Surprise 400

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Strassenmagazin Nr. 400 19. Mai bis 1. Juni 2017

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass


Wir gratulieren allen Mitarbeitenden des Surprise Strassenmagazins ganz herzlich zur Jubiläumsausgabe. Nur dank eurer wertvollen Tätigkeit erzählt Surprise schon seit 19 Jahren echte Geschichten. Alles Liebe, Euer jobs.ch Team

Foto: Ruben Hollinger

«Hinter jedem verkauften Magazin steht ein Mensch»


Titelbild: Stephan Walter

Editorial

Das Wunder von Muri Meine Damen, meine Herren, Sie halten die 400. Ausgabe des Surprise Strassenmagazins in Ihren Händen. Seit fast 19 Jahren erscheint unsere Zeitschrift. Dies ist einem doppelten Wunder zu verdanken. Zunächst einmal sind da die Menschen, die Surprise verkaufen. Menschen, die durch eine Fügung im Leben – Krankheit, Unfall, Sucht, Migration, Scheidung oder anderes – von der Bühne gefallen sind, auf der sich das gesellschaftliche Leben abspielt. Aber statt sich zu verkriechen, nehmen sie das Heft in die Hand. Sie stellen sich auf die Strasse und zeigen damit, dass sie sich den Platz auf der Bühne nicht nehmen lassen. Unsere Verkaufenden sind das erste Wunder. Dann sind da Sie, unsere Käufer und Leserinnen. Sie sind Menschen, die vom Zug zur Arbeit oder von der Arbeit aufs Tram müssen. Menschen, die mit vollen Einkaufstaschen aus dem Supermarkt kommen. Und Sie halten kurz an, in Zürich, in

4 Aufgelesen 5 Hausmitteilung Aufbruchstimmung 6 Moumouni ... berichtet aus

14 Surprise im Überblick Jahre, Millionen,

Tonnen

Bern, in Aesch, in Muri. Bleiben stehen, um jemandem ein Heft abzukaufen, von dem andere denken, dass er ihnen auf der Tasche liegt – so das gängige Vorurteil. Zum Preis eines kleinen Sandwiches, eines grossen Biers, einer S-Bahn-Tageskarte kaufen Sie ein totgesagtes Produkt: gedruckten Journalismus, lange Texte über oft schwierige Themen. Sie, liebe Leserinnen und Leser, sind das zweite Wunder. Das zeigt: Menschen sind mutig. Menschen sind neugierig. Und Menschen sind empathisch. Das Strassenmagazin ist ein Beweis dafür, dass in dieser Welt einiges gut läuft. Alles andere werden wir weiterhin unter die Lupe nehmen. Ohne alternative Fakten, aber ganz sicher mit einem anderen Blick auf die Welt. Wir sagen Danke und freuen uns auf die nächsten 400 Ausgaben.

Amir Ali Redaktor

22 Ausstellung

26 Synthie Pop

Schwarzweiss für

Der warme Klang der

die Gerechtigkeit

16 Ernährung

27 Veranstaltungen

Rezept für Rebellen

28 Surplus

der Moschee

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

7 Die Sozialzahl

Meine Rente, deine Rente

8 Wohnungsmarkt

Schimmlige

Goldgrube

Oberheim OB-Xa

25 Randnotiz

Wenn das

Schweigen bricht

30 Verkäuferporträt

«Ich kenne eine dunkle

Seite der Stadt»

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Aufgelesen

Foto: Z VG

News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Knapp davongekommen Zwei polnische Wohnungslose überlebten Ende Januar in Hamburg knapp einen Brandanschlag, der sie im Schlaf überraschte. Der 31-jährige Krzysztof erlitt Verbrennungen zweiten Grades im Gesicht, der 43-jährige Slawomir Verletzungen an der Hüfte. Mit ihrem gesamten Hab und

Gut verbrannten auch ihre Ausweispapiere und Arbeitsverträge. Mithilfe von Überwachungskameras konnte die Polizei einen Verdächtigen ermitteln und festnehmen. Gegen ihn wird Anklage wegen versuchten Mordes oder gefährlicher Körperverletzung erhoben.

Hinz & kunzt, Hamburg

Papst Franziskus

Scarp de tenis, Italien

4

Foto: REUTERS/ Tony Gentile

«Es gibt viele Arten zu rechtfertigen, dass man kein Almosen gibt: ‹Warum sollte ich? Gebe ich dem Bettler Geld, gibt er es doch nur für das nächste Glas Wein aus.› Wenn aber ein Glas Wein sein einziges Glück im Leben ist, dann soll es so sein.»

Weniger Seepferdchen Nur noch jedes zweite zehnjährige Kind in Deutschland kann schwimmen, besagt eine jüngere Studie der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft DLRG. Wurden 1975 knapp 900 000 Seepferdchen- und Jugendschwimmabzeichen vergeben, waren es 2015 nur noch rund 140 000. Die Folgen sind fatal: 2016 ertranken in deutschen Flüssen und Seen 450 Menschen, davon 30 Kinder.

trott-war, Stut tgart

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Foto: TOBIAS SUTTER

Zurückgeschickt Mehr als vier Millionen Euro gab das österreichische Innenministerium an EU-Geldern aus, um zwischen Juli 2015 und Dezember 2016 rückkehrwillige Flüchtlinge zu beraten. Mit Erfolg: 2015 reisten 5087 Geflüchtete aus, 2016 waren es sogar 5797. Um den Anreiz noch zu erhöhen, wurde die Summe der sogenannten Starthilfe für Marokkaner, Afghaninnen und Nigerianer angehoben und beträgt jetzt bis zu 500 Euro.

Megaphon, Graz

Nicht jugendfrei Heute Morgen wurde ich beim Joggen abgelenkt, als ich sah, wie städtische Arbeiter ein Zelt abrissen. «Was ist los?» «Wir räumen dieses Zelt ab. Man darf hier nicht campieren, das ist eine Verordnung der Stadt.» «Aber wo sollen sie denn hin? Es gibt keinen Wohnraum, und die Winterunterkünfte sind bereits geschlossen.» «Ich weiss, Mann. Ich tue nur meine Arbeit. Es ist beschissen. Meinen Kindern erzähle ich immer noch, dass ich auf dem Bau arbeite. Ich will ihnen nicht sagen, dass ich Zelte von Obdachlosen abreisse und ihre Sachen wegräume.» Entschuldigung, aber weshalb nochmal bestrafen wir Menschen, die keinen anderen Ort zum Schlafen haben als eine lausige Plane neben der Schwebebahn? Wie kann es sein, dass ein Mann seine Kinder belügen muss, weil die Realität seiner Arbeit so grausam ist? Denk mal nach, Vancouver. Jessica Hannon, Geschäftsleiterin von Megaphone in Vancouver, postete dieses Erlebnis kürzlich auf Facebook. Im Grossraum Vancouver schlafen laut der diesjährigen Obdachlosenzählung über 3600 Menschen auf der Strasse oder in Notschlafstellen.

Megaphone, Vancouver

«Guter Journalismus ist die Basis unseres Erfolgs»: Paola Gallo.

Hausmitteilung

Aufbruchstimmung Surprise ist das führende Strassenmagazin der Schweiz. Über 400 000 verkaufte Exemplare letztes Jahr zeigen: Surprise ist längst nicht mehr das Arbeitslosenmagazin, das man aus Mitleid kauft. Wir haben uns weiterentwickelt. Heute sichern wir fast 400 Verkaufenden ein geregeltes Einkommen, die Verkaufszahlen sind in den letzten fünf Jahren stetig gestiegen. Immer häufiger wird Surprise in anderen Schweizer Medien zitiert, werden wir als Experten zu den Themen Armut und Ausgrenzung angefragt. Die Strassenzeitung Hus Forbi unserer Kollegen in Dänemark ist dort die meistgelesene und meistgekaufte Zeitung im Land. Da möchten wir auch hin: das Magazin in der schweizerischen Medienlandschaft werden, an dem man nicht mehr vorbeikommt. Dabei setzen wir, wie schon lange, auf guten Journalismus als Basis für unseren Erfolg. Um unsere Möglichkeiten in diesem Bereich zu erweitern, haben wir das Stras­ senmagazin einer Generalüberholung unterzogen und sowohl inhaltlich als auch gestalterisch dem Zeitgeist angepasst. Dazu haben wir Sie als Lesende befragt, uns in zahlreichen Klausuren neu erfunden und sind mit der Bodara GmbH eine neue gestalterische Zusammenarbeit ein-

gegangen. Das Ergebnis halten Sie mit dieser Ausgabe in den Händen. Gleichzeitig ist auch unsere neue Webseite online. Sie fungiert als digitales Archiv und soll ausgewählten Inhalten auch eine Verbreitung jenseits unserer Printreichweite ermöglichen. Auf diese Weise erreichen wir zwei der strategischen Ziele von Surprise: einen wirksamen Beitrag zur Information der Gesellschaft zu leisten und Einkommen für Menschen zu generieren, die in eben dieser Gesellschaft einen schwierigen Stand haben. Wir wünschen Ihnen so viel Spass beim Lesen, wie uns das Machen bereitet, und danken Ihnen für Ihre Treue. Empfehlen Sie uns weiter und feiern Sie mit uns. Ihre Paola Gallo, Geschäftsführerin Surprise

#400: Feiern Sie mit uns! Vernissage und Apéro Basel: Freitag, 19. Mai, 19 Uhr, Flore, Klybeckstrasse 5 Zürich: Dienstag, 23. Mai, 19 Uhr, Sphères, Hardturmstrasse 66

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Illustration: Rahel Nicole Eisenring

Imamen, die kein Deutsch sprechen, von vom Verfassungsschutz beobachteten Hinterhofmoscheen, von Parallelgesellschaften, die durch Predigten in fremden Sprachen gefördert werden. Mal wieder ein ziemlich einseitiges Bild unter dem Deckmantel angeblich unvoreingenommener Berichterstattung. Um dem etwas entgegenzustellen, gibt es die Aktion #MeinMoscheeReport, bei der deutsche Muslime in kurzen Tweets und längeren Facebookposts ihre lustigsten, normalsten und schönsten Anekdoten aus Moscheen erzählen. Erzählen, was ihnen dieser Ort bedeutet, was hinter der «Schwelle, die nur wenige Deutsche betreten», wie Schreiber schreibt, so passiert. Der deutsche Comedian Abdelkarim beispielsweis erzählt: «Hab schon viele Moscheen von innen gesehen. Weil es da keine Türsteher gibt.» Und: «Ein Imam hat mal bei der Freitagspredigt gesagt: ‹Allah ist mit den Gläubigern›. Danach hatten einige richtig Panik.»

Moumouni

… berichtet aus der Moschee Ich bin in Lahore, in einer der schönsten Moscheen überhaupt: der Wazir-Khan­Moschee. Sie ist relativ klein und unglaublich beeindruckend. Jeder Zentimeter ist aus rotem Sandstein, geschmückt mit wunderschönen bunten Fresken, Stuckwerk, filigranem Mosaik und Kacheln. Ein netter Mann mit dunklem Teint und blauen Augen fragt meine Kollegin und mich, ob wir aufs Minarett möchten. Er sperrt uns die kleine Tür zum Turm auf. Wir steigen die engen Treppen ganz hoch, setzen uns zwischen die grossen Lautsprecher, die fünf Mal am Tag den Gebetsruf übertragen, und betrachten, wie der Tag in die Dämmerung übergeht. In der Ferne sind (tatsächlich) Papierdrachen zu sehen. Ich denke an den Roman «Drachenläufer» und bekomme so stark Gänsehaut, dass ich Angst habe, beim Abstieg durchs Treppenhaus hängen zu bleiben. «You 6

want a date?», sagt der Mann zu mir, als wir wieder unten ankommen und im Hof der Moschee stehen. «Du Flegel!», denke ich mir. Und das in einer Moschee! Ich bin kurz sprachlos über den direkt geforderten Gegengefallen für die kleine Minarett-Tour. Frage mich, ob es auf Erden wohl einen Ort gibt, an dem man nicht plump angemacht wird? Männer! Und erst Männer mit schönen Augen! Denken, sie können sich alles erlauben. Das ungefähr schwirrt mir im Kopf herum. Bis mir auffällt, dass er uns eine Packung Datteln vor die Nase hält. Anstatt dreist nach einem Date zu fragen, bietet er uns eine der Früchte an. Hah! Vorurteile! So ging es wohl auch dem deutschen Journalisten Constantin Schreiber, der in seinem neuen Buch «Inside Islam – Was in den Moscheen gepredigt wird» ein ziemlich einfaches Bild zeichnet. Von

Der von Schreiber verstärkten Misstrauenskultur stellen die Autoren von #MeinMoscheeReport humorvolle Geschichten gegenüber. Von der verzweifelten Suche nach den eigenen Schuhen nach einer Freitagspredigt. Von Gebetsräumen, die so voll sind, dass man sich beim Beten im Rock der Vorderfrau verheddert. Von wilden Kindern und schusseligen Imamen. Von der Moschee als Zufluchtsort nach einem anstrengenden Tag. Alle sind sich einig: Schreiber hat zu wenige Moscheen besucht, um ein allgemeines Bild zu zeichnen. Natürlich sind all diese süssen, lustigen Geschichten keine Antwort auf Radikalitätsvorwürfe. Und das ist okay. Es reicht vielleicht auch, zu erzählen, wie die Moschee für einen selbst kein Ort der Radikalisierung war, sondern Heimat, Gemeinschaft, Freizeit und Ruhepol. Man muss sich nicht jeden Schuh anziehen. In der Moschee muss man die Schuhe sogar ausziehen.

Fatima Moumouni sucht gern in einem Schuhhaufen nach ihrem Paar, um sie möchtegern-unvoreingenommenen Islamkritikern hinterherzuwerfen.

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Die Sozialzahl

Meine Rente, deine Rente Die soziale Ungleichheit ist bei den Pensionierten besonders gross. Die ärmsten 20 Prozent der Rentnerpaarhaushalte – Fachleute sprechen vom untersten Quintil oder Fünftel – müssen mit knapp 4000 Franken im Monat durchkommen. Den einkommensstärksten 20 Prozent der Rentnerhaushalte hingegen stehen rund 16 000 Franken zur Verfügung. Diese Alterseinkommen werden aus fünf Quellen gespeist: Die AHV, die berufliche Vorsorge, weitere Sozialleistungen (Ergänzungsleistungen, Hilflosenentschädigung etc.), Einkommen aus Vermögen und Vermietung (zu denen etwa die 3. Säule gerechnet wird) sowie Erwerbseinkommen tragen zusammen zur Finanzierung des Lebens im Alter bei. Politisch besonders brisant ist die unterschiedliche Bedeutung dieser Quellen, wenn man die verschiedenen Einkommensklassen betrachtet.

Wie die Stimmberechtigten diese Vorlage beurteilen werden, wird vor allem von drei sozioökonomischen Merkmalen abhängen: dem Einkommen, dem Geschlecht und dem Alter. Wer bald in Rente geht, weiss, was ihn und sie erwartet und wird entsprechend abstimmen. Dabei werden für die einen die 70 Franken mehr in der AHV ungleich wichtiger sein als die tieferen Renten in der beruflichen Vorsorge. Für andere hingegen werden die Einschnitte in der zweiten Säule besonders schmerzen, während wieder andere das Projekt «Altersvorsorge 2020» nur insofern tangiert, als sie mit ihren hohen Einkommen die Reform in besonderer Weise mitfinanzieren müssen. Die Hälfte jener, die regelmässig an Abstimmungen teilnehmen, ist bereits über 55 Jahre alt. Wird die ältere Stimmbürgerschaft auf Kosten der Jungen über die Vorlage entscheiden? «Es allen Recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann», glaubt der Volksmund zu wissen. Ob dies dem Parlament dennoch gelungen ist, wird sich bald weisen.

Prof. Dr. Carlo Knöpfel ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

grafik: Bodara

Bei den ärmsten Rentnerpaarhaushalten dominiert die AHV. Sie macht rund 80 Prozent ihres gesamten Renteneinkommens aus. Beim mittleren Quintil beträgt dieser Anteil knapp die Hälfte, beim reichsten Fünftel noch 20 Prozent. Anders sieht es bei der beruflichen Vorsorge aus. Diese ist vor allem für die besser gestellten Rentnerpaarhaushalte (Quintile 3 und 4) von grosser Bedeutung. Bei den reichen Rentnerpaarhaushalten spielt hingegen vor allem das Einkommen aus Erwerbsarbeit, Vermögen und Vermietung die entscheidende Rolle. Diese Quellen, die mit dem Rentensystem nichts gemein haben, machen hier praktisch die Hälfte des Haushaltseinkommens im Alter aus. Das alles spiegelt die Erwerbsbiografie wider: Wer früher wenig verdiente, unter Umständen längere Zeit nicht erwerbstätig war und später noch erwerbslos wurde, hat ein deutlich tieferes Renteneinkommen als jene, deren Erwerbsbiografie einen bruchlosen und stetig steigenden Lohnanstieg verzeichnete. Noch immer haben vor allem Frauen Erwerbsbiografien, die zu tiefen Renten führen. So kommt es, dass ­­ ihre Renteneinkommen im Durchschnitt pro Jahr um 20 000 Franken tiefer ausfallen als jene der Männer.

Die unterschiedliche Bedeutung der verschiedenen Einkommensquellen im Alter ist von grosser politischer Bedeutung. Mit der knappstmöglichen Mehrheit von einer Stimme verabschiedete das Parlament in der letzten Session die Reform der Altersvorsorge. Die Reform, die von Bundesrat Alain Berset als «Altersvorsorge 2020» bezeichnet wurde, sichert vorerst die Renten bis zum Jahr 2030. Dafür ist eine grosse Zahl von Anpassungen nötig. So soll das Rentenalter der Frauen auf 65 angehoben werden, die monatlichen Renten im obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge um 0,8 Prozentpunkte gesenkt und die Mehrwertsteuer um 0,6 Prozentpunkte erhöht werden. Der letzte Streitpunkt war die Anhebung der Minimalrente in der AHV um 70 Franken pro Monat. Auch dieser Punkt ist Teil des Gesamtpakets, über das die Bevölkerung abstimmen wird.

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Die Wohnung von Tesfaye in Bern.

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Schimmlige Goldgrube Wohnungsmarkt  Weil es immer weniger günstigen Wohnraum gibt, müssen viele Arme mit verlotterten Wohnungen vorliebnehmen. Für die Vermieter oft ein gutes Geschäft – finanziert mit öffentlichen Geldern. Text  Simon Jäggi  Fotos  Roland Schmid

Tesfaye hat den Schimmelbefall dokumentiert.

Tesfaye* hat seinen Wohnalptraum gespeichert, auf dem Handy-Display zeigt er Bilder von der Wohnung, in der seine Familie lebt. An den Wänden klebt eine grünschwarze Schimmelschicht, unter der Decke hängen gelbliche Blasen. «Schlimm», sagt er in gebrochenem Deutsch, «sehr schlimm.» Tesfaye ist vor einigen Jahren mit seiner Frau aus Eritrea in die Schweiz geflohen. Im Berner Aussenquartier Bümpliz fanden sie nach langem Suchen ein gemeinsames Zuhause. Wie die meisten anderen Bewohner des alten Wohnblocks lebt auch die Familie G. hauptsächlich von der Sozialhilfe. Im vergangenen Winter breitete sich der Schimmel bereits zum zweiten Mal in der Wohnung aus. Kurz darauf bekam der einjährige Sohn Hustenanfälle, litt unter Atembeschwerden. Drei Mal sei er mit ihm auf die Notaufnahme gefahren, erzählt Tesfaye. Die Ärzte behielten den Jungen zur Beobachtung dort und verschrieben ihm eine Sauerstoffmaske, die er seither tragen muss, wenn die Atemprobleme wieder einsetzen. Für Tesfaye ist die Ursache der Erkrankung eindeutig: die Schimmelsporen in der Wohnung. Er schrieb Briefe an die Ver-

waltung, rief beim Sozialamt an, welches die Wohnung bezahlt. Doch Hilfe erhielt er keine. Die Verwaltung weigerte sich, einen Maler zu bezahlen – mit dem Hinweis, die Familie müsse eben öfter lüften. Das Gesundheitsamt schickte einen Mitarbeiter vorbei, der ein paar Bilder von den verschimmelten Wänden machte. Seither habe er nichts mehr von der Behörde gehört, sagt Tesfaye. Schliesslich schrubbte er den Schimmel eigenhändig von den Wänden und strich sie neu. Doch er ist sicher: Der Schimmel wird wieder kommen. Mehr Arme, knapper Wohnraum Die Wohnung in Bümpliz ist kein Einzelfall. Günstiger Wohnraum wird in den Städten immer knapper. Laut Erhebungen des Immobilienberatungsbüros Wüest & Partner stiegen die Mieten für ausgeschriebene Wohnungen in der Schweiz zwischen 2000 und 2015 im Durchschnitt um 53 Prozent. Zugleich nahm die absolute Zahl der Sozialhilfeempfänger über die vergangenen zehn Jahre um rund 30 000 Personen zu. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung blieb zwar stabil – doch die Anzahl armer Menschen

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Die Vermieter kennen die Tarife der Gemeinden genau und verlangen exakt so viel Miete, wie die Richtlinien zulassen.

Zürich, Magnusstrasse 27.

stieg, während jene der günstigen Wohnungen eher abnahm. Wie angespannt die Lage auf dem Wohnungsmarkt für Armutsbetroffene ist, zeigt eine im Jahr 2015 erschienene Studie des Bundes: Rund 83 Prozent aller armutsbetroffenen Haushalte weisen demnach keine angemessene Wohnversorgung auf. Weil die Miete zu hoch, die Wohnung zu klein oder die Wohnqualität unzureichend ist. Armutsbetroffene müssen mit dem vorliebnehmen, was für sie übrig bleibt. Häufig sind das überfüllte, vernachlässigte und manchmal auch verschimmelte Wohnungen. Was für viele Betroffene eine Zumutung bedeutet, ist für die Vermieter solcher Lotterhäuser häufig eine Goldgrube. Die Mieten für die maroden Wohnungen zahlen in der Regel die Sozialämter. Die Beträge variieren je nach Gemeinde, in Basel bezahlen die Behörden 700 Franken für eine alleinstehende Person, in Bern 900 Franken und in Zürich bis zu 1100 Franken. Das sind stolze Summen, denn oft gibt es dafür nicht mehr als ein kleines Zimmer. Die Immobilienbesitzer wissen, wie schwer es für viele Sozialhilfeempfänger ist, überhaupt eine Wohnung zu finden. Zudem kennen sie die Tarife der Gemeinden genau und verlangen exakt so viel Miete, wie die Richtlinien der zuständigen Gemeinde zulassen. Ein erschreckender Einblick in diese Schattenwelt des Wohnungsmarkts eröffnete sich im vergangenen Jahr in Zürich, als die Öffentlichkeit von drei sogenannten Gammelhäusern im 10

Langstrassenquartier erfuhr: heruntergekommene Liegenschaften, in denen Dutzende von Sozialhilfebezügern lebten, darunter viele Drogenabhängige. Nach Urin riechende Gänge, offener Drogenkonsum, Blutflecken an den Wänden – so beschrieb das ein Journalist. Inzwischen hat die Stadt die Häuser gekauft und lässt sie sanieren, der ehemalige Besitzer sass mehrere Wochen in Untersuchungshaft. Kaum vermietbar, aber voll besetzt Doch das Problem bleibt bestehen. Ein leitender Angestellter bei den Sozialen Diensten der Stadt Zürich spricht von rund einem Dutzend weiterer «problematischer Häuser». Anhäufungen solcher Liegenschaften finden sich in den meisten grösseren Schweizer Städten. Im Kleinbasel zwischen Rhein und Messe stehen gleich ein halbes Dutzend stark verwahrloster Liegenschaften, die vorrangig von Sozialhilfebezügern bewohnt werden. Wer die Häuser betritt, landet in schlecht riechenden Treppenhäusern, in denen sich Hausrat stapelt, von den Wänden bröckelt der Verputz. An dunkle Flure reihen sich kleine Einzelzimmer. Die Liegenschaften sind das Gegenstück zu den Luxus­ wohnungen, die anderswo reihenweise aus dem Boden wachsen. Auf dem ersten Wohnungsmarkt wären die Wohnungen kaum vermietbar. Und trotzdem sind die meisten der Häuser bis auf das letzte Zimmer besetzt. Surprise 400/17


Zürich, Neufrankengasse 6 und 14.

Die Behörden befinden sich in einer heiklen Abhängigkeit, viele wollen zum Thema keine Auskunft geben.

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Basel, Feldbergstrasse 41.

Dass es auch anders geht, zeigt Biel – die Stadt mit der schweizweit höchsten Dichte an Sozialhilfebezügern.

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Die Ämter bezahlen für ihre Klienten die Mieten, zur Problematik aber möchten sie sich am liebsten nicht äussern. «Sozialhilfeempfänger sind grundsätzlich frei in der Wahl, wo sie wohnen möchten», sagt Nicole Wagner, die Leiterin der Sozialhilfe Basel-Stadt. Die Sozialhilfe überweise zwar in einigen Fällen die monatliche Miete direkt an die Vermieter, sei selbst aber nicht Partei und könne deshalb auch bei stark vernachlässigten Liegenschaften von sich aus nichts unternehmen, erklärt Wagner. Die Behörden befinden sich in einer heiklen Abhängigkeit. Einerseits können sie es nicht gutheissen, wenn Wohnungsbesitzer dank Sozialhilfegeldern mit vernachlässigten Liegenschaften satte Gewinne einstreichen. Andererseits sind sie froh, wenn ihre Klienten überhaupt ein Dach über dem Kopf finden. Die Reaktionen auf die Anfrage zum Thema fallen vielleicht auch deshalb oftmals ähnlich aus: Zuerst berichten Mitarbeiter «off the record» von der Problematik und unterstützen die Berichterstattung. Wenig später meldet sich eine höhere Stelle mit der Erklärung, dass man sich zum Thema nicht äussern wolle oder von keinen aktuellen Fällen wisse. Eine Mitarbeiterin einer privaten Beratungsstelle, die ungenannt bleiben möchte, sagt: «Wir sind froh, wenn wir für unsere Leute überhaupt irgendeine Unterkunft finden. Wenn diese Häuser in den Medien ausgeschlachtet werden, ist das scheisse für unsere Leute.» Surprise 400/17


Basel, Efringerstrasse 1.

Staatlich subventionierte Gewinne Einer, der bei dem Thema wenig Berührungsängste kennt, ist Peter Kobi, Leiter der Koordinationsstelle für Obdachlosenhilfe bei der Stadt Bern. «Sozialhilfebezüger leben manchmal wirklich in Löchern», sagt er unumwunden. Die Behörden würden die Mieter grundsätzlich unterstützen, wenn diese gegen die Vermieter vorgehen möchten. Häufig hätten die Betroffenen jedoch Angst, weshalb nur in seltenen Fällen das Bauinspektorat oder die Schlichtungsstelle eingeschaltet werde. «Ohne Einwilligung der Mieter können auch wir nichts unternehmen.» In Fällen wie jenem der eritreischen Familie in Bümpliz sei das Wichtigste, möglichst rasch eine neue Wohnung zu finden, sagt Kobi. Dabei sei er sich im Klaren, dass das oftmals nicht so einfach sei. Das Sozialamt Bern selbst könne meist keine Alternative anbieten. Wie die meisten Städte verfügt auch Bern nur über wenige vergünstigte Wohnungen für Armutsbetroffene. «Es sind rund 700», sagt Kobi. «Ich wäre froh, wir hätten mehr.» Das Anbieten von Wohnraum überlässt man fast überall privaten Immobilienbesitzern. Dass es auch anders geht, zeigt Biel – die Stadt mit der schweizweit höchsten Dichte an Sozialhilfebezügern. 1990 herrschte in der Stadt eine allgemeine Wohnungsnot, es musste dringend neuer Wohnraum für Armutsbetroffene her. Die Stadt gründete kurzerhand den gemeinnützigen Verein Casanostra, der das Problem angehen sollte. Heute gehören dem Verein acht Liegenschaften mit 91 Wohnungen, 46 weitere hat er dazugemietet. Die Strategie zahlt sich aus. «Unsere Wohnungen sind durchschnittlich 20 Prozent günstiger als vergleichbare Angebote», sagt Geschäftsleiter Fritz Freuler. 1-Zimmer-Wohnungen kann Casanostra für weniger als 700 Franken vermieten – günstiger also, als die bisherige maximale Bieler Mietzinslimite pro Person zuliess. Dabei sind die Liegenschaften nicht subventioniert, werden aber wie eine Genossenschaft geführt und müssen deshalb keinen Gewinn abwerfen. Alles andere ist aus der Sicht von Freuler langfristig auch unsinnig: «Wer mit dem Vermieten von Wohnungen an Sozialhilfeempfänger Gewinn erwirtschaftet, wird letztlich staatlich subventioniert. Die Mieten sind in diesen Fällen ja nichts anderes als Steuergelder.» Tesfaye in Bern hat sich bereits vor drei Monaten auf die Suche nach einer neuen Wohnung gemacht, kurz nachdem sich im Winter der Schimmel ausbreitete. Aus Angst, seine Chancen zu schmälern, wollte er hier nur anonym Auskunft geben. Diesmal sucht er nicht über Bekannte und zwielichtige Vermittler, sondern wie die meisten Wohnungssuchenden auf den gängigen Immobilienportalen. Er kann ganze Listen zeigen mit von Hand abgeschriebenen Wohnungsinseraten. Alle sind mit dickem Stift durchgestrichen, eine Absage folgt der nächsten. Doch er werde nicht aufgeben, sagt Tesfaye So lange, bis er für seine Frau und die beiden Kinder ein gutes Zuhause gefunden habe. * Name geändert.

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Jahre, Millionen, Tonnen Aus der Geschichte des Strassenmagazins Surprise gibt es seit

Surprise kostet

1998

CHF 6.–

Gleich lang wie Google, Ricardo und das KKL

Auf Platz 1 der Jahres­­hitparade da­­­mals: Céline Dion, «My Heart will go on»

427 845 Von Januar 1998 bis März 2017 (also seit es Surprise gibt) wurden 427 845 Personen aus der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert.1

2016 generierte der Magazinverkauf

CHF 2 475 668.­– Rund Für diesen Betrag bekommt man auch:

CHF 3.–

CHF 3.–

gehen an Surprise.

gehen an die Verkaufenden.

Die Verkaufenden sind über Surprise sozialversichert.

7 Millionen Hefte haben wir seit 1998 verkauft.2

Das macht in den vergangenen 19 Jahren und 3 Monaten:

1 Einfamilienhaus in Adliswil

8750 Meter

1 Grandmaster Chime von Patek Philippe

... und hätten ein Gewicht von

518 Tonnen

1 Gemälde «Der Holzfäller» von Hodler 14

Gestapelt wären so sie fast so hoch wie der Mount Everest …

994 Hefte pro Tag

41 Hefte pro Stunde Surprise 400/17


Mit dem Verkauf des Magazins verdienten unsere Verkaufenden im Jahr 2016

CHF 1 237 834.– Für diesen Betrag bekommt man auch:

678 Jahre

20 000 154 729 Zelte

Packungen Zigaretten

40 000 Schlafsäcke

übernachten in der Notschlafstelle

1 650 445 103 152

4 Jahre

142 000 Leserinnen und Leser 4

verkaufte Auflage 3

107 Ortschaften Das Magazin wird in 107 Ortschaften in der Deutschschweiz verkauft.

Aktuell haben wir:

379 Verkaufende aus 25 Ländern 1

Seco/Amstat

3

WEMF 2016

Oder man kann sich

185 675

Mal duschen bei McClean im Zürcher Hauptbahnhof

übernachten in einer Suite des Hotels Chedi in Andermatt

17 300

Dosen Billigbier

2

Interne Datenbank bis 2002; Hochrechnung für 1998-2001

4

WEMF 2012; Hochrechnung

Exemplare von Surprise kaufen.

2016 verdienten die Verkaufenden im Schnitt 3431 Franken mit dem Verkauf des Strassen­ magazins, also rund 286 Franken im Monat.

43 %

CHF 3431.– im Jahr

CHF 286.– im Monat

43 Prozent unserer Verkaufenden erhalten keine finanzielle Unterstützung vom Staat.

Unser Spitzenverkäufer verdiente im letzten Jahr mit knapp 10 000 verkauften Heften über CHF 32 000.

10 000 Hefte über CHF 32 000

Am längsten dabei ist Urs Saurer:

Seit 19 Jahren verkauft er das Strassenmagazin in Basel.

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Luxusprodukt im Kleinen: Diese Eier von Hühnern einer alten Rasse schmecken besser als die von überzüchteten Hybridhennen. Sie kosten mehr, aber das Geld fliesst an den richtigen Ort.

Wer weiss noch, wie frische Erbsen schmecken? Sie geben viel zu tun und erstaunlich wenig Ertrag. Deshalb sind sie auch kein günstiges Produkt – ausser, man baut sie selbst an.

Rezept für Rebellen Ernährung  Bio, fair, vom Wochenmarkt: Muss nicht teuer sein, meint unsere Autorin.

Und zeigt, wie man mit Einkaufszettel und Kochlöffel die Welt verändern kann. Text  anna pearson  Fotos  catherine pearson

Vor einigen Jahren besuchte ich einen Metzger, der selbst Wollschweine aufzieht und zur besten Salami verarbeitet, die ich je gegessen habe. Ich sass mit ihm auf der Schweinewiese, kleine Wollschweinferkel flitzten um uns herum und knabberten an meinen Schuhbändern. Ich erfuhr, wie seine Tiere aufwachsen, was sie fressen, wie sie geschlachtet werden, wie das Fleisch am Knochen reift, bevor es ohne Zusatzstoffe weiterverarbeitet wird. Diese Erfahrung hat meine Haltung zum Thema Essen massgeblich geprägt. Als Stadtkind war ich entfremdet von der Natur, hatte keinen Bezug zu den Dingen, die ich ass. Nun sah ich die Zusammenhänge mit eigenen Augen, bekam eine 16

emotionale Verbindung zu dem, was Tag für Tag auf meinem Teller landet. Ich verstand plötzlich, wie wichtig es ist, woher unser Essen kommt und wer es unter welchen Umständen für uns produziert. Seither achte ich beim Einkaufen nicht mehr auf den Preis, sondern zuerst auf Herkunft und Qualität der Produkte. Meine Regel dabei: Wenn ich mir das Schnitzel nicht leisten kann, gibt es halt Selleriepiccata. Billig wird teuer Geld ist für die meisten von uns eine begrenzte Ressource, und das Essen der Ort, wo man am einfachsten sparen kann. Man wird oft in die elitäre Schublade gesteckt, wenn man sich dafür einsetzt, dass Le-

bensmittelproduzenten für gute und nachhaltige Arbeit fair bezahlt werden. Hochwertige Lebensmittel werden oft als etwas angesehen, das man sich erst einmal leisten können muss. Ich sehe das anders. Ich glaube, dass gutes, ökologisch und fair produziertes Essen nicht zwangsläufig teuer sein muss. Und ich glaube sogar, dass billiges Essen uns alle auf lange Frist gesehen teuer zu stehen kommt. Noch nie war Essen so günstig wie heute. Nur acht Prozent unseres Einkommens geben wir in der Schweiz für Lebensmittel aus, vor 70 Jahren waren es 35 Prozent. Das ist ein Problem, wenn man die Perspektive von Bauern, Bäckern und Metzgern einnimmt. Unser Essen ist nicht Surprise 400/17


Tipp Nr. 1: Selber anbauen. «Nebst dem praktischen Aspekt – günstige Produkte mit viel Geschmack – ist es auch sehr befriedigend, dem Essen beim Wachsen zuzusehen.»

zu teuer, sondern zu billig. Landwirte und andere, die in der Lebensmittelbranche tätig sind, stehen immer stärker unter Druck, noch mehr und noch billiger zu produzieren. Das hat weltweit zu einem System geführt, das auf der Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur basiert. Um dem entgegenzuwirken, müssen wir jenen, die unser Essen anbauen und verarbeiten, einen angemessenen Preis dafür bezahlen. Ich kenne viele Kleinproduzenten, die verantwortungsbewusst Lebensmittel anbauen, respektvoll mit ihren Tieren umgehen und Sorge tragen zur Natur. Die wenigsten Leute wären bereit, unter den Bedingungen zu arbeiten, die in der Landwirtschaft üblich sind. Und dazu noch zu einem Lohn, der oft nahe am Existenzminimum liegt. Dennoch höre ich immer wieder, Essen sei zu teuer. Ziemlich absurd, wenn man sich bewusst macht, dass es eben diese Bauern und Bäuerinnen sind, die für uns all das herstellen, was uns am Leben erhält, über unsere Gesundheit entscheidet und darüber, ob auf unseren

Tipp Nr. 2: Second Cuts statt Edelstücke, hier zum Beispiel Züngli und Füsse vom Wollschwein. Wer weiss wie, kann daraus für wenig Geld feine Dinge zubereiten.

Böden in Zukunft noch etwas wachsen wird oder nicht. Der Bauernberuf ist für mich der wichtigste überhaupt. Zurück zu meiner Behauptung, gutes Essen müsse nicht teuer sein. Natürlich ist ein Filet vom langsam wachsenden, natürlich gefütterten Bio-Weideschwein einer alten ProSpecieRara-Rasse teurer als sein konventionelles Pendant, das in seinem kurzen Leben nie in der Erde gewühlt, dafür aber vor seinem Tod im Grossschlacht­ hof viel brasilianisches Soja und noch mehr Antibiotika verabreicht erhalten hat. Aber – und da sehe ich die Lösung: Wenn ich auf Edelstücke verzichte und stattdes-

Unser Essen ist nicht zu teuer, sondern zu billig.

sen etwa auf ein Schmorstück ausweiche, kommt mich dieses in der bestmöglichen Qualität günstiger zu stehen als das billigste konventionelle Filet. Ein kleiner Preisvergleich: Ein Kilo Schulterbraten vom KAG-Freiland-Schwein kostet in einer bedienten Metzgerei 32.50 Franken, der Bauch 30.50 Franken und die Haxe 20.50 Franken. Ein Kilo konventionell produziertes Filet kostet in der gleichen Metzgerei 59 Franken. Ein Kilo aufgetautes Filet aus der Billig­ linie kostet beim Grossverteiler in Selbstbedienung 34,90 Franken. Die Zahlen sprechen für sich. Und wer braucht schon Filet, wenn er ein würziges Ragout schmoren kann? Dies ist mein Ansatz: Sich für ein grundsätzlich günstiges Produkt entscheiden und davon dann die sinnvolle Variante wählen. Natürlich würde man mit dem konventionellen Schmorstück meist noch günstiger fahren – aber zu welchem Preis? Ähnlich sieht es auch bei anderen Lebensmitteln aus: Aus Kartoffeln und Kürbis kann man wunderbare Gerichte zube-

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reiten, und sie werden immer günstiger sein als Avocados und Heidelbeeren. Wie also kann ich mich mit wenig Geld bewusst ernähren? Man könnte und müsste ein ganzes Buch darüber schreiben – hier ein paar Gedankenanstösse. Günstige Basisprodukte

Grundsätzlich von günstigen, vielseitig einsetzbaren Lebensmitteln ausgehend verschiedene Gerichte überlegen. Und ich denke dabei eher an Kartoffeln, Kürbis, Kohl, Wurzelgemüse als an das Multipack Spaghetti. Oder Hülsenfrüchte: Linsen, Kichererbsen und Bohnen sind günstig, lange haltbar und können in unzähligen Variationen zubereitet werden. Qualität

Gute Lebensmittel halten länger und machen schneller und länger satt, weil sie einen höheren Nährwert haben. Fleisch

«Second Cuts» statt Edelstücke. Die Technik der Wahl ist das Schmoren – egal ob im italienischen Ragù oder in der orientalischen Tajine. Wer mag, wagt sich an Innereien. Oder kauft für rund 15 Franken pro Kilo sogenanntes Leisten- oder Kronfleisch: In Frankreich als Onglet beliebt, in den USA als «skirt steak» oder «hanging tender» begehrt, landet dieses rare Stück vom Rind in unseren Supermärkten unerklärlicherweise beim Tierfutter. Tiefkühltruhe

Es ist günstig, beim Metzger oder beim Bauern gleich ein Viertel Lamm oder ein Achtel Rind zu kaufen und einzufrieren. Es lohnt sich auch, Gemüse, Früchte und Beeren in ihrer Hochsaison in grossen Mengen zu kaufen und einzufrieren. Auch bei Aktionen lohnt sich der Kauf grösserer Mengen, die man verkochen und dann in Portionen einfrieren kann.

Tipp Nr. 3: Grundsätzlich von günstigen, vielseitig einsetzbaren Lebensmitteln ausgehen. Wurzelgemüse zum Beispiel fallen in diese Kategorie. Sie sind zudem lange haltbar. Aber man muss wissen, wie man sie gut zubereitet.

Keine Verschwendung

Selbermachen

Resten kann man fein verwerten, nur schon aus altem Brot lassen sich unzählige Gerichte zubereiten. «Leaf to root» ist der neudeutsche Begriff für ein altbewährtes Prinzip, bei dem man alle essbaren Teile von Gemüse und Früchten isst: Aus Rüeblikraut entsteht ein Pesto, Radieschenblätter hackt man in den Salat, aus Apfelschalen macht man Chips – das schmeckt gut, und bezahlt hat man ja bereits dafür.

Brot, Kuchen, Guetzli, Konfitüre – vieles kann man einfach und günstig selber herstellen. Selber anbauen

Im eigenen Garten, im Schreber- oder Gemeinschaftsgarten oder sogar auf dem Balkon kann man Gemüse, Früchte und Beeren ziehen. Nebst dem praktischen Aspekt – günstige Produkte, die in Sachen Geschmack wahre Luxusprodukte sind –

ist es auch sehr befriedigend, dem Essen beim Wachsen zuzusehen. Mithelfen

Es gibt Gemüseabos, die man unter anderem durch Mithilfe auf dem Feld bezahlt. Vielleicht kennen Sie einen Bauernhof, der Hilfe brauchen kann und Ihnen dafür Lebensmittel abgibt? Dieser Lösungsansatz hat nicht nur grosses Potenzial, er zeigt auch ein nicht zu

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unterschätzendes Problem unserer Zeit auf: Viele Leute können nicht kochen. Das ist eine Falle, die direkt in die Convenience-Food-Abteilung führt. Und dort bekommt man nicht mehr für sein Geld als auf dem Wochenmarkt. Noch ein Vergleichstest: Der halbe Liter Fertig-Bolo­ gnese aus dem Tetrapack, hergestellt mit «Rindfleischerzeugnis EU», ist gleich teuer wie eine hausgemachte Sauce mit Schweizer Bio-Hackfleisch. So einfach? Ja, so einfach! Besonders absurd finde ich einen weiteren Aspekt: Wenn ich im Discounter Billig-Lebensmittel einkaufe, trage ich dazu bei, dass der Teufelskreis immer weitergeht. Dass noch mehr schlecht bezahlte Jobs entstehen, die von Menschen erledigt werden, die wiederum bei den Nahrungsmitteln sparen müssen. Und wenn ich dafür ins günstigere Ausland fahre, gibt es selbst diese Jobs irgendwann nicht mehr. Stattdessen könnte ich die Zukunft der Bauernfamilie in meinem Dorf oder der Bäckerei in meinem Quartier sichern, die im Gegensatz zum CEO des Discounters keine Profite maximieren, sondern sinnvolle Arbeit leisten und damit ihren Lebensunterhalt verdienen will. Wir alle beeinflussen mit unserem Verhalten täglich, wie sich unsere Welt entwickelt – unterstützen wir doch einfach jenes System, das Mensch, Tier und Natur mit Respekt behandelt und uns allen eine wirkliche Perspektive bietet. Einfach? Ja, ich finde es wirklich genau so einfach. Ich finde, jeder Mensch hat ein Anrecht auf gesunde, ökologisch und fair produzierte Nahrung. Dies steht im Gegensatz zu einer verbreiteten Haltung, die ich sehr bedenklich finde: Dass von Armut betrof-

Viele Leute können nicht kochen. Eine Falle, die direkt in die Convenience-Food-Abteilung führt. anna pearson

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fene Menschen keinen Anspruch auf Lebensmittel hätten, die nicht nur satt machen, sondern auch gesund sind und nachhaltig produziert werden. Ganz nach dem Motto: «Wenn ich schon für deine Sozialhilfe zahlen muss, dann muss das Billigste gut genug sein.»

Lieber keinen als irgendeinen: Käse, der für Mensch, Tier und Natur gut ist.

Für solche Luxus-Tomaten braucht es nichts ausser einem sonnigen Balkon.

Rebellion oder Status quo Bio und fair nur für die Reichen? Friss oder stirb? In den USA sieht man, wohin das führen kann: Erstmals seit Langem sinkt dort die Lebenserwartung, ähnliche Tendenzen sind auch in Europa festzustellen. Kein Wunder, wenn es in manchen Vororten der USA fast unmöglich ist, frische Lebensmittel zu finden. Hingegen steht an jeder Strassenecke eine Filiale eines Fastfood-Giganten, dessen Chicken Nuggets günstiger sind als ein einfacher, frischer Blumenkohl. Entsprechend sind viele in Amerika – und bereits viele Kinder – übergewichtig, leiden an Diabetes oder Herz-Kreislauf-Problemen. Einkommen und Gesundheit hängen also selbst in Industrieländern zusammen, heute vielleicht mehr denn je. Dass ein kranker Mensch die Gesellschaft langfristig finanziell stark belastet, liegt auf der Hand – wäre es nicht klüger, sich dafür einzusetzen, dass alle Menschen Zugang zu guten Nahrungsmitteln haben? Nahrungsmittel, die nicht nur denen guttun, die sie essen, sondern auch jenen, die sie produzieren? Deren Produktion fruchtbare Böden hinterlässt, auf denen auch in zehn, zwanzig Jahren noch etwas wachsen wird? Können wir es uns wirklich leisten, einfach auszublenden, was der wahre Preis des billigen Essens ist? Von der Politik sind in absehbarer Zeit kaum entsprechende Massnahmen zu er-

warten, und die Lobby der Lebensmittel­ industrie wird alles daransetzen, den Status quo zu erhalten. Deshalb steht jeder Einzelne in der Verantwortung, sich aktiv für eine positive Veränderung einzusetzen. Allein mit dem täglichen Einkaufsverhalten kann jeder einen wichtigen Beitrag leisten. Unser Portemonnaie ist ein Wahlzettel – auch wenn es nicht prall gefüllt ist. Die wirkungsvollsten Waffen aber, mit denen wir Missstände angehen können, sind unsere Kreativität und unsere Kochkünste. Es ist nie zu spät, kochen zu lernen, und wer selber kocht, kann sich dem System entziehen, in dem für uns nur die Rolle des passiven Konsumenten vorgesehen ist. Wer noch einen Schritt weiter geht und gar sein eigenes Essen anbaut, ist nach meinem Verständnis der wahre Rebell in der heutigen Gesellschaft. Anna Pearson ist Köchin und Autorin. Bis vor Kurzem verantwortete sie die Gourmet-Seiten der Zeitschrift Annabelle. Ihr neustes Projekt ist das kulinarische Magazin «gut – vom Essen». www.eswirdgut.ch

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© Danny Lyon / Magnum Photos

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«Ich scheue mich nicht, mit der Realität zu konkurrieren» Fotografie  Proteste, Subkulturen, gesellschaftlicher Wandel: Das sind seit über 50 Jahren die Themen

des Fotografen Danny Lyon. In Winterthur ist nun eine umfassende Retrospektive zu sehen. Text  Diana Frei

Als Danny Lyon im Herbst 2011 in New York, Los Angeles, Oakland und Albuquerque die Demos der Occupy-Bewegung fotografierte, schloss sich ein Bogen zu seinen frühesten Fotografien von 1962. Mitten in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung hatte er als offizieller Fotograf des Student Nonviolent Coordinating Committee SNCC das gewaltsame Aufeinandertreffen der Demonstranten und der Südstaatenpolizei dokumentiert («Road to Freedom: Photographs of the Civil Rights Movement, 1956–1968»). Danny Lyon kommt mit seiner Kamera weg von der blossen Berichterstattung und erzählt subjektiv. Er fängt 22

das Lebensgefühl des Chicago Outlaw Motorcycle Clubs auf den Motorradtouren ein und wird selbst Mitglied der Truppe («The Bikeriders», 1968). Randgruppen und Subkulturen, aber auch die Gentrifizierung Manhattans und die zunehmende Bodenspekulation sind seine Themen («The Destruction of Lower Manhattan», 1969). Als Lyon Ende der Sechzigerjahre 14 Monate lang Insassen von sechs texanischen Gefängnissen fotografiert, lernt er Billy McCune kennen, einen Mann mit Psychosen, wegen Vergewaltigung zum Tode verurteilt. Es entsteht ein Austausch zwischen Danny Lyon und Billy McCune, Briefe und Zeichnungen McCunes finden Eingang in den FotoSurprise 400/17


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band «Conversations with the Dead» (1971). Mit den Mitteln der Street Photography versucht Lyon vehement, dem massenmedial vermittelten Bild von den USA seine persönliche Sicht gegenüberzustellen. Ende der Sechzigerjahre beginnt er Dokumentarfilme zu drehen, und noch immer schreibt der heute 75-Jährige einen Blog.

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«Ich bin nicht sehr höflich. Ich rede viel. Ich mache ständig Witze. Sind das amerikanische Qualitäten?»

Herr Lyon, Sie haben mit Bernie Sanders zusammen studiert. Auch seine Vorfahren waren Juden, auch er arbeitete als Filmemacher und Autor. Sie sagen selbst, Sie «teilten eine frühe Entschlossenheit, Amerika zu verändern». Aber er wählte die Politik, Sie die Kunst. Warum? Danny Lyon: Ich lese Ihre Frage, während ich in New Mexico in der Sonne sitze. Gerade heute morgen habe ich an Bernie gedacht, ich trage gerade ein Bernie-T-Shirt. Ich selbst hätte eigentlich Anwalt werden sollen. Mich hat es aber zur Fotografie und zum Journalismus hingezoDanny LYon gen, und ich wurde Künstler und Filmemacher. Bernie wurde Politiker, nachdem er sich sein Leben in Vermont aufgebaut hatte. Meine fotografische Arbeit in texanischen Gefängnissen wurde in einem grösseren Rechtsfall zwischen dem US-amerikanischen Justizdepartement und den damals sehr repressiven texanischen Gefängnissen verwendet. Man kann meine Arbeit oft aus juristischer Perspektive betrachten. Aber es ist Kunst, es ist nicht Rechtsprechung. Man kann Verbrechen und Strafe als Anwalt untersuchen, aber es ist spannender, sie als literarisches Werk und als humanistische Leistung anzugehen. Sie waren Teil der Bürgerrechtsbewegung, haben sich für die Rechte der Afroamerikaner eingesetzt. Und Sie haben Geschichte und Philosophie studiert. Kommt Ihr Kampf für Gerechtigkeit aus persönlichen Erfahrungen und aus Ihrer Familiengeschichte, oder kann man an der Uni lernen, was Ungerechtigkeit ist? Ich habe Frühgeschichte studiert und blieb beim fünften Jahrhundert und der Frage stecken, ob Alkibiades ein Depp war oder nicht (er war einer!). Als ich zuletzt zu

1 Clifford Vaughs, SNCC Photographer, Arrested by the National Guard, Cambridge, Massachusetts, 1964. 2 Weight lifters, Ramsey Unit, Texas, 1968. 3 Woman at a Race in Prairieville, Louisiana, 1964. 4 Maricopa County, Arizona, 1977. 5 Crossing the Ohio River, Louisville, 1966. 6 Arrest of Taylor Washington, Atlanta, 1963. 7 Leslie, Downtown Knoxville, 1967. Alle Bilder: © Danny Lyon / Magnum Photos

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meiner Vergangenheit befragt wurde, sagte ich etwas selbstgefällig: «Meine Arbeit ist ein Schwert für die Gerechtigkeit», was absurd ist, denn meine Arbeit besteht aus Schwarzweiss-Fotografien, die bekannt sind, und aus meinen Filmen, die kaum jemand gesehen hat. Ich denke, dieser Glaube an die Gerechtigkeit kommt von meiner Familie – sowohl der russischen, die die Erste und Zweite Revolution überlebte, als auch von meinem Vater, einem deutschen Arzt, der seinen Job verlor, als Hitler Reichskanzler wurde. Ich bin Amerikaner. Ich habe den Antisemitismus des zaristischen Russlands oder von Nazi-Deutschland nicht gekannt. Aber als ich an der Universität in Chicago war, konnte ich mich mit den Afroamerikanern identifizieren, die in einem Land unterdrückt wurden, das stolz war auf Thomas Jefferson, die Freiheitsstatue und die Binsenwahrheit, dass alle Menschen gleich sind. Es lag für mich auf der Hand, mein Interesse für Geschichte, Fotojournalismus und Gerechtigkeit als SNCC-Fotograf zu verbinden.

7. 5. – 1. 10. 2017 Swiss Pop Art Formen und Tendenzen der Pop Art in der Schweiz 7. 5. – 6. 8. 2017 CARAVAN 2 / 2017: Kevin Aeschbacher Ausstellungsreihe für junge Kunst

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Sie fotografierten Gefängnisinsassen, aber auch Motorradfahrer auf dem Highway. Den Verlust der Freiheit ebenso wie die Freiheit, die auf dem Motorrad zelebriert wird. Wieso ist die Freiheit so wichtig für die Amerikaner und für Sie persönlich? Weil ich Amerikaner bin – ein Amerikaner, der Mühe damit hat Mehr zu Danny Lyon zu verstehen, was ein Amerikaner ist. Als ich an einem Film in Blog: www.dektol.wordpress.com Frankreich arbeitete, sagte eine Lyons Filme sind über den Blog sehr pariserische Person zu mir: bestellbar und zum Teil im Fotomuseum erhältlich. «Sie sind der amerikanischste Mensch, den ich kenne.» Ich verFotoband «Conversations with the Dead»: stehe das als grosses Kompliment. www.phaidon.com/agenda/ Wieso sagte man mir das, dazu in photography/articles/2015/july/ französischer Gesellschaft wäh02/danny-lyons-conversationsrend eines Abendessens? Ich fluwith-the-dead che oft. Meine Kleidung ist salopp. Neuste Publikation «Burn Zone», Ich habe einen New Yorker Akzum Thema Klimawandel: zent, obwohl ich in den USA an www.dektol.wordpress.com/ allen möglichen Orten gelebt 2016/10/14/burn-zone habe. Ich bin nicht sehr höflich und falle anderen oft ins Wort. Ich rede viel. Ich mache ständig Witze. Die Gesellschaft erscheint mir oft als etwas Amüsantes. Sind das amerikanische Qualitäten? Ich bin mir da nicht sicher. Vielleicht sind es New Yorker Eigenheiten. Es gab eine Zeit, in der die meisten amerikanischen Komiker Juden waren. Jetzt sind die meisten grossen Komödianten Afroamerikaner. Du brauchst einen Sinn für Humor, wenn dich die ganze Welt wie Scheisse behandelt. Viele Amerikaner sind Geschäftsleute, die keinen Sinn für Humor haben und sich anständig kleiden. Ich identifiziere mich nicht mit ihnen, und ich mag sie auch nicht. Sie haben einmal geschrieben: «Jeder Street Photo­ grapher weiss, dass es nichts Langweiligeres gibt als ein Museum.» Was dürfen wir also von Ihrer Museumsausstellung erwarten? Surprise 400/17


© Danny Lyon / Magnum Photos

Randnotiz

Wenn das Schweigen bricht Es ist vielleicht einfach zu viel, was wir unter den Tisch kehren wollen. Es ist Zeit für eine kleine Revolution, indem wir uns dem stellen, was uns belastet, auch wenn wir es oft nicht wahrhaben wollen. Nicht nur Gesellschaftliches, auch das Persönliche gehört thematisiert, zum Beispiel die Dynamik in der eigenen Familie. Das habe ich mir gewünscht, als der Dokumentarfilm «Electroboy» über mein Leben ins Kino kam und offen Schwierigkeiten in unserer Familie aufzeigte. Doch anschliessend sagten meine Eltern nichts dazu, als gäbe es gar kein Problem. Erst jetzt, nach dem Erscheinen meines autobiografischen Romans «Das Kind meiner Mutter», reagieren sie.

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Das ist eine berechtigte Frage. Das Zitat stammt ursprünglich aus dem Buch «The Paper Negative», das ich 1979 herausgab. Der Anlass für die Retrospektive ist, dass ich 75 geworden bin. Alte Leute sehen die Welt – und sogar Museen – nicht gleich wie junge Leute. Viele meiner Arbeiten haben bis heute kein grosses Publikum erreicht. Vier meiner Filme, die nie am Fernsehen und kaum je im Kino gezeigt wurden, sind in voller Länge Teil der Ausstellung. Dazu Alben, Briefe, Fotos aus meinem Studio und meinem Leben. Ich war noch nie in Winterthur. Vielleicht ist das Leben da so aufregend und die Leute, die man trifft, so lebendig, dass es draussen auf der Strasse tatsächlich spannender ist als in der Ausstellung? Ich scheue mich nicht, mit der Realität zu konkurrieren. Die Realität innerhalb der Ausstellung habe ich ausgesucht. Auf eine Art habe ich sie selbst geschaffen. Es ist eine Welt, die ich geliebt habe, und wie alle schönen Dinge war sie flüchtig und ist nun vorbei. Fast vorbei. Innerhalb des Museums ist sie immer noch da, in diesen kleinen schwarzweissen Fotografien, in den Stimmen und den Menschen in den Filmen. «Danny Lyon – Message to the Future», 20. Mai bis 27. August, Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr, Mittwoch 11 bis 20 Uhr, mittwochs 17 bis 20 Uhr freier Eintritt, Fotomuseum Winterthur, Grüzenstrasse 44 und 45, Winterthur. www.fotomuseum.ch Die Fragen wurden auf Danny Lyons Wunsch schriftlich gestellt.

Im Buch gebe ich dem Florian, der ich in meiner Kindheit und Jugend war, eine Stimme in einer Familie, in der die Psychiater den Ursprung meiner generalisierten Angststörung sehen. Den Grund, wieso ich jetzt Invalidenrentner bin. Ich lasse darin den jungen Florian erzählen, der noch immer verletzt und eingeschüchtert ist. Der schon so lange auf der Flucht vor seiner Herkunft ist. Ohne Filter und ohne Zensur gebe ich preis, wie ich damals das Leben mit meinen Eltern erlebt habe: die Überbehütung, die Fremdbestimmung ohne Raum für eine eigenständige Entwicklung. Es ist keine Abrechnung, es ist Ehrlichkeit. Ein Statement zu einem Thema, das Eltern wie Kinder betrifft: Erziehung und Freiraum. Das Buch hat die Auswirkungen einer Explosion, meine Eltern reagieren heftig, das dicke Eis auf dem See des Schweigens bricht. Jetzt wird sich zeigen, ob wir schwimmen können oder untergehen. Als mein Vater den Klappentext liest, wird er wütend und nennt mich undankbar. Meine Mutter behauptet, dass ich lüge. Am Tag darauf sagt sie, sie könne sich an nichts mehr erinnern, es sei zu lange her. Eine Woche später ein erstaunlicher Schritt: Meine Eltern sind bereit, sich konfrontieren zu lassen und erwarten auf schriftlichem Weg Fragen von mir. Ich hoffe, dass ich mutig genug bin, den angefangenen Weg der Auseinandersetzung weiter zu gehen. Ich habe grosse Angst davor. Aber ich will nicht mehr wegrennen und glaube zu wissen: Wenn Schlimmes passiert ist, kann man es nicht mehr ändern. Doch wie wir damit umgehen, schon.

Florian Burkhardt war erfolgreicher Sportler, Model und Internetpionier, bevor er eine Angststörung entwickelte. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert.

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Der warme Klang der Oberheim OB-Xa Synthie Pop  Wenn Joe Goddard nicht mit seiner Band Hot Chip unterwegs ist, macht er:

Seit zwei Jahren belegt Joe Goddard sein eigenes Studio in London, und noch immer ist er vor lauter Musik nicht dazu gekommen, den Raum zu dekorieren. So hängen an der Wand weiterhin die Poster seiner Vorgänger, der belgischen Sample-Spezialisten Soul Wax. Völlig verwundert reagiert er, als man in einer Ecke das Konterfei der Sixties-Mode-Ikone Twiggy entdeckt: «Ach, wirklich?» Mit umso grösserem Gusto stellt er seine im Kreis aufgestellten Maschinen vor. Hier eine Yamaha C80, von der es nur 300 Exemplare gebe und die insbesondere Stevie Wonder sehr geschätzt habe. Dort ein Roland System-100, das den Sound der frühen Human-League-Alben geprägt habe, daneben eine Oberheim OB-Xa, scheint’s perfekt für den «warmen, üppigen Klang von Techno im Detroit-Stil». Zum ersten Mal in seinem Leben sei er in der Lage, von all seinen vielen Instrumenten jederzeit nach Lust und Laune Gebrauch zu machen. So kam es ihm gelegen, dass Hot Chip ein stilles Jahr planten und von seiner zweiten «Band», dem Duo 2 Bears, ebenfalls kein neues Album erwartet wurde. «Es war der ideale Moment, mich hier einzuschliessen, um zu sehen, was herauskommt, wenn ich für die Entstehung eines Stückes von A bis Z alleine verantwortlich bin.» Entstanden ist ein herrlich sahniges Synthie-Album voller feiner Soul-Gesänge, vorwärtsgetrieben von Beats zwischen gruftigen House-Grooves, luftig-leichten Disco-Beats und unterspieltem Techno. Seine Musik sei stark von seinen Erfahrungen als DJ in kleinen Clubs geprägt, erklärt Goddard: «Ich liebe obskure Synthie-Pop- und Italo-Disco-Nummern aus den frühen Achtzigerjahren. Die Kanten sind nicht abgefeilt, nicht immer werden die richtigen Töne getroffen. Mir gefallen Zeichen menschlicher Schwäche, und ich habe versucht, sie auf meinem Album nicht auszuradieren.» Dass sein Album die verschiedensten Stilrichtungen von Soul über Disco bis House und Techno unter einen Hut kriegt, erklärt er simpel: «Als Teenager machten wir vollen Gebrauch von den Möglichkeiten von London. Anfangs Woche besuchten wir vielleicht einen Gig von Pavement. Am Mittwoch gab’s Reggae im Subterranea-Club in Ladbroke Grove. Ab Donnerstag kamen Hip-Hop-, Garage-, Drum’n’Bass-, Houseund Disco-Clubs. Unser Appetit war grenzenlos.»

Foto: Marc Sethi

Musik. Auf seinem Solo-Album sollen Computer klingen wie Menschen.

«Mir gefallen Zeichen menschlicher Schwäche.»

Sonst ist Joe Goddard am liebsten bei seinen Maschinen.

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Joe Goddard, «Electric Lines» (Domino/MV)

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Bild(1+2): zvg, Bild(3): El Cojo Ilustrado, Caracas 1899, Bild(4): Beat Mumenthaler

Veranstaltungen Auf Tour Florian Burkhardt: «Das Kind meiner Mutter», Lesun­ gen: Di, 30. Mai, 20 Uhr, Kaufleuten, Zürich; Mo, 12. Juni, Spuren Salon, Winter­ thur; Mi, 14. Juni, 20 Uhr, Safe im Unternehmen Mitte, Basel; Mi, 21. Juni, 19 Uhr, ONO, Bern; Do, 24. August, 19 Uhr, Weyermann, Bern, www.florianburkhardt.com/ daskindmeinermutter

Surprise-Kolumnist Florian Burkhardt (siehe «Randnotiz», S. 25) hatte und hat ein bewegtes Leben – bekannt wurde er als Partyveranstalter Electroboy, da hatte er aber schon eine Snowboarderkarriere hinter sich und einen gar nicht mal so schlecht gestarteten Versuch, eine Art neuer James Dean zu werden. Marcel Gisler hat einen Dokumentarfilm über ihn gemacht, und nun hat Burkhardt seine Geschichte auch aus seiner

Sicht geschrieben – als autobiografischer Roman. Und man sieht: Es tun sich mit jeder Neuversion dieser Geschichtsschreibung neue Abgründe auf. Burkhardt schrieb uns: «Seit Buchveröffentlichung geht unglaublich viel ab in meiner Familie, das Eis bricht über dem See des Totschweigens und es ist, als ob ein Vulkan ausbräche. Die Schweizer Familie spricht.» Und Burkhardt liest, in mehreren Schweizer Städten. dif

Zürich Kalligraphie-Ausstellung: «Kleine Brücke», So, 21. Mai bis So, 4. Juni; Workshop So, 28. Mai; Symposium «Environmental Aesthetics After Landscape», Do, 1. bis Sa, 3. Juni (anschliessend Event im Cabaret Voltaire), www.musethno.uzh.ch

Basel Wildwuchs Festival: «Jenseits des Mainstreams», 1. bis 11. Juni, verschiedene Spielorte in Basel, www.wildwuchs.ch Das Wildwuchs Festival in Basel konzentriert sich auf Themen von Randgruppen. Und das ist sehr viel erfrischender, als es sich im ersten Moment anhört. Etwas abseits vom Normalen und Gleichförmigen gibt man sich nämlich nicht mit Mainstream zufrieden: Seit die Theaterfrau Gunda Zeeb – man kennt sie vom Theaterhaus Gessnerallee und vom Performance-Festival Stromereien in Zürich – das Festival übernommen hat, ist es zu einem internationalen Theatertreffen geworden, das mit neuen Theater-, Tanz- und Performance-Formen experimentiert. dif

Manchmal kann ein Völkerkundemuseum dasselbe wie das Yoga­ studio an der Ecke. Nämlich Bewusstsein schaffen für den eigenen Körper, den Geist zur Ruhe kommen lassen, zu geschmeidigen Bewegungen anleiten. Kann man im Kalligraphie-­ Workshop mit der Künstlerin Yamaoto Iku haben. Die Ausstellung dazu heisst «Kleine Brücke», aber auf Japanisch sieht das viel schöner aus. Und wenn wir schon bei der Völkerkunde sind, vom 1. bis 3. Juni findet noch eine andere Veranstaltung statt und stellt fest: Irgendwie ist der menschlichen Gesellschaft die Natur als äusserer Rahmen abhandengekommen. Frage dazu: Wie reagieren Kunst und Theorie darauf? Mit kleinen Brücken vielleicht? dif

Zürich Ausstellung: «The Last Swiss Holocaust Survivors», bis Sa, 3. Juni, Mo bis Fr, 9 bis 17 Uhr, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, Hirschengraben 62, Zürich; Infos zu Führungen: www.afz.ethz.ch Es gibt in der Schweiz noch Zeitzeugen, die den Holocaust selber erfahren haben. Viele von ihnen überlebten das Konzentrationslager und kamen erst nach dem Krieg in die Schweiz. Diese betagten Menschen legen nun nochmals Zeugnis ab. Das Archiv für Zeitgeschichte führte sieben Jahre lang Treffen mit den Holo­caustÜberlebenden durch und verfügt über ein grosses Archiv zur jüdischen Zeitgeschichte – Wissen, das in die Ausstellung eingeflossen ist. Zu sehen sind auch Eric Bergkrauts («Citizen Khodorkovsky») engagierte Kurzfilme. Die Wanderausstellung wird im Verlauf des Jahres auch in anderen Schweizer Städten gezeigt. dif

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Der Satz: «Du bist ein Unfall», so ehrlich er ist, ist ein Affront. Kein Mensch ist ein Unfall! Das hat nur etwas mit diesem Erzeuger zu tun und nicht mit dem Kind. Das muss er mit sich selbst abmachen, das darf er nicht mit dem Kind besprechen. «Ich habe dir das Leben geschenkt, du hast mein Leben gerettet»: Das wünsche ich keinem Eltern-Kind-Verhältnis. Das ist nicht auf Augenhöhe. Anregung: Lesen Sie diesen Brief, als wären Sie das Kind. Egal, wie alt Sie sind. Möchten Sie von Ihrem Vater tatsächlich so gesehen werden?

Ich bin in Basel aufgewachsen und habe das Leben in der Stadt noch nie aus dieser Perspektive gesehen. Es war sehr interessant, die Stadt aus einem anderen Blickwinkel kennenzulernen und einen Einblick in das Leben von Menschen am Rande der Gesellschaft zu erhalten; bedeutet dies doch auch eine Sensibilisierung des eigenen Handelns in der Gesellschaft. Wir sind Stadtführer Heiko Schmitz sehr dankbar und wünschen ihm für die Zukunft viel Glück und gute Gesundheit.

B. Munz, Brüttisellen

A. Schneider, Steffisburg

«Brief an ein geborenes Kind»

Perspektivenwechsel

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 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe Hanspeter Künzler, Felix Müller, Anna Pearson, Catherine Pearson, Roland Schmid, Stephan Walter Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ausgabe 398 Artikel «Die Logik des Helfens» Danke für den informativen Artikel. Er hat meine Meinung bestätigt: Gute Absichten reichen nicht beim Helfen, sie schaden! Sogar beim Altruismus-Kuchen soll das kapitalistische Renditedenken voll durchschlagen. Möglichst viel Ertrag auf meinen Spendeneinsatz! Damit niemand merkt, wie ich auf meinem Esstisch prasse, auf dass die Brosamen in Massen auf die Armen hernieder­ regnen. Selten so widerliche Begründungen dafür gelesen, dass alles so bleiben möge, wie es war. Übrigens: Ich abonniere das Surprise nur wegen des guten Inhalts und nicht aus altruistischen Gründen. Ich spende nie, ich zahle Steuern! P. Jud, Stühlingen, Deutschland

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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FOTO: FELIX MÜLLER

Surprise-Porträt

«Ich kenne eine dunkle Seite der Stadt» «Ich war 15, als die 68er-Bewegung in Basel langsam um sich zu greifen begann. Alles war damals interessanter als Schule für mich, ich war leichte Beute. Ich brach das Gymnasium ab, und das Leben war gut. Mit 18 eröffneten ich und meine Freunde das erste makrobiotische Restaurant in Basel, am Claragraben. Ein Jahr später wurde daraus das Autonome Jugendzentrum, und ich ging auf Reisen. Afghanistan blieb mir besonders in Erinnerung, ich war da sicher ein halbes Jahr. Als ich zurückkam, machte ich eine Ausbildung zum Programmierer. Ich fand einen super Job, aber an meinem ersten Arbeitstag begrüsste mich im Büro statt dem Chef die Polizei und packte mich direkt ein. Haschverkauf gab damals zwei Jahre. Nachher war es natürlich erst einmal vorbei mit jeglichen Karriereambitionen oder Familienplänen. Ich wohnte in Kommunen oder WGs, und mein Weltbild änderte sich. Bald besetzten wir Häuser. Das war nur so halb legal, aber es war die einzige Lebensform, die uns erstrebenswert erschien. Wir wurden Idealisten. Zeitweise waren wir sogar sehr radikal. Einfamilienhäuser, Monogamie, eigene Zimmer, all das war für uns der Kapitalismus und somit nicht tragbar. Bis tief in die Achtziger glaubten wir an die Revolution. Wirklich, wir glaubten das, wir sagten uns von unseren Familien los, brachen unsere Ausbildungen ab, weil wir daran glaubten, dass etwas Grösseres bevorstand. Irgendwann wachten wir einer nach dem anderen auf. Für mich bedeutete das erst einmal einen erneuten Absturz in die Drogen. Diesmal blieb es nicht beim Hasch. Ich hielt eine bürgerliche Fassade aufrecht mit Frau und Einfamilienhaus, dahinter aber dealte und konsumierte ich. So waren schnell ein paar Jahre vorbei. Irgendwann erledigte sich dieses Doppelleben aber von selbst. Meine Freunde fingen mich auf, das war sicher wichtig für mich. Aber es war natürlich zu spät. Ich war ein Mittvierziger ohne Ausbildung, also blieb mir der Arbeitsmarkt verschlossen. Die nächsten paar Jahre verkroch ich mich in meiner Einzimmerwohnung. Dann, mit 55, bekam ich beim Roten Kreuz eine Schnellausbildung zum Pfleger und fand sogar ein Praktikum. Das gefiel mir wirklich gut. Meine Chefin kämpfte für eine Festanstellung für mich, aber als Arbeitnehmer in diesem Alter wäre ich zu teuer 30

Kommunenleben, Afghanistanreisen, Gefängnis: Der Basler Viktor Zimmermann, 64, hatte ein bewegtes Leben. Heute singt er im Surprise Strassenchor.

geworden. Also mischelte ich mich irgendwie durch, und jetzt bin ich seit einem Jahr Rentner. Von einer Freundin erfuhr ich, dass Surprise einen Stadtführer für den Sozialen Stadtrundgang sucht. Das sprach mich an, ich glaube, dass ich das gut könnte. Ich kenne eine dunkle Seite dieser Stadt. Kurz nachdem ich mich bei Surprise meldete, wurde ich zu einer Chorprobe eingeladen. Weil ich zuvor zufällig auch die Chorleiterin an einem Sommerfest kennengelernt hatte, ging ich einfach mal hin. Im Strassenchor wird viel Wert auf das «wir» gelegt, das spricht mich immer noch an. Egal, ob bei Auftritten oder einfach nur in der Probe, wir machen das zusammen. Und das, obwohl die Leute unterschiedlicher nicht sein könnten. Das tut mir gut. Ich war jetzt zwei Winter lang zu oft alleine. Ich würde mich eigentlich nicht als musikalische Person bezeichnen, aber meiner Stimme beginnt man das Üben langsam anzumerken. Das ist motivierend. Ich bin immer noch daran interessiert, Stadtführer zu werden, aber im Chor bleibe ich auf jeden Fall.» Aufgezeichnet von Felix Müller Surprise 400/17


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Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

Information

Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Seite für Seite – Seite an Seite. Wir gratulieren herzlich zur 400. Ausgabe!

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Ein Ort zum Verweilen: Ihr Bahnhof. Die SBB wünscht Surprise weiterhin viel Erfolg.

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CHKY / A359

LAS T MIN UTE

EINE FLUCHT IST KEINE FERIENR EISE DIREKT HELFEN PER SMS: STICHWORT SFH UND BETRAG ZWISCHEN 1 UND 99 FRANKEN EINGEBEN UND AN 488 SENDEN


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