Surprise 401

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Strassenmagazin Nr. 401 2. Juni bis 15. Juni 2017

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Schule

Hochbegabte Kinder müssen vor allem eines lernen: Scheitern Seite 16

Geldfluss

Ein Western-UnionAgent und die Migranten in Belgrad Seite 10

Interview

Florian Burkhardt hat seine eigene Geschichte neu geschrieben Seite 22

Porträt

Der Milchjunge Tobias Urech wusste immer: Es ist okay, dass er schwul ist. Jetzt arbeitet er daran, dass dies auch allen anderen klar wird Seite 8


Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden


Titelbild: Markus Forte

Editorial

Lieber ein bisschen steif Ich lese oft die NZZ. Und zwar aus dem Grund, aus dem andere Surprise lesen: Sie erschliesst mir ein Milieu, zu dem ich nur begrenzt Zugang habe. Neulich war da ein Interview mit dem Historiker Jörg Baberowski. Er hatte die deutsche Asylpolitik öffentlich kritisiert, mit Sätzen wie: «Warum soll eigentlich ein Einwanderer gratis erhalten, wofür diejenigen, die schon hier sind, jahrzehntelang hart gearbeitet haben?» Er war darauf als Rechtsradikaler bezeichnet worden, wogegen er sich gerichtlich wehrte, allerdings vergeblich. In der NZZ beklagte Baberowski nun die «Hegemonie des politisch Korrekten»: Wer über Rassismus oder das Verhältnis der Geschlechter anders urteile, werde mora­ lisch diskreditiert. Er hat recht. Politische Korrektheit ist ein Problem, denn ein Stück weit lähmt sie nötige Debatten. Gleich­ zeitig finde ich es wichtig, meinen Mit­ menschen gerecht zu werden. Sie nicht als Schwule, als Arbeitslose, als Frauen zu sehen, sondern als Individuen. Es ist ein

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht Messer, Beil und

Happy End

6 Challenge League Protonensalat

10 Geldfluss Ach, Slavko 16 Ein Schulbesuch

schmaler Grat zwischen politischer Korrekt­ heit und respektvollem Umgang. Aber ich bin sicher, wir schaffen das. Apropos Hege­ monie: Dass Frauen nicht wählen, Schwarze im Bus hinten sitzen und Kinder geschlagen werden sollen, war vor nicht allzu langer Zeit Mainstream. Ob es der freiheitlichen Gesellschaft, auf die sich Baberowski beruft, zuträglicher war als die heutige, etwas steife Überkorrektheit? Baberowski sagt auch: «Wäre ich ein hilf­ loser und machtloser Hartz-IV-Empfänger, könnte man mich leicht zum Schweigen bringen.» Darauf der NZZ-Redaktor: «Dann würden wir dieses Gespräch kaum führen.» Natürlich nicht. Denn bei Sozialhilfe­ abhängigen fragen viele: Warum sollen sie gratis erhalten, wofür andere hart arbeiten? Eine absolut mainstream­fähige Meinung übrigens. Amir Ali Redaktor

22 Florian Burkhardt

«Du bist ja

der Heiland»

Hochbegabt –

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

7 All Inclusive

8 Porträt

Der Milchjunge

27 Wörter von Pörtner Gespenster (3) 28 Surplus

na und?

Drama um

Koksi und Sisyphus

26 Veranstaltungen

25 Buch

Existenzielle

Gratwanderung

30 Surprise-Porträt

«Der Zorn kommt ja

von irgendwo»

25 Piatto forte

Die Pasta der Sarden

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Aufgelesen

Sehhilfe Eine neue App hilft Sehbehinderten bei kleinen Problemen im Alltag. «Be My Eyes», auf Deutsch «Sei meine Augen», verbindet Betroffene mittels Handyvideoanruf mit Frei­willigen. Diese helfen dann beispielsweise beim Lesen von Halt­ barkeitsdaten oder der Farbauswahl beim Klamottenkauf. Damit ver­ spricht die App ein neues Mass an Unabhängigkeit für Sehbehinderte. Der Dienst steht zwischen 7 und 22 Uhr Ortszeit zur Verfügung und hält sich an die Einstellungen des je­ weiligen Smartphones. Die in Dänemark entwickelte App ist bereits in 140 Ländern und über 50 Sprachen verfügbar. Noch funktioniert bemyeyes.com nur über das iPhone, soll aber auch auf andere Betriebssysteme ausgeweitet werden.

Bodo, Bochum/Dortmund

Foto: Helen Sloan

News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Nordirland profitiert touristisch davon, dass die HBO-Erfolgsserie «Game of Thrones» dort gedreht wird. Wo zu Zeiten des Nordirlandkonfliktes 30 Jahre lang echte Gewalt herrschte, vereint jetzt der Fantasy-Krieg die Menschen, weil er Geld und Arbeitsplätze schafft.

The Big Issue, UK

Zeichner Andy stammt aus Worcester und war lange Zeit obdachlos. Heute lebt er in seiner eigenen Wohnung. Mit dem Zeichnen von Comics begann er, um mit seiner 90 Jahre alten Mutter zu kommunizieren.

Hecho en Bs. As., Argentinien

The Big Issue, UK

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COmic: Andy

Landgrabbing Die argentinische Gemeinde Puerto Libertad (zu Deutsch: Hafen der Freiheit) hält einen tragischen Nationalrekord: 80 Prozent oder rund 65 000 Hektar des Gemeindelandes gehören dem chilenischen Konzern Arauco, der dort in Monokultur Nadelbäume zur Zellulosegewinnung und für die Produktion von MDF-Holzfaserplatten anbaut. «Will die Gemeinde in Puerto Libertad etwas bauen, muss sie zunächst Arauco um ein bisschen Land bitten», kommentiert ein Anwohner die Situation. Lokale NGOs werfen dem chilenischen Multi die Ver­ treibung von Bauern- und Indi­ genengemeinschaften sowie schwere Umweltzerstörung vor.

«Wir machen jeden Tag dasselbe.» «Das machen alle anderen auch. Sie haben nur eine komplexere Form von Langeweile.»

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Illustr ation: Prisk a Wenger

Unsichtbar Obwohl Frauen statistisch gesehen stärker von Armut betroffen sind als Männer, tauchen sie in den Ein­ richtungen für Wohnungslose weit weniger auf. Im Oktober 2016 waren gerade mal 28 Prozent der Klienten der Vorarlberger Wohnungslosenhilfe Frauen. Als Grund vermuten Fachleute: Wohnungslose Frauen kommen weit häufiger bei Ver­ wandten, Bekannten oder Freunden unter. Man spricht dann von verdeckter Wohnungslosigkeit.

Marie, Vorarlberg

Modesünde Nach Protesten zog der spanische Modekonzern Zara kürzlich einen Jeansrock der Frühlingskollektion aus dem Programm. Die darauf abgebildeten Froschköpfe erinnerten an Pepe den Frosch, ein von der US-amerikanischen Alt-Right-Bewegung und europäischen Rechtsextremen vereinnahmtes Internet-Meme. Zara hatte bereits 2014 einen gestreiften Schlafanzug aus dem Programm nehmen müssen, da dieser mit einem gelben Stern auf der Brust bedruckt gewesen war.

Augustin, Wien

Mietexplosion Immer mehr Amerikaner wohnen zur Miete: In den letzten zehn Jahren wuchs die Zahl derer, die über kein Eigenheim verfügen, um 9 Millionen. Inzwischen lebt rund ein Drittel der Bevölkerung in einer gemieteten Liegenschaft – der stärkste Anstieg innerhalb einer Dekade seit Beginn der Aufzeichnungen. Auch die Zahl derer, die zu viel fürs Wohnen zahlen, stieg bedenklich an: Laut dem Harvard-Bericht «State of the Nation’s Housing» geben 11,2 Millionen Menschen mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Miete aus.

The Contributor, Nashville

Vor Gericht

Messer, Beil und Happy End «Wenn ich komme, landet jeder im Spital», sagte die Männerstimme am Telefon zum Angeklagten. Der hatte seit Tagen nicht geschlafen und seit Monaten «ziemlich Gas» gegeben. Psychopharmaka eingeworfen und Koks geschnupft. «Mit der Krebsdiagnose», sagt der knapp 50-jährige Schweizer, «ist damals der Boden unter mir aufgegangen.» Er begann, Leute aus der Vergangenheit anzurufen. Bei manchen wollte er sich entschuldigen, bei anderen suchte er Geborgenheit. Wie damals, als er als 20-Jähriger vor den Schlägen des Vaters geflohen und in den Armen des viel älteren Herrn Z. gelandet war. Nun, 30 Jahre später, suchte er wieder dessen Nähe. Weil Herr Z. nicht darauf einging, drohte der Angeklagte, ihn als Knabenschänder zu denunzieren. Und nun rief also dieser unbekannte Mann an und sagte mit schwerem Balkanakzent, der Angeklagte solle Herrn Z. in Ruhe lassen. Weil, eben, sonst Spital. Der Beschuldigte sagte zum Anrufer: «Wenn du Eier hast, kommst du zur Tankstelle und wir duellieren uns, du Scheissjugo.» Dann packte er ein Fleischmesser, ein Klappmesser, zwei Stahlketten, einen Fleischerhaken, ein Beil, eine Axt und einen Baseballschläger ein. Und zog Knieschoner an. Früher hatte er noch auf dem Bau gearbeitet, und da hatte ihm ein Mazedonier mal verraten, wie’s läuft: «Erst spucken wir dir ins Gesicht, dann sind die Knie dran.» Als ihm an der Tankstelle beim Bezahlen das Fleischmesser aus dem Ärmel rutschte, rief die Verkäuferin die Poli-

zei. Die Situation eskalierte. Acht Polizisten waren schliesslich nötig, um den tobenden Mann festzusetzen. Das Bezirksgericht sprach den Angeklagten wegen Nötigung, Gewalt gegen Beamte und Vorbereitungshandlungen eines Tötungsdelikts schuldig. Weil ihm ein psychologisches Gutachten eine Persönlichkeitsstörung attestierte, fiel die Strafe mit 18 Monaten unbedingt zwar mild aus, wurde aber zugunsten einer stationären Massnahme nach Artikel 59 des Strafgesetzbuches aufgeschoben, auch bekannt als «kleine Verwahrung». Die Massnahme wird erst beendet, wenn die Gutachter kein Rückfallrisiko mehr sehen. Der Angeklagte trat die Massnahme vorzeitig an. Rechnet man die Untersuchungshaft dazu, sass er rund 20 Monate. «Ich war froh darüber, endlich konnte ich zur Ruhe kommen», sagt er jetzt vor der höheren Instanz, dem Obergericht. Nun aber sei es Zeit. Denn im Gefängnis werde er schikaniert, «jeder faule Spruch wird protokolliert!», nervt er sich. Er wolle raus. Dem Obergericht scheint die «kleine Verwahrung» in diesem Fall zu weit zu gehen. Es ordnet die sofortige Freilassung an, zudem wird der Mann mit gut 10 000 Franken für die Monate entschädigt, die er über seine Strafe hinaus einsass. Damit geht der grösste Wunsch des Angeklagten in Erfüllung: «Arbeiten, Steuern zahlen, Zeit mit der Mutter verbringen.»

Yvonne Kunz ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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Screenshot: Video, Khusr aw Mostafanejad

Challenge League

Protonensalat Seit Ende Februar besuche ich an der ETH Zürich das Schnuppersemester für Flüchtlinge. Ich besuche dort Vorlesungen der Masterstufe in Informatik. Ich habe viel Spass an der ETH, auch ausserhalb der Vorlesungen. In der Projektbeschreibung zum Schnuppersemester heisst es: «Haben Sie in Ihrer Heimat ein technisch-naturwissenschaftliches Studium angefangen oder abgeschlossen und möchten den Studienalltag an der ETH Zürich kennenlernen? Als Hörerin oder Hörer können Sie einzelne Lehrveranstaltungen besuchen und sich so mit den Anforderungen und Inhalten eines ETH-Studiums vertraut machen. Die Teilnahme gilt für ein Semester und ist kostenlos.» Am Anfang war es für mich echt schwierig. Ich habe meinen Bachelor in Informatik 2008 im Irak abgeschlossen. Damals war ich jünger und gierig nach Wissen, seither habe ich aber viel vergessen. Am besten gefällt mir die Polybahn, die vom Central hoch zur Uni fährt. Oft steige ich ganz vorne ein, wo die Bahn offen ist. Dann schaue ich auf die Strasse hin­unter, auf die Autos und die Gebäude, und am Ende der Fahrt erscheint plötzlich die Stadt wie ein Meer aus Häusern. Dort oben denke ich dann darüber nach, was für Annehmlichkeiten die Technologie uns ermöglicht. Beim Studium begleiten uns sogenannte Mentorinnen und Mentoren. Sie studieren selbst, geben uns Ratschläge und verbringen viel Zeit mit uns. Die meisten sind Schweizer, aber manche sind Ausländer. Mein Mentor zum Beispiel kommt aus Grossbritannien. Auch ausserhalb des Studiums erleben wir viel mit ihnen. Alle zwei Wochen versammeln wir uns in einem Café an der ETH und sprechen über das Studium oder anderes. Einmal hatten wir einen Spieleabend im ASVZ, dem Sportzentrum von Uni und ETH, und spielten alle zusammen Basketball. Der ASVZ liegt unter der Polyterrasse, ich bin oft dort und mache bei jeder Gele6

Na, dann wollen wir mal schnuppern: Der Kolumnist auf der Polybahn.

genheit Sport: zwischen den Vorlesungen oder am Abend. Es ist egal, ob Yoga, Basketball, Boxen oder Jazz Dance im Angebot sind, ich nehme überall teil. Ein Freund an der Uni machte sich lustig darüber und sagte mir, ich sei kein Sport­­ler, sondern eher ein Sportsammler. Ich antwortete lächelnd: «Vielleicht bereite ich mich ja auf die Olympischen Spiele vor.» Am wichtigsten aber war für mich die Besichtigung des CERN in Genf, denn ich interessiere mich sehr für Physik. Als wir morgens dort ankamen, gingen wir direkt in einen kleinen Hörsaal. Dort sprach ein alter Professor über das Weltall und die Galaxie, über Elektronen und noch kleinere Teilchen. Ich wurde echt müde von all den Dingen: jene, die man sich kaum vorstellen kann, danach die sichtbaren Sachen, und zum Schluss die kleinsten Teilchen, die nur Physiker mit ihren Mikrosko­pen sehen können.

Wir witzelten auch viel über die Physik. Am Schluss fragte mich eine Mentorin, ob ich im CERN-Restaurant etwas ge­ gessen hätte. Ich antwortete: «Ja, ich habe ein Paar Elektronen und Protonen gegessen, aber leider habe ich noch Hunger. Es war zu wenig.» Ich finde das Programm von Uni und ETH eine Superidee, auch wenn es nur ein einfaches Schnupper­semester ist. Für gut qualifizierte Flüchtlinge kann es eine Chance sein, an ihrem einstigen Fach­ gebiet wieder anzuschliessen.

Der kurdische Journalist Khusraw Mostafanejad, 31, floh aus dem Iran und lebt seit 2011 in der Schweiz.

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60 Prozent eine Mitarbeiterin, die beim Bewerbungsgespräch psychische Probleme erwähnt, gar nicht einstellen. Die Betroffenen befinden sich also in einem Dilemma: Wenn sie sich outen, bekommen sie womöglich die Stelle nicht. Outen sie sich nicht, werden sie vielleicht nachträglich entlassen.

Illustration: Rahel Nicole Eisenring

Die Studie zeigt auch, dass die Chefs selbst häufig lange zuwarten, bevor sie Probleme bei Mitarbeitenden anspre­ chen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass es nur in 40 Prozent der berichteten Fälle überhaupt zu Absenzen kam. Psychische Probleme am Arbeits­ platz äussern sich häufiger durch Leistungsabfall und vor allem durch zwischenmenschliche Auffälligkeiten wie sozialen Rückzug oder Aggressionen.

All Inclusive

Drama um Koksi und Sisyphus Wenn im Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz von psychischen Problemen die Rede ist, geht es meist um Stress ­oder Burnout wegen hoher Arbeitsbe­lastung. Unter einer psychischen Erkrankung leiden aber nicht nur die Betroffenen selbst, auch Vorgesetzte und Kolleginnen werden in Mitleidenschaft gezogen. Die Hochschule Luzern und die Psychi­ atrie Baselland haben deshalb in einer Untersuchung 1524 Führungskräfte aus der Deutschschweiz zu ihrem Umgang mit psychisch belasteten Angestellten befragt. Da psychische Probleme schwer fassbar sind, wurden die Führungskräfte gebeten, sich an eine konkrete Geschich­te mit einem psychisch auffälligen Mit­ arbeiter zu erinnern, diesem einen passenden Spitznamen zu geben und die Situation mit Analogien aus der Filmwelt zu beschreiben. Die für die betroffenen Mitarbeitenden ausgesuchten Spitznamen sind nicht besonders nett, verweisen aber nicht

selten direkt auf die dahinterstehende Problematik, wie Sucht («Koksi»), Depression («Heulie») oder eine Persön­ lichkeitsstörung («Giftzwerg»). Die Filmtitel («Theo dreht durch», «Der Rächer», «Der Mann vom anderen Stern») und das gewählte Genre (über 80 Prozent Drama) sprechen für sich. Die Rollen, die sich die Chefs selbst zuschreiben («Sisyphus», «Keine-Ideen-­ mehr», «Amateur-Psychologe») lassen häufig auf deren eigene Überforderung und Hilflosigkeit schliessen. Dass ein Drittel der Filme als «Stumm­ filme» bezeichnet werden, zeigt das Stigma, das psychischen Krankheiten nach wie vor anhaftet. 90 Prozent der befragten Führungskräfte fänden es hilfreich, wenn eine betroffene Mitar­ beiterin ihre Probleme offenlegen würde. 40 Prozent der Chefinnen würden zudem einen Mitarbeiter nicht im Be­trieb behalten wollen, der seine psychischen Probleme erst nach der Anstellung offengelegt hat. Gleichzeitig würden aber

Da Führungskräfte solches Verhalten oft nicht als psychische Störungen erken­ nen, versuchen sie zwar, über längere Zeit die Situation zu verbessern – etwa mit Appellen an den betroffenen Mitarbeiter –, ziehen aber selten profes­ sionelle Unterstützung von aussen bei. In 80 Prozent der Fälle lösen sie die Angelegenheit dann nach durchschnitt­ lich 22 Monaten mit der Kündigung. Psychische Probleme sind in der Arbeits­ welt keine Randerscheinung. Rund ein Fünftel der Arbeitnehmenden leidet zu einem beliebigen Zeitpunkt an einer psychischen Störung. Deshalb empfehlen die Studienautoren unter anderem eine bessere Schulung der Führungskräfte im Umgang mit psychisch belasteten Mitarbeiterinnen. Dazu gehört auch eine allgemeine Entstigmatisierung sowie eine offene Fehlerkultur. Die Chancen auf einen positiven Verlauf sind grösser, wenn die Betroffenen einsehen, dass sie Probleme haben und eine Behandlung in Anspruch nehmen. Und wenn Chefinnen die Probleme klar ansprechen und das Team den Kollegen unterstützt. Denn alle drei Parteien sind betroffen, und alle drei sind Teil der Lösung.

Marie Baumann bloggt unter ivinfo.wordpress.com über Inklusion und Exklusion – und alles dazwischen. Link zur Studie: www.hslu.ch/studie-der-taegliche-wahnsinn

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«Schwul kann auch eine stolz gewählte Selbstbeziehung sein»: Tobias Urech

Stolz darauf, «falsch» zu sein Porträt  Tobias Urech aus Schaffhausen wusste schon immer: Es ist

okay, dass er schwul ist. Jetzt arbeitet er daran, dass dies auch allen anderen klar wird – inklusive mancher Schwulenorganisationen. Text  Eva Hediger  Fotos  Markus Forte

Tobias Urech sitzt im Zürcher Kafischnaps vor seinem Laptop. Er mag das kleine Café in der Nähe des Schaffhauserplatzes. Hier, auf halber Strecke zwischen der Stadtmitte und seiner WG im Aussenquartier Schwamendingen, kehrt er öfters ein. Vor drei Jahren zog der 22-Jährige nach Zürich, in die Stadt, die ihn als Teenager befreite: «In Schaffhausen haben mir als schwulem Jugendlichen die Alternativen gefehlt. Alles war sehr heteronormativ – auf der sexuellen und der Geschlechterebene.» Heteronormativ bezeichnet 8

in der Genderforschung die Ausrichtung der Gesellschaft auf eine klare Unterscheidung in männlich und weiblich sowie eine Dominanz der Heterosexualität. Dieses enge Weltbild passte dem jungen Tobias nicht. Ihm war früh klar, dass er da rausmusste. «Sobald ich mir ein Gleis 7 kaufen konnte, bin ich mehrmals pro Woche nach Zürich gefahren.» Dort besuchte der damalige Kantonsschüler regelmässig Schwulenpartys, fand mehr Verständnis und neue Freunde. «Ich fühlte mich wohl, weil ich endlich offen schwul sein konnte», erinnert er sich. Doch auch in Surprise 401/17


Zürich erlebte Urech Diskriminierung: «Spazierte ich mit meinem damaligen Freund Hand in Hand durch die Stadt, glotzten die Leute blöd oder rissen Sprüche.» Einmal leerten junge Männer dem Paar einen Energy-Drink über die Klamotten. Während seiner Schulzeit hatte Urech oft das Gefühl, sich anpassen zu müssen. «Das fing bei Kleinigkeiten wie der Gestik an», erklärt er und unterstreicht seine Worte mit einer ausschweifenden Handbewegung. «Wenn man aus der Reihe tanzte, wurde man blöd angemacht. Das wollte ich damals vermeiden.» Seit 2014 ist Tobias Urech Chefredaktor des Milchbüechli, einer Zeitschrift für die junge LGBT-Bewegung der Schweiz. LGBT ist die englische Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Das Milchbüechli druckt Coming-out-Geschichten von Jungen und Senioren ab, fängt die Gedanken der Community ein, gibt Beziehungstipps und lässt die Leserschaft Liebeskummer-Tests lösen. «Wir verfolgen einen positiven Ansatz», erklärt Urech. «Manche andere Feminismus- und Gender-Magazine sind zwar gut, aber auch anstrengend. Sie fokussieren immer auf das Negative.» Die Unterzeile des Milchbüechli lautet: «Die falschsexuelle Zeitschrift der Milchjugend». Urech erklärt: «‹Falschsexuell› ist eigentlich eine Übersetzung von ‹queer›, das ebenfalls ‹falsch› respektive ‹schräg› bedeutet.» Die LGBT-Bewegung habe sich schon immer negativ konnotierte Wörter angeeignet und positiv besetzt. «‹Schwul› war und ist heute noch ein Schimpfwort, kann aber auch eine stolz gewählte Selbstbezeichnung sein.» Ausserdem spiele «falschsexuell» auf das vorherrschende gesellschaftliche Denken an. «Wir sind stolz darauf, ‹falsch› zu sein», meint der junge Magazinmacher. An den Kundgebungen löse der Slogan allerdings viele Diskussionen aus – vor allem mit älteren Aktivisten. «Sie kommen auf uns zu und meinen: ‹Wir sind aber nicht falsch!›», erzählt er lachend. Unangepasst und selbstbewusst Urech hatte erst zwei Artikel für die Zeitschrift geschrieben, als er die Verantwortung für den gesamten Inhalt übernahm: «Ich wurde ziemlich ins kalte Wasser geworfen. Die erste Ausgabe kam zwei Wochen zu spät», erinnert er sich und lacht. Herausgeberin des Milchbüechli ist die Milchjugend. Die LGTB-Organisation steht für das, was auch ihm am Herzen liegt: mit Selbstbewusstsein und Freude den eigenen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. «Gemeinsam sind wir stark», so Urech. Er selbst kam durch eine Partybekanntschaft zur Milchjugend: «Ich war ziemlich verknallt», erzählt er. Urechs Schwarm schrieb aktiv fürs Milchbüechli und lud ihn an eine Sitzung ein. «Ich bin eigentlich wegen ihm hin, der Aktivismus war mir damals relativ egal», gesteht er. «Aus der Liebe wurde nichts. Aber aus dem Milchbüechli und mir.» Zwar arbeitet die Milchjugend mit anderen etablierten Organisationen wie dem Pink Cross zusammen, manche LGTB-Organisationen sind Urech jedoch zu angepasst: «Es gibt solche, die den Leuten fast entschuldigend erklären wollen, wie normal wir sind. Ich will mich aber

nicht entschuldigen für das, was ich bin oder wie ich lebe – wir sind schliesslich eine freie Gesellschaft.» Dazu passt, dass Urech betont, dass er sich nie für seine sexuelle Orientierung geschämt habe. «Für mich war klar, dass es okay ist. Ich weiss, ehrlich gesagt, nicht so genau, weshalb», meint er schulterzuckend. «Auch von meinem Umfeld fühlte ich mich immer akzeptiert und angenommen.» Besonders von seiner besten Freundin aus der Kantonsschule, zu der er heute noch Kontakt hält. Einzig das Gespräch mit seinen Eltern hat er als mühsam in Erinnerung: «Aber nur, weil ich mich vor ihnen mit meiner Sexualität so exponieren musste, nicht wegen meinen Eltern.» Urech wirkt unbekümmert und optimistisch. Diese Art Lebensgefühl soll auch im Jugendtreff «Andersh» im Mittelpunkt stehen, den er kürzlich mit weiteren Ostschweizer Aktivistinnen und Aktivisten in seiner Heimatstadt Schaffhausen gegründet hat. Einmal im Monat sollen sich dort lesbische, schwule, bisexuelle, asexuelle und Transgender-Jugendliche entspannt austauschen können. Dreimal bereits haben sich jeweils rund 20 Teenager getroffen. «Ein paar Teilnehmende haben uns nach dem Abend ein Kärtchen geschickt und sich bedankt, dass sie jetzt nicht mehr so alleine sind», erzählt Urech. «Das hat mich schon sehr gerührt. Und diese Rückmeldungen zeigen: Der Treff ist richtig und wichtig.» Doch Tobias Urech sucht auch das Rampenlicht. 2013 trat er erstmals als Dragqueen auf einer Milchjugend-­ Party auf. Er kaufte sich eine Perücke und ein Outfit und liess sich von einer Freundin schminken. Der Auftritt war ein Erfolg. «Es war absurd. Ich stand mit Makeup und Stöckelschuhen auf der Bühne und fühlte mich so sehr ich selbst wie nie zuvor.» Seither wird aus dem jungen Mann regelmässig Mona Gamie. Ihr Programm? «Ich übersetze englische Popsongs auf Mundart. So entstehen ziemlich groteske Texte, auch aus Gender-Sicht: Aus ‹The Girl on Fire› wird ‹S’Meitli, wo brennt›.» Bald wird Urech auch in Schaffhausen auftreten. «Ich freue mich darauf – vor allem, weil ich nachher auch wieder gehen kann», sagt er und lächelt. «Ich fühle mich mittlerweile als Stadtzürcher.» Neben diesen Engagements studiert Urech noch Geschichte und Gender Studies, dieses Jahr macht er seinen Bachelor. Nach dem Abschluss werde er sich ein Zwischenjahr gönnen, kündigt er an, dann will er einen Master in Women’s and Gender History beginnen. Angeboten wird der Studiengang unter anderem in Budapest und Wien. «Ich liebe Städte, die den Geist des 19. Jahrhundert atmen», sagt Urech. Er träumt von einer Karriere im Journalismus oder in einer NGO. Hauptsache, etwas bewegen. So wie jetzt.

«Ich will mich aber nicht entschuldigen für das, was ich bin oder wie ich lebe – wir sind schliesslich eine freie Gesellschaft.»

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Weder Teddybär noch Gangster: Slavko Puzović vor dem Don Chicago. 10

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Ach, Slavko Geldfluss  Tausende Migranten sind in Belgrad gestrandet. Um an Geld zu kommen,

sind sie auf tolerante Western-Union-Agenten angewiesen. Leute wie Slavko Puzović, der in den letzten zwei Jahren das Geschäft seines Lebens gemacht hat. Text Benjamin von Wyl  Fotos Abdul Saboor

Jemand hat mir mal gesagt, dass alle Serben wie Teddybären aussehen. Slavko Puzović sieht definitiv aus wie ein Teddybär – wie einer, der wild gestikuliert, Bier mag und gerne Baumwolltrainerhosen trägt. Er gehört zu den Menschen, die fünf Minuten auf dich einreden im Bewusstsein, dass du ihre Sprache nicht sprichst. Seine Augen spielen, die Arme gestikulieren, und er redet und redet. Slavko ist Kleinunternehmer, ihm gehört das Don Chicago, eine Wechsel- und Geldtransferstube, zu Fuss fünf Minuten vom Belgrader Bahnhof und etwa zehn Minuten von den Baracken entfernt, in denen um die tausend Männer und Teenager aus Afghanistan, Pakistan, dem Irak, Syrien und Bangladesch gestrandet sind. Viele sind schon seit mehreren Monaten hier – Zwangsaufenthalt in Serbien, wo Flüchtende im Gegensatz zu Bulgarien, Kroatien oder auch Bosnien meist nur ignoriert und nicht attackiert werden. Jedenfalls nicht hier um den Belgrader Bahnhof herum, in Savamala, einem Quartier, das in Tourismusprospekten als «creative hub» bezeichnet und mit Berlin-Kreuzberg verglichen wird. Im September habe ich Slavko kennengelernt. Was ihn mit freiwilligen Helfern

wie mir verbindet, ist simpel und wiederholt sich wieder und wieder: Western Union. Ihren Namen für Geldtransfers zur Verfügung zu stellen ist das, was Freiwillige tun können, ohne irgendwelche besonderen Begabungen zu benötigen. Western Union kann jeder, der einen Pass hat: Du gibst deinen Namen raus, jemand schickt auf diesen Namen Geld, du gehst mit dem eigentlichen Empfänger das Geld abholen. Damit wirst du zum Glied in einem der absurdesten Geldflüsse der Welt: Geld aus Afghanistan, aus Pakistan, aus Kanada, aus England geht nach Serbien. Jeden Tag ist High-Time Viele der Absender heissen Khan. In meinem Kopfkino: Ganze afghanische Dörfer und Migranten in Westeuropa – vielleicht selbst noch in einem Asylverfahren – klauben 100 Euro zusammen und schicken sie jemandem, der zwangsweise in Serbien weilt, wo niemand bleiben will und niemand legal bleiben darf. 2016 wurden in Serbien weniger als 100 Asylgesuche angenommen. Vor allem alleinreisende Männer müssen sich selbst versorgen. Für sie gibt es nicht genug Plätze in offiziellen Unterkünften. Und jene, die

ihnen angeboten werden, sind in Preševo, dem berüchtigten geschlossenen Camp an der mazedonischen Grenze. Von dort schaffen die serbischen Behörden laufend Menschen nach Mazedonien aus – illegal, versteht sich. Also bleiben die Leute in Belgrad, fragen am Spätnachmittag auf dem Markt nach überschüssigem Gemüse. Sie kaufen Occasionshandys, um ihre Familien anzurufen und das Warten mit Youtube zu überbrücken. Sie brauchen Schuhe, Schlafsäcke, Rucksäcke für die Grenzregion. Sie belagern den Burger-Shop in dem Park neben dem Bahnhof. Früher hiess er Prostitutionspark, heute nennen ihn auch die Serben nur noch Afghanenpark. Slavko profitiert zwangsläufig und nicht ungern. In seinem Geschäft ist jeden Tag kurz vor 11 und kurz nach 17 Uhr Western-Union-High-Time. Eine, die schon lange als freiwillige Helferin in Belgrad ist, sagt, ihr Spitzenwert seien um die 80 Transfers gewesen. An einem einzigen Tag. Slavko schwärmt von tanzenden Volksaufläufen mit bis zu 300 Flüchtenden und Freiwilligen. Aus Rücksicht auf die Nachbarn versammeln sich die Flüchtenden bei grossem Andrang etwas

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Slavko besteht darauf, dass wir alle Freunde sind, dass all die Transfers aus gegenseitiger Zuneigung bei ihm stattfinden. «Nema proplem», findet Slavko.

Neffe Djordje soll auch nach Europa. Bis dahin arbeitet er im Don Chicago.

abseits des Neun-Quadratmeter-Lokals Don Chicago, abseits der Wohnhäuser unter einer Säulengalerie. Die Nachbarn rufen trotzdem die Polizei, und Slavko ist das egal: «Die Polizisten kennen mich! Ich hab mein Geschäft seit 2002, und hier passiert nichts Illegales – ich bezahl meine Steuern und alles. Wenn es hochkommt, schicken sie die Leute weg, und beide wissen, dass sie nach zehn Minuten zurückkommen.» Und was war mit dem Feuer? Da haben 16 Leute die Polizei gerufen. «Ja, die haben da vorne Anfang Dezember ein Feuer gemacht, weil es ... weil es brrr war, viel zu kalt. Dann kam die Polizei und ich hab denen erklärt, dass das Kunden sind. Das Feuer wurde ausgemacht. Nema problem.» Ach, Slavko. Noch 2012 stellten in der Schweiz mehr Menschen aus Serbien einen Asylantrag (1889) als aus Afghanistan (1386). Serbien wurde im Juli 2014 von der Schweiz in die Liste der sicheren Herkunftsländer aufgenommen, aber weiter12

hin wünschen sich viele junge Menschen im Land eine Zukunft im Westen. Flüchtende von anderswo in Serbien – dass es das gibt, passt in Belgrad nicht allen ins Weltbild. In Slavkos schon, aber er wünscht ihnen eine Zukunft im Westen, denn hier gebe es keine Jobs. «No haram, it’s beer» Auch sein Neffe Djordje soll weggehen, am besten als Fussballprofi nach Deutschland oder in die Schweiz: «Du kannst ihn in deinem Koffer mitnehmen und ich reise als sein Manager nach.» Momentan arbeitet Djordje noch für 20 000 Dinar – etwas weniger als 200 Euro – im Monat bei Onkel Slavko im Don Chicago. Und Djordje muss mehr und mehr arbeiten. Seit ein paar Wochen öffnet Slavko auch am Sonntag, und das Don Chicago schliesst jeweils erst, wenn sämtliche Geldtransfers abgeschlossen sind. Im Winter, als sich nach einem öffentlichen Schreiben der Regierung fast alle NGOs aus dem Belgrader

Zentrum zurückgezogen hatten, war der Zwang zur Selbstversorgung unter Flüchtenden derart hoch, dass das Don Chicago an manchen Abenden bis gegen Mitternacht offen blieb. Djordje checkt zehnstellige Western-Union-Codes und die IDs der Freiwilligen, gibt die Beträge raus, mal 150, mal 50, selten 300 Euro. Slavko steht draussen bei den Wartenden, bringt ihnen ein paar Brocken Serbisch bei, verteilt Pizza und Bier. «Haram? Haha, my friend, no haram, it’s beer.» Ach, Slavko. Slavko besteht darauf, dass wir alle Freunde sind, dass all die Transfers aus gegenseitiger Zuneigung bei ihm stattfinden. Es ist auch tatsächlich so, dass ihn viele Flüchtende mögen. Ein lustiger Typ, so der Konsens. Von Freiwilligen, die seit vier Monaten nicht mehr da sind, kennt Slavko – dem Intensivkontakt mit deren ID sei Dank – den zweiten Vornamen und das Geburtsdatum. Diese Daten erwähnt er dauernd, wann immer er das letzte Surprise 401/17


In dieser und anderen Hallen und Baracken lebten über 1000 Migranten mitten in Belgrad. Mittlerweile sind die Lager geräumt.

halbe Jahr rekapituliert. Slavkos Welt ist nicht sehr gross, und jeder, der mal hier war, hat darin einen festen Platz. Und er ist den Protagonisten seiner Welt treu: «An Neujahr musste meine Frau ins Spital zur Geburt unseres dritten Kindes. Wie hab ich gefeiert? Ich hab den Rest der Familie ins Auto gepackt, bin zu den Baracken der Refugees gefahren. Hab die Tür geöffnet und die Hi-Fi-Anlage aufgedreht. Eine Feier für sie und mit ihnen. Wir haben getanzt und getrunken, bis die Polizei gekommen ist.» Meine Übersetzerin war noch nie bei den Baracken – obwohl sie auch hier in Savamala arbeitet. Ach, Slavko – immerhin konfrontierst du dich. Als ein 14-jähriger Flüchtender mit massiv geschwollener Hand, behelfsmässig mit Kopierpapier und Tesa-Streifen verbunden, vor dem Don Chicago stand, ging Slavkos Puls sofort hoch. Er hat ihn ins Spital gebracht und auf das Pflegepersonal eingeredet, bis er behandelt wurde.

Eine Pflegerin warnte eine Freiwillige, die den Jungen begleitete, während Slavko auf dem Klo war: «Bad man ... gangster.» Slavko ist kein Gangster, aber eine Seite von ihm weiss auch, dass die Transfers der Flüchtenden nicht wegen einem Stück kalter Pizza pro Woche über Don Chicago laufen: Slavko ruft alle zehn Minuten bei Western Union an, jedes Mal, wenn ein Code nicht funktioniert. Manchmal übersieht er auch gerne Schreibfehler im Namen des Geldempfängers. Die Flüchtenden brauchen Leute mit Pässen. Die Flüchtenden und die Leute mit den Pässen brauchen Western-Union-Agenten mit grosser Toleranz gegenüber Leuten, die es nicht gewohnt sind, in lateinischer Schrift zu schreiben und sich von Leuten mit Pässen helfen lassen. Leute wie Slavko. Seit Sommer 2016 sind es vor allem Mitglieder unserer Freiwilligengruppe, die ihren Namen für Western-Union-Transfers rausgeben. Vorher haben Serben und

Schmuggler die meisten Transfers vollzogen und zumeist einen Anteil von 10 oder 20 Prozent für sich genommen. Das führte zu grotesken Situationen: Im Herbst 2016 hat eine Freiwillige aus Deutschland eine Serbin dabei erwischt, wie sie einem Flüchtenden fünf Euro für die Information abknöpfte, dass die Freiwilligengruppe Western-Union-Transfers anbietet. Marko* ist einer von zwei serbischen Helfern, die ihren Namen unentgeltlich für Geldsendungen zur Verfügung stellten, als 2015 zehntausende Flüchtende Belgrad passierten. «Für kurze Zeit haben wir sogar ein Schild aufgehängt: ‹Western Union here for free›.» Die Chefin ihrer NGO habe sie aber gezwungen, das zu entfernen. «Später habe ich bei Refugee Aid Serbia geholfen. Da war uns das Namenrausgeben auch als Privatpersonen verboten. Ich hab’s trotzdem getan.» Früher, als auf der Balkanroute noch Rushhour herrschte, waren die Transferbeträge höher. Ich erinnere mich an die

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Bei den Baracken feierte Western-Union-Agent Slavko die Geburt seines dritten Kindes.

«Chocolate Games» und die «Deluxe Games», von denen mir Flüchtende noch im Juli 2016 erzählten. Luxus-Schmugglerangebote für ein paar tausend Euro, im Taxi, mit kurzen Fussmärschen an den Grenzen und bereits gebuchtem Hotel in Wien. Davon erzählt im März 2017, um den Jahrestag des EU-Türkei-Deals, niemand mehr. Natürlich sind die Schmuggler noch da, natürlich werden ihre Dienste bezahlt, aber eine Palette von Angeboten scheint es mangels zahlkräftiger Kundschaft und Aussicht auf Erfolg nicht mehr zu geben. Doppelter Durchschnittslohn Dafür sind die Halal-Imbisse gegenüber vom Bahnhof jetzt jeden Abend voll. Dort kocht man jetzt frisch, während im Herbst noch auf die Mikrowelle gesetzt wurde. Ein Handyladen ist bekannt dafür, dass er auch diejenigen geduldig berät, die noch nie in ihrem Leben eine E-Mail-Adresse eingerichtet haben. Ein kleiner Laden an der steilen Gasse zwischen Afghanenpark und Markt hat seine Auslage, Rucksäcke, Schlafsäcke und Campingkocher, auf Arabisch beschildert. Der Besitzer behauptet zwar, er habe seit 2002 nichts geändert. Mein Begleiter ohne Aufenthaltsrecht 14

muss laut loslachen. «Die Flüchtenden sind gut fürs Geschäft! Fürs Geschäft von allen im Quartier», so die Bedienung im Burger-Shop an der Ecke des Afghanenparks. Egal, ob Wechselbüro, Handyshop oder Gemüsestand: Überall bestätigt man mir das. Und bevor das Geld im Quartier landet oder bei den Schmugglern, geht es über den Tresen des Don Chicago.

Ob Wechselbüro, Handy­shop oder Schlepper: Die Flüchtenden sind gut fürs Geschäft. Bevor sie ihr Geld ausgeben können, geht es über den Tresen des Don Chicago.

Wenn in unserer Freiwilligengruppe über Slavko gesprochen wird, wird oft geseufzt, manchmal geschmunzelt. Meistens geht es darum, wie viel Kohle er wohl macht. Es sind sich alle einig, dass er profitiert. Spätestens seit er zwei Freiwilligen zum Abschluss je ein Fläschchen BlackXS by Paco Rabane geschenkt hat. Western Union, der weltweite Leader im Geldtransfer, nimmt von Land zu Land unterschiedliche Gebühren. Bei 100 Franken aus der Schweiz nach Serbien schlägt Western Union 21 Franken Gebühren drauf. Von Deutschland aus fallen bei 100 Franken (87 Euro) 9 Franken Gebühr an. Slavko sagt, viel bleibe von dem Geld nicht bei ihm hängen. Slavko sagt, nur zirka zehn Prozent der Gebühren gingen an ihn. Western Union gibt es in jeder Poststelle, in fast jeder Bank, in unzähligen nicht ganz so schmierigen Lokalen. An 980 Orten in Belgrad. Ist es nicht das Geschäft seines Lebens, dass im Don Chicago all diese Transfers stattfinden? «Ein paar serbische Kunden hab ich verloren. Ich hab etwas verloren und dafür auch etwas bekommen», weicht Slavko bei der ersten Frage nach seinen Einkünften aus. Beim zweiten Mal Nachfragen steigert er sich in einen Ausraster über die niedrige Rente seiner Mutter. Surprise 401/17


Beim dritten Mal gibt er zu, dass er profitiert, und nennt den Gewinn des letzten Monats. Slavko, der gutherzige Teddybär vom Don Chicago, verdiente im Februar das Doppelte des serbischen Durch­ schnittlohns – aber er müsse ja auch für einen neunköpfigen Haushalt aufkommen, schiebt er noch nach. Geldwäsche mit 70 Euro? In letzter Zeit werden mehr und mehr Freiwillige von Western Union für das Senden und Empfangen von Geld gesperrt. Von Western Union Serbien gehen die Sperrungen nicht aus. «Für uns ist es nur unüblich, dass der eigentliche Geldempfänger eine Drittperson ist», sagt mir der Regionalmanager von Western Union in Belgrad. Slavko muss die Freiwilligen seit Kurzem Zusatzformulare ausfüllen lassen, in Colorado bestehe Verdacht auf Geldwäscherei. Slavko setzt zur Tirade an:

«Trump! Trump! Western Union blockiert die Leute seit Trump. Und diese Formulare: ‹What is your relationship to the sender?› Wenn ich ein Freiwilliger wäre, würd ich da ‹Mistress› schreiben. Die haben Angst, dass hier Geldwäsche betrieben wird! Wer betreibt schon Geldwäsche mit 70 Euro? Damit startet man nicht im Drogenhandel durch. Solche Beträge braucht man fürs Essen. Aber das geht nicht gegen die Flüchtenden, das geht gegen mich und mein Geschäft.» Ach, Slavko – das geht gegen dich? Falls der absurde Geldfluss wegen den Sperrungen bald versiegt, leiden die, die auf 70 Euro fürs Nötigste angewiesen sind, mehr als der Teddybär in Trainerhosen. Slavko stimmt zu, wenn man ihm das direkt so sagt. PS: Am Freitag, 5. Mai schickte mir Slavko, noch vor allen anderen, einen Artikel aus einer serbischen Boulevardzeitung. Die serbische Regierung werde die

Baracken innert 20 Tagen räumen und die Flüchtenden aus der Stadt bringen. «I don’t know where they should go!», schrieb Slavko. Am frühen Morgen des 11. Mai räumten Regierungsbeamte die Baracken, die Hochhäusern und Shoppingzentren weichen sollen. Die rund 1200 Bewohner der Baracken, unter ihnen viele Kinder und Minderjährige, wurden in Lager gebracht. NGOs empfehlen den Flüchtenden, nicht nach Belgrad zurückzukehren, da ihnen sonst die illegale Abschiebung nach Mazedonien droht. Slavkos fragiles Geschäftsmodell ist also zusammengebrochen. Benjamin von Wyl ist Journalist und Autor. Er ist mehrmals als Frei­­­williger auf den Balkan gereist. Mittlerweile ist auch sein Name für Geld­­­­transfers gesperrt. Der Fotograf Abdul Saboor floh aus Afghanistan und steckt derzeit in Serbien fest.

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Ein Setting, das Scheitern zulässt: Morgenkonferenz im Atelier Plus.

Hochbegabt – na und? Schule  In einem speziellen Schulzimmer im Kanton Schwyz werden hochbegabte Schüler gefördert. Das Wichtigste dabei: viel Zeit und die Freiheit, scheitern zu dürfen. Text Matthias von Wartburg Fotos Gabi Vogt /  13 Photo

Schulhaus Sonnegg in Arth, Kanton Schwyz. Im ersten Stock streckt einem Albert Einstein die Zunge entgegen. «Er erforschte die Zeit und den Raum», steht unter der Bleistiftzeichnung an der Tür des Atelier Plus. Im Klassenzimmer hängen acht weisse Labormäntelchen an einer Stange. Auf dem Labortisch stehen Reagenzgläser, Trichter, Flaschen, Pipetten und Petrischalen. Weiter hinten ein Aquarium, die Schülerpulte sind zu vier Arbeitsstationen zusammengestellt, darauf Laptops, Mikroskope und Lupen. Im Atelier Plus werden hochbegabte Kinder gefördert. Jede Woche verlassen sie an einem Vormittag ihre Regel16

klasse, streifen die Labormäntel über und werden zu kleinen Forscherinnen und Forschern. Das Förderprogramm besteht seit zehn Jahren. Es ist ein Pionierprojekt. 08.01 Uhr, die ersten Schüler betreten den Raum. Jonas, elf Jahre alt, packt seinen Zauberwürfel mit den verschiedenfarbigen Flächen aus, drehen, schrauben, drehen, schrauben, kurzes Innehalten – drehen, schrauben. «Ich kann ihn in 38 Sekunden lösen. Der Weltrekord liegt bei 4 Sekunden.» Jonas will einen neuen Zauberwürfel entwickeln. «Dafür werde ich das System eines älteren Würfels mit dem Innenleben des neuesten Exemplars kombinieren.» Surprise 401/17


Hochbegabte Kinder als solche überhaupt zu erkennen, ist die grosse Herausforderung. Noch vor zehn Jahren galt: Ab einem IQ von 130 gilt ein Kind als hochbegabt. «Von dieser Definition sind wir längst abgekommen», sagt ­Victor Müller-Oppliger, der an der Fachhochschule Nordwestschweiz den Masterstudiengang Begabungsförderung leitet und Lehrerinnen und Lehrer zum Thema Hoch­begabung weiterbildet. «Der klassische IQ-Test greift zu kurz. Er verengt die Hochbegabung auf eine akademische Intelligenz. Dabei gibt es zum Beispiel auch musikalische, gestaltende, soziale und kreative Begabungen, die sich mit IQ-Tests nicht erfassen lassen», sagt Müller-Oppliger. Die derzeit in der Wissenschaft anerkannte Definition von Hochbegabung bestehe aus verschiedenen Aspekten: «Hochbegabung wird definiert als Möglichkeit zu Hochleistungen, die im Vergleich zu Gleichaltrigen durch Exzellenz, Seltenheit, Produktivität, Demonstrierbarkeit und besonderen Wert auffallen.» Im Atelier Plus bittet Thomas Berset die Schüler zur morgendlichen Konferenz, die Kinder sprechen über den Stand ihrer Forschung. Der neunjährige Jeremia beschäftigt sich momentan mit Salzwasserkrebsen. Die Tierchen sind nur wenige Millimeter gross, sie zu untersuchen braucht Geduld und technische Hilfsmittel. Jeremia präsentiert ein stark vergrössertes Foto. «Ich habe diese Härchen hier entdeckt. Die haben wir vorher noch nie gesehen. Wir vermuten, dass nur die Männchen solche Härchen am Körperende haben.» – «Das wäre natürlich spannend», sagt der elfjährige Karol, «das wäre ein weiteres Merkmal für die Geschlechterunterscheidung.» Förderprogramme für Hochbegabte gibt es längst nicht an jeder Schweizer Schule. Hochbegabte Kinder aber gibt es überall. Zehn bis 15 Prozent aller Kinder hätten das Potenzial, mehr zu Thomas Berset, Lehrer leisten, sagt Experte Müller-Oppliger, und ihre Förderung sei in der Schweiz nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Obwohl die Kosten überschaubar sind: Im Zwölf-Millionen-­Budget der Schule macht das Atelier Plus gerade einmal 40 000 Franken aus.

«Die Kinder sollen mit ihrer Forschung auch mal in eine Sackgasse geraten. Solche Prozesse sind enorm lehrreich.»

Für ethische Fragen sensibilisieren «Es ist grobfahrlässig, dass wir nicht besser hinschauen», sagt Müller-Oppliger. Einerseits sei es problematisch für hochbegabte Kinder, die sich nicht verstanden fühlen und leiden. Und für die Volkswirtschaft sei es eine verpasste Chance. «Unsere Gesellschaft ist auf diese Begabungen dringend angewiesen, unter anderem zum Erhalt unserer Wohlfahrt. Die Schweiz hat keine Bodenschätze, unsere einzigen Ressourcen sind Wissen und Expertise, For-

Zwerge auf den Schultern von Riesen: Blick ins Schulzimmer.

schung und Entwicklung. Und dafür sind Hochbegabte nötig, die mit ihren Talenten Innovationen vorantreiben.» Dabei sei es wichtig, dass Hochbegabte schon früh für ethische Fragen sensibilisiert würden. «Sie sollen ihre Fähigkeiten nicht nur egoistisch einsetzen, sondern sich auch ihrer sozialen Verantwortung bewusst sein», sagt Müller-Oppliger. Aber längst nicht jede hochbegabte Person wird automatisch zur Spitzenverdienerin oder zum Top-Wissenschaftler. «Es gibt zum Beispiel hochbegabte Handwerker und Wissenschaftlerinnen, die in weniger angesehenen oder schlecht finanzierten Bereichen forschen und arbeiten. Genauso wie hochbegabte Musikerinnen und andere Künstler, bei denen die Anerkennung und damit der Erfolg ausbleiben.» Im Atelier Plus meldet sich der neunjährige Noel zu Wort: «Wir haben uns gefragt: Können Salzwasserkrebse riechen? Wir haben einen Versuch gemacht, in dem wir acht Krebse und Algenfutter in eine Petrischale gegeben haben. Unsere Vermutung war, dass alle acht zum Futter schwimmen. Das war dann aber nicht der Fall. Wir fanden

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Krebse zeichnen und Beobachtungen notieren: Die Kinder nehmen ihre Forschung ernst.

heraus, dass das Licht einen Einfluss hat. Die Salzwasserkrebse schwimmen weg vom Sonnenlicht.» Noel erhält den Auftrag, das Experiment mit der doppelten Versuchszeit zu wiederholen. «Die Schüler sollen lernen, sich in andere Projekte hineinzudenken und konstruktive Kritik anzubringen», sagt Thomas Berset. Wer darf zuerst zum Futter? Berset, ursprünglich Primarlehrer, promovierte später in Biologie und arbeitete in der Forschung. Neben seiner Tätigkeit im Atelier Plus betreibt er Lernforschung und entwickelt Lehrmittel. «Die hochbegabten Kinder sind sozusagen Teil meines Forschungsprojektes. Habe ich eine neue Idee für ein Lernmittel, teste ich sie hier bei meinen Schülern», sagt er. Der grösste Unterschied zum Unterricht in der Regelklasse ist die Zeit: «Wir können uns viel länger einem Thema widmen», sagt Berset. Dieses Setting lässt auch zu, dass die Kinder scheitern, dass sie mit ihrer Forschung in eine Sackgasse geraten. Solche Prozesse brauchen Zeit, sind aber enorm lehrreich.» 18

Derweil werkeln die Schüler im Atelier Plus in Zweierteams an ihren Aufgaben. Es sind ausschliesslich Knaben, das einzige Mädchen in der Gruppe ist heute nicht da. Der elfjährige Karol programmiert eine Website. Zusammen mit einem anderen Schüler hat er im Tierpark stundenlang die Fütterung von Steinböcken beobachtet und verhaltensbiologisch untersucht. Wer darf zuerst zum Futter? Wer hat die meisten Rechte in der Gruppe? Aus den Erkenntnissen haben die Schüler einen Fragebogen erstellt. Künftig können Schüler im Tierpark via Smartphone die Website von Karol aufrufen und so ein interaktives Lehrmittel nutzen. Für die Schüler sei es enorm wichtig, dass ihre Forschung produktorientiert sei, sagt Lehrer Berset. Auch er selbst hat den Anspruch, dass sein Unterricht Produkte erzeugt. Aus den Experimenten seiner Schüler entstehen immer wieder ganze Forschungskisten für Regelklassen. «Es braucht zum Beispiel sehr viel Aufwand, bis man für die ganze Klasse Salzwasserkrebse züchten kann, das wäre einer Lehrperson in der Regelklasse nicht zumutbar. Indem ich diese Projekte samt Surprise 401/17


«Unsere Gesellschaft ist auf diese Begabungen dringend angewiesen, unter anderem zum Erhalt unserer Wohlfahrt.» Victor Müller-Oppliger, Professor an der Pädagogischen Hochschule der FHNW

Wie hat man gemerkt, dass du hochbegabt bist? Ich konnte im Kindergarten schon plus- und mal-rechnen. Noel, 9 Jahre alt

Was möchtest du einmal werden? Anwalt oder Bank­ direktor. Am liebsten aber Millionär.
 Karol, 11 Jahre alt

Beschrieb und Material an Regelklassen verteile, können auch diese von der Hochbegabtenförderung profitieren.» Schön, aber anstrengend Was genau unterscheidet hochbegabte Schüler von Schülern seiner Regelklasse – neben der hohen Begabung? «In erster Linie sind es ganz normale Kinder. Was mir aber auffällt: Sie sind alle enorm selbstbewusst. Ich hatte noch nie ein Kind, das sagte: Das traue ich mir jetzt nicht zu. Dazu kommt, dass alle sehr interessiert sind. Einmal hat ein Schüler ein Vogelnest vom Schulweg mitgebracht. Das haben wir dann während vier Stunden untersucht. Da hat keiner gesagt, dass es ihn anöde.» 11.30 Uhr, der Unterricht ist aus, die Kinder gehen nach Hause. Noel wohnt mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem Einfamilienhaus in Arth. Cornelia Hohl, Noels Mutter, steht in der Küche. «Noel war schon immer sehr interessiert, in den verschiedensten Bereichen. Wir mussten ihm viel erklären.» Noel sei den anderen Kindern stets weit voraus gewesen. Noch vor dem Kindergarten konnte er rechnen und schreiben oder das Alphabet auf-

Wie ist es, hochbegabt zu sein? Mir gefällt das gut. Man ist anders als die anderen und darf ins Atelier Plus gehen. Jeremia, 9 Jahre alt

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Vertieft in der Materie: Schüler Jeremia und Lehrer Berset.

sagen. Das sei schön – und anstrengend, ergänzt Christoph Hohl: «Nicola, sein kleiner Bruder, kann sich gut selbst beschäftigen, Noel fällt das schwerer.» «Ein ziemlicher Knorz» Cornelia Hohl arbeitet als Flight-Attendant und ist immer wieder über längere Zeit zuhause. Christoph Hohl ist Hausmann, daneben betreibt er von zuhause aus eine kleine Handelsfirma. Beide haben somit Zeit, ihren Sohn zu fördern und seinen Wissensdurst zu stillen. Vor der Einschulung wurde Noel abgeklärt. Ergebnis: hochbegabt. Noel geht seit der ersten Klasse ins Atelier Plus. Wie reagierte das Umfeld? «Was Noels Hochbegabung betrifft, haben wir noch nie negative Erfahrungen gemacht. Wir machen auch keine grosse Sache daraus», sagt Cornelia Hohl. Trotzdem wollen Hohls ihren Sohn bestmöglich fördern. Der Vater büffelt mit ihm Mathematik auf hohem Niveau oder übt für die Tests in den anderen Fächern. «Es ist ja nicht so, dass Noel sich die Sachen 20

einmal anschaut und sofort alles kann. Er versteht vielleicht die Zusammenhänge besser, aber auch er muss lernen. Manchmal ist das auch ein ziemlicher Knorz», sagt Christoph Hohl. «Hochbegabte Kinder müssen auch lernen zu scheitern», sagt Victor Müller-Oppliger. Früher oder später kommt der Punkt, an dem es nicht einfach weitergeht. «Irgendwann kann hohe Leistung nur mit harter Arbeit erreicht werden. Dazu gehören immer auch Misserfolge. Nur wenn ein Kind früh genug auf seinem Niveau herausgefordert wird, lernt es, dass Scheitern dazugehört.» Kann Noel überhaupt noch Kind sein? «Definitiv, zum Kindsein braucht er keine Förderung. Er liebt Sport oder blödelt rum, was Kinder halt so machen», sagt Cornelia Hohl. «Uns ist aber auch wichtig, dass er sich auch neben der Schule engagiert und Kinder trifft, im Chor oder im Fussball.» Noel, der bis jetzt zugehört hat, schaltet sich ein: «Den letzten Fussballmatch hat unser Team acht zu eins gewonnen. Ich habe sieben Tore geschossen!» Surprise 401/17


«Die meisten Eltern fürchten sich vor der Diagnose» Schule  Das Thema Hochbegabung ist in der Schweiz noch immer ein Tabu, sagt Giselle

Reimann. Sie führt an der Uni Basel Abklärungen von Hochbegabten durch. Interview  Matthias von Wartburg

Frau Reimann, wie merke ich, dass mein Kind hochbegabt ist?
 Sehr häufig interessieren sich hochbegabte Kinder sehr stark für verschiedene Themen. Sie haben eine sehr gute Auffassungsgabe und können erstaunlich schnell Schlüsse ziehen. Es gibt aber auch hochbegabte Kinder, die nach aussen sehr langsam wirken. Weil sie sehr viel denken und viel überlegen, bevor sie überhaupt etwas sagen. Gerade bei den sogenannten Minderleistern, bei Kindern, die ihr Potenzial nicht zeigen, keine guten Noten schreiben, sich im Unterricht nicht melden, ist es teilweise nicht auf den ersten Blick erkennbar, dass sie hochbegabt sind. Wie schlimm ist es, wenn hochbegabte Kinder nicht als solche erkannt werden? Das kann problematisch sein. Bei uns landen häufig Familien, bei denen dies zu Schwierigkeiten geführt hat. Wenn ein Kind permanent auf einem Niveau arbeitet, das eigentlich viel zu tief ist, kann es nicht stolz sein auf das, was es macht, dann ist es gelangweilt und enttäuscht von den eigenen Leistungen. Das kann sich negativ auf den Selbstwert auswirken, und in den schlimmen Fällen können Verhaltensauffälligkeiten entstehen. Wie reagieren Eltern auf die Diagnose «hochbegabt»?

«In der Schweiz möchte man, dass alle gleich behandelt werden. Das ist ein schöner Gedanke, aber so wird man nicht allen gerecht.» Giselle Reimann ist stellver­ tretende Leiterin des Zentrums für Entwicklungs- und Per­sön­lichkeitspsychologie an der Universität Basel und unter an­derem auf die Abklärung und Beratung von Hochbegabten spezialisiert.

Viele glauben, dass Eltern beweisen wollen, dass ihr Kind hochbegabt ist und dann ganz stolz sind. Tatsächlich fürchten sich aber die meisten vor dieser Diagnose. Sie haben Angst davor, an die Schule zu gelangen und zu sagen: «Mein Kind hat eine hohe Begabung und braucht eine spezielle Förderung.» Es ist wirklich immer noch ein Tabu. Einzelne Eltern halten die Diagnose dann auch geheim. Sie machen zwar eine Abklärung, behalten das Resultat aber für sich. So etwas tun Eltern? Ja, das kommt vor. Ich bedaure das sehr. Bei einer Abklärung geht es schliesslich nicht nur darum, die Hochbegabung festzustellen, sondern vor allem darum, herauszufinden, wie der Alltag des Kindes verbessert werden kann. Haben wir Schweizer ein Problem mit herausragenden Leistungen? Sind wir lieber Durchschnitt?
 Durchaus. Viel Forschung zum Thema Hoch­begabung kommt aus dem amerikanischen Raum, und dort ist es viel selbstverständlicher, dass Leistungen nach oben ausschlagen. Bei uns sieht man das halt nicht so gerne. In der Schweiz möchte man, dass alle gleich behandelt werden. Das ist im Prinzip ja auch ein schöner Gedanke, aber so wird man nicht allen gerecht.

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«Du bist ja der Heiland» Florian Burkhardt  Der Surprise-Kolumnist modelte einst für Gucci,

heute ist er IV-Rentner. In seinem Buch «Das Kind meiner Mutter» schreibt er seine eigene Geschichte neu. TEXT  DIANA FREI

Florian, du hast ein autobiografisches Buch geschrieben. Es steht Roman drauf. Ist es ein Roman? Florian Burkhardt: Regisseur Marcel Gisler hat ja einen Dokumentarfilm über mein Leben gemacht, «Electroboy». Danach schrieb mir ein Literaturagent, meine Kindheit habe literarisches Potenzial, ich solle ein Buch schreiben. Für mich war klar, dass ich ein Buch in Romanform, nicht als Biografie schreiben würde. Ich wollte verdichten, Dinge weglassen, verschieben. Eine Autobiografie müsste in meinen Augen sehr korrekt sein. Aber ich wollte unbedingt aus dem Kind heraus erzählen. Auch die Sprache ist zu Beginn des Buchs recht einfach, es ist die Sprache des Kindes. Ich lasse sie erst mit dem Kind zusammen heranwachsen. Es ist keine Abrechnung, keine Rache, keine Selbsttherapie? Mein Vater hatte das Gefühl, es sei die grosse Abrechnung, nachdem er den Klappentext gelesen hatte. Aber für mich ist das kein Thema. Denn meine Eltern hatten sich zuvor 22

bereits selbst in die Öffentlichkeit begeben. Marcel Gisler hat sie für «Electroboy» angefragt, und ich sagte zu ihnen: Macht nur mit, wenn ihr Lust dazu habt. Am Schluss waren sie sehr gern dabei und haben damit ihre Geschichte zu einem Allgemeingut gemacht. Das merkt man daran, wie die Leute über den Film und jetzt auch über das Buch reden. Da geht es nicht um die arme Frau Burkhardt, sondern Frau Burkhardt ist eine Figur in einer Geschichte geworden. Es wird analysiert, in welchem Moment sie im Film eine Perücke trägt. Nach dem Film gab es keine Reaktion meiner Eltern. Ich war daher der Auffassung, das Ganze funktioniere nun als Geschichte. Die kindliche Wahrnehmung wird im Buch zur Erzähltechnik. Vieles ist wie unter der Lupe beobachtet. Dafür werden andere grosse Stationen sehr pauschal beschrieben, mehrere Jahre und Karrieren werden in einem halben Satz zusammengefasst, und vieles wird lokal und zeitlich nicht ganz genau verortet. Wieso diese Gewichtung? Surprise 401/17


Ich gebe demjenigen eine Sprache, der ich damals war. Ich hörte beim Schreiben Musik, die mir half, in den kleinen Florian einzutauchen. Ich ging intuitiv vor und arbeitete sehr stark mit Bildern – zum Beispiel mit dem Wald, der zwischen meinen Eltern und der Aussenwelt stand. Oder mit der Baustelle vor dem Haus, die so präsent war. Das, was für mich damals wichtig war, steht im Vordergrund. Und nicht das, was für mich nun im Nachhinein von einer analytischen Ebene aus wichtig ist.

«Mir wurde das Gefühl vermittelt: Ich bin so gigantisch, dass für mich sogar Leben weichen muss.»

Einer von zwei älteren Brüdern ist vor deiner Geburt bei einem Unfall ums Leben gekommen – dein Vater war der Verursacher. Mit dem Spruch auf dem Grabstein «Geboren, um zu sterben. Gestorben, um zu leben» machst du die Verknüpfung zu dir selbst: «Tobias lag unter der Erde, und ich wurde gezeugt.» Lastete dieser Grabspruch in deiner Kindheit tatsächlich auf dir, oder hast du ihn als Mittel benutzt, um die Geschichte erzählen zu können? Zum einen ging mein Schulweg am Grab vorbei, was schon mal sehr bedrückend war. Und das gerahmte Foto des Bruders stand bei uns zuFlorian Burkhardt hause herum. Der tote Bruder war so omnipräsent. Ich habe mich aber nicht sehr intensiv mit seinem Unfalltod befasst. Mir wurde gesagt: «Er musste gehen, damit du kommen konntest.» Damit wurde mir ja indirekt die Schuld an seinem Tod gegeben. Mir wurde das Gefühl vermittelt: Ich bin so gigantisch, dass für mich sogar Leben weichen muss. Der Grabspruch hat sich einfach wunderbar angeboten, das zu beschreiben.

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Zuerst stirbt auf sehr schicksalhafte Weise ein Kind. Das gibt dir als Ersatzkind eine Last mit auf den Weg. Jetzt erzählst du die Geschichte in einem Buch nach. Denkbar wäre, dass eure Familie daran nun doch noch zugrunde geht. Eure Familiengeschichte hat fast etwas von einer griechischen Tragödie. Empfindest du das auch so? Unsere Familiengeschichte hat für mich tatsächlich stark mit Schicksal zu tun. Für meine Eltern dagegen geht es um Schuld. Für mich geht es nicht um ein Schulddenken. Für mich geht es nicht um den Unfalltod. Für meinen katholischen Vater schon. Für ihn ist das irdische Leben ein Abbüssen. Wie äussert sich deine Angststörung? Eine generelle Angststörung hast du, wenn du irrationale Ängste hast. Du hast immer das Gefühl, du stirbst. Zum Beispiel, wenn du in einen Bus steigst. Das ist irrational, ein Bus wird als ungefährlich eingestuft. Ängste vor allem Möglichen. Plus eine soziale Phobie. Ich sitze jetzt hier in einem Café, aber ich nehme drei verschiedene Medikamente – Psychopharmaka, die nicht schwach sind. Und

1 Erstkommunion, 1982 2 Das Grab des Bruders, 1973 3 Daheim in Horw, 1985 4 Rhäzüns, 1995 5 London, 1997 Alle Bilder: © Florian Burkhardt

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«Unsere Familiengeschichte hat für mich stark mit Schicksal zu tun. Für meine Eltern dagegen geht es um Schuld.» Florian Burkhardt

und sagten, ich solle ihnen schriftlich Fragen stellen. Auch mein Bruder ist froh, dass nun endlich kommuniziert wird.

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ich kann alles nur sehr dosiert machen. Mein Annahmelimit ist wahnsinnig tief. Ich ging ein halbes Jahr lang nicht aus dem Haus. Das kann man schon mit den irrationalen Ängsten meiner Mutter erklären. Mir wurde ja beigebracht, dass alles eine Gefahr ist, bereits Velofahren. Selbst Musik. Menschen sowieso. Wenn man nicht wahnsinnig aufpasst, sei die Welt etwas sehr Gefährliches: Das ist ja eine ganz seltsame Message. Damit behielt mich meine Mutter in der Position des Kindes. Manchmal hatte ich das Gefühl, am liebsten wäre ihr gewesen, sie könnte das Kind konservieren. Vielleicht im Grunde das Kind, das sie verloren hat. Wie haben die Eltern auf das Buch reagiert? Ich habe erst gerade von meiner Mutter eine E-Mail bekommen, die lautet: «Danke für deine Ehrlichkeit.» Mein Vater war am Anfang wahnsinnig hysterisch, als er den Klappentext gelesen hatte. Er zitterte und hatte das Gefühl, das sei nun die grosse Abrechnung. Ich habe meinem Vater dann erklärt, worum es in diesem Buch geht. Da war er beruhigt und sagte: «Wie schön. Gut zu wissen.» Dann kam mein Interview mit dem Blick heraus, da stand: «Autor Florian Burkhardt über die Hölle seiner Jugend». Da ging das Zittern wieder los. Aber irgendwann zeigten sich meine Eltern bereit für eine Konfrontation 24

Im Epilog steht: Ich liebe meine Eltern und meinen Bruder. Stimmt das? Ja. Ich verstehe sie auch. Sie kommen aus dem Weltkrieg, sind völlig anders erzogen worden. Sie waren nicht fähig, mit der Zeit mitzuwachsen. An Liebe und Fürsorge hat es wirklich nie gemangelt. Sie haben sich einfach pädagogisch falsch verhalten. Sie wollten das, was sie sich für ihr Leben vorstellten, über mich stülpen, mitsamt ihren Ideologien. Aber ich kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie es böswillig gemacht haben. Speziell war dabei sicher deine Rolle als Ersatzkind. Ja, du bist ja der Heiland. Du bist als Weltretter geboren worden. Du musst konserviert und geschützt werden. Wie ein König. Meine Mutter war meine Garde. Und das ist für ein Kind sehr ungesund. Aber heute ist ja manches Kind in den Augen seiner Eltern ein Künstler und ein Wunderkind. Als ich in Berlin wohnte, habe ich das im Stadtteil Prenzlauer Berg schon auch beobachtet. Die Kinder sind tendenziell alle ein Projekt, sie sind der Lebenssinn. Viele finden den sonst nicht mehr, man ist auch nicht mehr religiös. Dann verewigst du dich halt, indem du Nachwuchs auf die Welt stellst und den wahnsinnig überbehütest. Ich sehe die Kinder mit dem Helm herumlaufen. Das erinnert mich schon an meine eigene Kindheit. Auch dieser konzeptuelle Ansatz. Da schrillen bei mir die Alarmglocken.

Florian Burkhardt: «Das Kind meiner Mutter», Wörterseh Verlag 2017

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Illustr ation: chi Lui Wong

Existenzielle Gratwanderung Buch  «Hier Selbst» von Forest-Tardi

irrlichtert durch die absurden Abenteuer eines paranoiden Eigenbrötlers.

Bild: zvg

Was für eine bizarre Ausgangslage! Arthur Selbst lebt auf den Mauern von Mornemont, seines durch zahllose Prozesse verlorenen und zerstückelten Familienbesitzes. Die neuen Bewohner haben die Grundstücke, er die Mauern. Und mit diesen die Schlüsselgewalt über alle Gittertore. Davon lebt er, denn ohne ihn kommt keiner hinein oder hinaus, und von den Gebührengroschen bezahlt er die Anwälte, die ihn schamlos belügen, vertrösten und ausbeuten. Bei Wind und Wetter hetzt Selbst über die schmalen Mauergrate zwischen den Toren, ständig in Selbstgesprächen und von Angstvisionen geplagt. Tagalbträume von endlosem Türglockenläuten, von Hunden und Stürzen, von Scherben auf den Mauern und von Krankheiten, die ihn seiner einzigen Einnahmequelle berauben. Sein Zuhause ist ein schmales Schilderhäuschen, kaum doppelt so breit wie die Mauer, auf der es steht, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und der Herd draussen vor der Hintertür. Nahrungsmittel erhält er per Schiff, denn nur auf der Hafenmole darf er den Boden betreten – dort und auf dem Friedhof. So ein Leben allein ist schon eine existenzielle Gratwanderung, doch da ist auch noch Julie, die er durch ein Fenster

nackt gesehen hat, die flatterhafte Julie, die ihn um den Verstand bringt. Und als Selbst und Mornemont auch noch ins Visier des skrupellos um den Erhalt seiner Macht ringenden Staats­ präsidenten geraten, kommt Arthur Selbsts prekäre Welt endgültig unter die Räder, und das Geschehen steigert sich zum furiosen Finale. Zwei Grossmeister des französischen Comics haben sich in dieser Graphic Novel, die bereits 1979 in Fortsetzungen erschien und jetzt zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt, zusammengefunden: Jean-Claude Forest, u.a. der Erfinder der SF-Heldin Barbarella, und Jacques Tardi, bekannt durch die Abenteuer von Adèle Blanc-Sec und vor allem seine Aufarbeitungen der beiden Weltkriege. Eine kongeniale Verbindung, in der das Absurde der Storyline und Arthur Selbsts paranoide Kopfgeburten in den künstlerisch beeindruckenden Zeichnungen von Tardi, in denen das Reale und das Surreale nahtlos ineinanderfliessen, wie in einem Stop-Motion-Film sichtbar werden. Ein meisterlich satirischer Beitrag zu einer Comédie humaine, deren tragikomischer Held nicht umsonst so bezeichnend freudianisch «Selbst» heisst. Christopher Zimmer

Forest-Tardi: «Hier Selbst.», Edition Moderne 2016, CHF 36.90

Piatto forte

Die Pasta der Sarden «Fregula» oder «Fregola Sarda» heisst eine wunderbare Pasta-Spezialität aus Sardinien. Wie für italienische Pasta üblich, wird sie aus Hartweizen gemacht, welcher vor allem südlich der Alpen gedeiht. Fregula sind stecknadelkopfkleine Pastakügelchen, welche nach dem Trocknen im Ofen oder über Feuer gold­gelb geröstet werden. Das ver­leiht ihnen einen verführerischen Röstgeschmack – ein bisschen wie Brotkrumen. Früher wurden die Kügelchen von sardischen Mammas in liebevoller Handarbeit gedreht, heute werden sie mit Maschinen hergestellt. Dennoch gibt es traditionsbewusste Produzenten, welche den typischen Geschmack bewahren wollen und die Fregula mit genügend Zeit und besten Rohstoffen herstellen. Durch die Röstung erhalten die Pastakügelchen auch einen einzigartigen Biss und können wie ein Risotto zubereitet werden: Zuerst 1 bis 1,5 Liter Rindsbouillon herstellen. Wenn Sie keine Musse haben, eigene Bouillon herzustel­len – es würde als Nebenprodukt wunderbares Siedfleisch abgeben –, nehmen Sie einen guten Fonds und nicht die billigsten Würfel. Pro Person 80 gr Fregula in einer Pfanne mit gutem Olivenöl und einer fein gehackten Zwiebel anziehen lassen und grosszügig mit gutem, trockenen Weisswein ablöschen. Nach und nach schöpflöffelweise die heisse Bouillon dazugeben und konstant mit einem Holzlöffel rühren. Damit wird, wie beim Risotto auch, die Stärke herausgearbeitet, was zu dieser wunderbaren Sämigkeit führt. Immer wenn die Bouillon mit der Pasta verkocht ist, wieder nachgiessen, bis die Fregula nach etwa 30 Minuten al dente gekocht sind. Wenn Sie guten Weisswein zum Ablöschen genommen haben, können Sie sich das Rühren mit einigen Schlucken davon verkürzen. Die Pfanne vom Herd nehmen und statt mit Butter grosszügig mit allerbestem Olivenöl abschmecken und etwas fein geriebenen Hartkäse darüber streuen. Für die Sarden ist klar: Nur ein reifer, sardischer Pecorino ist würdig genug, diese Pasta zu krönen.

TOM WIEDERKEHR schreibt mit Genuss über häufig Gegessenes und noch weitgehend Unentdecktes.

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Bild(1): zvg, Bild(2): ZVG, Bild(3): Atelier Eidenbenz, Basel. Hanro-Sammlung, Archäologie und Museum Baselland, Bild(4): Daniela Kaiser, Hotel Pyramide (In and Out of Translation), 2015/2016, Bild(5): ZVG

Veranstaltungen Basel Was für News: «Fakten, Daten, Lügen – welchen Informationen kann ich trauen?», 23. Juni, 13.30 bis 17.15 Uhr, Juristische Fakultät der Universität Basel, Peter Merian-Weg 8, Basel, Anmeldung bis zum 15. Juni an info@fairmedia.ch oder Fairmedia, Murbacherstrasse 34, 4056 Basel, Tel. 061 383 78 74 www.fairmedia.ch Eine seltsame Diskussion über die Glaubwürdigkeit der Medien hat sich in den letzten Monaten aufgetan, und wir mögen die bekannten Schlagworte dazu gar nicht wiederholen. Eigentlich ging es ja mal darum, mittels Journalismus Themen in die öffentliche Diskussion zu stellen und gesellschaftliche Zustände kritisch zu durchleuchten, und es gibt doch immer noch Leute, die die Medien als Pfeiler der Demokratie verstehen und die sich um Objektivität und Einordnung bemühen. Eigentlich mutet es seltsam an, dass es nun neu einen Verein Fairmedia geben muss, der Leuten hilft, sich zu wehren, wenn sie Opfer «medialer Überschreitungen» geworden sind. Der Verein organisiert aber auch Veranstaltungen wie die Tagung zum Thema – jetzt müssen wir es doch hinschreiben – Fake News und Lügenpresse. Mit einem Vortrag von Vinzenz Wyss und einem Podium unter anderem mit Esther Girsberger, Min Li Marti und Hansi Voigt. dif

Basel Mini-Foodfestival: «PostChuchi», Kasernenwiese, bis 16. September. Facebook: Post Chuchi Basel. Auskunft: post-chuchi@gmail.com

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Neben der KaBar ist seit Kurzem die Post-Chuchi installiert. (Es ist der beliebte Postschalter aus der Post-Bar im St. Johann.) Vier Damen aus Syrien, Thailand, Laos und der Schweiz sowie ein Grieche mieten sich hier jeweils einen Tag pro Woche ein: Am Dienstag kocht Sandra Knächt selbstgemachte Wurst mit Beilagen, am Mittwoch gibt es Griechisches vom Grill, am Donnerstag kann die syrische Küche aus Aleppo entdeckt werden, am Freitag gibt es Thailändisches aus dem Norden des Landes und am Samstag Gerichte aus Laos. Somit läuft hier die nächsten Monate ein kleines Foodfestival. dif

Kriens Favoritenschreck:«Stadion Kleinfeld – Friedhof der Favoriten», Mi bis Sa, 14 bis 17 Uhr, So 11 bis 17 Uhr, 20. Mai bis 9. Juli, 27. August bis 29. Oktober, 18. November bis 18. Februar 2018, Museum im Bellpark Kriens, Luzernerstrasse 21, Kriens. www.bellpark.ch

Liestal Schweizer Traumjöbbli: «Forse nella Hanro – vielleicht in der Hanro?», Italienerinnen in der Nachkriegsschweiz, bis 27. August, Museum.BL, Zeughausplatz 28, Liestal. Weitere Austellungen: www.magnetbasel.ch

Als nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz Arbeitskräftemangel herrschte, wurden einige Unternehmen erfinderisch. Sie liessen Prospekte in Italien verteilen: «Forse nella Hanro?», stand da zum Beispiel drauf: «Vielleicht in der Hanro?» Und schon bald stammte ein Drittel aller Näherinnen des Liestaler Textilunternehmens aus Italien. Die Ausstellung im Museum.BL ist Teil der Reihe «Magnet Basel», die Migrationsgeschichten der letzten 100 Jahre dif aufgreift.

Thun Fernweh: «Aller-Retour. Schweizer Fotografie im Wechselspiel zwischen Fernweh und Heimat», bis 13. August, Kunstmuseum Thun, Hofstettenstrasse 14, Thun, www.kunstmuseumthun.ch

LE-GEN-DÄR war die Zeit Mitte der Neunzigerjahre, als der SC Kriens zweimal in die oberste Schweizer Fussballliga aufstieg und sich den Beinamen «Favoritenschreck» verdiente. Jetzt im Museum Bellpark: die eindrücklichen Etappen der Vereinsgeschichte, verortet auf dem sogenannten «Friedhof der Favoriten», wie das Stadion Kleinfeld – Wirkungsfeld des SC Kriens – inoffiziell heisst. Es wird dabei genauso um Schafherden wie um moderne Duschen gehen, es gibt genauso Interviews mit dem ehemaligen Nationaltrainer Paul Wolfisberg und mit Beni Thurnheer zu sehen wie die Fotostrecken von Roger Keller und Niklaus Spoerri. dif

Soll ich bleiben oder gehn? Eine Frage, die man sich auch mit Blick auf die Ferienplanung stellen

kann. Neue Horizonte kann man vom Motorrad aus suchen oder zuhause, indem man in sich kehrt. Das Kunstmuseum Thun lässt sechs Schweizer Fotografen die Heimat erkunden und die Ferne bereisen. Reto Camenisch, David Favrod, Martin Glaus, Yann Gross, Daniela Keiser und Ella Maillart entwerfen mit Kunst- oder Reportagefotos ihre eigenen Erzählformen und bringen uns unterschiedliche Lebenswelten mit nach Hause. An uns ist es nur noch, dafür nach Thun zu reisen. dif

Zürich Glänzt nicht nur: «Pas de Problème!», afroschweizerisches Kulturfestival, 21. Juni bis 8. Juli 2017, Kulturmarkt, Aemtlerstrasse 23, Zürich, www.pasdeprobleme.org

Am afroschweizerischen Festival «Pas de Problème!» zeigt eine Fotoausstellung von Meinrad Schade die Arbeitsbedingungen in Goldminen und eine Theater-Koproduktion aus Burkina Faso und der Schweiz unter dem Titel «Le Prix de l’Or» ein Stück Volkstheater mit Tiefgang. Aber der Goldrausch in Burkino Faso hat in der Realität wenig Berauschendes. Das Programm ist vollgepackt mit Unterhaltung genauso wie mit Politik, Andreas Missbach von Public Eye macht die Einführung der Ausstellung, ein Podiumsgespräch – unter anderem mit dem ehemaligen Direktor der Helvetas Burkino Faso – nimmt den Rohstoffhandel unter die Lupe, und ansonsten wird Zürich-Wiedikon für zwei Wochen zu einer schweizerisch-­ westafrikanischen Ecke mit Bier und Arachides, den Erdnüssen aus Burkino Faso. dif

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Illustration: Sarah Weishaupt

Wörter von Pörtner

Gespenster (3) Die Sozialdemokratie ist im Niedergang begriffen. Niemand, ausser den Schweizer Städtern, will von Sozialdemokraten regiert werden. Dabei haben sie viel geleistet wie den Kapitalis­ mus gezähmt, der die Arbeiter als Wirtschaftsfaktor behandelt, der maximal ausgebeutet werden muss. Damit hat die Sozial­ demokratie nicht nur breiten Bevölkerungsschichten zu einem erträglichen Leben verholfen, sie hat die Institutionen geschaf­ fen und gestärkt, die sich um die Schwachen, Kinder und Rent­ ner, um die Behinderten und die Kranken kümmern. Sie hat die Mächtigen und die Reichen davon überzeugt etwas abzuge­ ben, weil die Geknechteten sonst eines Tages die Geduld verlieren und blutige Revolutionen anzetteln könnten wie einst in Russland und China. Als Nebeneffekt dieser breiten Um­ verteilung – die zäh erkämpft wurde – entstand die Konsum­ gesellschaft. Diese führte wiederum zu wirtschaftlichem Wachstum und mehr Wohlstand für alle sowie zu Abfallbergen und Ressourcenverschleiss. Für die revolutionäre Linke sind die Sozis nichts anders als ein «Revisionistenpack», weil sie mit ihren Reformen den Kapita­ lismus erträglich und die Revolution unnötig gemacht haben. Sie gelten als symbiotischer Teil des kapitalistischen Systems. Das zeigen auch die beiden grossen Sündenfälle der Sozialde­ mokratie jüngeren Datums: Der eine war der sogenannte «dritte Weg», den Tony Blair und Gerhard Schröder einschlugen. Sie setzen einen von der Wirtschaft geforderten radikalen Abbau des Sozialsystems durch, den keine rechte Regierung je geschafft hätte. (Natürlich stemmten sich die Rechten nicht dagegen, als die Linken ihr Programm umsetzten.)

Der zweite Sündenfall war die Anbindung an die EU, ein ur­ sprüng­lich von der Wirtschaft, von den Grosskonzernen gefordertes Konstrukt. Ob zu Recht oder zu Unrecht wird die Sozialdemokratie mit Befürwortung und Unterstützung der EU gleichgesetzt. Das ist Gift an der Wahlurne. Aus einer Ironie des Schicksals heraus identifiziert sich nämlich die inländische, besser gebildete Bevölkerung eher mit rechten «Hände-wegmir-hilft-auch-keiner»-Ideologien und jene, die die Drecks­ arbeit erledigen, sind oft nicht stimmberechtigt und mitunter traditionellen Lebensweisen verpflichtet, bei denen die sozial­ demokratische Toleranz für religiöse, antireligiöse und sexuel­le Minderheiten auf wenig Verständnis stösst. Zudem werden seit Mitte der Achtzigerjahre die sozialen Errun­ genschaften rückgängig gemacht. Das sollte die Sozialdemo­ kratie eigentlich stärken, führte aber zu ihrem Niedergang, was sich in deren Flügelkämpfen zeigt. Die einen wollen sich nach der Mitte ausrichten, um als Partei bedeutend zu bleiben und eigene Leute in der Verwaltung platzieren zu können, auch wenn die eigentlichen Forderungen dabei auf der Strecke blei­ ben. Die anderen wollen ihren Prinzipien treu bleiben, auch wenn sie dabei mit wehenden Fahnen untergehen. Wir werden sie noch vermissen, die gute alte Sozialdemokratie.

Stephan Pōrtner wählt gern Parteien, von denen nicht die Gefahr ausgeht, dass sie je an die Macht kommen.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

02

Hervorragend AG, Bern

03

Lisa Stettler Körpertherapie, Bäch

04

Coop Genossenschaft, Basel

05

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

06

Maya-Recordings, Oberstammheim

07

Scherrer & Partner, Basel

08

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

09

ChemOil Logistics AG, Basel

10

Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

11

Institut und Praxis Colibri, Murten

12

Kaiser Software GmbH, Bern

13

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

14

Rechtsanwalt Peter von Burg, Zürich

15

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

16

Hofstetter Holding AG, Bern

17

Hedi Hauswirth Privat-Pflege, Oetwil am See

18

Echtzeit Verlag, Basel

19

OpenTrack Railway Technology GmbH, Zürich

20

Intercelix AG, Basel

21

Naef Landschaftsarchitekten GmbH, Brugg

22

Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

23

PS: Immotreuhand GmbH, Zürich

24

Iten Immobilien AG, Zug

25

Proitera GmbH, Basel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Das Leben schenkte Marlis Dietiker alles, wovon sie geträumt hatte: eine Familie, Kinder, ein Haus und einen Beruf. Doch beinah alles wurde ihr wieder genommen. Schwere Krankheiten, Gewalt in der Familie, die Trennung von ihrem Mann und später sein Tod liessen die Mutter von drei Kindern allein und gesundheitlich schwer angeschlagen am Existenzminimum zurück. Seit 2007 verkauft Marlis Dietiker in Olten das Surprise Strassenmagazin. Dank dem SurPlus-Programm ist sie bei Krankheit sozial abgesichert. Dies ermöglichte der engagierten Surprise-Verkäuferin die dringend benötigte Herzoperation und die Genesung, was ihr letztlich das Leben rettete.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind #Surprise

Jedes Mal, wenn ich in Thun bin, begegne ich dem freundlichen Fitwi Ghebremeskel mit seinem frohen Lachen bei der Unterführung am Bahnhof. Wir haben ein kleines Gespräch, ich kaufe ihm die neueste Surprise ab und wir wünschen uns einen schönen Tag.

Stadtrundgang

M.-A. Baschy, Bellevue

M. Arnold, Hitzkirch

Nachhall

Sehr selbstsicher hat uns Markus Christen auf diesem nicht alltäglichen Rundgang durch Basel geführt. Ich bin sehr nachdenklich nach Hause gefahren. Hätte am liebsten den vielen Kopfhörer-Natel-Menschen unterwegs seine Geschichte weitererzählt.

Ausgabe 398

Leserbrief

Menschenleben gegeneinander abzuwiegen und nur nach dem Kriterium zu spenden, dass möglichst viele Leben pro Geldeinheit gerettet werden, ist eine zu starke Vereinfachung der komplexen Frage, wie man richtig spendet. Wem nützt es, dank einem Moskitonetz zu überleben, wenn im Gegenzug die Menschenwürde nicht geachtet wird, kein Wasser und Essen verfügbar sind und fehlende Bildung einen Menschen in diesem ewigen Teufelskreis gefangen hält? Tatsächliche Hilfe erreicht man aber nicht nur durch das Spenden in einem Bereich, sie muss übergreifend sein.

Ich kaufe Surprise regelmässig beim gleichen Verkäufer. Ich bin beeindruckt von den Beiträgen, die einerseits sehr gut recherchiert und andererseits in einer träfen Sprache verfasst sind. Ein bisschen «Old-School-Journalism», ohne das irgendwie abwertend zu meinen. Nichts Reisserisches, um Fakten bemüht – so, wie ich es noch gelernt hatte. Ausserdem habe ich am letzten Räbeliechtliumzug der Schule realisiert, dass die Kinder meines Verkäufers zu meinem Sohn in die Schule gehen (nicht die gleiche Klasse, aber das gleiche Schulhaus). Find ich irgendwie cool.

M. Fritschi, Winterthur

Nathalie Siri, über Facebook

Alte Schule

«Die Logik des Helfens»

Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99
 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M +41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
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 Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Chi Lui Wong, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe Markus Forte, Eva Hediger, Abdul Saboor, Gabi Vogt, Matthias von Wartburg, Benjamin von Wyl Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2 Auflage  45 000

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Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsen­dungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinaus­gehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkau­ fenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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Foto: Bodar a

Surprise-Porträt

«Der Zorn kommt ja von irgendwo» «Ich verkaufe seit bald zehn Jahren Surprise. Ruedi, ein anderer Verkäufer, hat mich dazu gebracht. Meinen ersten Tag begann ich vor dem Quader-Center in Chur. Gegen Mittag kam die erste Kundin, und weisst du was? Sie kauft mir noch heute fast jedes Mal ein Heft ab. Ich stamme aus einer jenischen Familie, meine Eltern waren Fahrende. Als ich zwei Tage alt war, kamen Pro Juventute und das Amt und nahmen mich ihnen weg. Ich habe sie nie kennengelernt. Sogar meinen Namen hat man geändert, meine Eltern hiessen Hauser. Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in acht Kinderheimen und über 20 Kliniken. Als einjähriges Kind kam ich in ein Heim für Schwererziehbare, mit fünf in eine Behindertenschule. Das ging immer so weiter, und als ich 13 war, konnte ich immer noch nicht lesen und schreiben. Ich wäre lieber zur Schule gegangen, als in der Werkstatt Schräubchen zu sortieren. Man liess mich nichts machen, traute mir nichts zu. Und das machte mich wütend. Eines Tages verfrachtete man mich in die psychiatrische Anstalt Burghölzli. Ich war gerade einmal 16. Die Behörde behauptete, ich sei gewalttätig und unzurechnungsfähig, obwohl das Gutachten etwas anderes sagte. Später landete ich in der Klinik Waldhaus in Chur, dort konnte ich in der Landwirtschaft arbeiten. Das machte mir Spass. Ich wollte nichts anderes, als Traktor zu fahren und mit den Tieren zu arbeiten. Aber wieder liess mich der Vormund nichts machen. Um es kurz zu machen: Am Ende wurde ich adminis­ trativ verwahrt und landete in der Anstalt Herdern bei Frauenfeld. Der Leiter dort liess öfter mal seine zwei Bluthunde auf uns los – es war die Hölle auf Erden. Schliesslich kam ich dank des Einsatzes von Robert Huber von der jenischen Radgenossenschaft und einem Rechtsanwalt frei. Ich wurde bei meiner Schwester platziert, einer schweren Alkoholikerin. Nun ja, es dauerte nicht lange, und der Vormund versorgte mich wieder, diesmal im Zuchthaus Realta und in der Klinik Beverin im Domleschg. Es sollte meine letzte Station sein, aber auch die schlimmste. Als ich dort einsass, ordnete der Vormund meine Kastration an. Sie kamen zu siebt, alle starke Psychiatriepfleger. Aber ich wehrte mich. Zwei von denen sassen am Ende im Rollstuhl. Beim Amt hiess es immer, ich sei jähzornig. Aber bitte, dieser Zorn kommt ja von irgendwo! Hans Caprez, Redaktor beim Beobachter, und Anwalt Frischknecht holten mich raus. Ich tauchte ab und verbrachte drei Jahre auf einer Alp. Nur die Berge, die Rinder und ich. Bis ich im Nebel 24 Meter in die Tiefe stürzte. Hätte mein Hund nicht 30

Alois Kappeler, 65, verkauft Surprise in der Südostschweiz. Sein Weg führte ihn durch Dutzende Kinderheime, Kliniken und Zucht­ häuser bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Hilfe geholt, wäre ich wohl nicht mehr am Leben. Danach sass ich lange im Rollstuhl, hatte schwere Epilepsieanfälle und war sehr vergesslich. Es dauerte acht Jahre, bis ich wieder einigermassen auf dem Damm war. Natürlich fand mich nach dem Unfall auch die Behörde wieder. Mit dem Beobachter zusammen beantragte ich die Aufhebung der Vormundschaft. Recht bekam ich erst in Strassburg vor dem Menschenrechts-Gerichtshof. Nach all den Misshandlungen, den Elektroschocks, den Zwangsjacken und Schlägen war ich endlich frei. Mit dem Schadenersatz baute ich mir im Luzernischen eine kleine Landwirtschaft auf: zwei Kühe, eine Geiss, ein Traktor und ein Heimetli. Und bald lernte ich an der Dorffasnacht meine Frau kennen, mit der ich jetzt seit bald 25 Jahren zusammen bin. Wir heirateten, ich adoptierte ihre drei Kinder, und wir zogen zusammen. Heute haben wir acht Enkelkinder, und der Sohn macht jetzt den Hof. Natürlich haben wir gute Zeiten und weniger gute, aber das Wichtigste ist: Wir können uns immer vertrauen.» Aufgezeichnet von Amir Ali Surprise 401/17


GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2017! Die Strassenfussball Nati nimmt vom 29.8. bis 5.9. am Homeless World Cup in Oslo teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler auch in diesem Jahr ihren Gegnern zum Handshake original handgemachte Fanschals. Machen Sie mit! Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, am liebsten mit Fransen und – Sie haben es erraten – in Rot und Weiss gehalten. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht! Die Spieler unserer Nati werden den schönsten Schal küren – der Gewinnerin oder dem Gewinner winkt ein attraktiver Überraschungspreis!

Schicken Sie den Schal bis spätestens Freitag, 11. August 2017 an: Surprise | Strassenfussball | Spalentorweg 20 | CH-4051 Basel

ACHTUNG, FERTIG, STRICKEN!


GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN

Porträts der Surprise Verkaufenden in Buchform

Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung.

156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO


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