Surprise 402

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Strassenmagazin Nr. 402 16. Juni bis 29. Juni 2017

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Obdachlosigkeit

In Köln baut Künstler Sven Lüdecke Kleinsthäuser für Arme Seite 14

Bildrausch Basel

Terence Davies’ Kino der Aussenseiter Seite 20

Jane Weaver

Synthetisch mit Seele: Das neue Album «Modern Kosmology» Seite 24

Jesidinnen

Die Frauen der Sonne Vom IS bedrohte Frauen erkämpfen sich eine neue Identität Seite 8


Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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afs.ch


Titelbild: Patrick Tombola

Editorial

Schlüssel zum eigenen Ich Der Kölner Fotograf Sven Lüdecke ist ein Idealist. Er baut Wohnboxen für Obdachlose und gibt ihnen damit ein Dach über dem Kopf. Die ­Dis­kussionen darüber, ob das künstlerischer Unfug sei und das eigentliche Problem ­der Armut ausblende, laufen und sind sicherlich berechtigt. Ihrem Bewohner Andreas aber ermöglicht die Wohnbox eine neue Selbstwahrnehmung: Dass er einen Ort hat, zu dem er einen Schlüssel besitzt, und dass er sein Hab und Gut nicht mehr mit sich herumschleppen muss, hilft ihm, zu sich selbst zu finden. Lesen Sie ab Seite 14, was Wohnen zwischen Idealismus und amtlichen Vorgaben heisst. Für Nadia begann es damit, dass sie sich mit Russ vom Boden ein «N» wie Nadia auf die Hand tätowierte. Das war, als sie sich in ihrer Heimat im Nordirak vor IS-Truppen verstecken musste. Sie stach sich Angaben zu ihrer Person in die Haut, damit man sie identifizieren könnte, wenn sie umgebracht würde. Mit dem «N» gab

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht Absturzrisiko 6 Moumouni ... berichtet

von der Front

8 Jesidinnen

Waffen statt Worte

sich die Teenagerin eine neue Identität: die des Opfers. Mehr als 7000 Frauen und Kinder wurden bisher schätzungsweise im Nordirak vom IS verschleppt, misshandelt, vergewaltigt und weiterverkauft. Und einige greifen nun selbst zur Waffe, um gegen den IS zu kämpfen. Nadia ist eine von ihnen. Es geht nicht bloss um den militärischen Kampf. Aus dem Teenagermädchen ist eine Soldatin geworden, damit sie sich ihr eigenes Ich wieder zurückzuerobern kann. Ihre Geschichte ab Seite 8. Terence Davies macht mit seinen autobiografischen Filmen nicht anderes, als sein eigenes, in der Kindheit erlebtes Leid zu einem Erzählstoff zu machen. Den hat er im Griff, kann ihn bearbeiten, umschreiben, in Szene setzen. Das ist etwas ganz anderes, als seinem Schicksal ausgeliefert zu sein. Mehr zu seinen Filmen am Bildrausch Filmfest Basel Diana Frei Redaktorin ab Seite 20.

14 Obdachlosigkeit Wohnen in

der Kiste

20 Film

Kino der

Aussenseiter

25 Randnotiz

Beautiful Freaks

26 Buch

Kopfopedia 27 Veranstaltungen 28 Surplus

7 Die Sozialzahl

Materielle Entbehrungen

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt 24 Musik

Im Synthie-Kosmos

«Meinen Kindern

soll es gut gehen»

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Aufgelesen

Foto: Jackie Dives

News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

«Wir leben nicht in Wigwams und Iglus» Schauspieler Duane Howard über die US-Filmindustrie: «Hört auf, uns zu stereo­typisieren. Wir sprechen alle unterschiedliche ­Sprachen­.­ Hollywood muss sich bewusst werden, dass auf diesem Kontinent die Weissen die Gäste sind.» Howard wurde 2015 mit dem Blockbuster «The Revenant» bekannt, dem ersten Hollywood-Film seit «Der mit dem Wolf tanzt» (1990), in dem die Rollen der Ureinwohner auch von solchen gespielt werden.

Foto: m. bustamante

Megaphone, Vancouver

Der Gipfel

0,67 US-Dollar

Zwei Jahre lang wohnte Peter, 53, Mitten in Hamburg in einem Zelt. Anfang April schickte das Bezirksamt Mitte ihn und seine Nachbarn plötzlich weg. «Wir räumen die Stadt auf, weil bald G20-Gipfel ist», habe ein Polizist zu ihm gesagt. Die offizielle Begründung ist eine andere: An­ wohner hätten sich beschwert, be­hauptet das Amt. Das könne nicht stimmen, so Peter: «Wir hatten hier nie Probleme mit irgendjemandem.»

kostete noch 2001 eine Rundum-­ Impfung pro Kind in den ärm­s-­­ ten Ländern. Laut der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) hat sich der Preis bis 2014 auf satte 45,59 Dollar erhöht. Als Grund nennt die Organisation die intransparente Preispolitik und das Profit­streben der Pharmaunternehmen. MSF wies kürzlich in den USA das Angebot des Pharmamultis Pfizer zurück, einmalig eine Million Impfdosen gegen Lungenent­ zündung zu spenden. Stattdessen fordert die NGO von Pfizer eine dauerhafte Preisenkung.

Hinz und Kunzt, Hamburg

fiftyfifty, Düsseldorf


Laut der Forbes-Liste 2017 haben 2043 Milliardäre weltweit ein Nettovermögen von insgesamt 7,67 Billionen Dollar. 767 Millionen Menschen leben hingegen laut Weltbank (bezogen auf das Jahr 2013) in extremer Armut, müssen also mit weniger als 1,90 Dollar pro Tag auskommen. Teilt man nun die 7,67 Billionen (Besitz: 0,00003 Prozent der Weltbevölkerung) durch die 767 Millionen (10,7 Prozent der Welt­ bevölkerung), ergibt das eine Summe von genau 10 000. Nimmt man das als Jahreseinkommen, wären dies immerhin etwas mehr als 27 Dollar pro Tag. Für Menschen, die mit weniger als 1,90 Dollar auskommen müssen, wäre das eine Vervierzehnfachung.

Apropos, Salzburg

Geld für Bildung Mehr als 1 Milliarde Euro geben Eltern in Deutschland für die Nachhilfestunden ihres Nachwuchses aus, sagt eine Studie der Hans­Böckler-­Stiftung. Dabei spielt das Einkommen der Eltern eine grosse Rolle: 30 Prozent der Kinder, deren Eltern über das Doppelte des mittleren Einkommens verfügen, bekommen Nachhilfe. Bei Kindern, deren Eltern über weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens verfügen, sind es nur 13 Prozent.

Hempels, Kiel

Gewalt gegen Wohnungslose 128 Fälle von Körperverletzungen, Ver­gewaltigungen, Raubüberfällen und bewaffneten Drohungen wurden im Jahr 2016 an woh­ nungslosen Menschen in Deutschland verübt. In 76 Fällen waren die Täterinnen und Täter selber obdachlos, in 52 Fällen dagegen nicht.

Strassenfeger, Berlin

Vor Gericht

Illustr ation: Prisk a Wenger

Umverteilung

Absturzrisiko Das Letzte, an das sich António B.* noch erinnert, war ein Wortwechsel, kurz, aber heftig. Pedro R., der auf dem Gerüst nebenan arbeitete, drohte ihm Schläge an. Da solle der Kollege sich aber «reichlich überlegen», antwortete António B., ob er «das Echo abkönnte». Danach ging der Heizungs- und Lüftungsmonteur «wieder in die Decke» und setzte die Klimaanlage zusammen. Bis zu den Schultern steckte er zwischen den Balken und Täfern aus Edelholz – es wurde am repräsentablen Sitzungssaal einer Firma gebaut –, als er ganz plötzlich keinen Boden mehr unter den Füssen spürte. Vom weiteren Geschehen hat er nichts mehr mitbekommen. Nur einmal noch, ganz kurz, nahm er die entsetzten Gesichter der Kollegen hoch über sich wahr, als die Sanitäter die Trage anhoben. Dann wurde wieder alles schwarz um ihn her­ ­um, und er wachte erst im Spital langsam auf, als die Narkose abklang und dafür die Schmerzen kamen, im Kopf, am Hals, in den Rippen. Schädelhirntrauma, Trommelfelldefekt rechts, Rippenserienfraktur rechts stellten die Ärzte fest – unter anderem. Anderthalb Monate lag der 45-Jährige im Krankenhaus. Arbeiten kann er heute noch nicht, wie der Opferanwalt sagt. Den Kopf könne sein Mandant nicht mehr nach unten bewegen, das rechte Ohr sei taub, er könne nicht mehr riechen. Er müsse jetzt sehr viel Gedächtnistraining machen und Puzzleteile zusammensetzen «wie im Kindergarten». Pedro R., 34, kann auch heute, als Angeklagter vor dem Bezirksgericht, kein Bedauern formulieren. Für ihn ist das «eindeutig ein Arbeitsunfall» und «Streitereien auf dem Bau sind auch normal». Nebeneinander auf zwei Gerüsten, in einem Abstand von eineinhalb Metern, arbeitete Pedro an der Beleuchtung und António an der Klimaanlage, und zwischen den beiden Portugiesen gab es oft Streit. Zeuge Z. kam in dem Moment in den Raum, als Pedro von seinem Gerüst runterstieg und das benachbarte mit beiden Händen «richtig wegdrückte», sodass es fast zwei Meter wegrollte. António schlug aus viereinhalb Metern Höhe mit dem Kopf auf. Die Staatsanwaltschaft for-

dert wegen vorsätzlicher Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten unbedingt. Pedro, in früheren Jahren schon wegen gefährlicher Körperverletzung, gemeinschaftlichen Raubes sowie Trunkenheit im Verkehr zu Geld-, aber auch Haftstrafen verurteilt, will aus Versehen gegen das Gerüst gestossen sein, als er sich von seinem herunterhangelte. Sein Verteidiger plädiert auf Freispruch, weil der «Sachverhalt nicht hundertprozentig geklärt» sei. Die Richterin verurteilt Pedro zu einem Jahr und acht Monaten unbedingt. Ausserdem muss er seinem Landsmann einen Schadenersatz von 12 000 Franken sowie ein Schmerzensgeld von 1000 Franken bezahlen. Der Zeuge Z. sei «ohne Zweifel glaubwürdig». Beim Verlassen des Gerichtssaales blickt Pedro grimmig nach oben an die gewölbte Decke mit den Hängelampen. * persönliche Angaben geändert Isabella Seemann ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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Illustration: Rahel Nicole Eisenring

er auch nicht saubergemacht, ich bin fast froh darüber. Ich frage Mitbewohner Eins, ob er einen Wischmopp kaufen könne, er willigt ein, er müsse ohnehin noch etwas erledigen. Mitbewohner Drei, der übrigens hervorragend putzen kann, kommt heim – er konnte sich nicht am Putztag beteiligen, weil er arbeiten musste – und findet glücklicherweise auch, dass das mit der Reihenfolge für den Schwamm keine Meinungssache sei, sondern eine Frage der Hygiene. Mitbewohner Eins kommt ebenfalls heim und hat den Wischmopp vergessen.

Moumouni

... berichtet von der Front «Ist das gut so?», fragt mein Mitbewoh­ ner und zeigt mit einem Schwamm in der Hand in den ausgeräumten Kühl­ schrank. Ich frage mich, warum es dafür meines Urteils bedarf und verstehe im nächsten Moment: Er verfügt über kein Urteilsvermögen über die Sauberkeit eines Kühlschranks. Der stinkt nämlich immer noch (irgendjemand hat irgendet­ was darin ausgeleert), an der Wand klebt eine eingefrorene Fliege neben einem Eisblock, die Rillen für die Ablagen bergen immer noch Schmutz. Ich frage mich, was er gemacht hat, während ich den Berg Geschirr weggespült habe, den er ursprünglich selbst hatte spülen wollen. Ich sage, der Kühlschrank stinke noch, er schrubbt noch einmal halb­ herzig nach, bis ihm etwas einfällt und er aus der Küche huscht. 6

Der zweite Mitbewohner kommt herein und erzählt aufgeregt, er wolle jetzt ausprobieren, den Kalk am Duschboden mit Cola zu putzen. Im nächsten Moment finde ich mich in einer Diskussion darüber wieder, in welcher Reihenfolge WC, Dusche und Backofen mit dem gleichen Schwamm wohl am besten geputzt werden. Bevor ich fragen kann, warum wir den gleichen Schwamm benutzen müssen, kann ich gerade noch verhindern, dass der Vorschlag Dusche – WC – Backofen mit Zweidrittel-Mehr­ heit durchkommt. Eine Stunde später kommt Mitbewohner Zwei enttäuscht in die Küche und sagt, das mit der Cola habe nicht funktioniert. Ob er denn die Fliesen geputzt habe, frage ich ihn, das sei am wichtigsten wegen des Schimmels. Er verneint. Das WC hat

Ich habe mal wieder gelernt: Gleich­ stellung ist Krieg. Doch auch wenn ich die erste Runde durch diesen Über­ raschungsangriff männlicher Hilflosig­ keit verloren hatte, die zweite habe ich in der folgenden Woche auf einer Grillparty bei uns zuhause eindeutig gewonnen: Jeder, der in dieser Welt aufgewachsen ist, weiss: Grillieren ist Männersache. Nicht jedoch in unserem Haushalt! Mitbewohner Eins will Feuer machen? Nix da, er darf mir die Grillzange spülen! Ein Steak auf den Grill legen ohne meine Aufsicht und strikt zu befolgende Wende-Intuition? Nein! Ich habe ihn nicht einmal die Glut ohne Korrektur befächern lassen! Als einer der Männer es tatsächlich schafft, etwas anbrennen zu lassen, während ich kurz drinnen bin (obwohl ich erklärt habe, wie das läuft mit dem Feuer und der Hitze), spanne ich den Bizeps an und schiebe ihn zur Seite, während ich überlege, ob ich mir dabei noch in den Schritt langen oder auf die Brüste trommeln soll. Ja, viel­ leicht ist das primitiv. So wie Männer, die sich erlauben können, mit Mitte 20 keine Ahnung vom Haushalt zu haben. Du machst mich zur Frau beim Putzen? Hah! Ich nehm’ dir die Männlichkeit beim Grillieren. Auge um Auge, Zahn um Zahn!

Fatima Moumouni wohnt derzeit an zwei Orten. An einem übrigens in einer reinen Frauen-WG. Die ist nicht unbedingt sauberer, aber dort wüsste frau, wie es ginge!

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Infografik: Bodara

Die Sozialzahl

Materielle Entbehrungen

Gesamtbevölkerung

Einpersonenhaushalte unter 65 Jahren

Paare mit 1 Kind

Einpersonenhaushalte ab 65 Jahren

Paare mit 2 Kindern

Alleinerziehende, jüngstes Kind zwischen 0 – 17 Jahren

Paare mit 3 und mehr Kindern

Alleinerziehende, jüngstes Kind zwischen 18 – 24 Jahren

Anteil der Bevölkerung, der in einem Haushalt lebt, der sich eine unerwartete Ausgabe von 2500 Franken innerhalb eines Monats nicht leisten kann.

Armut lässt sich auf verschiedene Arten messen. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS zieht mit ihren Richtlinien eine Grenze, die das soziale Exis­tenzminimum markiert. Wessen Haushaltseinkommen darunter liegt, gehört zu den Armutsbetroffenen in der Schweiz. Das ist mehr als eine halbe Million Menschen. Internationale Studien stellen einen Ver­gleich zwischen den Einkommen der Gesamtbevölkerung und den Einkommen der tiefen Schichten her. Das Statistische Amt der Europäischen Union geht davon aus, dass alle Haushalte, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erzielen, zumindest als armutsgefährdet bezeichnet werden müssen. Das mittlere Einkommen teilt alle Haus­halte in zwei gleich grosse Hälften. Die eine erzielt mehr, die andere weniger als dieses mittlere Einkommen. Für die Schweiz gilt: Deutlich über eine Million Menschen hat weniger als ein mittleres Einkommen. Sie

befinden sich nach dem Massstab der EU somit in einer prekären finanziellen Situation. Ein anderer Ansatz orientiert sich an der materiellen Entbehrung, die mit knappen Mitteln einhergeht. Materielle Entbehrungen schränken die Mög­lichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe und eines selbstbestimmten Lebens ein. Das Bundesamt für Statistik nennt analog zu den anderen europäischen Ländern neun Kategorien, in denen sich zeigt, ob ein Haushalt mit materiellen Entbehrungen leben muss: Ist man in der Lage, innerhalb eines Monats unerwartete Ausgaben in der Höhe von 2500 Franken zu tätigen? Ist man in der Lage, eine Woche Ferien pro Jahr weg von zuhause zu finanzieren? Hat man keine Zahlungsrückstände? Ist man in der Lage, jeden zweiten Tag eine fleisch- oder fischhaltige Mahlzeit (oder vegetarische Entsprechung) einzunehmen? Ist man in der Lage, die Wohnung ausreichend zu heizen? Hat man Zugang zu

einer Waschmaschine? Ist man im Besitz eines Farbfernsehers? Eines Computers? Eines Autos? Wer drei dieser neun Kategorien nicht zu erfüllen vermag, gehört zu den Haushalten, die mit materiellen Ent­behrungen leben müssen. 4,6 Prozent der Bevölkerung oder rund 370 000 Menschen in der Schweiz befinden sich in dieser Lebenssituation. Überdurchschnittlich häufig sind Familienhaushalte mit kleinen Kindern vertreten. So lebt mehr als ein Fünftel aller Allein­erziehenden, deren jüngstes Kind weniger als drei Jahre alt ist, mit materiellen Entbehrungen. Fast 9 Prozent der Bevölkerung können sich keine Woche Ferien leisten, mehr als 5 Prozent haben nicht genügend Mittel zum Erwerb eines Autos. Die kritischste Kategorie sind aber die unerwarteten Ausgaben von 2500 Franken in einem Monat. Rund 22 Prozent der Bevölkerung könnten unvorhergesehene Rechnungen in dieser Grössenordnung nicht begleichen. Dabei fallen bestimmte Haushalts­typen besonders auf: 58 Prozent der Alleinerziehenden mit kleinen Kindern haben keine finanziellen Reserven, bei Familien mit drei und mehr Kindern sind es rund 28 Prozent. Aber auch alleinlebende Erwachsene unter 65 Jahren gehören mit 27 Prozent zu jenen, die besonders häufig ohne Gespartes leben müssen. Was kann das konkret bedeuten? Solche Haushalte können zum Beispiel bei der Krankenversicherung keine hohe Franchise abschliessen und sich kaum bei Krankenkassen versichern, die erst zu zahlen beginnen, wenn diese Franchise aufgebraucht ist. In dieser Situation wird dann jede Arztrechnung, jede unerwartete Behandlung bei einem Zahnarzt, aber auch jede nicht vorge­sehene Reparatur des Autos zum Drama. Dass diese Haushalte besonders häufig auch Zahlungsrückstände haben, kann darum nicht erstaunen.

Prof. Dr. Carlo Knöpfel ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

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Die Sun Ladies lernen den Umgang mit Kalaschnikows, Maschinengewehren und Handgranaten.

Der letzte Ausweg Jesidinnen  Tausende jesidische Frauen und Kinder haben die Terroristen des IS

im Norden des Iraks entführt. Sie werden gefangen gehalten und als Sexsklavinnen missbraucht. Ein Frauenbataillon kämpft nun für ihre Freiheit. Text  Patrick Witte  Fotos  Patrick Tombola

TÜRKEI

Sindschar

Mossul

IRAN

Erbil

SYRIEN IRAK

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Als Leibwächterin von Kommandantin Khatun Khider ist diese junge Frau bei jedem Treffen zugegen.

form, ihre Gewehre lehnen an Plastikstühlen. «Nadia, komm rüber», ruft eine. «Ich brauch dich zum Armdrücken.» Nadia steht auf, geht zu der Gruppe, krempelt ihren Ärmel hoch. Sie lachen, Nadia drückt, die andere kontert, das Tattoo auf Nadias Handrücken senkt sich Richtung Tisch, sie gewinnt. Die jungen Frauen warten auf ein viel grösseres Kräftemessen: auf ihren Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat. Sie bereiten sich vor auf eine grosse Schlacht, hier in der kargen Steppe des Nordiraks. Das Camp liegt am Fusse des Gebirgszugs Sindschar, sechs Autostunden von Erbil entfernt, der Hauptstadt der kurdischen Gebiete im Irak.

Viele Dörfer bleiben aufgrund möglicher Sprengstofffallen auch nach dem Abzug des IS verlassen.

Hier oben auf dem Dach, hier kann Nadia Haji Cholw noch träumen. Sie lehnt sich gegen die sandfarbene Mauer, steckt sich Kopfhörer in die Ohren und hört Lieder über Liebe und Heimat, kurdische Popmusik, Sehnsuchtsmelodien. Sie hockt auf dem dreckigen Boden, blickt Richtung Sonne, die Augen geschlossen, so sieht sie die zerbombten Dörfer dort unten nicht. Ihre Ohrstecker funkeln im Licht. Es ist eine kurze Flucht vor der Realität; ein Rückzug in ein Leben, in dem sie noch ein Mädchen war. Ein Leben, das endete an jenem Sonntag im August 2014, als IS-Milizen ihr Heimatdorf überfielen, Tal al-Banat im Nordirak, keine Autostunde von diesem Dach entfernt und doch unerreichbar. Seitdem ist Nadia nur noch in seltenen Momenten wie diesem

das Mädchen, die Träumerin. Vor allem ist sie seitdem Nadia, die Soldatin. Eine 17-Jährige, die olivgrüne Tarnuniform trägt und innerhalb weniger Sekunden ein AK-47-Sturmgewehr zusammenbauen kann. Auf ihrer Hand prangt ein verschwommenes Tattoo. Das Dach, auf dem Nadia sitzt, ist Teil eines alten Schulgeländes. Hier bereiten sie sich vor, die «Yazidi’s Force of the Sun Ladies», die Sonnenfrauen. Ein Frauenbataillon, das den Peschmerga angehört, den offiziellen Streitkräften der Autonomen Region Kurdistan. Eine Kampftruppe von 140 Frauen, die Furchtbares erlebt haben und jetzt zurückschlagen wollen. Ein Ruf hallt zu Nadia herüber, sie schaut auf. Ein paar Meter entfernt sitzen ihre Kameradinnen. Auch sie tragen Uni-

Mit Waffen statt Worten Eine verlassene Schule dient als Kaserne; ein wuchtiger Bau, umgeben von einer meterhohen Mauer. Auf einer Schotterfläche parken sandfarbene Militär-Pick-ups, daneben ein Humvee mit zerschossener Windschutzscheibe. In den alten Klassenräumen liegen Schaumstoffmatratzen auf dem Boden, bedeckt mit Schichten von Wolldecken. Sie schützen notdürftig vor dem strengen kurdischen Winter, der durch die undichten Fenster dringt. Ein wenig Wärme zumindest kriecht aus kniehohen Benzinheizern, der Gestank des Treibstoffs hängt schwer im Raum. Nadia und ihre Kameradinnen sind Jesidinnen, eine religiöse Minderheit. Sie glauben an Seelenwanderung und an den gefallenen Engel Tawûsê Melek, der mit seinen Tränen das Höllenfeuer gelöscht haben soll und den sie in Gestalt eines blauen Pfaus anbeten. Für den sogenannten Islamischen Staat sind Jesiden Ungläubige. Teufelsanbeter, die es zu verfolgen und zu töten gilt. Das Grauen begann für die Jesiden im Sommer 2014. Damals gingen die furchtbaren Bilder um die Welt. Über 400 000 Jesiden konnten laut den Vereinten Nationen vor den mordenden Horden des IS fliehen, doch viele wurden auf dem Sindschar vom IS tagelang eingekesselt. Erst nach schweren Kämpfen bombten Peschmerga und kurdische Milizen einen Fluchtkorridor frei.

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Zuvor jedoch erschossen und köpften IS-Kämpfer über 5000 jesidische Männer und verschleppten mehr als 7000 Frauen und Kinder als Kriegsbeute. Die Frauen und Mädchen wurden zwangsverheiratet, vergewaltigt oder per WhatsApp wie auf dem Viehmarkt verkauft, einige waren erst acht Jahre alt. Die meisten, die entkommen konnten, leben heute in Zeltlagern des UN-Flüchtlingswerks, suchen Schutz unter Hunderttausenden anderen Flüchtlingen. Viele Frauen sind immer noch gefangen. Einige Jesidinnen wie Nadia Murad und Lamija Adschi Baschar konnten ihren Peinigern entfliehen. Jetzt bekämpfen sie die Terrororganisation mit Worten. 2016 hielt Murad eine Rede vor dem UN-Sicherheitsrat, beide bekamen Auszeichnungen. Ihre Waffe ist die Sprache. Für Nadia Haji Cholw, die Soldatin, gibt es nur einen Weg, den Albtraum zu beenden: in den Krieg ziehen. «Murad kämpft auf ihre Art», sagt Nadia. «Sie soll weiterhin der Welt erzählen, was hier passiert ist. Doch mit ihren Worten allein wird sie Mossul nicht erobern können. Das machen wir.» Dort wollen die Sun Ladies jene Frauen befreien, die immer noch vom IS gefangen sind. Fällt die Stadt Mossul, sind auch die Frauen frei. Tattoos gegen den Schmerz Nadia, die Träumerin, wuchs in einer traditionellen Familie auf. Ihr Vater besass einen Elektronikladen, zwei Autos, einen Traktor und 300 Schafe. Bescheidener Reichtum in der Provinz. Zusammen mit ihren neun Geschwistern lebte Nadia in einem grossen Haus, der Garten voller Olivenbäume und Rosensträucher. In ihrem Zimmer hingen Bollywood-Poster, in den Regalen sassen Teddybären. Mit den Jungs spielte sie Fussball – das kann man sich gut vorstellen, sie ist klein, aber voller Energie. Normalerweise hätte sie in wenigen Jahren einen jesidischen Mann heiraten und Kinder bekommen sollen. Die Erniedrigung, die Nadia und die anderen Frauen durch den IS erfuhren, veränderte alles. Seit dem Überfall sind sie nicht mehr beschützt, sondern müssen 10

sich selbst schützen. Sie sind keine Mädchen mehr, sondern Soldatinnen. Am ­3. August 2014, im Morgengrauen gegen fünf Uhr, griff der IS an. Die Familie schlief noch, nur Nadia lag bereits wach im Bett und las für die Schule. Da hörte sie die Granaten einschlagen. Schüsse. Und dann das Telefon. Ein Freund, der den Pesch­ merga angehört, den kurdischen Streitkräften. Er warnte sie: «Haut ab. Sie kommen.» Nadias Familie stürmte aus dem Haus mit nichts als den Kleidern am Leib und dem Pass in der Hand. Nur Nadia blieb zurück, um ihren Onkel zu warnen. Sie rannte durch die Strassen, riss die Tür auf. Ihr Onkel sass in der Küche im Obergeschoss. Das Haus wurde zur Falle, denn unten fuhren die ersten Wagen des IS vor. Durch das Fenster sah Nadia Männer ­aussteigen, einige noch Jugendliche, andere mit grauem Haar. Sie trugen lange Bärte, nur die Oberlippen rasiert, und Maschinengewehre. Die Terroristen zogen die Bewohner des Dorfes auf die Strasse, sie riefen: «Konvertiert, und euch geschieht nichts.» Doch alle schwiegen. Vielleicht aus Angst, vielleicht aus Stolz – und wurden von den Milizionären erschossen. Nadia hockte in ihrem Versteck unter dem Fenster, sie drückte sich die Hand auf den Mund, um nicht zu schreien. Durch einen Hinterhof gelangten Nadia und ihr Onkel in das Nachbarhaus, wo sie sich vor den IS-­ Kämpfern versteckten, tagelang. Sie fanden Pepsi und Kekse. Wenn sie auf die Toilette mussten, pinkelten sie in eine Ecke. Sie trauten sich nicht auf das Klo. Immer wieder hörten sie, wie Pick-ups am Haus vorbeifuhren. Siegesschüsse peitschten durch die Luft, weitere IS-Truppen rückten ein. An einem Tag kratzte Nadia den Russ vom Boden eines Küchentopfes, vermischte ihn mit etwas Wasser und stach sich mit einer Nadel eine Tätowierung in die rechte Hand: Sindschar. Den Namen ihrer Heimat. Der Schmerz sollte stärker sein als die Angst und den Wahnsinn fernhalten. Und falls sie sterben und jemand sie finden sollte, so hoffte sie, würde das Tattoo zeigen, woher sie stammt. Monate

später folgten weitere Tattoos. Ein «N» wie Nadia, ein Herz. Manchmal war da dann nur noch Schmerz, das half. Nach sechs Tagen verstummten die Schüsse. In tiefer Nacht verliessen Nadia und ihr Onkel das Haus, mit zwei Flaschen Wasser in der Hand und einem Ziel: das Sindschar-Gebirge am Horizont, ihr heiliger Berg. Sie schlichen von Hauseingang zu Hauseingang, von Dorf zu Dorf, ohne Pause. Nach zwölf Stunden stiessen sie auf Soldaten der PKK, Verbündete. In den Wochen nach dem brutalen Überfall auf ihr Dorf lebte Nadia in einem Flüchtlingslager in der Nähe der Stadt Dohuk. Zeltreihen säumten die Wege, Tausende Menschen harrten aus, hofften auf eine bessere Zeit. Hier fand Nadia ihre Familie wieder, in Zelten ertrugen sie die bittere Kälte. Benzinheizer waren wegen der Feuergefahr nicht erlaubt. Niemand aus Nadias Familie war auf der Flucht gestorben. Aber sie und ihre Verwandten hatten mitansehen müssen, wie Nachbarn erschossen wurden, Bekannte, Freunde. Ihnen blieb nur, hilflos zu trauern. Nadia quälte die Ungewissheit. Was passiert mit unserem Leben, wie lange müssen wir hierbleiben, wann besiegen sie endlich die Terroristen, fragte sie sich. Eines Tages traf sie im Lager Yasemin, eine ehemalige Nachbarin aus ihrem Heimatdorf. Yasemin trug eine Uniform und er-

«Mit Worten allein wird man Mossul nicht erobern können.» Nadia haji cholw

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Einst drückte Hasna Sharno hier die Schulbank. Heute ist das Gebäude nur noch eine Ruine.

zählte von einer Militärmission, die jesidische Frauen rekrutierte. Sie wollten nicht weiter zusehen, wie der IS sich ausbreitete, sondern zurückschlagen, an der Seite der anderen Kampftruppen. Sie erzählte ihr von der Kaserne am Fusse des Sindschar, und sie erzählte von Hauptmann Khatun Khider, der Kommandantin. Im November 2015 gründete Khider, die heute 36 Jahre alt ist, die Sun Ladies. Sie schlug damals Offizieren der kurdischen Peschmerga vor, die Kämpfer mit einem Frauenbataillon zu verstärken. Die Peschmerga-Generäle stimmten zu. Khiders Plan ging auf, so begann ihr zweites Leben. Die Sängerin als Kommandantin In ihrem ersten Leben war Khider eine berühmte Hochzeitssängerin gewesen. Für die Auftritte liess sie ihr Haar offen, trug ihr rotes Kleid. Sie sang die traditionellen Lieder der Jesiden. Dann musste auch sie vor dem IS fliehen, auch sie strandete in den Bergen und musste zusehen, wie ihr Volk litt. Wenn ich hier rauskomme, schwor sie sich, sollen die Jesiden nie wieder so schutzlos sein. Ich werde kämpfen. Khider hielt Wort. Aus ihrer Zeit als Sängerin hatte sie Kontakte zum kurdischen Fernsehen. Sie nahm eine Voicemail auf und liess sie auf Zagros TV veröffentlichen: «Wer will mitkämpfen? Gegen den IS, für unsere Frauen?» Sie liess eine Telefonnummer einblenden. Ihr Telefon stand danach nicht mehr still. Heute trägt Khider drei goldene Sterne auf den Schulterklappen ihrer Uniform und eine Automatikpistole an der Hüfte. Nadia kannte Hauptmann Khider bereits als Sängerin. Sie mochte ihre Lieder, sah sich ihre Auftritte auf YouTube an. Heute hört sie Khider nicht mehr singen, sondern Befehle rufen. Noch an dem Tag, an dem Nadia auf Yasemin traf, trug sie sich in eine Aufnahmeliste ein. Nach wenigen Wochen machte sie die Grundausbildung in einem Camp der Peschmerga. In einem Militärstützpunkt nahe Dohuk bildeten Pesch­ merga-Soldaten die Sun Ladies aus. Nadia lernte, sich im Nahkampf zu verteidigen. Sie quälte sich stundenlang unter Hindernisbahnen durch, feuerte mit Kalaschnikows

Kommandantin Khatun Khider legt selbst Hand an, wenn sie ihren Soldatinnen den Umgang mit dem Maschinengewehr erklärt.

Das Innere eines vom IS ver­lassenen Hauses dokumentiert die Zerstörungswut der islamistischen Kämpfer.

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Statt auf Hochzeiten zu singen, ist Khatun Khider heute Kommandantin eines Bataillons der Peschmerga, der Armee Kurdistans.

Wem hat der Drill mehr Kraft verliehen? Nadia beim Armdrücken mit einer Kollegin.

«Wir wollen der Welt mitteilen, was hier passiert ist. Und sicherstellen, dass sich das nicht wiederholt.» khatun khider, kommandantin des frauenbataillons

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Der Ausblick auf das heimatliche SindscharGebirge macht die Enge des Ausgucks erträglich.

und Maschinengewehren auf Zielscheiben, warf Handgranaten. Selbst mit Panzerabwehrraketen lernte sie zu kämpfen. Nach der Ausbildung durch männliche Peschmerga sind die Sun Ladies nun, in ihrem Camp, unter sich. Auch die Leibwächter, die Hauptmann Khider ständig bewachen, sind Frauen. Hier bestimmen sie selbst über ihren Alltag, über ihr Training. «Die Sun Ladies und Hauptmann Khider sind zu meiner Familie geworden», sagt Nadia. «Wir sprechen über das Geschehene. Wir müssen damit leben, was passiert ist. Mit ihnen fühle ich mich stärker.» Bisher haben die Sun Ladies noch nicht mit an der Front gekämpft. Während eine Grossoffensive auf die vom IS besetzte Stadt Mossul läuft, verbringen die Frauen ihre Zeit im Hauptquartier, fast 150 Kilometer von Mossul entfernt. Einmal sicherten sie Strassenzüge, ein anderes Mal führten sie Peschmerga-Soldaten durch befreite jesidische Dörfer, in denen sie sich gut auskannten. Vor einigen Wochen gerieten manche von ihnen unter Beschuss, als sie bei Peschmerga-Kämpfen patrouillieren wollten. Die Sun Ladies feuerten mit ihren AK-47-Gewehren auf die mehrere Hundert Meter entfernten IS-Stellungen. Ob sie jemanden getötet haben, wissen sie nicht. Hauptmann Khider rechtfertigt es als «militärische Entscheidung», dass bislang niemand ihrer Truppe den Marschbefehl nach Mossul gegeben hat. Den Sun Ladies bleibt somit nichts anderes übrig, als den Kämpfern der Peschmerga in den Fernsehnachrichten dabei zuzusehen, wie sie Granaten auf die umkämpfte Stadt abfeuern. Trotzdem sind die Sun Ladies überzeugt, dass ihr Einsatz kommen wird. Nadia glaubt, der IS habe sogar Angst vor dem Frauenbataillon: «Wird ein Kämpfer von einer Frau getötet, gelangt er nicht als Märtyrer ins Paradies.» Wenn Mossul erst erobert sei, beginne ihr Kampf, sagt auch Khider. Die Soldatinnen wissen, wo die Frauen versteckt sind, wo die Gefängnisse und die Privatwohnungen zu finden sind. Dieses Wissen ist ihr grösster Trumpf und Surprise 402/17


Ein Blick ins Fenster des kaputten Humvee kurz vorm Drill: Sind die Haare auch gut festgesteckt?

Ihre Tattoos stachen Nadia und ihre Kollegin sich selbst. Der Schmerz half ihnen dabei, das Erlebte auszuhalten.

diese Erinnerung ihre grösste Last. Denn viele Sun Ladies waren selbst Gefangene des IS. Und so ist der Dienst an der Waffe auch eine Art Traumabewältigung. Ein Weg, ihren Leben, die durch den Terror so brutal zerstört wurden, wieder einen Sinn zu geben. Ein Dezembertag, 8.30 Uhr, im Stützpunkt beginnt das Militärleben. Antreten zum Appell. Marschierübungen. Präsentieren des Gewehrs. In Dreierreihen kreisen die Sun Ladies über den Zementboden, rammen die Füsse auf den Boden. Während einige Mädchen darüber lachen, dass eine beim Marschieren einen Fehler gemacht hat, schaut Nadia ernst, hält das Gewehr fest an sich. Sie will, dass die Sun Ladies Erfolg haben. Sie gehorcht Hauptmann Khider, die Befehle über den Hof brüllt, salutiert mit dem Gewehr. Wenn man Hauptmann Khider fragt, ob es richtig ist, dem Terror mit Gewalt zu begeg-

nen, antwortet sie schroff: «Kannst du dir vorstellen, wie eine Neunjährige von einer Horde Männer vergewaltigt wird? Weiterverkauft und als Sexsklavin gehalten? Wir wollen der Welt mitteilen, was hier passiert ist. Und sicherstellen, dass sich das nicht wiederholt.» Nach einer Stunde ist der Morgenappell vorbei. Nadia geht zurück auf ihren Posten, einen Wachturm aus Wellblech, kaum grösser als ein Dixi-Klo, gestützt und gesichert mit einem hüfthohen Wall aus Sandsäcken. Sie blickt auf karges, fast baumloses Land, auf zusammengefallene Häuser, viele noch immer mit Spreng­ fallen versehen. Nadia blickt auf ihre zerstörte Heimat und ist entschlossen, sie zurückerobern. Es tue gut, das Leid zu teilen und daran zu glauben, dass sie gemeinsam den IS schlagen können. Seit sie zu den Sun Ladies gehört, sagt Nadia, ist ihr Herz wieder stark geworden.

Die 17-jährige Einas Khero war eine Gefangene des IS, bevor sie mit ihrer Familie ins Sindschar-Gebirge fliehen konnte.

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1,60 m hoch, 2,60 m lang, 1,40 m breit ist eine Wohnbox. Und den Behörden ein Dorn im Auge.

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Fotos:  Sven Lüdecke (1), Diana Paola Cabrera Rojas (1)

Wohnboxen statt Platte Obdachlosigkeit  Der Kölner Fotograf Sven Lüdecke baut kleine

Wohnboxen für Wohnungslose. Die Beschenkten sind begeistert, Behörden und Hilfsorganisationen ist die Initiative ein Dorn im Auge. Text  Christina Bacher

Bald Nachbarn: Patrick (Mitte) und Andreas (rechts) haben eine Option auf das neue Wohnprojekt in Sven Lüdeckes (links) Hinterhof.

Andreas ist stolz wie Oskar. Mit der Faust umschliesst er einen Schlüssel und strahlt dabei über das ganze Gesicht. «Der passt zu meinem Zuhause», sagt der 51-Jährige stolz und spielt dabei auf die schmale Wohnbox aus Holz an, die er Anfang Dezember vom Kölner Fotografen und Gründer der Initiative «Little Home Köln» Sven Lüdecke geschenkt bekommen hat. Einfach so. «Das war Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk gleichzeitig», sagt der Mann mit dem gepflegten Bart im Blaumann. Seitdem lebt der gebürtige Kölner mit seiner Hündin Bella in einem aus Euro-Paletten und Pressholz gefertigten Kleinst-Häuschen irgendwo am rechten Rheinufer und kann nach Monaten auf «Platte» endlich mal wieder durchschlafen. Dass sein neues Zuhause nur 1,60 Meter hoch, 2,60 Meter lang und 1,40 Meter breit ist, ist ihm egal. «Es ist mehr als ein abschliessbarer Schlafplatz für

mich. Es ist super, dass ich meine Sachen auch tagsüber hierlassen kann und das ganze Zeug nicht mit mir rumschleppen muss, wenn ich mal zu den Ämtern muss», sagt der Mann, der im letzten Sommer nach achtzehn Jahren Wanderschaft wieder nach Köln zurückgekommen ist. Vor Kurzem fühlte sich Andreas noch von allem und jedem verlassen. Und jetzt so etwas. Immer wieder schüttelt er fassungslos den Kopf. Ein Holzhaus. Zwar ohne offiziellen Stellplatz. Und nur so halb geduldet dort, wo es jetzt steht. Aber immerhin ein Anfang. Und was gegen das kalte Wetter, das ihm sonst vor allem nachts ganz schön in die Knochen zieht. Keiner, nicht mal Initiator und Bauleiter Sven Lüdecke selbst, hätte noch vor wenigen Monaten daran gedacht, dass aus seiner verrückten Idee überhaupt etwas erwachsen könnte. Dabei gibt es schon eine ganz ähnliche Geschichte aus New York, wo

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Sven Lüdecke ist ein Mann der Tat.

Etliche der Wohnbewerber helfen beim Bau ihrer Hütte mit.

Euro-Paletten und Pressholz – mehr braucht es nicht für eine Wohnbox.

der Innenarchitekt Gregory Kloehn Furore mit seinen aus Sperrmüll gefertigten «Homeless Houses» machte, die zunächst nur als Kunst-Objekte gedacht waren. Lüdecke sah einen Film über den Amerikaner, von dem es inzwischen sogar «How to do»-Tutorials im Internet gibt für alle, die die Häuser nachbauen wollen. «So etwas will ich auch machen, habe ich damals gedacht. Und mir einfach ein paar Paletten und das nötige Werkzeug besorgt», sagt Lüdecke. Ein Mann der Tat. Und im September 2016 war die erste Box zum Abtransport bereit. Eine WG für vier Obdachlose Andreas kam im letzten Sommer in Köln an und wandte sich zunächst an die Oase, eine Einrichtung für Wohnungslose. Seine Kooperationsbereitschaft und der Wille, sein Leben in neue Bahnen zu lenken, waren für Sven 16

Lüdecke ausschlaggebend, den gelernten Maler und Lackierer als Bewohner für eine Wohnbox in Betracht zu ziehen. «Ich gehe da nach meinem Bauchgefühl, wer eine der Boxen bekommt. Inzwischen haben wir eine Warteliste von mehr als 100 Leuten, die aber nicht alle bereit sind, auch beim Bau mitzuhelfen. Das aber ist für mich die Voraussetzung», sagt Lüdecke, der als hauptberuflicher Fotograf immer viel unterwegs ist und sich nur am Wochenende um das Projekt kümmern kann. «Da inzwischen auch Spenden reinkommen, die wir dringend für Material und Verpflegung brauchen, haben wir uns zur Gründung eines Vereins entschlossen», erzählt Lüdecke von den neuesten Plänen. Manchmal nimmt er sogar Urlaub für «Little Home Köln», «damit es weitergeht», wie er sagt. Ein aktuelles Bauvorhaben gibt es auch: Auf dem Gelände, auf dem er selbst lebt, lässt er gerade eine Surprise 402/17


Fotos: Stefan Borghardt (5)

Scheune ausbauen. Hier werden in wenigen Wochen vier Wohnungslose Obdach bekommen – in einer Art Wohngemeinschaft. Auch Andreas steht auf der Auswahl-Liste für ein Zimmer. Was aber wird dann mit seiner Wohnbox passieren? «Das darf Andreas entscheiden. Die Box gehört ja ihm», sagt Sven Lüdecke. Der Stadt Köln ist die ganze Angelegenheit eher ein Dorn im Auge. Inge Schürmann, Pressesprecherin der Stadt Köln, wies bereits mehrfach darauf hin, dass solche Holzhütten für den dauerhaften Aufenthalt von Menschen nicht geeignet seien. Für eine Beurteilung, ob sie für einen temporären Aufenthalt von Menschen oder zur Lagerung von persönlichem Hab und Gut zulässig sein könnten, fehle bislang die Beurteilungsgrundlage durch einen Antrag, hiess es aus dem Presseamt der Stadt noch

Ende Februar. Auch Rainer Straub vom Kölner Bauaufsichtsamt hat bislang keinerlei Anträge erhalten, die aber dringend erforderlich seien, um die Boxen einer ordentlichen Prüfung zu unterziehen. «Bei den Bauten handelt es sich, soweit bisher erkennbar, um bauliche Anlagen, an die Anforderungen nach der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen zu stellen sind.» Da sich Personen auch dauerhaft im Bauwerk aufhalten, müssen «Anforderungen an Aufenthaltsräume zu stellen sein». Die Wohnungslosenhilfe sieht die Sache kritisch Sven Lüdecke weiss darum. Da er sich aber nicht als Antragsteller sieht, hält er erst einmal die Füsse still: «Die Boxen gehören ja gar nicht mir. Die Anträge müssten dann die stellen, auf deren Grundstücken sie stehen. Oder

«Ein Jäger- und Sammlerhaus aus dem 21. Jahrhundert. Errichtet aus den ausrangierten Früchten des urbanen Dschungels.» Gregory Kloehn, Innenarchitekt

Tutorials im Internet erklären, wie man ein Häuschen baut.

Herzlichen Glückwunsch! Peter erhält den Schlüssel und die Urkunde für eine Box.

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diejenigen, die die Schenkungsurkunde und den Schlüssel bekommen haben», stellt er seine Sichtweise dar. Selbstverständlich will er nicht, dass seine Freunde von der Strasse Ärger bekommen. «Ich lasse die Leute jetzt nicht im Regen stehen. Ich helfe natürlich gerne, wo ich kann. Aber alles eben der Reihe nach», sagt der Mann, der früher nichts mit Menschen auf der Strasse zu tun hatte und quasi über Nacht zum Helfer wurde. Dass selbst Vertreter von Einrichtungen der Kölner Wohnungslosenhilfe das Projekt kritisch sehen, findet er schade. Er versteht deren Argumente und weiss, dass seine zwölf Wohnboxen nicht die Welt verändern können. Natürlich könne die Auswahl der von ihm Beschenkten immer nur willkürlich sein und es kämen zu wenige in den Genuss dieses Angebots. Aber ist es desSv e n L ü d ec k e, I nitiato r halb schlecht, was er macht? von «Little Home Köln»

«Ich gehe nach meinem Bauchgefühl, wer eine Box bekommt.»

In Berlin findet man es offenbar toll, was der Kölner Fotograf da auf die Beine stellt. Dort hat Lüdecke in der Diakonie einen Partner gefunden, der gleich neun Boxen fest auf einem Grundstück der Kirche installieren möchte. Auch die Gespräche mit den Ämtern laufen reibungslos. «Ich habe in den letzten Monaten viel dazugelernt. In Köln habe ich eben zuerst gebaut und damit alle überrumpelt, in Berlin läuft es jetzt umgekehrt. Das ist besser!», so Lüdecke. Inzwischen hat er auch zuhause in Köln eine Einladung vom Sozialdezernenten bekommen, nachdem er der Oberbürgermeisterin einen offenen Brief geschrieben hatte. Das ist doch schon mal was. Wichtiger aber sei, dass es vorangehe mit dem Bau der nächsten Wohnboxen, sagt Lüdecke. Das nächste Bauwochenende ist schon anberaumt, es haben sich 40 Soldaten der US-Luftwaffe gemeldet, die ihm dabei helfen wollen. Doch erst einmal soll heute noch Peter beschenkt werden, er hat den ganzen Tag fleissig beim Bau mitgeholfen. Der Kaffee dampft schon, die Helfer auf dem Hof in Köln-Zündorf kommen langsam zum Ende ihres Tag-

Zwölf Wohnboxen verändern zwar nicht die Welt – aber sicher das Leben der Betroffenen. 18

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Fotos:  Sven Lüdecke (3)

Die Box ist für viele mehr als ein abschliessbarer Schlafplatz.

«Es wäre eine Baubewilligung erforderlich»

Die Stadt Köln weist darauf hin, dass die Holzhütten nicht für den dauerhaften Aufenthalt von Menschen geeignet seien.

werks. Nachdem der letzte Nagel ins Holz getrieben wurde, übergibt Sven Lüdecke dem Obdachlosen feierlich die Schenkungsurkunde und den Schlüssel für die neue Wohnbox. Eben noch ohne festen Wohnsitz, jetzt schon Hausbesitzer. Der kann es gar nicht fassen, zögert, lächelt und schaut verlegen in die Runde. «Meins?» Er zeigt auf das Haus. Lüdecke nickt. «Deins. Wo sollen wir es hinstellen?» Der Transport der Box gehört mit zur Schenkung. Und auch für Andreas gibt es heute noch eine Überraschung. Er wird in Bälde tatsächlich ein Zimmer in der neuen Wohngemeinschaft bekommen und somit direkter Nachbar von seinem Kumpel Patrick werden, mit dem er früher «Platte» gemacht hat. Und Sven Lüdecke strahlt.

Freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom «Draussenseiter», Köln / INSP.ngo

Auch in Schweizer Städten könnten die Wohnboxen für Obdachlose nicht einfach so aufgestellt werden. Das Hochbauamt der Stadt Zürich schreibt auf Anfrage: «Um solche Wohnboxen in der Stadt Zürich aufzustellen wäre gemäss Planungs- und Baugesetz eine Baubewilligung erforderlich. Wohnbauten sind nur in bestimmten Zonen möglich. Bei längerfristiger Benutzung des öffentlichen Grunds (länger als ein Monat) sind mit einer Baueingabe zudem die Zustimmung des Tiefbauamts bzw. von Grün Stadt Zürich einzuholen sowie ein Konzessionsgesuch einzureichen. Es kommt bei der Beurteilung eines Baugesuchs auf das Areal, den Umfang und die Dauer des Vorhabens sowie weitere Faktoren an. Zudem sind verschiedene Stellen der Stadt in das Baubewilligungsverfahren involviert. Wir können deshalb nicht sagen, ob ein solches Vorhaben bewilligungsfähig wäre.» Auch der Informationsdienst der Stadt Bern kann die Frage, ob Wohnboxen erlaubt würden, nicht grundsätzlich beantworten. Um für den konkreten Fall eine Einschätzung geben zu können, müsste ein Gesuch durchgespielt werden, wobei mehrere Ämter involviert wären. sim

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1 Sunset Song mit Agyness Deyn, 2015. 2 A Quiet Passion, 2016. 3 Of Time and the City, 2008. 4 The Terence Davies Trilogy, 1983. 5 Distant Voices, Still Lives, 1988. 6 The House of Mirth mit Gillian Anderson, 2000. Alle Bilder: ZVG

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Mosaike der Erinnerung Film  Die Werke von Terence Davies sind zarte Geflechte aus Erinnerungen, versteckten

Wünschen und Sehnsüchten. Zu sehen sind sie am Bildrausch Filmfest Basel. TEXT  DIANA FREI

Der britische Regisseur Terence Davies hatte in seiner Arbeit lange einen sehr persönlichen autobiografischen Ansatz gewählt. Dann begann er 1995 mit «The Neon Bible» vor allem literarische Vorlagen zu verfilmen. Dabei bleibt er seinen Kernthemen sogar in den neueren Kostümfilmen weiterhin treu. Den Kern von Davies’ frühen Filmen bilden aber noch die Arbeiterklasse und das Familienleben. Davies wurde 1945 in Liverpool als letztes von zehn Kindern in eine katholische Arbeiterfamilie hineingeboren. «Distant Voices, Still Lives» ist bis heute sein bekanntester Film und besteht aus Geschichten seiner eigenen Geschwister und seiner Mutter. (Davies’ eigener Vater starb, als er zehn Jahre war, er war dem Film-Vater verwandt in seinen Wutausbrüchen.) Der Film zeigt ein Liverpool der Vierzigerjahre, das Davies selbst kennt. Und demnach auch seine eigene Wahrnehmung dieser Welt: voller Sehnsucht, voll von unausgesprochenen Wünschen und verborgenen Gedanken. Wir sehen ein Alltagsleben, aber im Kern geht es um eine Ebene, die unter der äusserlichen Handlung liegt: um Empfindungen, Erinnerungen, Sehnsüchte, die stets im vorgegebenen Rahmen bleiben. Und der ist visuell klar abgesteckt, ein Arbeiter-Reihenhäuschen mit seinen Vorhängen, Türen, dann eine Treppe im Hausinnern, ab und zu ein Blick aus dem Fenster. Langsame Kamerafahrten zeigen das Innere dieses kleinen Einfamilienhäuschens, dazu ein paar Liedzeilen: «It rained when I met you …» Die Familie selbst trägt im Pub gemeinsam ein Lied nach dem anderen vor. «I get the blues when it rains», singt die Mutter einmal gedankenversunken. Der künstliche Regen giesst in den Filmen, die von Davies’ Kindheit erzählen, nicht zu knapp herunter.

Es ist eine Sehnsucht spürbar – nicht zuletzt dank der Lieder, denn das Träumen ist in den Songs meistens bereits enthalten. Musik erzählt von grossen Gefühlen, von anderen Welten und zehrendem Verlangen, und es ist kein Zufall, dass Davies’ Filme so stark von Songs und klassischen Musikstücken leben. Dialoge finden auch einmal im Off statt, scheinbar evoziert durch einen wehenden Vorhang. Es sind Gesprächsfetzen, die aus dem Hier und Jetzt gelöst werden. Wir fallen in die Bilder und die kollektive Seele dieser Familie hinein. Davies nimmt sich Zeit, bis Handlungen wie Fensterputzen oder ins Auto einsteigen nicht mehr nur Handlungen sind, sondern die Qualität von erinnerten Momenten bekommen. «Ich versuche, die Erinnerung so wahrheitsgetreu wie möglich zu zeigen. Ich erinnere mich an die Intensität dieser Momente, die sogar heute noch in mir nachhallen», sagte er in einem Interview. Es gibt mit «A Long Day Closes» zudem einen Film (der am Bildrausch nicht gezeigt wird), der Terence Davies’ Alter Ego ins Zentrum stellt: als Junge namens Bud, der sich seiner Identität und Sexualität bewusst wird. Davies selbst ist schwul, was er sogar in «Of Time and the City» thematisiert, der erst mal eine Hommage an seine Heimatstadt ist. Die eigene Kindheit ist der Fundus, aus dem Davies schöpft. «Meine Filme drehen sich immer um Aussenseiter», hat er in einem Interview erklärt. «Ich habe mich selbst immer als Aussenseiter gefühlt. Ich hatte nie das Gefühl, ich sei ein Teil des Lebens. Ich habe mich immer als Zuschauer gefühlt.» Im Arbeitermilieu ist das Leben schnell einmal vorgezeichnet: Es ist keine Welt der Exzesse und der Selbstfindung, keine Welt, in der toleriert

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wird, dass man ausschert. Schon gar nicht im irisch-katholischen Umfeld, aus dem Davies stammt. Man sitzt als Familie im Pub, mit den anderen Gäste ist man verheiratet oder verschwägert, und wenn nicht, dann zumindest befreundet. Die Drohung der ewigen Verdammnis In den Fünfzigerjahren war Homosexualität in Grossbritannien ein krimineller Akt. Es wurden Razzien durchgeführt, Briefe und Tagebücher wurden als Beweismittel herangezogen. Bis in die Sechzigerjahre wurde Homosexualität als Krankheit angesehen, die man medizinisch zu heilen versuchte. Davies wurde im katholischen Umfeld beigebracht, sie sei eine Todsünde, die zu ewiger Verdammnis führe. Was daraus resultiert, sind verheimlichte Wünsche und Gedanken. Das ist schlecht für die

Im Wettbe­­werbs­­programm A Quiet Passion (2016, mit Cynthia Nixon) ist ein Biopic über die amerikanische Poetin Emily Dickinson.

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menschliche Seele, aber gut fürs Filmemachen: Die Seele von Terence Davies’ Werken liegt im Unausgesprochenen, im atmosphärischen Dazwischen – was per se eine filmische Qualität hat. «Ich mache meine Filme, um mit meiner eigenen Familiengeschichte klarzukommen. Hätte es kein Leiden gegeben, gäbe es auch keine Filme», sagte er in einem Interview. Seine Geschichten leben von der Beobachterrolle: Die Geschwister haben ihre Dates, die Schwester in «Distant Voices, Still Lives» bringt ein Kind zur Welt. Und für Davies’ Alter Ego bleiben unerfüllte Sehnsüchte und das Gefühl des Ausgeschlossenseins. Auch die Identitätsfindung ist unter anderem an die sexuelle Ausrichtung gebunden, und die eigene Identität ist umso mehr ein vorherrschendes Thema, wenn bestimmte Wünsche verboten sind. Dann wird sie zum Fluch. Genau das macht den kleinen Bud aus «A Long Day

Bildrausch-Hommage: «Terence Davies – Past and Passion» The Terence Davies Trilogy aus den Kurzfilmen «Children» (1976), «Madonna and Child» (1980), «Death and Transfiguration» (1983).

Distant Voices, Still Lives (1988) erzählt eine Familien­ geschichte im Liverpooler Arbeitermilieu in zwei Teilen.

The House of Mirth (2000, mit Gillian Anderson) ist eine Romanverfilmung nach der Vorlage von Edith Wharton.

Of Time and the City (2008) ist eine Hommage an Davies’ Heimatstadt Liverpool. Kompilationsfilm aus Archivmaterialien.

Sunset Song (2015, mit Agyness Deyn) ist eine Romanverfilmung nach der Vorlage von Lewis Grassic Gibbon.

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Closes» zum Verwandten von Emily Dickinson. Sie ist die Hauptfigur in Davies’ neustem Film «A Quiet Passion», der am Bildrausch im Wettbewerb läuft. Das Biopic erzählt vom Leben der Dichterin Emily Dickinson, die 1830 in Amherst, Massachusetts geboren wurde und als eigenwillige, zurückgezogene und psychisch labile Frau in ihrem Elternhaus wohnen blieb. Das Dichten wurde Emily Dickinson zwar nicht verboten (der Vater unterstützte es sogar, und einige Gedichte wurden auch publiziert). Dennoch entzieht sie sich mit ihrer Leidenschaft dem gängigen Weg, den eine Frau zu gehen hätte: Sie widersetzt sich den gesellschaftlichen Konventionen und einer Ehe, sie lässt sich von Selbstbestimmung leiten statt vom calvinistischen Glauben. Poesie statt Sex and the City In den Filmen, in denen nicht das kindliche Ich des Regisseurs im Zentrum steht, ist es meistens eine Frauenfigur, und zwar in einem patriarchal geprägten Umfeld, sei es in einer ländlichen Gegend Schottlands zu Beginn des Ersten Weltkriegs («Sunset Song»), in den gehobenen Kreisen New Yorks um die Jahrhundertwende («The House of Mirth») oder eben im Massachusetts des 19. Jahrhunderts («A Quiet Passion»). Lily Bart aus «The House of Mirth» hat sich beim Kartenspiel verschuldet und ist deshalb auf dem gesellschaftlichen Abstieg. Als Rettungsanker würde sich eine reiche Heirat anbieten. Trotz ihrer schwachen Position ist sie aber nicht bereit, sich den heuchlerischen Gesellschaftsstrukturen zu beugen. Terence Davies’ neuere Filme sind zu einem grossen Teil Literaturverfilmungen, zu denen er das Drehbuch wie immer selber geschrieben hat. Sie fokussieren auf Frauenfiguren, die in ein gesellschaftliches Korsett eingezwängt sind. Immer geht es um vorgegebene Lebensentwürfe und um fehlende Selbstbestimmung. Die Protagonistinnen bleiben Aussenseiterinnen, die vergeblich gegen die Strukturen ankämpfen. Die Liverpool-Filme zeigen uns ein eigenes Universum, eine Terence-Davies-Welt mit einer ganz spezifischen Seele. Die neueren verlieren die eigenständige Atmosphäre etwas ans zwar sehr sorgfältige, aber doch konventionelle Erzählen. Dafür beeindrucken sie mit ihrem Staraufgebot: Cynthia Nixon – bekannt aus «Sex and the City», hier in «A Quiet Passion» – und Gillian Anderson – bekannt aus «The X-Files», hier in «The House of Mirth» – haben wir so tatsächlich noch nie gesehen.

Bildrausch Filmfest, 21. bis 25. Juni, Stadtkino Basel und kult.kino Atelier, Basel. Terence Davies wird alle seine Filme ausser «Sunset Song» persönlich vorstellen. www.bildrausch-basel.ch

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9 7 Terence Davies (rechts) mit Kameramann Remi Adefarasin. 8 The Terence Davies Trilogy, 1983. 9 A Quiet Passion mit Cynthia Nixon, 2016. 10 Distant Voices, Still Lives mit Angela Walsh. Alle Bilder: ZVG

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« Ich hatte nie das Gefühl, ich sei ein Teil des Lebens.» Terence DAvies

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Bild: Rebecca Lupton

Mehr Rauschen, mehr Fiepen: Mit «Modern Kosmology» ist Jane Weaver noch etwas synthetischer geworden.

Im Synthie-Kosmos Alternative  Jane Weaver hat schon viele Alben veröffentlich. In den letzten Jahren hat sie

als bekennender Hawkwind-Fan den rauschenden Synthie für sich entdeckt. TEXT  HANSPETER KÜNZLER

Wenn ein englisches Album den Titel «Modern Kosmology» trägt, ist daraus einiges abzulesen. Zum Beispiel lässt es auf einen Sinn für Humor schliessen. Humor deswegen, weil es statt «Kosmology» richtig «Cosmology» heissen müsste. Das «K» spielt auf die Tatsache an, dass frühe elektronische Musik aus Deutschland in englischen Insider-Kreisen seit geraumer Weile mit brachialem Bier­ ernst «Kosmische» genannt wird (ja, nur Kosmische, ohne noch etwas dazu!). Dies wohl darum, weil Bands wie Tangerine Dream ihren Alben Titel wie «Alpha Centauri» verpassten und mit ihren Instrumenten gern ein Rauschen hervorbrachten, das sich bestens als Soundtrack für fliegende Untertassen in Science-Fiction-Filmen eignete. Nur eine Person, der es voll und ganz wohl ist in ihrer Haut, würde es wagen, sich über solche supercoolen Begriffe lustig zu machen. Eine Jane Weaver eben. Jane Weaver ist eine grossgewachsene Blondine, die gern lacht und Anekdoten erzählt aus der Zeit, als sie mit dem Vorschuss, den sie für ihren ersten Plattenvertrag kassierte, ein Wohnmobil erstand, um von Gratis-Festival zu Gratis-Festival zu kurven. Das war in den frühen Neunzigerjahren. Kill Laura hiess ihre erste Band, der legendäre BBC-Disc-Jockey John Peel war ein Fan. Es folgten ein, zwei andere Bands mit diskretem Erfolg, dann erfand sich Weaver neu als versponnene Folk-Sängerin 24

mit herbstlichen Träumermelodien. «Das war eine Lebensnotwendigkeit», erklärt sie und gluckst vergnügt. «Ich hatte keine Band mehr, musste aber doch noch etwas verdienen. Solo mit der Gitarre ging’s am einfachsten.» Trotzdem: Allerhand männliche Folkies seien von der Musikindustrie gefördert worden. «Aber wir Frauen rackerten uns vergeblich ab. Wir wurden einfach ignoriert.» So startete sie ein Plattenlabel für die Verstossenen, Bird Records. Ungefähr zu dieser Zeit entstand eine berufliche und private Verbindung mit dem DJ Andy Votel. Dieser führte das Plattenlabel Finders Keepers, das neben neuen Künstlern auch vergriffene Perlen aus der Welt der Soundtracks und elektronischen Musik wiederauflegte (darunter übrigens auch etliche Werke des Basler Elek­ tronik-Pioniers Bruno Spörri). Damit hatte Weaver Zugang zu einer massiven Sammlung von obskuren Meisterwerken. Der Einfluss war schon auf ihrem letzten «Folk»-Album zu spüren, so richtig zur Geltung kam er aber erst mit dem vor drei Jahren erschienenen Album «The Silver Globe». Nun trat die Künstlerin plötzlich mit einer Band auf und servierte eine pfundige Mischung von hypnotischen Riffs und psychedelischen, repetitiven Melodien. Ihre glockenklare Folk-Stimme verpasste dem handfesten Sound eine surreale, geradezu jenseitige Aura. «Ich hatte als Solokünstlerin meine Möglichkeiten ausSurprise 402/17


geschöpft», sagt sie. «Ich langweilte mich, Auftritte waren nur noch Pflicht. Ausserdem vermisste ich die faulen Sprüche im Tour-Bus mit einer Band.» Das Album schlug auch einen klanglichen Bogen zurück in die Zeit des Wohnmobiles und der freien Festivals: Eine Band, die quasi zum Inventar jedes Hippie-Festivals gehörte, war Hawkwind, eine nach Motorrädern und Whisky duftende Langhaartruppe, der eine Weile lang auch der Oberrocker Lemmy angehörte und die ihren «Space Rock» mit rauschend psychedelischen Klangeffekten aus dem Synthesizer verzierte. Weaver und sie wurden Wahlverwandte, auf «Silver Globe» tauchte ein Hawkwind-Sample auf. «Lustigerweise sah ich die Band nie gratis, ich musste immer zahlen!», lacht Weaver. Das Anti-Establishment – die Gegenkultur der Achtziger- und Neunzigerjahre – umfasste die Extreme: einerseits Typen in Lederjacken, die Speed-Tabletten schluckten, anderseits die Crusties und Hippies mit ihrem Acid. Bei den Raves und Gratis-Festivals kamen sie alle zusammen. Hawkwind hatten ein Bein in beiden Lagern und spielten überall. «Eine Zusammenkunft der Gegenkultur. Eine solche Freiheit kann man den jungen Menschen gar nicht mehr erklären. Heute ist ja alles so durch­­organisiert.» Mehr Synthies, mehr Rauschen, mehr Fiepen, mehr Diversität: Mit «Modern Kosmology» ist Jane Weaver noch ein bisschen synthetischer geworden, ohne indes die rhythmische Dringlichkeit verloren zu haben. Ein wichtiger Einfluss sei ein Konzert von Jane Weaver Jean-Michel Jarre gewesen: «Es brachte mich auf die Idee, alte Synthesizers zu gebrauchen, wie wenn ich Techno für einen Rave machen würde.» Durch das Album führt als thematischer roter Faden die eigentümliche Geschichte der schwedischen Künstlerin Hilma af Klint. Sie betrieb eine Art protofeministische Geheimgesellschaft und malte noch vor Mondrian und Kandinsky abstrakte Gemälde, für die sie sich durch spirituelle Seancen inspirieren liess. «Abgesehen von ihrer faszinierenden Kunst hat sie eine sehr reichhaltige Geschichte hinterlassen», sagt Weaver. «Die Beschäftigung mit der Kreativität eines anderen Künstlers hilft mir, meine eigene Kreativität auszuloten.»

Bild: zvg

«Wir Frauen rackerten uns vergeblich ab. Wir wurden einfach ignoriert.»

Jane Weaver: «Modern Kosmology» (Fire, 2017)

Randnotiz

Beautiful Freaks Dies ist für euch, ihr verrückten Leute da draussen: ein Text für die kleinen, schrägen Töne in der scheinbaren Harmonie. Ich zähle mich selbst auch dazu. Dass ich nicht normal bin, habe ich spätestens gemerkt, als man es mir sagte. Ich habe es zur Kenntnis genommen – es war kein Schock, denn der Norm zu entsprechen war nie mein Ziel. Nicht normal zu sein kann ein Geschenk sein. Es kann bedeuten, dass man anders denkt, aussergewöhnliche Ideen hat und etwas kreieren kann, was die Gesellschaft bereichert oder zumindest dich und dein Umfeld weiterbringt. Die Geschichte zeigt uns, dass oft als normal angesehen wurde, was wir im Rückblick als etwas Schreckliches sehen. Anders zu sein kann sehr gesund sein, vielleicht auch der Zeit voraus. Denn was gestern verrückt war, kann heute in unserer Gesellschaft schon normal sein. Für alle, die sich für angepasst halten, ist es endlich Zeit, die eigene Verrücktheit im Spiegel zu entdecken und zu betrachten, sie nicht weiter abzulehnen und zu unterdrücken. Denn sie bietet die Chance, authentischer und damit glücklicher zu sein. Sie kann die Farbe im Grau sein, die du vermisst hast. Die Kraft, die du brauchst, um weiterzukommen. Sie bietet die Möglichkeit, Grenzen zu überwinden und dir selbst und deinen Nächsten näherzukommen. Es gibt keine normale Welt, auch wenn wir das vielleicht denken. Es gibt nicht einmal eine objektive Realität. Alles, was es gibt, sind subjektive Wahrnehmungen. Jeder von uns sitzt auf seinem eigenen kleinen Planeten und sieht alles durch die Brille seiner einzigartigen Emotionalität. Wie sollten wir also alle das Gleiche wahrnehmen? Versteckt eure Verrücktheit nicht. Steht zu ihr, lasst sie zu. Die Gesellschaft braucht sie. Konfrontiert die anderen damit, denn wir brauchen Auseinandersetzung, im Grossen und Kleinen, damit wir geistig wachsen können. Ich mag euch, ihr schönen Freaks von gestern, heute und morgen. Ohne euch wäre es furchtbar langweilig, die Erde flach, Amerika unentdeckt und unsere Gedanken schwarzweiss. Ich würde auch diese Kolumne nie schreiben können – nicht mit einem Computer und nicht für diese Zeitschrift.

Florian Burkhardt war Sportler, Model und Internetpionier. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert. Soeben ist seine Autobiografie «Das Kind meiner Mutter» im Wörtersee-Verlag erschienen.

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Illustr ation: David böhm

Kopfopedia Buch «Kopf im Kopf» ist ein kunterbuntes Kompendium,

das witzig, fantasievoll und verspielt Wissen vermittelt. Es gibt wunderbare Zungenbrecher, zum Beispiel: In Ulm und um Ulm und um Ulm herum. Nun noch an ein paar Schräubchen gedreht, und schon wird daraus: Im Kopf und um’n Kopf und um’n Kopf herum. Und damit die passende Formel, die sich unweigerlich aufdrängt, wenn man sich durch das Buch «Kopf im Kopf» von Ondrej Buddeus (Text) und David Böhm (Illustrationen) blättert. Denn in diesem findet sich eine schier unerschöpfliche und fantasievolle Fülle von Wissenswertem, Verspieltem und Poetischem rund um und im und um den Kopf herum. Damit man am Schluss noch weiss, wo einem der Kopf steht, ist das Ganze in drei Kapitel aufgeteilt. Zuerst die Annäherung von aussen: «Wie ein Kopf aussieht». Dann eine an den Kopf an sich: «Was ein Kopf ist». Und schliesslich ein Abtauchen ins Schon Tief-beiund Abgründige: «Was in den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit Jahr 1896 einem Kopf drinsteckt». Also dorthin, woim die Träume wohwurden Fechtkämpfe ausgetragen. nen, ins Unterbewusstsein, in die Neugier und das Genie, Die Geschichte des Fechtens reicht weit in die Geschichteund der Menschheit in die Schlauheit und Dickschädeligkeit, vor allem zum zurück. Und obwohl Fechten immer grossen Chef, dem Gehirn, das uns auch mal Kopfzerbreauch eine Kampfkunst war, ist es doch chen und Kopfschmerzen bereitet. zugleich ein sportlicher Wettbewerb, beitschechischen dem es darum geht, den Gegner Aus all dem haben die Autoren ein Sachzu besiegen, ohne ihn zu verletzen. buch für Klein und GrossFechterinnen kreiert, das Bogen abwechsundden Fechter müssen stets höchst konzentriert sein, spannt. lungsreich von Comic bis zu lexikalischem Wissen exakt handeln, schnell reagieren und Da finden sich jede Menge Redensarten zu Nase, Auge, dabei Körper und Geist vollkommen Mund, Hals und Ohren (jedes Päckchen auf Fechtsport eine neue, einbeherrschen. Im heutigen werdenwitzige keinerlei kleine Schwerter benutzt, oder, fallsreiche Weise bebildert), Gedichte, sondern nur noch Degen, Säbel oder wie ein Buch im Buch,Florett. ein langer Comic zu einem Mythos Und weil jeder wirkliche Treffer wehtun kann, schützen aus Australien, der Weltganz derschön Kopffüssler. Dazwischen einFechtsportlerinnen und -sportler ihren gestreut aufwendig gestaltete Aufklappbilder, wie etwa das gesamten Körper und tragen eine zum Erstellen eines Phantombilds, Kopfland (engl. Fechtmaske zum mit stabilem Stahlgewebe-Visier. Faceland, lat. Terra Birna) oder zu den Gehirnzentren, ein Schema, das stark an eine WG erinnert. Dann geht es u.a. auch um das Verhüllen des Kopfes, vom Banditen über die Burkaträgerin bis zum Astronauten, um Falten und das Wachstum von Nase und Ohren nach dem Tod, und und und … Es ist beeindruckend, wie viele Ansätze die Autoren finden und vor allem, wie viele immer wieder andere und neue gestalterische Mittel, um Wissen auf witzige, fantasievolle und verspielte Weise zu vermitteln. 46 Entstanden ist dabei ein Wikipedia des Kopfes, ein Kopfopedia, in dem man beim Blättern gerne mal ein bisschen den Kopf verliert, weil man danach ganz sicher eines nicht mehr ist: auf den Kopf gefallen. Christopher Zimmer

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Ondrej Buddeus & David Böhm: «Kopf im Kopf», Karl Rauch Verlag 2016, CHF 36.90

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Bild(1): zvg, Bild(2): Rania Matar, Bild(3): Travelling_© No23Prod, Bild(4): ZVG, Bild(5): Brett Weir

Veranstaltungen Basel Kunst: «Kongo am Rhein» 10. Juni bis 2. Juli, verschiedene Veranstaltungsorte, www.kongo-am-rhein.org

«Verdichten!», müssen sich die Kuratoren des Festivals «Kongo am Rhein» gedacht haben, als sie den Plan fassten, innert dreier Wochen die Kultur des gigantischen Landes im Herzen von Afrika in Basel zu präsentieren. Allein die kongolesische Hauptstadt Kinshasa hat mehr Einwohner als die ganze Schweiz, weniger Sicherheit und mehr Dynamik. Umso spannender die Frage, was Kunstschaffen hier und dort bedeutet und wer unter welchen Bedingungen mitbestimmen und mitgestalten darf – dies soll im Mittelpunkt der zahlreichen Veranstaltungen aus Kunst, Musik, Literatur, Theater und Performance stehen. WIN

Basel Ausstellung: «L’Enfant-Femme and Invisible Children» Vernissage 15. Juni, 17 Uhr, Ausstellung bis 12. August, Gerbergässlein 6, Basel, www.galerieeulenspiegel.ch

Stück Sichtbarkeit zurück und löst sie so heraus aus der urbanen Fassade, zu deren Teil sie bereits geworden zu sein scheinen. WIN

Fribourg Theater: «Belluard Bollwerk International» 22. Juni bis 2. Juli, verschiedene Spiel­ orte, Fribourg, www.belluard.ch

seit Jahren lustvoll zunutze. So verwandelt Britt Hatzius ein brachliegendes Gelände mittels Kinderstimmen aus Kopfhörern in eine Zukunftsvision. Martin Schick formt die Bergwelt am Schwarzsee zu einer Ausstellung um, die uns die Welt zu Füssen legt – hier werden Landschaften bespielt, hier wird auf einer Tour durchs Gelände Gewohntes unterwandert. Und der Schweizer Künstler Massimo Furlan reist mit uns per Bus durch die Nacht und lässt im Lichtkegel eines Scheinwerfers verstohlene Szenen aus der Dunkelheit aufleuchten. DIF

lem Storytelling – aber hier werden Sie auch beglückt, wenn Sie Arthouse-Filme mögen. Denn das Fantastische ist ein breiter Begriff und kann auch ganz zart und intellektuell daherkommen. DIF

Zürich Ausstellung: «Brett Weir» 29. Juni bis 15. Juli, Do und Fr, 12 bis 19 Uhr, Sa 12 bis 17 Uhr. Danach: Vitrinen­projekt Gianluca Trifilo, Tart Zürich , Gotthardstrasse 54, Zürich, www.tartart.ch

Neuchâtel Film: «Neuchâtel Fantastic Film Festival» 30. Juni bis 8. Juli, Neuchâtel, www.nifff.ch

Miike Takashi hat uns vor acht Jahren mit seinem Horrordrama «Audition» die Söckchen abgezogen, jetzt schenkt er uns die Verfilmung eines Kultmangas von Araki Hirohiko: «JoJo’s Bizarre Adventure: Diamond Is Unbreakable». Sollten Ihre Kinder ab und an in seltsamen Kostümen herumlaufen und die Bettlektüre von hinten nach vorne lesen, dann gehen Sie ans NIFFF – es verschafft Ihnen Zugang zu ihrer Gedankenwelt. Das Neuchâtel International Fantastic Film Festival hat tatsächlich Freude an Asiatischem und digita-

Der Australier Brett Weir ist viel herumgekommen und hat die Welt nach Themen wie Zugehörigkeit, Zuordnung und narrative Erinnerung abgeklopft. Das klingt abstrakt, aber seine Kunst baut durchaus auf konkrete persönliche Erfahrungen. Stimmt trotzdem: Die grossen Themen fliessen dann wieder als Farbe und Form auf die Leinwand, ohne gegenständlich zu werden. Nach Weir zieht Gianluca Trifilo mit Themen in die Vitrine ein, die Zürchern vertraut sind. Es geht um die Platzspitz-Schliessung in den Neunzigern, um Randgesellschaften und ihren Platz in der Gesellschaft, um eine neue Urbanität, um Verstädterung und gesellschaftliche Normen des Stadtbildes: um unsere Lieblingsfragen DIF also.

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Wir sind für Sie da. Seit drei Jahren porträtiert die libanesisch-amerikanische Fotografin Rania Matar syrische Kinder auf den Strassen von Beirut, die den Beirutern ihre Dienste als Schuhputzer, Rosen- oder Taschentuchverkäuferinnen anbieten. Die Blicke der Kinder und Jugendlichen zeugen von Misstrauen, Ermüdung, Vorsicht. Matar, selbst Mutter von vier Kindern, gibt den Porträtierten mit ihren Porträts ein

grundsätzlich ganzheitlich

Im Theater sind die Figuren weder Papier noch Projektion. Sondern hier und jetzt, wie wir selbst. Die Erzählzeit ist echte Zeit. Theater ist Fiktion, die sich mit unserer Realität verschmelzen kann. Das macht sich das Belluard-Festival

365 Tage offen von 8-20 Uhr St. Peterstr. 16 | 8001 Zürich | 044 211 44 77 www.stpeter-apotheke.com

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

02

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau, Nidau

03

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

04

Hervorragend AG, Bern

05

Lisa Stettler Körpertherapie, Bäch

06

Coop Genossenschaft, Basel

07

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

08

Maya-Recordings, Oberstammheim

09

Scherrer & Partner, Basel

10

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

11

ChemOil Logistics AG, Basel

12

Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

13

Institut und Praxis Colibri, Murten

14

Kaiser Software GmbH, Bern

15

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

16

Rechtsanwalt Peter von Burg, Zürich

17

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

18

Hofstetter Holding AG, Bern

19

Hedi Hauswirth Privat-Pflege, Oetwil am See

20

Echtzeit Verlag, Basel

21

OpenTrack Railway Technology GmbH, Zürich

22

Intercelix AG, Basel

23

Naef Landschaftsarchitekten GmbH, Brugg

24

Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

25

PS: Immotreuhand GmbH, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Das Leben schenkte Marlis Dietiker alles, wovon sie geträumt hatte: eine Familie, Kinder, ein Haus und einen Beruf. Doch beinah alles wurde ihr wieder genommen. Schwere Krankheiten, die Trennung von ihrem Mann und später sein Tod liessen die Mutter von drei Kindern allein und gesundheitlich schwer angeschlagen am Existenzminimum zurück. Seit 2007 verkauft Marlis Dietiker in Olten das Surprise Strassenmagazin. Dank dem SurPlus-Programm ist sie bei Krankheit sozial abgesichert. Dies ermöglichte der engagierten Surprise-Verkäuferin die dringend benötigte Herzoperation und die Genesung, was ihr letztlich das Leben rettete.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise

Stolze Besitzerin der 400sten SurpriseAusgabe, dank Ghide Gherezgihier, des charmantesten Re­präsentanten in Biel/Bienne!

N. Schnetzler, über Facebook

Ausgabe 400

Stadtrundgang

Das neue Layout passt ausgezeichnet zum Inhalt. Die Beiträge waren schon immer eine Alternative zum Main­ stream, und nun ist es auch die Aufma­ chung. Ich hoffe sehr, das empfinden auch andere so. Daumen hoch!

Tour mit Heiko Schmitz: Kompetent und wohltuender sprachlicher Genuss, informativ, klar, ehrlich und auch witzig. Kompliment, und weiter so.

P. Kramer, Bänk (Dägerlen)

C. Brunschwiler, Basel

Leserbrief

Klar und ehrlich

Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99
 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M +41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo

Mitarbeitende dieser Ausgabe Christina Bacher, Hanspeter Künzler, Patrick Tombola, Patrick Witte, Stefan Borghardt, Diana Paola Cabrera Rojas Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach

Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) und Sara Winter Sayilir (win)

Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

Amir Ali (ami), Reporter: Beat Camenzind (bc), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer

Auflage  22 700

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsen­dungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinaus­gehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkau­ fenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Ausgabe 399 Leserbrief Editorial Auch mir ist aufgefallen, dass in letzter Zeit ausländische Themen Vorrang haben. Und so fällt mir der Entschluss leicht, mich vorläufig von Surprise zu trennen. Wir haben in der Schweiz sehr viele bzw. genug soziale Prob­leme. Und ich meinte immer, dass Surprise für diese Menschen und Probleme die Stimme erhebt. Dem ist aber nicht mehr so. Wenn ich Surprise lese, in­­teressiert mich nicht die Obdachlosigkeit in Europa, die Probleme in Brasilien, ebenso wenig in Afrika. Denn da kann ich nichts bewirken. Wenn ich feststelle, dass die sozialen Probleme in der Schweiz wieder Hauptteil von Surprise werden, werde ich das Heft wieder kaufen. U. Rösli, Zürich

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift

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Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Surprise, Spaltentorweg 20, CH-4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@surprise.ngo

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Foto: Bodar a

Surprise-Porträt

«Meinen Kindern soll es gut gehen» «Ich lache gern und viel, das hilft mir auch beim Surprise-Verkauf. Keiner kauft ein Heft von einer trüben Tasse. Auch wenn die Leute an mir vorbeigehen, bleibe ich freundlich. Vielleicht beim nächsten Mal, denke ich dann. Es gibt auch keinen Grund für mich, schlecht gelaunt zu sein, denn ich liebe diesen Job. Ich kann meine Arbeit selber einteilen, lerne viele Menschen kennen, kann mein Deutsch verbessern und verdiene mein Geld. Einfach nur zuhause herumzusitzen wäre nichts für mich. Inzwischen bin ich ziemlich bekannt hier in Stäfa. Ich verkaufe Surprise seit zehn Jahren vor der Migros. Kurz nachdem ich damit angefangen hatte, wurde die Zürichsee-Zeitung auf mich aufmerksam. Es hatten sich Leute auf der Redaktion gemeldet. Die wollten wissen, wer ich bin und warum ich Surprise verkaufe. Der Artikel steigerte meinen Bekanntheitsgrad. Negative Reaktionen hatte ich keine. Geboren bin ich vor 50 Jahren in Mekelle in Äthiopien. Wegen des Kriegs bin ich im Norden des Landes mehrmals umgezogen. Da habe ich als Köchin gearbeitet. Mit 17 wurde ich das erste Mal schwanger von meinem Ex-Mann, mit ihm habe ich drei Kinder. Sie leben in Äthiopien. Meine älteste Tochter ist 33 und hat selber eine 14-jährige Tochter. Ich war also mit 36 schon Grossmutter. Meine Eltern und Geschwister haben die Erziehung meiner drei Kinder in Äthiopien übernommen. Denn ich hatte mich in einen Schweizer verliebt und bin mit ihm 1999 hierhergekommen. Jeden Sommer fliege ich nach Äthiopien, um meine Kinder zu sehen. Das ist nicht optimal für mich, aber immerhin kann ich meine Familie so regelmässig sehen. Meinen Kindern soll es gut gehen, deshalb will ich hier mein eigenes Geld verdienen. Einen Teil davon schicke ich meinen Kindern nach Äthiopien. Oder ich verwöhne meine zwei jüngsten Kinder mit schönen Schuhen oder einer Creme. Ja, insgesamt habe ich fünf Kinder. Zwei leben hier in der Schweiz. Die Tochter ist 23 und schon ausgezogen. Der Sohn ist 20 und im dritten Lehrjahr zum Logistiker. Für sie war und bin ich immer da. Ich will sie zu guten Menschen erziehen. Mein zweiter Mann ist 65 und seit zwei Jahren pensioniert. Er war Delegierter des IKRK und Vertreter anderer Hilfsorganisationen in Äthiopien. Ich arbeitete in einem Restaurant, wo er Stammgast war. Da er bereits früher in Äthiopien gearbeitet hatte, konnten wir uns in der lokalen Sprache unterhalten. 30

Genet Hishe, 50, verkauft das Surprise Strassenmagazin in Stäfa an der Zürcher Goldküste. Zuhause herumzusitzen ist nichts für die fünffache Mutter.

Der Anfang hier in der Schweiz war schwierig für mich. Ich konnte die Sprache nicht, kannte niemanden und verbrachte die Zeit mit meinen Kindern zuhause. Als die Kinder in die Schule kamen, schaute ich mich nach einer Arbeit um und fand sie über einen Eritreer, der vor der Migros Surprise verkaufte. Die Migros befindet sich im Zentrum Goethestrasse mit weiteren Läden. Dort kenne ich fast alle Angestellten. Der Drogist hat dafür gesorgt, dass ich im überdeckten Eingangsbereich Surprise verkaufen kann. In meiner Freizeit gehe ich viel spazieren. Denn es ist schon anstrengend. Manchmal schmerzen mir die Füsse oder der Rücken. Ich bin immer in Bewegung. Einen Tag pro Woche arbeite ich als Putzfrau. Meinen Engel trage ich fast immer an einer Kette um den Hals. Der tut mir gut und gibt Kraft. Aber eigentlich ist er für alle da. An Festtagen putze ich mich heraus und trage äthiopische Trachten. Und am 1. August dekoriere ich mein Kleid mit Schweizerfähnchen.» Aufgezeichnet von BEAT CAMENZIND Surprise 402/17


Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden

GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO


Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS BASEL BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 LUZERN Jazzkantine zum Graben, Garbenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 Blend Teehaus, Furrengasse 7 RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brassierie Lorraine, Quartiergasse 17 Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Sphères, Hardturmstr. 66 STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


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