzängste. Erst wenn die Akutbelastungen stabilisiert wurden, lassen sich längerfristige Handlungswerte erarbeiten.»

Das Wachsen nach meiner Krise damals bezeichnet Stucki dagegen als Post Traumatic Growth PTG – die Phase, wo jemand aufgrund einer Krise neue Bewältigungsstrategien lernt und einübt. Allerdings kann das laut Christoph Stucki auch nur ein vorübergehender Effekt sein: «Wir wissen, dass das PTG nicht klar dazu führt, dass der Einzelne auch weniger depressive Symptome hat. Das geschieht nur, wenn man die eigentlichen Probleme angeht.» Und das braucht Zeit und Ruhe. So kam es bei mir zwar zu einer kurzfristigen Erholung, als ich mich neu aufstellte, aber vorerst nicht zu einer dauerhaften Veränderung meiner inneren Einstellung. Diese kam erst viel später, als ich Zeit hatte, alles zu verarbeiten und nachzudenken – auch über meine eigenen Fehler während der Beziehung. Denn sicher hatte sich auch der Ex-Partner von mir anderes versprochen, und ich hatte es nicht gehalten.

Energie, Verstand, Durchhaltevermögen Eine Ärztin verschrieb mir ein Antidepressivum. Doch ich konnte deswegen nicht mehr schlafen. Als ich auch noch Schlaftabletten dazu nehmen sollte, setzte ich alles ab. Irgendwann traf ich die Entscheidung, Nicht auf Entscheidungen anderer warten selber aktiv zu werden und nicht mehr darauf zu warten, dass der Ex es Für Christoph Stucki ist ein zentrales Element bei den Auswirkungen sich doch vielleicht nochmals überlegen und zurückkommen könnte. des Scheiterns, ob jemand sich nur als Opfer sieht. Das sei kontraproIch fuhr nach Hamburg, bemühte mich dort um eine neue Wohnung für duktiv. Besser wäre, mit den eigenen Gefühlen in Kontakt zu bleiben. uns. Als ich gerade bei der Genossenschaft den Mietvertrag unter«Wer Mühe hat, überhaupt etwas zu spüren, der kann auch schlecht mit schreiben sollte, erreichte mich aus Solothurn ein Anruf. Ich solle mich vorstellen kommen – ein qualifizierter Job, Teilzeit. Hin und her gerissen, der Schweiz den Vielleicht haben wir uns als Partner ineinander geirrt, aber wir Rücken zu kehren (schon aus Rache) und zwischen dem Verantwortungsgefühl für die Kinhaben uns nicht als Vater oder Mutter ineinander geirrt. der, fuhr ich hin. Ich bekam den Job. Das war in der akuten Situation die Wende. dem Scheitern umgehen», ist seine Erfahrung. «Wer hingegen UnsicherIch zwang den Ex dazu, mir eine Provision für eine Hausvermittlung heit und Unperfektion bei sich selbst wahrnehmen kann, kann solche auszuzahlen, kaufte davon ein Auto und ein paar Möbel, mietete mir eiSituationen im Leben auch eher akzeptieren.» Die klassischen Stehaufne Wohnung im gleichen Dorf, suchte mir einen Anwalt und reichte eiMännchen eben! Denn diese haben die Eigenschaft, nicht zu lange im ne Unterhaltsklage für meine Tochter ein. Den Umzug bewältigte ich mit Hadern zu verharren, sondern etwas Neues auszuprobieren. Das Ausfünf Freundinnen, die mir den ganzen Haushalt ein- und wieder ausprobieren spielt eine zentrale Rolle im Leben bei der Suche nach erfolpackten, und ein paar gemieteten Studenten. All das neben den Kindern greichen Bewältigungsstrategien, wie auch der Autor Tim Harford in seiund neben der neuen Stelle, die 50 Kilometer entfernt war. Wir blieben nem Buch «Trial and Error» deutlich macht: Nicht immer bringt das haralso, die Kinder hatten sich gut eingelebt. In der damaligen Situation zige Überlegen den gewünschten Gedankenflash, sondern oft genug das war es das Richtige für sie, in der Schweiz zu bleiben. Aber die folgenAusprobieren von Wegen, die man bisher nicht beschritten hat. Mir ging den zehn Jahre verlangten mir alles an Verstand, Energie, Taktik, Kreaes genauso: Erst als ich damals anfing, die Opferrolle und die Gefühle tivität und Durchhaltevermögen ab, was ich zur Verfügung hatte. Geder Ohnmacht beiseite zu schieben, nicht mehr auf die Entscheidungen richtsverfahren. Wohnungssuche. Unterhaltsklagen. Anspruchsvolle anderer wartete und selber einfach handelte, kehrte sich die Situation. Jobs. Kinderkrankheiten. Schulanlässe. Arbeitslosigkeit, Verhandlungen Ein ähnliches Tal der Angst und Entschlusslosigkeit hatte ich später zu mit Steuerbehörde und Schuldenberatung. Sorgerechtsprozesse, die der bewältigen, als es um eine Kündigung ging. Ich musste mich neu als Vater lostrat. Weiterbildungen. Jonglieren mit den Verpflichtungen. Die Freiberuflerin orientieren – was finanzielle Einbussen mit sich brachte. Versuche, ein sozial stabiles Netz aufzubauen. Kaum familiäre UnterAber letztendlich hat es mich auf einen Weg gebracht, der besser zu stützung. Bei der Bewältigung administrativer und juristischer Problemeinen eigenen Fähigkeiten passt. me, auch mit dem Ex-Partner, und bei der Erziehung meiner Töchter Und das Gute am Scheitern ist auch: Man ist nicht damit allein. Die wuchs ich über mich hinaus, immer am Anschlag. Welt ist voll von Fehlentscheidungen. Von hochrangigen Persönlichkeiten und sogenannten Experten, die sich geirrt haben. Den falschen MoUnd nach der Wende die Erkenntnis ment gewählt haben. Den falschen Beratern geglaubt haben. So wie RoDoch die eigentliche Herausforderung war neben der anstrengenden bert McNamara, US-amerikanischer Verteidigungsminister unter John F. Lebenssituation der mühsame Weg, mich vom Scheitern eines LebensKennedy, der sich für den Vietnam-Krieg aussprach und dies im Nachtraumes als Familie emotional zu erholen. Meine Freunde konnten nicht hinein als eine seiner grössten Fehlentscheidungen klassifizierte. verstehen, warum mich das so lange mitnahm. Ich konnte es selber nicht verstehen. Heute würde ich es als posttraumatischen Stress bePerfektionismus blockiert zeichnen. Dass ich in all den Jahren nicht alle meine Freundschaften zuIrren ist menschlich: Eine Entscheidung, die heute falsch ist, kann grundegejammert habe, ist ein reines Wunder. Viele sind dabei dennoch morgen richtig sein. Die zeitliche Komponente spielt bei der «richtigen» auf der Strecke geblieben. Der lange mühsame Weg, diese Trennung und Entscheidung eine grosse und oft nicht einzuschätzende Rolle. Der falKränkung als eine Art Zufall zu begreifen – ich war einfach einem Mensche Mann oder die falsche Frau oder der falsche Job zum falschen Zeitschen begegnet, der offensichtlich ganz andere Ideale hatte als ich. Ich punkt der eigenen Entwicklung. Was heute passt, kann morgen eine warf mir vor, ihn nicht rechtzeitig richtig eingeschätzt zu haben. «LetzNummer zu klein oder zu gross sein. Menschen, Situationen und Geten Endes geht es beim Scheitern um das Thema Selbstwert», sagt setzeslagen ändern sich. Manchmal kann man es einfach nicht wissen Psychologe Christoph Stucki. Welche Teile von meinem Selbstwert wervorher. Diese Tendenz, sich selber für angebliche Fehler zu verurteilen, den bei einer Krise angegriffen? Dieser fusst laut Stucki auf verschiedeist die grösste dauerhafte Gefahr am Scheitern. Nur wer sich selber seinen Säulen. Wenn mehrere Lebensbereiche in einer Krise betroffen sind ne Misserfolge verzeiht, nicht liegen bleibt und einen neuen Versuch – Partnerschaft, Finanzen, Umfeld, Wohnung –, ist das Risiko erhöht, startet, hat etwas gelernt. Perfektionismus und die Angst vor Fehlern dass es zu einem massiven Zusammenbruch kommt.

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Familienferien, Fortsetzung: innere Leere am glitzernden Lago di Lugano.

hemmen jede Entwicklung, wie auch der Autor und Wissenschaftsjournalist Jürgen Schaefer in seinem Buch «Lob des Irrtums» beweist. Sogenannte dysfunktionale Perfektionisten können in Unternehmen dafür sorgen, dass Entscheidungen nicht gefällt werden, weil sie alles blockieren, und machen sich damit unbeliebt. In der Evolution haben nicht die fehlerfreien Exemplare die Entwicklung von Arten vorangebracht, sondern kleine Abweichungen in der Genmutation zu mehr Artenvielfalt und einem Fortschreiten der Evolution geführt. Deshalb ist die Kunst im Leben nicht, jedes Debakel zu vermeiden, sondern daraus wieder aufzustehen. Und aus der Chance, die eine Kündigung mit sich bringt, eine Zukunft zu bauen. Mancher muss sich sogar eingestehen, dass er das vielleicht vorher schon gewollt, sich aber nie getraut hat. So wie ich mit der Freiberuflichkeit früher immer halbherzig unterwegs war, obwohl es besser zu mir passte. Denn entscheiden ist immer noch besser als das Gefühl zu haben, im eigenen Leben nicht Regie zu führen. Kulturell bedingte Urteile Es gibt Kulturen, die fehlertoleranter sind als andere – und Mitmenschen machen es einem leichter, wenn man einen Fehler macht. Die Schweiz ist ein Land, in dem Menschen wenig fehlertolerant sind, ähnlich wie Deutschland oder Singapur. Wer hier in berufliche oder finanzielle Schieflage gerät, zum Beispiel einen Konkurs hinlegt, ist in den Augen der Gesellschaft häufig selber schuld. Verpönt ist es, darüber zu reden oder sich gar Geld zu leihen. In anderen Kulturen, zum Beispiel den USA, wird nicht der Einzelne und seine Unfähigkeit für alle Zeiten als verantwortlicher Faktor für berufliches oder persönliches Scheitern festgemacht und an die Wand genagelt. Nicht das Scheitern gilt als schwach. Das Negativurteil kommt erst, wenn du einfach liegen bleibst, SURPRISE 396/17

rumjammerst und nicht mehr aufstehst. Oder keine Reue zeigst. So hat der aktuelle US-amerikanische Präsident bereits mehrfach eine Firmenpleite hingelegt. Und Bill Clinton, Ex-Präsident der USA, wurde grosszügig seine Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky im Weissen Haus verziehen – nachdem er sich im Beisein seiner Ehefrau reuig im TV dafür entschuldigt hatte. Undenkbar, dass sich ein Schweizer Bundesrat oder eine Bundesrätin unbeschadet mit einer Praktikantin im Bundeshaus vergnügen würde. Auch dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand hat mein sein jahrzehntelanges familiäres Doppelleben nonchalant zugestanden. Ich konnte mich nach der Trennung erst dann vom Scheitern erholen, als ich meine eigenen Anteile daran sah und meinen Selbstwert nicht mehr an diesem einen Ereignis festmachte. Und als ich den eigentlichen Erfolg in den Fokus rückte. Die wunderbare gemeinsame Tochter, bei der ihr Vater alle seine Versprechen bezüglich Verbindlichkeit und Engagement gehalten hat. Vielleicht haben wir uns als Partner ineinander geirrt, aber wir haben uns nicht als Vater oder Mutter ineinander geirrt. Und seitdem ich das nicht mehr als selbstverständlich nehme, sondern als gehaltenes Versprechen von ihm, ist viel Ärger über mich selbst und meine scheinbar falsche Partnerwahl verpufft. Ich konnte mir selbst verzeihen. ■

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BILD: ZVG

Moumouni … ... zollt Respekt Neulich kam jemand auf mich zu und sagte, er sei froh, dass die Initiative zur erleichterten Einbürgerung angenommen wurde, die Schweiz würde sonst so fremdenfeindlich erscheinen, was sie ja eigentlich gar nicht sei. Ich zitierte als Antwort meinen Kollegen Kijan Espahangizi: «Unabhängig vom Ergebnis ist es schlicht eine Schande, dass die absurde Abstimmung überhaupt stattfinden muss[te]. Und sie deutet darauf hin, dass es ein grundlegenderes Umdenken braucht.» Das hatte Kijan in seiner Winterrede im Zürcher Zentrum Karl der Grosse gesagt. In der Aargauer Zeitung schrieb er: «Wer in der Schweiz geboren bzw. aufgewachsen ist, sollte kein Geld zahlen, keinen Test bestehen und vor keiner Gemeinde vorgeführt werden müssen, um grundlegende Bürgerrechte wie Aufenthaltssicherheit, Rechtsgleichheit, Wahlund Stimmrecht zu erhalten.» Ob die Schweiz fremdenfeindlich ist, darüber kann man sich natürlich streiten: Denn die Menschen, die seit Jahren von diversen SVPInitiativen bedroht werden, sind nicht fremd, «sie leben in diesem Land, sie arbeiten, essen, schlafen, feiern und lieben hier». Was haben die Weltwoche und Surprise gemeinsam? Ein liebevolles Shoutout an Kijan! Jenes in der Weltwoche von Markus Schär Ende Januar polterte unter dem Titel «Unerfüllbare Zumutung» und war natürlich um einiges weniger liebevoll, als was Sie hier in dieser Ausgabe von mir zu lesen bekommen. Kijan ist für mich eine der wichtigsten Stimmen, die die Schweiz zu bieten hat. Das sieht die Weltwoche übrigens nicht anders: «Niemand meldet sich in der Ausländerpolitik so lautstark und selbstbewusst zu Wort wie der 37-jährige Historiker, der seit 2010 das Zentrum Geschichte des Wissens von Uni und ETH Zürich führt», heisst es dort, und es ist klar, dass Kijan damit ins Visier der Rechten gerät. Was Autor Schär richtig macht, sind die vielen Zitate aus diversen Reden, Interviews und Artikeln Kijans. Denn wer ihn zitiert, sagt in Sachen Schweizer Migrationspolitik selten Dummes. Aber natürlich ist der Artikel gespickt von kleingeistigen Vorwürfen: Kijan sei erst seit zehn Jahren in der Schweiz. Subtext: Was fällt ihm ein, sich hier einzumischen und «die Schweizer mit seinen Thesen (aufzuschrecken)»! Wei-

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ter solle er nicht vergessen, dass sein Arbeitgeber, die ETH, die ja sogar von einem Ausländer gebaut worden sei (wow!), ihn sogar für seine Arbeit bezahle (WOW!). Subtext: Da kann das von Kijan thematisierte Rassismusproblem ja wohl kaum so schlimm sein. Schärs Hauptkritikpunkt scheint zu sein, dass Kijan nicht Schweizer, ja nicht einmal Secondo ist. Da stimme ich der Weltwoche zu: Ich wäre froh, würden auch Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft den Umgang der Schweiz mit ihren als Ausländer markierten Mitmenschen derart treffend kritisieren. «Ist doch nur die Weltwoche» wird jedoch häufig geantwortet, wenn ich mich über den Artikel aufrege. Ich muss sagen, auch ich fand den Artikel mehr süss als bedrohlich, und mein erster Gedanke beim Lesen war: «Wenn ich gross bin, möchte ich die Weltwoche auch mal zur Weissglut treiben.» Aber ich steh ja auch auf Battle-Rap. Da herrscht übrigens eine ähnliche Attitüde, wenn jemand die Mutter oder Herkunft beleidigt: «Is doch nur Rap», sagt man. Und dann wird zurückgeschossen. Das fehlt mir ein bisschen im hiesigen Diskurs: Ein lautes «Heb d’Schnorre» gen Weltwoche, ein noch lauteres «Fertig luschtig» gen SVP und ihre erniedrigenden Initiativen und ein «Yeah!» für Kijan von einem aktiven Publikum, das die Rezension von Kijans Thesen nicht den Rechten überlässt. Wer wirklich an einer Schweiz interessiert ist,

die nicht fremdenfeindlich ist, muss sich darum kümmern, welche Ideologien hier unangefochten herumschwirren, und muss Leuten wie Kijan, die mit ihrem Gesicht und Namen für eine solche Schweiz einstehen, Rückendeckung geben. Also: Wo ist die Crowd? Macht mal Lärm! Lesen Sie Kijans Texte und Interviews. Und setzen Sie sich für eine Schweiz ein, die nicht dem Bild der Weltwoche entspricht. Fatima Moumouni fordert Markus Schär zu einem Battle heraus und schwingt die Fäuste. Sie fragt sich dabei, ob das genauso lächerlich aussieht wie Schärs Artikel über Kijan Espahangizi in der Weltwoche.

Rahel Nicole Eisenring ist freie Illustratorin. www.raheleisenring.ch

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Literatur «Aus der Verwirrung mache ich Geschichten» Die Programme am St. Galler Literaturtage Wortlaut klingen, als ob sie Ernst Jandl erfunden hätte. Und gefüllt werden sie mit Manuel Stahlberger, Nora Gomringer oder Max Küng von Heutigen, die frischen Wind in die Worte bringen.

Für den österreichischen Lyriker Ernst Jandl war Sprache ein gewaltiger Fundus an Lauten, die er zu einem ganz eigenen Stil – ja: verdichtete. Für viele Wortkünstler ist Jandl bis heute eine Inspiration. Im Sinn einer Hommage sind die Veranstaltungen der St. Galler Literaturtage Wortlaut in die vier Programmreihen Laut, Luise, Lechts und Rinks unterteilt. Laut umfasst die Sparte Musik- und Sprechkabarett, Luise Lesungen und Gespräche, Lechts steht für Comic und Graphic Novel und Rinks ist Slam Poetry und Spoken Word gewidmet. «Der Wortlaut ist der Ursprung jeder Geschichte, deshalb richten wir die Scheinwerfer auf das Vorlesen und auf Geschichten, die in unterschiedlichen Sparten vorgetragen werden», sagt OK-Leiter Richi Küttel. Literaturveranstaltungen sind schon lange keine blossen Lesungen mehr, sondern haben einen Event-Charakter. Während vier Tagen verteilen sich die rund 30 Veranstaltungen über die ganze Stadt. Das Festival, das bereits zum neunten Mal stattfindet, pflegt ein zeitgenössisches und frisches Literaturverständnis und hat so in der Deutschschweiz seinen festen Platz gefunden. Der Mix aus Literatur mit Musik, Spoken Word oder Comic kommt an und ist gerade auch für ein jüngeres Publikum attraktiv. Wortlaut spannt mit dem Literaturnetz Ostschweiz oder mit der Appenzeller Anthologie zusammen. «Dank dieser Vernetzung werden wir wahrgenommen und können gerade auch für Ostschweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller eine Plattform sein», sagt Richi Küttel. «Nicht nur in Bezug auf die Sparten, sondern auch auf die Autoren ist uns eine gute Mischung aus lokalen, nationalen und internationalen Namen sehr wichtig.» Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich stehen auf den Bühnen der sieben verschiedenen Austragungsorte. Wortlaut lässt Newcomer ebenso zu Wort kommen wie etablierte Grössen. Magazin-Kolumnist Max Küng wird seine Geschichten am Eröffnungsabend musikalisch vortragen. Anna Haifisch wiederum wird bei ihrem Auftritt mit spitzer Feder den Kunstbetrieb mit Comic-Zeichnungen live auf der Bühne porträtieren. Und der St. Galler Grafiker und Comic-Autor Flurin de Salis wird den legendären Mont Ventoux in der Provence mit dem Velo bezwingen. «Gerade die Förderung von Comic als eine eigenständige Kunstform und als Teil der Literatur ist uns ein grosses Anliegen, da diese Sparte, ausser am Comicfestival Fumetto in Luzern, noch recht stiefmütterlich behandelt wird», sagt Küttel. Wortlaut möchte dazu anregen, Literatur über die Spartengrenzen hinweg zu geniessen. Und so kann man nebst der Comic-Lesung genauso eine Veranstaltung mit der deutschen Autorin Nora Gomringer besuchen, die ihren neuen Gedichtband präsentieren wird. Oder man geht in die Aufführung von Manuel Stahlberger, einem der prominentesten Kabarettisten der Ostschweiz. Stahlberger, der auch Lieder schreibt und Comics zeichnet, wurde für sein künstlerisches Schaffen 2009 mit dem Salzburger Stier ausgezeichnet. Sein Solo-Programm am Wortlaut heisst «Neues aus dem Kopf». Stahlberger sieht sich in seiner kreativen Arbeit als Beschreiber. «Ich kann viel Gewöhnliches im Alltag der Leute gut nachvollziehen SURPRISE 396/17

BILD: MICHAEL SCHOCH

VON MONIKA BETTSCHEN

In der Ostschweiz kann man gut im Geheimen Kultur machen. Findet Stahlberger.

und will nicht jene in die Pfanne hauen, die ein normales Leben versuchen. Solange sie nicht bequem und engstirnig werden und unsorgfältig der Aussenwelt gegenüber. Ich bin oftmals recht verwirrt von unserer Welt, und aus dieser Verwirrung mache ich Geschichten.» Stahlberger ortete eine Zeit lang noch einen Ostschweizer Minderwertigkeitskomplex, wenn es um Sprache und Kultur ging. «Das merke ich heute aber nicht mehr so. Aber sicher sind die Ostschweizer keine grossen Plöffsäcke. Man kann gut und im Geheimen Kultur machen. Das fördert eventuell eine etwas knorrige Eigenständigkeit», sagt Stahlberger. «Das Gute an Festivals wie Wortlaut ist, dass man Sachen entdecken kann, auf die man sonst nicht käme.» Persönlich liest der Künstler gerne Zeitungen und hat gerade die Kurzgeschichten von Raymond Carver für sich entdeckt. «Jede dieser unglaublich präzisen Geschichten ist wie ein Song, und das Buch ist dann sozusagen das Album.» ■ St. Galler Literaturtage Wortlaut, Do, 30. März bis So, 2. April www.wortlaut.ch

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Theater Ent-Sorgung für das Niederdorf Das Stadtlabor Pavilleon und das Theater Neumarkt wollen unter dem Motto «Reclaim Kreis 1» den Zürcher Kreis 1 rückerobern. Das Projekt «Sorgen frei» von Regisseur Ron Rosenberg ist der Anfang eines längerfristigen Stadtteil-Projekts, an dem sich weitere Initiativen und Institutionen beteiligen werden.

Ab März startet das Theater Neumarkt eine Reihe von Künstlerresidenzen, Performance-Projekten und künstlerischen Aktionen, die sich mit dem Biotop Niederdorf auseinandersetzen. Denn – so die Beobachtung vieler ansässiger Veranstalter –, wo mal das pralle Leben mit all seinen Abgründen, aber auch Legenden und Seligkeiten der Bohème zuhause war, sind heute Billig-Modeläden und vollgekotzte Strassenecken. Regisseur Ron Rosenberg interessiert sich für den Müll der Bewohner und will sie von belastendem und lästigem psychischen und physischen Material befreien. Also ihre Sorgen entsorgen. Rosenberg richtet in der Chorgasse, der kleinen Nebenbühne des Neumarkt-Theaters, eine theatrale Installation ein: eine Sorgenannahmestelle. «Ich möchte Leute zusammenbringen, die im Kreis 1 entweder Sorgen annehmen oder loswerden», sagt Rosenberg. «Ich lade sie ein, sie mit uns zu teilen. In Form einer leeren Cola-Dose etwa oder eines Lieds, das einer singt, wenn er die Strasse putzt. Es kann aber auch ein Foto einer Selbsthilfegruppe sein, in der man seine Sorgen teilt.» Das Ganze soll eine Art Setzkasten materieller und immaterieller Güter werden, die mit dem Gedanken des Entsorgens zu tun haben. Aber auch mit Sorgen, Versorgen, Besorgen. Denn die Sorge kann durchaus etwas Nützliches sein – indem man Sorge zu etwas trägt. Und hier leitet das Nachdenken über die Müllentsorgung zur Frage über, welche Beziehungen wir leben wollen. «Sorge zu tragen hat im materiellen Sinn etwas damit zu tun, dass man Ressourcen nicht verschwendet. Wenn wir den Begriff der Sorge etwas zentraler stellen würden, würde es nicht nur die Umwelt schonen, sondern auch das Miteinander», sagt Rosenberg. Regisseur Rosenberg sieht es als Gradmesser für den Zustand der Gesellschaft, wenn er die Menschen rund ums Niederdorf nach ihren Sorgen fragt: «Was mich interessiert, ist der Zusammenhang von öffentlichem Raum und der Frage, wie er von Individuen genutzt wird. Es gibt Sorgen, die aus dem Druck der Leistungsgesellschaft heraus entstehen. Im Gegensatz zu

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BILD: RON ROSENBERG

VON DIANA FREI

Ron Rosenberg, der in Zürich aufgewachsen ist, findet auch an seinem Wohnort Berlin Ent-Sorger.

ganz konkreten Sorgen – wenn man zum Beispiel die Miete nicht bezahlen kann – sind es eingebildete Sorgen. Sie entwickeln sich aber direkt aus der Leistungsgesellschaft heraus. Weil man sich einbildet, man müsse mitmachen können.» Und Leistung spiegelt sich im öffentlichen Raum – weil er von Werbung und Konsum geprägt ist. «Entweder du gehörst zu denen, die mithalten, also kaufen können. Dann kannst du den öffentlichen Raum nutzen und belegen. Oder du kannst nicht mitkaufen und hast an dem Ort nichts verloren. Damit ist der Raum aber nicht mehr öffentlich. In einer Stadt ist das nicht in Ordnung, weil ein Stadtbild von Diversität geprägt sein müsste.» Müll – leere Bierflaschen nach einer Samstagnacht etwa – kann man als materialisierten Frust lesen, den die einen produzieren und die anderen entsorgen. Eine Kirche kann genauso als Sorgenannahmestelle dienen wie ein Abfallcontainer. Oder die Kioskfrau. «Es gibt für mich viele Geschichten von Leuten, die ent-sorgen.» Dass die Sorgen aus dem öffentlichen Raum den Weg ausgerechnet ins Theater finden, ist kein

Zufall: «In den Siebzigerjahren wurde der öffentliche Raum anders wahrgenommen – durchaus auch als Ort der Auseinandersetzung, Demonstrationen hatten einen anderen Stellenwert. Die Auseinandersetzung geht aber zunehmend verloren, und der Raum wird von Werbung, Konsum, Kaufkraft und letzten Endes von den Mächtigen besetzt. Er ist damit aber nicht mehr wertfrei», sagt Rosenberg. «Das Theater ist eine Art Gegenstück zum öffentlichen Raum, ein Gegenraum. Ich sehe es als eine Art Marktplatz. Als ein Ort, wo Menschen zusammenkommen und gewisse Fragen kontrovers diskutieren können. Ich glaube, Theater – Kunst überhaupt – ist eine Art verdichteter öffentlicher Raum.» Und so ist es nur folgerichtig, dass der Müll der Strasse seinen Weg nun in den Bühnenraum findet. Wo er verlesen und vielleicht auch entsorgt wird. ■ «Pimp the Dorf – Reclaim Kreis 1», Residency von und mit Ron Rosenberg: Sorgen frei!, Fr, 31. März, 20.30 Uhr, Sa 1. April, 20.30 Uhr, Theater Neumarkt, Chorgasse, Zürich. www.theaterneumarkt.ch SURPRISE 396/17


Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist. Bücher streicheln uns den Kopf und legen sich uns zu Füssen.

Buch Leseleben Burkhard Spinnen setzt dem drohenden Verschwinden des gedruckten Buches eine facettenreiche Liebeserklärung entgegen. VON CHRISTOPHER ZIMMER

Jahrhundertelang waren Pferde allgegenwärtig, in den Städten, auf dem Land, im Krieg. Nach 1900 aber verschwanden sie quasi von heute auf morgen, verdrängt von Automobil, Traktor und Panzer. Damit hatte der technische Fortschritt einem scheinbar unverzichtbaren Bestandteil der Zivilisation ein für viele unvorstellbares Ende bereitet. Heute fristet «hoch zu Ross» ein museales Nischendasein in Tourismus und Sport. Mit diesem exemplarischen Abgesang auf das Pferd beginnt Burkhard Spinnen seine Hommage an das Buch und fragt, ob diesem dasselbe Schicksal droht. Tritt das E-Book an seine Stelle? Verdrängt es das gedruckte Buch? Trotz aller Widerstände, vor allem vonseiten des Literaturbetriebs? Diese Sorge ist nicht unberechtigt, nur weil eine solche Entwicklung und der damit einhergehende Kulturverlust undenkbar scheinen. Doch das Pro-und-kontra-E-Book überlässt Spinnen bewusst anderen. Statt dessen setzt er dem drohenden Szenario eine Liebeserklärung an das Buch mit all seinen «wunderbaren Selbstverständlichkeiten» entgegen, persönliche Betrachtungen eines leidenschaftlichen Bücherliebhabers und -sammlers. Und nicht zuletzt auch eines Digital Immigrants, der, anders als die Digital Natives, dem Kulturgut Buch noch ungebrochen verbunden ist. So versammelt er eine reiche Palette von Eigenschaften und «Verhaltensformen» des Buches, Zeugnisse eines langen Lese-Lebens. Vom Körper des Buches, der alt oder neu sein kann, gross oder klein, schön oder beschädigt. Vom Gebrauch des Buches, das verschenkt oder signiert, verliehen oder gestohlen werden kann, bis hin zum dunklen Kapitel der verbotenen und verbrannten Bücher. Von Lesefibeln, Lieblingsbüchern oder Erstausgaben, und natürlich auch von all den Bücherhorten in öffentlichen und privaten Bibliotheken, Archiven, Buchhandlungen, Antiquariaten, im Bücherbus oder Bücherregal. (Der Autor misst seine eigenen Buchbestände in IKEA-Regalen, die Masseinheit heisst entsprechend «ein Billy».) Burkhard Spinnen hat eine melancholische Hommage verfasst, die sich der Erfahrung des allmählichen Abdankens eines Leitmediums entgegenstemmt. Eine Liebeserklärung, in der jeder das eigene Lese-Leben wie in einem Spiegel mit vielen Facetten wiedererkennen und bestärken kann – allem Pessimismus zum Trotz. Burkhard Spinnen: Das Buch. Eine Hommage. Schöffling & Co. 2016. CHF 22.90 SURPRISE 396/17

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Scherrer & Partner, Basel

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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ChemOil Logistics AG, Basel

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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

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Institut und Praxis Colibri, Murten

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Rechtsanwalt Peter von Burg, Zürich

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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Hofstetter Holding AG, Bern

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Hedi Hauswirth Privat-Pflege, Oetwil am See

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Echtzeit Verlag, Basel

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OpenTrack Railway Technology GmbH, Zürich

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Intercelix AG, Basel

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Naef Landschaftsarchitekten GmbH, Brugg

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Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

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PS: Immotreuhand GmbH, Zürich

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Iten Immobilien AG, Zug

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Proitera GmbH, Basel

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Petra Wälti Coaching, Zürich

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Alfred Rappo-Kolenbrander, Breitenbach

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Botanica GmbH, Sins

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Brother (Schweiz) AG, Dattwil

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InhouseControl AG, Ettingen

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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BILD: TIM ELLRICH: «DIE BADEWANNE», 2015

BILD: ISTOCKPHOTO BILD: ZVG

Ausgehtipps

Sehen brav aus, haben aber Meinung im Gepäck.

Auf Tour Lärm aus Kairo Es klingt wie eine Zusammenfassung der politischen Ereignisse der letzten Jahre. Und das sind die Noise-Artistinnen irgendwie auch, die unter dem Namen «Egyptian Females Experimental Music Session» auftreten. Seit Jahren prägen Asmaa Azzouz, Shorouk El Zomor, Hala Abu Shady, Jacqueline George, Nina El Gebarly, Ola Saad und Yara Mekawi einzeln und im Verbund die Welt der Sound-Art und der experimentellen elektronischen Musik mit. Die sieben Musikerinnen sind aber auch allesamt Schülerinnen des ägyptischen Sound-Artists Ahmed Basiouny, der 2011 auf dem Tahrirplatz sein Leben verlor, als er sich an den Protesten für eine offenere Gesellschaft und Politik beteiligte. Dass die Truppe mehr will als nur Lärm machen, darauf deutet die im Namen explizit betonte Weiblichkeit hin. Davon, dass sie die Kunst des gehobenen Lärms mindestens so gut beherrschen, wie sie vom Wunsch nach Wandel getrieben sind, davon kann man sich gleich an mehreren Auftritten in der Schweiz überzeugen. (ami)

Reinhauen. Töne und Worte machen.

Familienbande in der Badewanne.

Zürich Solo mit Hermes Baby

Auf Tour Schaut mal kurz

Wissenschaftler machen es so: Was sie nicht berechnen können, das testen sie in einem Versuch. Womit man bereits beim Wesen des Experiments angelangt ist: bei der Unberechenbarkeit. Das ist in der Kunst nicht anders. Wer Neues versucht, kann jämmerlich scheitern – oder jenen immer seltener werdenden Weg finden, der zu wahrlich Neuem führt. Im Falle der Kunst liegt das selbstverständlich immer auch im Auge des Betrachters. Der Versuch aber, den der Schlagzeuger Chris Jaeger mit der Autorin Julia Weber eingeht, ist zumindest von der Anlage her vielversprechend. Jaeger ist einer der interessantesten Schweizer Schlagzeuger der jüngeren Generation; Weber geht seit 2012 mit ihrem «Literaturdienst» einen unkonventionellen Weg, indem sie sich mit ihrer Schreibmaschine etwa für Geburtstage und Hochzeiten buchen lässt und den Abend literarisch festhält. Im Wuhrladen vereinen sie ihr Können: Jaeger trommelt ein Solo, das Weber abtippt. Wir finden: Das hat auf jeden Fall Potenzial. (ami)

Die Kurzfilmnacht, das sind vier Kurzfilmprogramme in viereinhalb Stunden Kino, und das in 12 Städten. Dazu gibt es pro Stadt eine Kurzfilmpremiere von Filmemachern aus der jeweiligen Region. In den «Swiss Shorts» finden sich nationale Publikumslieblinge wie «Digital Immigrants»: Hier kann man Senioren beobachten, wie sie sich an Computern und Smartphones abarbeiten, was sehr unterhaltsam ist und einem vor Augen führt, dass die digitale Technik manche Menschen recht konsequent vom täglichen Leben abhängt. Der Film bekam den Publikumspreis der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur. Damit man die lange Nacht schlaflos übersteht, wird auch manch anderer Publikumsliebling gezeigt, wie der Trickfilm «Analysis Paralysis» oder «Bon Voyage» mit Tatort-Kommissar Stefan Gubser in der Hauptrolle. Die Programme «Family Ties», «C’est la Vie» und «This Girl is on Fire» zeigen internationale Kurzfilmperlen. Über starke und manchmal allzu eng geschnürte Familienbande. Über ein junges Frankreich, in dem das Poetische im Alltäglichen hervorschimmert und sich Gérard Depardieu als Babysitter beweist. Und je später die Nacht, desto frischer wird der Blick auf die weibliche Sexualität. Dann stellen die Schweden an einer High-School auch die Geschlechterrollen auf den Kopf. (dif)

Chris Jaeger und Julia Weber, Sa, 1. April, 20.30 Uhr, Wuhrladen, Wuhrstrasse 11, Zürich. www.chrisjaeger.ch, www.literaturdienst.ch

«Kurzfilmnacht-Tour»: jeweils freitags (oder Fr und Sa),

«Egyptian Females Experimental Music Session»,

24. März Bern, 31. März Baden-Wettingen,

So, 9. April, 22 Uhr, Im Röhrchen, Wasserwerkstrasse

Sa, 1. April Aarau, 7. April Chur, 21. April Schaffhausen,

89a, Zürich; Mi, 12. April, 21 Uhr, Café Bad Bonn,

21. und 22. April St. Gallen, 28. April Biel, 28. April

Bonn 2, Düdingen; Do, 13. April, 22 Uhr, Palace,

Luzern, 5. Mai Basel, 12. Mai Zürich, 12./13. Mai

Blumenbergplatz, St. Gallen. www.100copies.com

Uster, 19. Mai Winterthur. Kinos unter www.kurzfilmnacht.ch

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BILD: ZVG

BILD: STEPHEN MALINOWSKI

So kann man Musik auch sehen.

Im Kern der Party sieht Arbeit so aus: das Gob Squad.

Basel Statt Mickey Mouse

Bern Selbstgenähtes Loch

Die Idee mutet wie eine modern verzerrte Neuauflage von Disneys «Fantasia» an: Mittels der speziell entwickelten Software Music:Eyes können Hörer zeitgenössischer Musikstücke das Vernommene in bewegte Bilder übersetzen. Lehrer Urban Rieder hat dies mit seiner Klasse vom Basler Gymnasium Bäumlihof ausprobiert und mit ihnen eine Reihe Animationen zu Werken von Philip Glass, Judd Greenstein und Missy Mazzoli entwickelt. Im Basler Gare du Nord werden diese Visualisierungen nun zu sehen sein – synchron zu einer Live-Aufführung der Stücke durch die Basler Sinfonietta. Tanzende Besen und Mäusezauberer sind nicht zu erwarten. (win) «Mit den Augen hören – Ein interdisziplinäres Musikvermittlungsprojekt»,

Es ist eine schöne Art von Humor, wenn man inmitten einer digitalen Spielwiese eine Bastelstation für Handyhüllen aufstellt, mit denen man ein portables Funkloch erzeugt. Was man natürlich auch subversiv interpretieren kann: Kaum ist das Smartphone in der Metallstoffhülle, hat man mehr Zeit zum exzessiven Gamen. Und schon tingelt man von Gewaltgames zu Sexgames – Zutritt erst ab 18 – oder lädt die ganze Familie ein zum sonntäglichen Zocken mit Kindern und Jugendlichen. Und wer mit der digitalen Welt nichts anfangen kann, schaut sich das Gob Squad Arts Collective und sein Theater-Video-Happening «Western Society» an, das die Medialisierung der Gesellschaft unter die Lupe nimmt. (win)

Konzert mit Visualisierungen und Diskussion, So, 26. März, 15 Uhr, Gare du Nord,

«Digital Playground. Festival für digitale Kultur», 29. März bis 2. April, Dampf-

Schwarzwaldallee 200, Basel. www.garedunord.ch

zentrale, Marzilistrasse 47, und Schlachthaus Theater, Rathausgasse 20, Bern. www.ditigal-playground.ch

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Verkäuferporträt «Die Reise durch die Wüste dauerte acht Tage» Der nie enden wollende Militärdienst wurde für Eyob Kiflemariam (51) unerträglich. Er verliess sein Land und seine Familie auf der Suche nach einem Leben in Freiheit. Mit viel Glück ist er nach einer gefährlichen Flucht im bernischen Ittigen angekommen.

«Ich stamme aus einem Dorf, das ungefähr 20 Kilometer von der eritreischen Hauptstadt Asmara entfernt liegt. Meine Familie hatte einen Bauernhof und baute verschiedene Gemüse an. Als ich gross genug war, half ich, die Produkte auf dem Markt in Asmara zu verkaufen. Später arbeitete ich auch ab und zu auf Baustellen. Nachdem sich Eritrea Anfang der Neunzigerjahre die Unabhängigkeit von Äthiopien erkämpft hatte, herrschte eine Zeitlang Ruhe im neugegründeten Staat. Da aber einige Grenzverläufe noch nicht geklärt waren, flammte der Krieg zwischen den beiden Ländern 1998 wieder auf. In dieser Zeit musste schliesslich auch ich in den Militärdienst eintreten und an der Grenze gegen unsere Nachbarn kämpfen. Das war schwierig für mich. Dazu kam, dass ich 1990 geheiratet hatte und somit meine Frau und Kinder zuhause zurücklassen musste. Als man mich 2014 noch immer nicht aus der Armee entlassen hatte, verlor ich die Geduld. Ich hatte genug von 15 Jahren Militärdienst, fast die ganze Zeit getrennt von meiner Familie, kaum Geld für sie. Ich tat dann eines Tages, was meine beiden Brüder, die heute in den USA und in Schweden leben, bereits früher gemacht hatten: Ich flüchtete ins Nachbarland Sudan. Dass ich noch lebe, ist eigentlich ein Wunder. Denn bereits im Sudan wollten mich Menschenhändler kidnappen, um an Lösegeld zu kommen. Dank der Hilfe einer Eritreerin konnte ich mich in Sicherheit bringen und meine Reise in Richtung Europa fortsetzen. Dazu musste ich zunächst vom Sudan aus die Sahara durchqueren. Mit dem Geld meines Bruders in den USA zahlte ich Schlepper, die mich mit 25 andern Leuten auf einem völlig überladenen Landcruiser nach Libyen brachten. Diese Schlepper sind unglaublich, sie behandeln die Flüchtlinge wie Tiere – wobei ich zwar denke, dass sie ihre Tiere besser behandeln. Die Reise durch die Wüste dauerte acht Tage. Wir hatten Glück, dass wir keine Panne und genug Wasser hatten, denn sonst wird es sehr schnell lebensgefährlich. Aber auch andere Gefahren lauern in der Sahara, manche Gruppen werden überfallen, so wie die Gruppe vor uns. Von den 60 Personen, habe ich gehört, wurden alle bis auf eine getötet. Wer genau die Täter waren, weiss ich nicht. Es waren wohl irgendwelche islamistischen Terroristen, die es auf die meist christlichen Flüchtlinge aus Eritrea und Äthiopien abgesehen hatten. Wie gut es das Schicksal bei der Fahrt über das Mittelmeer mit mir meinte, war mir im ersten Moment gar nicht bewusst. Als ich auf das bereits übervolle Schiff steigen wollte, das mir versprochen worden war, hiess es plötzlich ‹fertig!›, dann wurden keine Leute mehr darauf gelassen. Ich müsse auf ein anderes Boot warten, sagte man mir. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass dieses Schiff mit mehr als tausend Menschen an Bord gesunken ist. Nach einer auch nicht ungefährlichen Fahrt in einem überfüllten Boot erreichte ich Sizilien und reiste von dort aus mit dem verbliebenen Geld durch Italien in die Schweiz, wo ich im Mai 2015 Asyl beantragte. Von der Empfangsstelle Basel kam ich nach kurzer Zeit nach Ittigen, wo ich mit 100 andern Männern in einer unterirdischen Flüchtlingsunterkunft gewohnt habe. Geschlafen haben wir in Drei-Etagen-Betten – es

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BILD: ALFRED MAURER

AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

war nicht einfach, aber irgendwie haben wir es geschafft, dort zu leben. Geholfen hat mir auch, dass ich jeden Tag hinausgehen und bei der Migros in Ittigen Surprise verkaufen konnte. Ich habe dort viele nette Menschen kennengelernt, und auch zu den Mitarbeitern des Einkaufszentrums hatte ich sehr guten Kontakt. Vor ein paar Monaten wurde ich in eine Unterkunft in Interlaken transferiert. Dort habe ich in der Nähe der grossen Migros wieder Surprise verkauft, aber die Leute waren nicht so offen wie in Ittigen. Vielleicht kennt man da Surprise noch nicht so gut. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn ich konnte per Zufall Anfang März die Wohnung eines Kollegen übernehmen – in Ittigen! Darüber bin ich sehr glücklich. Was mir jetzt noch fehlt, sind meine Frau und meine Kinder. Doch wenn alles gut geht, wird meine Familie bald hier sein. Auch sie sind aus Eritrea geflohen und warten nun in Äthiopien, dass sie im Familiennachzug in die Schweiz reisen können. Gott sei Dank per Flugzeug.» ■ SURPRISE 396/17


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Andreas Hossmann Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Roland Weidl Basel

Daniel Stutz Zürich

Markus Thaler Zürich

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

Telefon

Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

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1 Monat: 500 Franken

396/17 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 396/17

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Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

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Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der Deutschschweiz um den Titel des Schweizermeisters. Einige Spieler nehmen am Homeless World Cup teil. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsleitung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (Mitglied der Geschäftsleitung), Jannice Vierkötter (Mitglied der Geschäftsleitung) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Beat Camenzind (bc), Diana Frei (dif, verantwortlich für diese Ausgabe), Simon Jäggi (sim), Thomas Oehler (toe), Sara Winter Sayilir (win) redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Gisela Feuz, Birgit Ludwig, Karin Scheidegger, Roland Soldi, Benjamin von Wyl Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 21 800, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising, Kommunikation T +41 61 564 90 50 Zaira Esposito, Katrin Pilling marketing@vereinsurprise.ch

Vertrieb Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Regionalstelle Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Christian Sieber, Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich zuerich@vereinsurprise.ch Regionalstelle Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Barbara Kläsi, Alfred Maurer Scheibenstrasse 41, 3014 Bern, bern@vereinsurprise.ch Café Surprise T +41 61 564 90 50 Zaira Esposito (Leitung), z.esposito@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassenfussball T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach), d.moeller@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T +41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Beat Jans

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: PC 12-551455-3, IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 SURPRISE 396/17


Buch: Standort Strasse Bewegende Lebensgeschichten

Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand 152 Seiten CHF 40.– inkl. Versand- und Verpackungskosten ISBN 978-3-85616-679-3

Die belebten Plätze und Strassen der Deutschschweizer Innenstädte sind bekannt. Die Lebensgeschichten der Surprise-Verkaufenden, die hier arbeiten, jedoch nicht. Das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» rückt diese Personen ins Scheinwerferlicht und zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Das Buch porträtiert zwanzig stolze Menschen, die trotz sozialer Not alternative Lebensentwürfe abseits staatlicher Hilfe gefunden haben. Die Angebote des Vereins Surprise haben ihnen dabei geholfen. Gastbeiträge sowie eine Fotoserie von Surprise-Standorten runden das Buch ab. Erfahren Sie mehr über die Lebensgeschichten unserer Verkaufenden und kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand». Ein Teil des Geldes kommt direkt den Surprise-Verkaufenden zugute. Bestellen bei Verkaufenden oder unter: www.vereinsurprise.ch/shop/



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