Surprise Nr. 405

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Strassenmagazin Nr. 405 28. Juli bis 10. August 2017

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Literaturausgabe

Heureka!

Kurze Geschichten für einen langen Sommer. Von Mitra Devi, Franz Hohler, Tim Krohn, Klaus Merz, Milena Moser, Ralf Schlatter, Christoph Simon und Ulrike Ulrich


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TiteLbild: Priska Wenger

Editorial

Fakten und Fiktion Dies ist die zweite unserer diesjährigen Literatur-Sonderausgaben. Nachdem im letzten Heft ausschliesslich Texte von jungen, noch wenig bekannten Autorinnen zu lesen waren, sind hier Kurzgeschichten von etablierten Namen des Schweizer Literaturbetriebs versammelt. Die Themenvorgabe lautete «Heureka!», und auch dieses Jahr haben wir viele Geschichten geschenkt bekommen von Menschen, die vom Schreiben leben. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken. Fakten und Fiktion, Journalismus und Literatur liegen nahe beieinander, die Übergänge sind fliessend. Zum Beispiel beim Berner Autor und Kabarettisten Christoph Simon, der ein Anti-Schlaraffenland zeichnet, um uns etwas über unsere Zeit zu erzählen. Und sich dazu der auf Redak­ tionen so beliebten Form des Experteninterviews bedient (Seite 4).

Wir Journalisten halten uns an die Wirklichkeit – zumindest sollten wir das. Wir können kaum über das hinaus berichten, was bereits geschehen ist oder gerade geschieht. Wo vernünftiger Journalismus in aller Regel also endet, kommt die Fiktion zum Einsatz, die zu Ende denken kann, was gerade am Laufen ist. Die unsere Gegenwart zur Vergangenheit und die Zukunft zur Gegenwart machen darf. So wie in der Geschichte von Milena Moser, in der die Digitalisierung zu einem Besuch auf einer abgelegenen Farm führt. Und zur Übergabe einer Reiseschreibmaschine (Seite 6). Falls Sie Surprise Nr. 404 mit den Texten der Nachwuchs-Literatinnen verpasst haben, können Sie sie zum Preis von CHF 6.– plus Porto nachbestellen: info@surprise.ngo. Und ab der Ausgabe 406 sind wir wie gewohnt zurück mit Fakten. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Amir Ali  Redaktor

Illustrationen

4 Christoph Simon

Vom Schaffenland 6 Milena Moser

Die Zukunft war gestern 10 Ralf Schlatter Die Zeichnungen in dieser Ausgabe stammen von Priska Wenger, die bereits mehrere Sonderhefte von Surprise illustriert hat. Sie lebt und arbeitet in New York und Biel.

Die Legende von Paul und Paula auf dem Dorfe 13 Ulrike Ulrich

Auftrieb 15 Mitra Devi

Mord im Schatten des Jupiter Surprise 405/17

19 Franz Hohler

Gefunden! 21 Klaus Merz

Der Erbe oder Er hatte gefunden, was er brauchte 23 Tim Krohn

Einfühlungsvermögen 26 Rätsel

Kreuzworträtsel mit Wettbewerb

28 Surplus 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Verkäuferporträt

«Beim Kaffeekochen kann ich mich entspannen» 31 Lösungen der Rätsel aus Ausgabe 404

27 Rätsel

Sudoku

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Vom Schaffenland Von  Christoph Simon

Sie haben es also gefunden? Das habe ich! Die Antwort auf alles? Und ob! Mögen Sie uns Ihr Heureka verraten? Wissen Sie, was die Beatles hätten singen sollen? «All you need is work». Macht Arbeit nicht schön? Hält sie nicht jung? Wer kennt sie nicht, die Mitarbeiter, die strahlend durchs Büro federn! Leider ist die Zahl derer, die es auf sich nehmen, die alltägliche Freizeitmühle anzuhalten und ins Arbeitsleben einzusteigen, schwindend. Zu gross ist die Angst, nicht mehr an den ursprünglichen Platz auf dem Sofa zurückkehren zu können. Zu mäch­­tig die Vorurteile, die in unserer Gesellschaft den Menschen entgegengebracht werden, die von Herzen gern arbeiten. Wer einsteigt, gilt als Streber. Dabei ist Arbeit die Lösung für alle, die die Sinnfrage stellen. Die sich fragen, ob Freizeit schon alles ist. «Arbeitszeit ... ... kann man nicht einsparen wie Geschirrspülzeit», sagte schon Ende der Fünfzigerjahre – und damit längst vor dem grossen Boom – der Sozialgeschichtler Mirko Schmidt in seinem Buch «Arbeit. Unsterblichkeit und Freiheit». Kann Arbeit nicht auch Qual sein? Die Finger brezelartig auf Tastaturen verschlungen oder die Arme gegen Fräsen gestreckt, während der Knall einer Vorarbei4

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ter-Peitsche den Raum erfüllt. Solche Bilder, die manchem sofort in den Sinn kommen, wenn das Wort Arbeit fällt, erzählen nicht die ganze Wahrheit. Das Wort «Arbeit» stammt aus dem Altnorwegischen und bedeutet so viel wie vereinen, verbinden – die Einheit von Körper, Geist und so fort. Nur Arbeit tröstet einen über trostlose Champions-League-Vorrundenspiele hinweg. Ist die Liebe zur eigenen Arbeit nicht ein Privileg weniger Menschen, wie Levi behauptet? Arbeitet der Mensch, wie Unamuno vermutet, nicht allein, um Arbeit zu vermeiden? Arbeitet er einzig, um nicht arbeiten zu müssen? Sie stellen die richtigen Fragen mit falschem Unterton. Sehen Sie: Arbeit verbindet uns mit den Göttern, Arbeit deckt eine Menge Sünden zu, Arbeit erträgt alles, nichts Gemeines gibt es in der Arbeit, ohne Arbeit ist den Göttern nichts wohlgefällig. Johann Kaspar Lavater sagt, selbst im Himmel könnten wir ohne eine Beschäftigung nicht gesegnet sein. Menschen, die sich von klein auf betätigt fühlen, haben die besten Chancen für ein erfülltes Arbeitsleben. Psychologen haben festgestellt: Tätige Kinder sind als Erwachsene weniger teilzeitgefährdet. Kann Arbeitswille erlernt werden? Doris Hoffman ist davon überzeugt. Mit ihrem soeben erschienenen Buch «Rundum beschäftigt» schreibt sie eine «Anleitung zu ganzheitlichem Wohlbefinden». Der 230 Seiten umfassende Band ist ein kleiner Zitatenschatz, appelliert an die eigene Verantwortung und verspricht anhand von 64 Musterberufen (Bauer, Bäcker, Literaturagentin usf.) einen «Schlüssel zu Gesundheit und Glück». Von vielen, so die Autorin, werde das Arbeiten immer noch lediglich als Zustand des Offenbar-nichtkrank-Seins wahrgenommen. Hoffmans Ansatz eines «Gesundarbeitens» räumt daher dem Gefühl – dem «Erleben von Arbeit» – einen entscheidenden Platz ein. «Arbeit als Gefühl zu erleben, aufzubauen, zu stärken und durchgängig den Lebensstil bestimmen zu lassen», das ist das erklärte Ziel von Hoffmans Ausführungen. Versehen mit Zitaten aus dem I Ging, von Nikolaus von Kues oder Konfuzius gibt die Autorin Anleitungen zum Aufbau und zur Durchführung geleiteter Projekte, stellt «Reisen ins Bewusste» vor. Für Sie selbst stellt sich die Frage nach weniger Arbeit nicht? Nein. Wieso verdienen immer weniger Schweizer ihren Lebensunterhalt noch mit Arbeit? Im Jahr 2005 waren es nur noch 35 Prozent oder 2,8 Millionen. Ein steigender Anteil an Studenten, Backpackers und Rentnern bildet den Hintergrund für diese Zahlen. Immer wichtiger wird auch die Erbvernichtung und die finanzielle Ausnutzung von Angehörigen. Als Chef sind Sie heute kein Sklaventreiber mehr. Richtig. «Hört zu, ich will euch von einem guten Lande sagen, dahin würde mancher auswandern, wüsste er, wo selbes läge. Wer anders kann als nur schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird dort zum Grafen ernannt. Jede Stunde Arbeit bringt einen Gulden ein und jede Überstunde einen Doppeltaler.» Von diesem – leider nie entdeckten – Land, dem «Schaffenland», berichtet uns Ludwig Bechstein in einem Märchen. Aber die Realität sieht anders aus: Jedes Wochenende klingelt der Wecker und ruft uns in Freizeitvorhaben. Und dennoch träumen wir alle hin und wieder von diesem Schaffenland und davon, wie es denn wohl wäre – ein arbeitsames Leben. Herr Simon, können Sie Ihre Botschaft kurz zusammenfassen? «All you need is work», hätten sie singen sollen, die Beatles. Das haben Sie erwähnt. Surprise 405/17

Das Leben ist seiner Natur nach Arbeit. Arbeit ist ihrer Natur nach Glück. Jedermann und jedefrau ist zur Arbeit geboren. Von überall hören wir, dass im Inneren jedes Menschen ein Potenzial verborgen liegt. Es liegt nicht deshalb im Inneren verborgen, weil es etwa schwierig wäre, es nach aussen zu bringen, sondern ganz einfach, weil wir es nicht nach aussen bringen. Ein Reservoir aller Kraft, aller Kreativität, von Frieden und Glück existiert, und das menschliche Gehirn ist mit der Fähigkeit begabt, absolutes Glück und absoluten Fleiss zu erfahren. Das Einzige, was man dazu tun muss, ist, Arbeit in die tägliche Routine einzufügen. Rekapitulieren wir. Was ist also Arbeit? Arbeit ist eine anstrengungslose Methode, die den Geist zum Ursprung führt, an dem dieser zu reinem Bewusstsein wird. Zu vergleichen mit einer Welle, die im Ozean aufgeht. Energie, die nun für Freizeitgestaltung bereitsteht? Nein, für mehr Arbeit. Warum ist Arbeit anstrengungslos? Weil sie natürlich ist. Sie beruht auf dem einfachen Prinzip, dass sich der menschliche Geist seiner natürlichen Tendenz nach grösserer Befriedigung zuwendet. Wenn Sie im Radio einer Melodie zuhören und ein Kind plötzlich eine hübschere Melodie summt, so ist keine Übung notwendig, um das Radio abzustellen. Der Trick bei der Arbeit besteht darin, den Geist in die richtige Richtung zu lenken. Arbeit an sich übt eine Anziehungskraft auf den Geist aus. Eine spontane Bewegung des Geistes in Richtung eines Feldes von Seligkeit. Wie unterscheidet sich Arbeit von anderen Vergnügungen? Sie bedarf keiner Kameraden. Spiele etwa produzieren Gewinner und Verlierer. Also Spannungen. Arbeit ist kein Spiel, sondern ein Prozess, der den Geist aus gröberen Schichten des Bewusstseins zu subtileren Bereichen führt. Kann jeder das Arbeiten lernen? Was sind die Vorausset­ zungen? Üblicherweise lernt man bei einem Meister. In den vergangenen Jahrzehnten haben Millionen von Menschen Arbeiten gelernt – von Eltern, Vorbildern in Sport und Kultur, von den Schriften Calvins und Franklins. Schon Julius Cäsar vermutete einen positiven Zusammenhang zwischen Arbeit und beruflichem Erfolg. Vielen Dank für das Gespräch. Ich danke Ihnen. Wir alle sind angehalten, bruttosozialproduktzersetzenden Tendenzen entgegenzusteuern. Christoph Simon,  geboren 1972, lebt als Schriftsteller und Kabarettist in Bern. Zurzeit ist er mit seinen Soloprogrammen «Wahre Freude» und «Zweite Chance» unterwegs.

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Die Zukunft war gestern Von Milena Moser

Die Schriftstellerin schaut von ihrem Schreibtisch auf. Vor ihrem Fenster bricht gerade der Tag an. Das erste Licht ist rosa und blau. Die Bergketten am Horizont fast violett. Was ist das für ein Geräusch? Hufe klappern, ein Pferd wiehert. Nicht ihres. Sie nimmt die Schrotflinte vom Haken an der Tür. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie sie zuletzt gebraucht hat. Oder ob überhaupt. Aber eine fast neunzigjährige Frau, die allein in der Hochwüste lebt, einen Tagesritt vom nächsten Nachbarn entfernt, muss wenigstens so aussehen, als könnte sie nichts erschrecken. Sie öffnet die Tür, die Flinte im Anschlag, muss über sich selber lachen. Wenn sie sich jetzt nur nicht die Schulter ausrenkt. Die Luft noch frisch. Der Boden unter ihren Füssen kalt. Schatten bewegen sich zwischen den Steinen und den Kakteen. Die Nachttiere verkriechen sich, die Tagbewohner wachen auf. Schichtwechsel in der Wüste. Ohne das Geräusch hätte sie diesen Moment verpasst. Dabei versucht sie jeden Tag, die Sonne morgens zu begrüssen und abends zu verabschieden. Manchmal ist sie so in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht merkt, wie der Tag vergeht. Oder die Nacht. Sie muss die ganze Nacht geschrieben haben. Ihre Knochen klappern, die Gelenke knacken und 6

quietschen. Sie streckt die Arme über den Kopf. Ein Schuss löst sich aus der Flinte. Der Rückstoss wirft sie zu Boden. Aber sie hat sich nicht verhört. Die Hufe klappern nähern. Ein fremdes Pferd bleibt in angemessenem Abstand zu ihr stehen. Der Reiter springt recht elegant ab, nimmt seinen Hut ab und hält ihn vor die Brust. Er deutet eine Verbeugung an. «Kann ich Ihnen helfen?» «Sie müssen wohl!» Sie streckt die Hand aus, er hilft ihr auf die Beine. Verärgert klopft sie den Staub von ihren Kleidern. Ihr furchtloser Auftritt ist ruiniert. «Ich habe Ihnen einen Brief geschrieben», sagt er. Sie versucht sich zu erinnern. Sehr viele Briefe bekommt sie ja nicht mehr. «Aber ja», sagt sie. «Jetzt weiss ich es wieder: Sie kommen von einer Universität? Aus der Schweiz? Ich habe Sie früher erwartet ... oder vielleicht auch später.» «Na ja, Sie sind nicht so leicht zu finden.» Sie deutet mit dem Kinn zur Koppel. Schaut zu, wie er den Sattel abnimmt und auf einen Balken legt und die Satteltasche abschnallt. Er war lange genug unterwegs, um zu wissen, wie man ein Pferd versorgt. Sie öffnet das Gatter und lässt ihn dann allein. Sie geht zurück ins Haus. Surprise 405/17


Der Morgen ist kühl. Sie macht ein Feuer im Kamin. Nach einer Weile klopft er an den offenen Türrahmen. Höflich ist er, denkt sie. Und sauber. Er muss sich an der Pumpe gewaschen haben. «Kommen Sie herein!» Sie räumt ihre Papiere vom Schreibtisch. Löscht die Kerze, die auf dem Fensterbrett steht, und schaltet das Deckenlicht aus. «Sie haben Strom?», fragt er. «Solar. 360 Tage Sonne im Jahr ...» «Hm.» Sie wirft die Kaffeemaschine an, stellt Tassen auf den Tisch. Der junge Mann hat Schokolade mitgebracht, die allerdings unterwegs geschmolzen ist und sich jetzt zu einer seltsam gekrümmten Form verhärtet. Trotzdem bedankt sie sich. Er nimmt einen Schluck Kaffee, schliesst verzückt die Augen. Sie lächelt und nickt. Sie gehört nicht zu denen, die jeder Technologie abgeschworen haben. Nicht, wenn es um Kaffee geht. Dann packt er sein Notizheft aus. «Darf ich das einmal anschauen?» Sie streckt die Hand danach aus. Er gibt es nur ungern her. «Ich habe es selber gebunden», sagt er. «Viel praktischer als eine Blättermappe! Wir kommen jetzt immer mehr auf diese alten Methoden zurück ...» «Alten Methoden?» «Womit wir beim Thema wären. Wie ich Ihnen geschrieben habe, möchte ich gerne wissen, wie es direkt vor dem Rip war.» «Direkt davor?» Sie versucht sich zu erinnern. «Es war furchtbar», sagt sie. «Ich hasste es. Wie viel wissen Sie über die Zeit der Constant Connectivity?» «Nicht viel. Ich bin ja nach dem Rip geboren. Aber ich habe natürlich davon gehört. Das war die Zeit, in der die Bücher verschwanden, nicht?» «Nicht sofort», sagt die Schriftstellerin. «Aber da fing es an ... Lassen Sie mich nachdenken ... In der Erinnerung vermischt sich alles ... Ich glaube, für mich begann es mit diesem Social-Media-Workshop, zu dem mich mein Verlag eingeladen hatte. Nicht nur mich. Alle Autoren wurden aufgeboten. Zwei Tage lang sassen wir wie Schulkinder in den Bänken und hörten einer blutjungen Expertin zu, die uns in die verschiedenen Formate einführte. Es war alles sehr verwirrend. Obwohl es damals noch gar nicht so viele Plattformen gab wie kurz vor dem Ende. Ich erinnere mich, dass ich eine Grippe hatte. Ich wusste nie, ob ich sie im Fieberwahn wirklich richtig verstanden hatte. Später konnte ich auch meine Notizen nicht mehr entziffern. Wir sollten absolut transparent und authentisch sein. Andererseits sollten wir provozieren, um Likes und Shares und Followers anzuhäufen wie Nüsse für den Winter. Mehrmals täglich mussten wir posten und sharen und haten und liken. Snappen und chatten und bloggen. ‹Und wann haben wir Zeit, unsere Bücher zu schreiben?›, platzte einer heraus und sprach damit aus, was wir alle dachten. Die Expertin schaute uns nur mit grossen Augen an. Sie war so jung. Im Gegensatz zu uns konnte sie die Zukunft bereits riechen. Bücher? Wer interessierte sich noch für Bücher? Wer hatte noch die Zeit, sie zu lesen?» Surprise 405/17

«Und dann gab es ja auch bald schon keine Bücher mehr, nicht?» Der junge Mann schaut von seinen Notizen auf. Sie ist einen Moment lang abgelenkt. «Womit schreiben Sie, ist das ein Bleistift?» «Ein Kohlenstift. Bleistifte sind wieder enorm im Kommen, ich habe aber noch keinen gesehen.» Sie lächelt und steht auf. «Kommen Sie!» Sie öffnet ihren Vorratsschrank und zieht eine Schublade auf. «Schauen Sie!» Die ganze Schublade ist voller Bleistifte, gelbe, graue, blaue, mit Radiergummikappe und mit Spitzeraufsatz. «Das ist ja unglaublich! Woher ... wie ... sind das noch Originale?» «Ich hatte Beziehungen», sagt sie geheimnisvoll. «Bitte, nehmen Sie sich einen! Oder auch zwei. Keine Scheu!» «Beziehungen?» Sie winkt ab. Kurz vor dem Rip hat ein Freund ihr nachts das Schreibwarengeschäft aufgeschlossen, in dem er arbeitete. «Bedien dich, das Zeug will eh keiner mehr.» Sie hatte die edlen Füller verschmäht, die Kugel- und Filzschreiber, und nur Hunderte von Bleistiften eingepackt. Mit harter Mine. Ihre Schrift würde damit in hundert Jahren noch lesbar sein. Der junge Mann sucht sich zwei Stifte aus und setzt sich wieder hin. «Und dann, wie ging es weiter?»

Sie hatte nur Bleistifte eingepackt. Mit harter Mine. Ihre Schrift würde damit in hundert Jahren noch lesbar sein.

«Es wurde immer schlimmer. Wir verhedderten uns zunehmend im Netz. Seine Maschen wurden immer enger. Der Beruf veränderte sich vollkommen. Das Schreiben verlor an Bedeutung. Stattdessen wurde von Schriftstellern erwartet, jederzeit und überall präsent zu sein. Wir lebten in Schaukästen, wir inszenierten uns, wir präsentierten uns als Schreibende, ohne noch wirklich zu schreiben. Wir produzierten endlose Ströme von Snaps und Flips und Posts und Tweets und Chats und Kicks. Wir waren unter ständiger Beobachtung, jeder Atemzug wurde kommentiert. Es entstand eine neue Idee des Schriftstellers, der wir uns anzupassen hatten. Vielleicht haben wir sie auch selber kreiert, was weiss ich. Wir äusserten uns ununterbrochen zu allem, sofort, immer. Nur wer zuoberst im Stream der Connectivity schwamm, wurde noch wahrgenommen. Und nur wer wahrgenommen wurde, konnte 7


auf Cultural Sponsoring zählen. Die anderen gingen unter, einer nach dem anderen. Wie ich. Ich schon ziemlich bald.» Der junge Mann schreibt mit gerunzelter Stirn weiter, obwohl sie aufgehört hat zu reden. Sie überlegt. «Wie kann ich Ihnen das ... oh, ich weiss! Es war wie eine ewige Pubertät.» «Oh Gott!» Der junge Mann legt den Bleistift weg und hält sich die Hände vors Gesicht. «Das ist ja schrecklich!» «Sie erinnern sich offensichtlich! An dieses überreizte Bewusstsein, dieses Gefühl, ausgestellt zu sein, unter Beobachtung zu stehen. An diese nagende Furcht, nicht zu genügen, dem Vergleich mit anderen nicht standzuhalten. An diese ständige Anspannung. Und an den kompletten Realitätsverlust, der damit einhergeht. Diese Verschiebung ... Das war Constant Connectivity.» Die Erinnerungen holen sie ein. Sie fröstelt. Sie steht wieder auf, stochert im Feuer. «Für mich war das eine ganz schreckliche Zeit. Ich war vollkommen überfordert. Denn ich wollte ja schreiben. Nicht geschrieben haben. Aber das galt nichts mehr. Ich versuchte mitzuhalten, verstehen Sie mich nicht falsch, ich war keine Rebellin. Ich war einfach nicht besonders gut darin. Lange glaubte ich die Lüge. Dass ich, wenn ich

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mir nur genügend Mühe gäbe, auch wieder schreiben dürfe. Ich war kurz davor durchzudrehen. Doch dann brach das ganze System noch vor mir zusammen. Dafür bin ich heute noch dankbar.» Der Rip, das Zerreissen des weltweiten Netzes, der Vernetztheit. Heute gibt es nur noch direkte Kommunikation. Du musst nicht alles wissen. Du musst nicht mehr wissen, als du verarbeiten kannst. Du musst nicht alles sagen, was du weisst. Aber du musst immer wissen, was du sagst. Einfache Grundsätze. Seit man sich auf sie geeinigt hat, herrscht Ruhe. Und Frieden. «Schreiben Sie immer noch?» «Natürlich schreibe ich immer noch!» Wieder steht sie auf. Geht zum Schrank. «Ich versuche etwas ganz Ähnliches wie Sie mit Ihren Heften, schauen Sie!» Sie nimmt ihre letzten drei Bücher hervor, die sie mit Bindfaden geheftet und in Leder gebunden hat. Leider sind die Buchdeckel nicht gleich gross, das ganze Gebilde ist etwas lotterig und scheps, lose Blätter fallen heraus. Mühsam bückt sie sich nach ihnen. Der junge Mann springt auf.

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Ihr Manuskript scheint sich selbstständig zu machen, sie kann die Seiten tanzen sehen. Sie muss sich wieder an ihre Arbeit setzen. Jetzt.

«Erlauben Sie!» Sorgfältig stellt er die Seiten wieder zusammen. «Sie dürfen nicht zu viele Seiten auf einmal heften», sagt er. «Ich kann es Ihnen zeigen.» Er setzt sich wieder, die Bücher auf den Knien, die Hände auf den Deckeln. Sie kann ihm ansehen, dass er sie gerne öffnen, dass er gerne lesen würde. Aber er traut sich nicht, und sie bietet es ihm auch nicht an. Sie weiss noch nicht, ob sie ihn drei oder vier Tage bei sich im Haus haben will. «Und Sie leben wieder vom Schreiben?», fragt er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. «Ja, natürlich!» Man kommt zu ihr, um eines ihrer Bücher zu lesen. Revanchiert sich mit Gartenarbeit, mit Essen, mit einem neuen Zaumzeug für ihr störrisches Pferd. Ein schönes Leben. So hat sie sich das vorgestellt, als sie mit acht Jahren anfing, Geschichten aufzuschreiben. «Meine Generation hat ja auch wieder angefangen zu schreiben. Was sagen Sie dazu? Warum war das vor dem Rip nicht mehr möglich?» «Ganz einfach: Das Geheimnis war weg. Schreiben ist nicht nur ein Handwerk. Schreiben ist ein magischer Akt. Aus dem Nichts eine Welt erschaffen. Ein weisses Blatt mit Leben füllen. Eine Geschichte aufdecken, die erzählt werden will. Das ist wie mit den kleinen Tieren in der Wüste. Dieses Geheimnis verschwindet, es versteckt sich verstört, wenn man es ständig mit dem Suchscheinwerfer jagt!» «Und was ist das?» «Das? Oh, das ist meine Schreibmaschine. Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?» Sie hievt sie auf ihren Tisch, zeigt ihm die Tasten, Farbband hat sie seit Jahrzehnten keines mehr. «Auf diesem Ding habe ich meine ersten Romane geschrieben. Es war eine Reiseschreibmaschine, schauen Sie, es gab sogar einen passenden Koffer dazu ...» War das der Anfang, fragt sie sich plötzlich. Das Schreiben in fahrenden Zügen? «Oder war es die Faxmaschine?», denkt sie laut. «Faxmaschine?» «Das war ... ich kann Ihnen nicht erklären, wie es funktionierte. Man steckte ein Stück Papier hinein, und es kam am anderen Ende der Welt heraus. Vor dem Erfinden dieSurprise 405/17

ser Maschine konnte man noch behaupten, ein Text sei fertig. Und ihn dann in fieberhafter Eile schreiben, bevor der letzte Postschalter an der Hauptpost geschlossen wurde. Zwischen der Behauptung, einen Text geschrieben zu haben, und der eigentlichen Vollendung hatte dieses Geheimnis Platz. Diese Stunden dehnten sich aus, um Platz für den Text zu machen. Sie erzeugten den notwendigen Druck, aus dem Nichts eine Geschichte hervorzupressen. Die Faxmaschine machte dem ein Ende. Noch vor dem Internet. Ach, der Text ist fertig, dann faxen Sie ihn doch bitte gleich!» «Faxen, lustiges Wort. Wie ein Kinderspiel.» Während sie reden, vergeht der Tag. Sie wird ungeduldig. Ihre Figuren drängen sich ins Gespräch, mischen sich in ihre Gedanken, lenken sie ab. Ihr Manuskript scheint sich selbständig zu machen, sie kann die Seiten tanzen sehen. Sie muss sich wieder an ihre Arbeit setzen. Jetzt. Sie entschuldigt sich. «Sie müssen jetzt gehen», sagt sie. «Es tut mir leid. Aber das Schreiben geht vor.» Der junge Mann ist enttäuscht. Aber er fasst sich schnell. «Das ist ein guter Titel für meinen Bericht», sagt er. Ihr Blick fällt auf die Schreibmaschine. «Möchten Sie sie nicht mitnehmen? Selbst wenn es wieder Farbbänder gäbe, habe ich nicht mehr genug Kraft in den Fingern, um die Tasten niederzudrücken.» «Im Ernst? Das ist grossartig, vielen Dank!» Er wickelt die Schreibmaschine in seine Jacke und schnürt sie hinter seinem Sattel fest. Sein Pferd kommt auf sein Schnalzen hin angetrabt. «Ich wünschte, mein Pferd wäre so folgsam», sagt die Schriftstellerin. Sie schaut dem jungen Mann nach, wie er in den Nachmittag hineinreitet, die Reiseschreibmaschine im Gepäck, und sie fragt sich, ob sie nicht einen gewaltigen Fehler gemacht hat. Milena Moser,  1963 in Zürich geboren, lebt heute in Santa Fe, New Mexico. Sie hat zahlreiche Romane, Kurzgeschichten und Hörspiele geschrieben. Zuletzt erschien von ihr «Hinter diesen blauen Bergen» im Verlag Nagel & Kimche.

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Die Legende von Paul und Paula auf dem Dorfe Von Ralf Schlatter

Warum Paul an jenem Samstagmorgen zum ersten Mal in seinem Leben in die Dorfbibliothek ging, konnte oder wollte er im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren. Vielleicht erschien es ihm, in Anbetracht dessen, was folgte, schlicht zu banal, dass er auf dem Rückweg vom Fussballspiel Schutz vor dem Platzregen gesucht hatte. Und als ihn die Bibliothekarin, kaum stand er im Eingang, so herzlich willkommen hiess, blieb ihm nichts anderes üb10

rig, als so zu tun, als würde er ein Buch ausleihen wollen. Und so zu tun, als kenne er sich bestens aus in der Dorfbibliothek. Sicheren Schrittes ging er auf ein Gestell zu und bemerkte erst, als er davorstand, dass es in dem Gestell ausschliesslich um Nähen und Stricken ging. Mit dem Blick der Bibliothekarin im Rücken griff er entschlossen hinein. «Patchwork & Quilt – Kostbare Unikate selbstgenäht: Gestepptes – Step by Step erklärt, Geflicktes – kunstSurprise 405/17


voll zusammengefügt, Geschnittenes – sauber vernäht». Dann tat er so, als hätte er endlich gefunden, wonach er schon lange gesucht hatte, und trug das Buch wie eine Trophäe zur Theke. Legte es hin, schaute auf – und verliebte sich auf den ersten Blick in die Bibliothekarin. Er musste sich dann zuerst noch eine Bibliothekskarte ausstellen lassen und seine Adresse buchstabieren, und während die Bibliothekarin auf ihrem Computer das Formular ausfüllte, starrte er ihr vollkommen gedankenverloren auf ihren Busen. Denn dort hing ihr Namensschild. Sie hiess Paula. Paula Nievergelt. Und wie eine Trophäe trug er das Buch hinaus und nach Hause und merkte erst, als er im Hausflur die Pfütze sah, die sich unter seinen Füssen bildete, dass der Platzregen noch gar nicht aufgehört hatte. Und wie eine Trophäe legte er das Buch auf den Küchentisch, schlug es auf und steckte die Nase hinein und stellte sich vor, dass Paula genauso roch. Am nächsten Morgen ging es Paul wie den meisten Frischverliebten. Er zweifelte, ob das alles tatsächlich geschehen war. Und so erschrak er fast ein wenig, als er auf dem Küchentisch das Buch liegen sah. Also doch. Paula. Die Frau aus der Dorfbibliothek. Sein Herz schlug bis tief in den Bauch hinein. Er machte sich einen Kaffee und setzte sich hin. Paula. Aus der Dorfbibliothek. Schön. Sehr schön. Wunderschön. Aber jetzt? Wie bitte weiter? Grosse Worte waren nicht sein Ding. Liebeserklärungen schon gar nicht. Und geschriebene grosse Worte erst recht nicht. Was also um Himmels willen tun, um Paula zu bezirzen? Und wie immer, wenn Paul in einer Zwickmühle war, liess er sich ein Bad ein. Das hatte er von seinem Grossvater und der hatte es von seinem Grossvater und so weiter und am Ende, also am Anfang, da steht Archimedes. Mit anderen Worten, da liegt Archimedes, in seiner Badewanne, und ruft plötzlich «Heureka!» und hat die Lösung gefunden. Paul hatte es nicht so mit Altgriechisch. Aber das mit dem Bad funktionierte genauso gut wie weiland bei Archimedes. «Ich hab’s!», rief er plötzlich, stand auf, rutschte aus, riss im Fallen den Duschvorhang mit sich und fiel mit Getöse zurück ins Badewasser. Gott sei Dank, könnte man sagen, denn Archimedes war damals, nach seiner Erkenntnis, nackt durchs Dorf gelaufen. Paul stand zum zweiten Mal auf, diesmal vorsichtiger, zog sich an und ging schnurstracks in die Dorfbibliothek. Paula schien ihn wiederzuerkennen und lächelte ihm zu. Er lächelte zurück und ging zum Sachbuchgestell. So bedeutungsschwer wie nur möglich legte er das Buch vor Paula auf die Theke: «Scheidung – leicht gemacht». Dazu setzte er einen Blick auf, der lag irgendwo zwischen «Ich hab’s grad nicht so leicht» und «Aber das Ende von etwas Altem ist ja auch immer der Anfang von etwas Neuem, wenn Sie wissen, was ich meine». Er war sich nicht sicher, ob Paula wusste, was er meinte. Aber das war ja auch erst der Anfang seiner langfristig angelegten Strategie. Tags darauf legte er zwei Bücher nebeneinander: «Nie mehr Single sein» und «Die schönsten Tandem-Touren in der Ost-

schweiz». Er hätte schwören können, sie lächelte. Jetzt war das Feld quasi gepflügt und bereit für höhere Kunst. Am nächsten Tag lieh sich Paul «Die schönsten Liebesgedichte» von Pablo Neruda aus und Gottfried Kellers «Romeo und Julia auf dem Dorfe». Wieder ein schüchternes Lächeln von Paula und, wenn er sich nicht täuschte und es kein Sonnenbrand war, ein leichtes Erröten. Zuhause ergriffen Paul dann allerdings Zweifel. War er zu forsch? Vielleicht besser zwischendrin wieder etwas Unverfängliches? Aber ohne die aufgebaute Spannung zu sehr abflauen zu lassen? Er musste lange in der Badewanne liegen, bis er draufkam. Peter Fischli und David Weiss: «Findet mich das Glück?» Und einen Blick hinterher, voller Frage- und Ausrufezeichen. Und ein Blick zurück von Paula – voller Gedankenstriche. Na dann, sagte sich Paul, fertig taktiert, auf zur Schlussoffensive. Eine Woche lang lieh er sich jeden Tag drei Liebesromane aus. Quer durch die Weltliteratur, «Anna Karenina», «Die Dornenvögel», «Die Kameliendame», «Stolz und Vorurteil», «Effi Briest», «Vom Winde verweht», «Die Leiden des jungen Werther», einer nach dem andern, vor sie hin auf den Tisch geknallt, peng, peng, peng, wie ein Feuerwerk, und als finaler Höhepunkt, am Samstagmorgen: Ulrich Plenzdorf, «Die Legende von Paul und Paula», und oben auf dem Buch eine rote Rose. «Danke», flötete Paula. Und diesmal errötete sie wirklich. Und jetzt, dachte Paul, zuhause, in der Badewanne, jetzt ist der Moment gekommen, wo ich mich ein bisschen zurückziehe und auf den ersten Schritt von Paula warte. Also mied er die Dorfbibliothek und übte sich in Geduld. Einen Tag, zwei Tage, drei Tage. Nichts. Eine Woche, zwei Wochen. Nichts. Drei Wochen. Nichts. Dreieinhalb Wochen. Nichts. Dann, nach vier Wochen, wie aus dem Nichts: Ein Brief. Von der Dorfbibliothek. Wie eine Trophäe trug ihn Paul ins Wohnzimmer. Beim Öffnen begannen seine Hände ein wenig zu zittern. Computergeschrieben, der Brief. So förmlich. So offiziell. Eine Mahnung. Siebenundzwanzig abgelaufene Bücher. Plus Gebühren. Neunundfünfzig Franken dreissig. Mit freundlichen Grüssen.

Was also um Himmels Willen tun, um Paula zu bezirzen?

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R alf Schl at ter,  geboren 1971, lebt als Autor und Kabarettist in Zürich. Zuletzt ist von ihm der Roman «Steingrubers Jahr» erschienen. Mit Anna-Katharina Rickert tritt er als «schön&gut» auf, mit poetischem und politischem Kabarett. Gewinner des Salzburger Stiers 2004, des Schweizer Kabarettpreises Cornichon 2014 und des Schweizer Kleinkunstpreises 2017. Zurzeit auf Tournee mit dem Stück «Mary».

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Auftrieb Von  Ulrike Ulrich

Das muss die Strafe sein. So haben wir es doch gelernt: die kleinen Sünden sofort. Und wenn nicht sofort was passiert, dann war es eine grosse Sünde. Dann gnade dir Gott. Hallo! Ja! Im Aufzug. Im Aufzug des Bürohauses Walterstrasse 79. Zwischen dem fünften und dem sechsten Stock. Wie bitte? Nein. Ich habe keine Klaustrophobie, ich habe ein Bewerbungsgespräch. In zehn Minuten. Ja. Natürlich. Ich warte. Ob das schon ein Test ist? Überdurchschnittlich belastbar, haben sie in der Ausschreibung geschrieben. Und die Frau im Lautsprecher gehört dazu. Nein. Das ist paranoid. Typische Betrüger-Paranoia. Die Frau will mir helfen. Sie ist wirklich so freundlich. Vielleicht suchen sie die Angestellten nach ihren Stimmen aus. Vertrauenerweckend. Ich hatte natürlich mit einem älteren Mann gerechnet. Und da wundere ich mich. Aber ich wundere mich gar nicht. Meine innere Gleichstellungsbeauftragte ist Burnout-gefährdet. Ja. Ich höre Sie. Was? Eine halbe Stunde? Das geht nicht. Ich habe doch das Gespräch. Warten Sie. Könnten Sie? Würden Sie mir einen Gefallen tun? Bei der Werbeagentur anrufen. Hier im Haus. Die heissen «Heureka». Könnten Sie denen sagen, dass die Person, die zum Bewerbungsgespräch kommen sollte, Jo Lohmann, könnten Sie bitte sagen, dass die im Aufzug hängt? Und bitte: Sagen Sie nicht Frau. Sagen Sie bitte Person! Oder einfach den Namen. Danke. Danke, das ist sehr nett von Ihnen. Ich habe auch eine angenehme Stimme. Ich könnte das auch, Leute im Aufzug beruhigen, Leute im Aufzug vertrösten, ihnen gut zureden, während sie in der Luft hängen. Ganz im Gegensatz zu meinem Arbeitslosenberater. Der das nicht hätte sagen sollen. Risikogruppe hätte er nicht sagen sollen. Das war ein Fehler. Ein Fehler, den er ja selbst bemerkt hat. Sich gleich verbessert. Stattdessen besonders förderungsbedürftig gesagt. Aber Wörter, die mit bedürftig enden. Nicht gut. Kommen in der Werbung praktisch nicht vor. Und hängen geblieben ist natürlich dieses beschissene Wort Risikogruppe. So wie: anfällig für Herzanfälle. Oder sich selbst durch ungewöhnliche Sexualpraktiken gefährdend. Andererseits heisst es ja nicht umsonst Arbeitslosenversicherung. Bei der Versicherung denken die Leute so. Für die gehöre ich zur Risikogruppe. Schwer zu vermitteln. Steigendes Risiko für Langzeitarbeitslosigkeit. Steigendes Risiko für steigende Kosten. Ab vierzig wird es ja überhaupt schwieriger mit den Versicherungen. Ich wäre jedenfalls nicht hier, wenn dieses Wort nicht gefallen wäre. Und jetzt muss ich es durchziehen. Ich sehe immerhin ... Immerhin sehe ich jung aus für mein Alter. Und diese Ampullenkur. Die hat auch etwas genützt. Vor allem da um die Augen. Oder liegt es am Licht? An diesem goldgelben Liftlicht. Bloss wenn sie meinen Ausweis sehen wollen. Was aber absurd wäre. Wieso sollten die meinen Ausweis sehen Surprise 405/17

wollen? «Heureka! Wir geben Ihnen Auftrieb.» Das ist deren Slogan. Und ich werde heute den Eignungstest machen. Unter Zeitdruck Aufgaben lösen. Das liegt mir. Sie werden mich zu diesem Test zulassen. So weit bin ich gekommen. Und es ist doch nur gerecht. Wobei: Gerecht wäre wahrscheinlich nur losen. Ich denke, man sollte losen, bei der Auswahl der Bewerbungen. Dann wäre wenigstens bis dahin Chancengleichheit. Beim Gespräch haben es natürlich die Gewinnenden mit den angenehmen Stimmen leichter. Da müsste das Losglück schon ausschliesslich introvertierte Menschen mit Sprachfehler treffen, dass dann auch wirklich einer von denen den Job bekommt. Ich habe ja Glück. Wenn ich einmal da bin, dann habe ich gute Chancen. Sie können froh sein, dass ich sie betrogen habe, sonst würden sie mich gar nicht kennenlernen. Es gibt natürlich auch Leute, die niemals Losglück haben. Oder ist das ein Wahrnehmungsproblem? Denken das diese Leute nur selbst? Ja. Danke. Einen Mann. Aber Sie haben das nicht richtiggestellt, oder? Sie hatten mir doch. Danke. Vielen Dank. Wissen Sie. Mein Name. Ich habe Jo geschrieben statt Johanna, im Lebenslauf. Es ist keine Lüge. Mein Vater nennt mich zum Beispiel so: Jo. Und nun haben die mich tatsächlich eingeladen und erwarten einen Mann von dreissig, der Jo heisst. Mein Vater hatte auch ein bisschen mit einem Jungen gerechnet. Beim vierten Kind. Aber so ist das eben mit der Wahrscheinlichkeit. Dann doch wieder 50/50. Und ich habe sogar den Geburtstag geändert. Haben Sie nicht auch gleich ein Bild, wenn Sie Krebs hören? Nein, nicht unsympathisch. Das stimmt. Aber erstens klingt Krebs schon schlecht. Und dann denken die Leute immer ans Rückwärtsgehen. Was gar nicht zutrifft. Krebse gehen seitwärts. Und nur weil sie die Augen nicht nach vorn richten, heisst das nicht, dass sie kein Ziel hätten. Ihr Ziel liegt eben rechts oder links von ihnen. Ja, da haben Sie recht. Letztlich nützt es gar nichts, dass man es besser weiss. In der Werbung schon gar nicht. Oder man muss es aufbauen. Behaupten. Den zielgerichteten Krebs etablieren. Aber dazu hat man in einem Lebenslauf keine Chance. Erst recht nicht, wenn es heisst: Wir bitten, von originellen Lösungen abzusehen. Wirklich? Auf einen Slip? Das muss ein kurzer Lebenslauf gewesen sein. Und hat sie den Job bekommen? Ach so. Ja. Damals war sowas noch möglich. Aber klar, Frau Widmer. Gern. Machen Sie Druck. Ich bin sehr froh, dass Sie sich so kümmern.

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Mit einem Slip. Das ist krass, aber eben: Das war in den Neunzigern. Beim Privatfernsehen. Heute. Heute muss man schon. Muss man sich schon als Waage ausgegeben. Da denken die Leute: kreativ und ausgeglichen. Was Unsinn ist. Das liegt nur daran, dass die Leute in Bildern denken. Wie Bilder uns prägen. Wenn Waagen nicht immer im Gleichgewicht abgebildet würden, sondern mit einer Schale am Boden oder gar in Bewegung, animiert, dann kämen die Leute nicht auf so eine Idee. Aber sonst. Es ist ja nicht alles gelogen. Es stehen keine falschen Stationen drin. Ich habe nur Unwesentliches ausgelassen. Wenn man die Highlights von zwanzig Jahren auf zehn verteilt, sieht alles schon völlig anders aus. Auch der Verdacht der Sprunghaftigkeit entsteht nicht so schnell, wenn man ein paar Stellen streicht. Mobil, aber nicht sprunghaft. Welcher Konzern war das noch? Da muss bei Leuten, die sich für eine Stelle im Ausland bewerben, auch noch der Ehepartner, meist die Ehepartnerin, zu einem Gespräch erscheinen. Weil der oder die sich auch als umzugswillig und anpassungsfähig erweisen muss. Da nützt die ganze Mobilität nicht, wenn nachher die maulende Ehepartnerin wieder zurück will. Ich bin tatsächlich mobil. Nicht sprunghaft. Und doch ist es Betrug. Letztendlich ist es Betrug. So eine Werbefirma hat dafür vielleicht noch Verständnis. Aber mein Berater. Der darf es nicht erfahren. Bis jetzt hat er mich für korrekt und besonnen gehalten. Bis jetzt hat er sich über mein Risiko Gedanken gemacht. Und sich nicht gewundert, dass die Frau seit vier Monaten nicht eingeladen wird. Seit vier Monaten immer Briefe lesen muss, die mit alles Gute für Ihre Zukunft enden. Aber wenn es schiefgeht und er davon erfährt ... Firmen können das. Die können Chiffreanzeigen schalten. Die können die wildesten Dinge in die Stellenbeschreibung packen. Keine Ahnung, ob man da jemanden belangen könnte, wenn nichts davon wahr ist. Wenn nachher das Pflichtenheft ganz anders aussieht. Ob man da sagen könnte: Vortäuschung falscher Tatsachen. Sie haben mir Zeit und Hoffnung geraubt. Oder auch nur, wenn da freundliches, gut eingespieltes Team steht und nachher trifft man auf einen Haufen missgünstiger Einzelkämpfer. Bevor man zu einem Gespräch kommt, weiss man doch eigentlich nichts. Abgesehen vom Internetauftritt. Wenn die von «Heureka» mich gegoogelt haben, haben sie unter Jo Lohmann nichts finden können. Das hätte sie misstrauisch machen können. Allerdings bin ich noch da, Frau Widmer. Sie sind sicher die mit Abstand lustigste Mitarbeiterin der Notrufzentrale. Ach, kein Problem. Jetzt wo die da oben Bescheid wissen, kommt es auf fünf Minuten mehr oder weniger auch nicht an. Darf ich Sie etwas fragen? Wo wir nun mal hier warten. Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind? Und seit wann Sie den Job haben? Wirklich? Ich hatte Sie viel jünger geschätzt. War das schwierig? Ach, das ist schön. Und gefällt Ihnen der Job? Aber Sie sehen die Leute nicht. Haben Sie schon einmal jemanden getroffen, nachher? Dem Sie da rausgeholfen haben. Würde ich wahrscheinlich auch nicht machen. Der müsste mir schon sehr sympathisch sein. Aber was weiss man schon. Wobei Sie sicher eine besondere Sensibilität für Stimmen entwickelt haben. Danke. Das ist nett. Ja. Das sagt mir immer mal wieder jemand. Ich habe auch schon darüber nachgedacht, es beruflich zu 14

nutzen. Aber was kann man damit machen? Vorlesen? Anrufe weiterleiten? Strassenbahnstationen ansagen? Sie haben bestimmt eine technische Ausbildung. Ach so, wirklich. Das ist spannend. Quereinsteigerin. Selbstverständlich, Frau Widmer. Ich setze mich mal auf den Boden so lange. Der Teppich macht einen sehr sauberen Eindruck. Bloss ist es so heiss hier und meine Frisur ist irgendwie zusammengefallen. Man sollte vor einem Bewerbungsgespräch nicht in den Spiegel sehen. Eigentlich sollte man auch nicht am selben Tag zum Friseur gehen. Und dann aussehen, als ob man vom Friseur kommt. Oder sich zumindest nicht die Haare raufen und dann aussehen, als käme man vom Friseur und hätte anschliessend diesen Eindruck unbedingt zu zerstören versucht. Die Sache ist die: Sie hätten mir diesen Test doch einfach nach Hause schicken sollen. Meinetwegen hätte ich ihn auch beim Notar gemacht. Dann hätten sie gewusst, was ich kann. Dann hätten sie sich ein Bild von mir und meinen Fähigkeiten machen können. Den Test hätten sie noch gelesen, ohne zu wissen, dass ich eine Frau bin, vierzig, Deutsche. Wobei das ja noch harmlos ist, dass ich meine Herkunft unterschlagen habe. Einfach nicht genannt. Ich kann behaupten, dass ich nicht wüsste, was Heimatort bedeutet. Beinahe hätte ich Schwedisch geschrieben. Einmal eine sympathische Nationalität haben. Andererseits gibt es Menschen, die keine haben. Oder eine viel schwierigere. Im Grunde sollte das auch nicht erfragt werden. Auch die Muttersprache nicht. Es sollte reichen, dass man schreibt, welche Sprachen man wie gut beherrscht. Und wenn man eine weglassen will. Bitte. Das müsste auch okay sein. Ich habe gelesen, dass Secondos und Secondas jetzt ihre Nachnamen ändern dürfen, helvetisieren, um bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Vielleicht könnte ich das in einem allfälligen Verfahren anführen, als eine Art Parallele. Falls es so weit kommt. Hallo, Frau Widmer, danke. Ach, dann ist es ja gleich so weit. Setzt sich der Korb von selbst in Bewegung? Ich würde gern im nächstmöglichen Stock aussteigen, zu Fuss weiter. Ich weiss jetzt grad gar nicht, ob ich hoch- oder runtergehen soll. Sie wissen schon. Ich meine, wenn die nun keinen Humor haben. Auch wenn sie mit Archimedes in der Wanne werben. Andererseits: Jetzt bin ich schon mal hier. Wenn es schiefgeht, dann geht es halt schief. Dann kann ich die Geschichte immer noch an eine Zeitung verkaufen. Was meinen Sie? Wirklich? Das wäre nett. Dann hätte ich einen Plan B. Aber glauben Sie nicht, dass ich dafür zu alt wäre? Doch. Sie haben recht. Kontaktfreudig bin ich. Wird Ihr Bruder das nicht komisch finden? Okay, ja, hab ich. Punkt-ch haben Sie gesagt, oder? Genau, und Ihre auch. Ich schreibe Ihnen dann, wie es gelaufen ist. Frau Widmer. Jetzt. Jetzt fährt er. Nach oben. Ulrike Ulrich  ist freie Schriftstellerin in Zürich. Zuletzt erschien von ihr der Erzählband «Draussen um diese Zeit». Sie ist Mitglied von «Literatur für das was passiert», einer Gruppe von Autorinnen und Autoren, die sich zusammengetan haben, um mit ihrem Schreiben Menschen auf der Flucht zu helfen.

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© Appenzeller Verlag/Mitra Devi

Mord im Schatten des Jupiter Von Mitra Devi

Theo kratzte sich entnervt an den Bartstoppeln. Er hatte miserable Laune. Erstens nieselte es – zu schwach, als dass es sich lohnte, einen Schirm aufzuspannen, zu stark, um trocken zu bleiben. Zweitens musste er dringend mal für kleine Räuber, konnte seinen Beobachtungsposten aber nicht verlassen. Und drittens wollte sich kein Schwein von ihm beklauen lassen. Nun ja, jedenfalls nicht in letzter Zeit. Seit Stunden stand er schon neben dem Brunnen am Bankplatz in Frauenfeld und starrte zur Credit Suisse hinüber, genauer gesagt zum Geldautomaten. Erst zweimal hatte er heute ernten können. Beide Male lächerlich kleine Beträge. Am Morgen hatte ein Geschäftsmann seinen Zahlencode eingetippt, das Geld in Empfang genommen und eingesteckt. Theo war ihm zum Bahnhof gefolgt und hatte ihm im Menschengewühl unbemerkt die Brieftasche abgenommen. Dreihundert Franken. Nicht wirklich berauschend. Am Nachmittag hatte Theo eine Dame um ihren frisch abgehobenen Hunderter erleichtert. Er hatte sie vor einer roten Ampel in ein Gespräch verwickeln und seelenruhig in ihr Handtäschchen greifen können. Doch seit Stunden – nichts. Theo zündete sich eine Zigarette an und schaute zum Bankomaten. Was für ein trüber Tag! Bald würde es dämmern. Heute war Vollmond, doch bei diesem Wetter würde man keinen Blick auf den Erdtrabanten erhaschen können. Theo liebte Vollmondnächte. Das hatte nichts mit Mystik zu tun, sondern mit Wissenschaft. So weit er zurückdenken konnte, hatte er sich für die Abläufe am Sternenhimmel interessiert, hatte Astronomiebücher verschlungen und mit seinem Kinderteleskop nächtelang die Planeten und Sterne betrachtet. Er wusste alles über Kometen und Meteore, über Galaxien, Pulsare und Quasare. Astrophysiker wäre er gern geworden, doch dafür hatte es nicht gereicht. Eine Frustwelle überrollte ihn, als er an seine Arbeitslosigkeit dachte. Sein Leben hatte sich zu einem richtigen Reinfall entwickelt, während alle rings um ihn Kind und Kegel hatten und Karriere machten. In diesem Moment sah er sie. Sein Opfer. Diese Frau würde es sein, das wusste er intuitiv. Brünett, lange, gewellte Haare, ein paar Jahre jünger als er, vielleicht Mitte zwanzig. Sie stand vor dem Geldautomaten und trug trotz der Witterung ein bauchfreies T-Shirt. Glitzernde Sternchen prangten auf den Nähten ihrer Jeans, die so tief sass, dass der schwarze String ihres Tangas in der Mitte ihrer wohlgeformten Hinterbacken zu sehen war. Eine Sekunde lang schweiften Theos Gedanken in andere Gefilde. In der einen Hand trug die Frau ein neongelbes Schirmchen mit dem Durchmesser einer Serviette. Ihre andere hielt eine Hundeleine, an deren Ende ein dünnes, cremefarbenes Hündchen in Hamstergrösse im Regen zitterte. Jetzt zückte sie ihr Portemonnaie, steckte die Karte in die Öffnung, tippte ihre Zahlen ein und entnahm die Surprise 405/17

Scheine, unglaublich viele! Sie schaute nicht nach rechts und nicht nach links, sondern ging schnurstracks Richtung Rathaus. Theo folgte ihr. Er brauchte sich keine Mühe zu geben, nicht von ihr entdeckt zu werden. Sie kümmerte sich nicht um ihre Umgebung, warf nur ab und zu kurze Blicke in die Schaufenster, während ihr Köterchen an die Autoreifen pinkelte. Dann bog Gabi – Theo nannte sie innerlich so, denn genau wie eine Gabi sah sie aus – in die St. Gallerstrasse ein, spazierte eine Weile auf der rechten Seite, bis sie an die Kreuzung zur Marktstrasse kam. Nicht schlecht. Hier gab es weniger Verkehr, weniger Passanten, mehr einsame Ecken. Wie viel sie wohl abgehoben hatte? Vielleicht mehrere Tausend Franken. Dies würde doch noch ein ertragreicher Tag werden.

Er spielte mit dem Messer, als er am Mars vorbeikam. Dessen Monde hiessen Phobos und Deimos – Angst und Schrecken. Das passte.

Gabi nahm den Stadtgartenweg Richtung Altersheim. Das entwickelte sich ja immer besser. Kleiner Fussweg, Büsche und Sträucher am Rand, perfekte Lichtverhältnisse. Theo tastete nach dem Klappmesser in seiner Tasche, nahm es heraus, liess es einen Finger breit auf- und zuschnappen, fühlte die Kraft, die die Waffe ihm gab. Bis jetzt hatte er sie noch nie benutzen müssen; seine Geschicklichkeit hatte genügt, um unauffällig in fremde Börsen zu greifen. Er hoffte, er würde nicht zögern, das Messer zur Abschreckung zu gebrauchen. Damit man ihn dabei nicht erkannte, hatte er auch eine Strumpfmaske bei sich. Er beschleunigte seine Schritte. Gabis gelber Schirm hüpfte auf und ab, ihre lächerliche Promenadenmischung hob alle paar Meter das Bein und verspritzte ein paar Tröpfchen ins Gebüsch, und Theo spürte wieder seine volle Blase. Konnte er es wagen, sich kurz zu erleichtern, ohne Gabi zu verlieren? Sie ging etwa dreissig Meter vor ihm. Nein, er wollte das Schicksal nicht herausfordern. Schlich weiter hinter ihr her. Atmete lautlos. Fühlte sich wie ein Raubtier auf der Jagd. Und jetzt war klar, wohin sie steuerte: zum Planetenweg. Das freute ihn ungemein. Diesen Lehrpfad, der die Verhältnisse zwischen den einzelnen Planeten des Son15


nensystems in einem Massstab von 1:1 Milliarde wiedergab, kannte er in- und auswendig. Der Fussweg schlängelte sich neben Einfamilienhäusern am Rütenenbach entlang und mündete bei der Festhalle Rüegerholz in den Wald. Die Sonne, eine mannshohe gelbe Kugel am Anfang des Pfades, lag bereits hinter ihnen. Merkur, Venus und Erde, daumennagelgrosse Metallkügelchen, säumten ein paar hundert Meter weiter oben den Weg. Auf den Tafeln unter den Modellen waren die astronomischen Angaben zu den einzelnen Planeten zu lesen, doch Theo kannte sie alle. Die Masse, Umlaufbahnen, den Abstand zur Sonne. Dichte, Schwerkraft, Atmosphäre. Sein Herz schlug heftig vor Freude. Das war ein gutes Omen, umgeben zu sein von seinen geliebten Gestirnen. Wieder spielte er mit seinem Messer, liess es in der Hosentasche aufschnappen, fuhr mit dem Finger über die scharfe Klinge. Dann kam er am Mars vorbei. Dessen zwei Monde hiessen Phobos und Deimos – Angst und Schrecken. Das passte. Theo lächelte vor sich hin. Er fühlte sich gut, einfach gut. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen, doch der Regen dämpfte das Geräusch. Gabi lief über den kleinen Steg, der auf die andere Seite des kleinen Bächleins führte, dann blieb sie stehen und löste die Leine vom Halsband ihres Hündchens. Kläffend stob es davon, sauste in den Wald, zerrte einen Ast aus dem Unterholz und legte die Beute vor die Füsse seines Frauchens. Gabi warf das Holzstück durch die Luft, das Tierchen hechelte dem Flugobjekt hinterher, und das Spiel begann von Neuem. Theo war noch etwa zwanzig Schritte hinter ihr. Sie gingen jetzt im Wald. Der Weg führte links hinauf und war dicht umgeben von Laubbäumen, Tannen und unübersichtlichem Dickicht. Den Mars hatten sie hinter sich gelassen, der Jupiter war weiter oben; vermutlich befanden sie sich auf der Höhe des Asteroidengürtels. 16

Noch sieben Schritte. Theo spürte das Blut in seinen Adern pulsieren. Noch sechs, fünf, vier. Gabi warf Stöckchen, Kläffi jagte hinterher, Theo pirschte sich heran. Gabi streichelte nasse Hundeohren, Köterchen japste vor Vergnügen, Theo zog die Strumpfmaske übers Gesicht. Gabi lachte, Hündchen quietschte, Theo packte sein Messer. Dieser Idiot. Sandra spürte, dass er nur noch einen Meter hinter ihr war. Sie hörte das Geräusch, als er seine läppische Maske überzog, wusste, dass er sein Klappmesser gezückt hatte. Benutzt hatte er es noch nie in all den Wochen, seit sie ihn beobachteten, doch er spielte gern damit. Charly und sie wohnten gegenüber dem Bankomaten und hatten gleich gemerkt, dass dieser Typ, der oft stundenlang am Brunnen stand, nicht ganz koscher war. Nachdem sie seine Diebstähle mehrmals vom Küchenfenster aus verfolgt hatten, war Charly der brillante Gedanke gekommen, die Szenen zu filmen, die Polizei zu benachrichtigen und hoffentlich eine satte Belohnung zu kassieren. Sie hatte ihm etwas Besseres vorgeschlagen. Zuerst war er ein wenig schwer von Begriff gewesen. Doch Sandra, nach ihrem mehrjährigen Gefängnisaufenthalt mit allen Wassern gewaschen, hatte ihn bald so weit gehabt, dass er überzeugt war, es sei seine Idee gewesen. Typisch Mann, beschränkt und manipulierbar. Den blöden Köter hatte sie in einem Altersheim geklaut, damit sie einen guten Grund hatte, den Wald aufzusuchen. Und da ging sie nun. Auf dem Planetenweg, verfolgt von Hugo. Sie hatten ihn von Anfang an so genannt, denn genau wie ein Hugo sah er aus. Im nächsten Moment würde er versuchen, sie anzugreifen. Sandra hielt den Atem an. Es knirschte hinter ihr. Raschelte. Knackte. Surprise 405/17


Charlys Füsse waren vom langen Kauern im Gebüsch eingeschlafen, seine Zehen waren nass und klamm, die triefenden Haare hingen ihm in die Augen. Er war schwarz angezogen. Trotz der Kälte schwitzte er. Schon aus der Ferne hatte er Sandras gelben Schirm gesehen und weiter hinten den Möchtegernganoven. Charly grinste vor sich hin. Solchen Banausen hatte man im Knast das Leben versaut. Ihm aber, Charly, hatte man Achtung und Respekt entgegengebracht, all die Jahre, die er gesessen hatte. Sandra hatte davon natürlich keine Ahnung und glaubte tatsächlich, sie habe die Idee für diese Sache gehabt. Wie dumm doch die Weiber waren! Jetzt kam sie näher. Hugo, nur noch wenige Schritte hinter ihr, mühte sich mit seiner Strumpfmaske ab und zückte sein Messer. In der Ferne hämmerte ein Specht gegen einen Baum, ein Windstoss fegte durch den Wald. Charly wischte sich den Schweiss von der Stirn, dann setzte er zum Sprung an. In Theos Kopf rauschte es, wirre Gedanken jagten durch seine Hirnwindungen, während die Klinge in seiner Hand zitterte. Durch den Schlitz der Maske betrachtet, wirkte der dämmrige Wald bedrohlich. Hatte er, Theo, wirklich vor, wegen Geld eine wehrlose Frau zu attackieren? War das nicht eine Nummer zu gross für ihn? Er zögerte eine Sekunde. Es war eine Sekunde zu lang. Aus dem Dickicht hechtete eine schwarze Gestalt auf ihn zu. Gabi schnellte herum und schaute Theo triumphierend ins Gesicht. Als hätte sie ihn erwartet. Sein Mund klappte auf, sein Blick huschte vom einen zum anderen. Der Kerl, der aus dem Unterholz aufgetaucht war, lächelte eisig. Theo starrte in die Mündung einer Pistole. «Ich wollte nicht …», stotterte Theo kläglich, doch der Bewaffnete schnitt ihm das Wort ab. Surprise 405/17

«Messer fallen lassen.» «Natürlich.» Theo warf das Messer zu Boden. Der andere hob es auf und steckte es ein. «Verkleidung ablegen und Geld her», sagte er dann. «Wie bitte?» «Du hast mich schon verstanden, Hugo. Wir wissen, wer du bist.» «Hugo?», krächzte Theo. Er zog den Strumpf aus, wich einen Schritt zurück und wäre beinahe über das Hündchen gestolpert, das hechelnd zu ihm hochsah. «Ich habe nicht viel, es lohnt sich kaum.» «Quatsch», machte die Frau, griff in seine Hosentasche und zog ein dickes Bündel Banknoten heraus. «Und was ist das?» «Heilige Scheisse!», stiess ihr Freund aus, als er die Scheine sah. «Das ist ja ein Vermögen!» «86 540 Franken», murmelte Theo und hörte, wie brüchig seine Stimme vor lauter Elend war. «Meine Einnahmen der letzten drei Monate.» «Wieso trägst du die bei dir, du Hornochse?» «Weil ich meiner Vermieterin nicht traue. Die alte Schachtel stöbert in meinen Sachen herum. Bei mir ist das Geld sicherer.» Jetzt prustete der andere. «Selten so gelacht! Wo haben sie dich denn rausgelassen?» Er riss seiner Freundin das Bündel aus den Händen und stopfte es gierig in seine Hemdtasche. Dabei fiel ihm die Pistole aus den Fingern. Er fluchte und bückte sich danach. Theo wollte nach der Waffe grapschen, doch die Frau kam ihm zuvor und schnappte sich das Ding. Sie richtete es nicht auf ihn, sondern auf ihren Freund. «Rück das Geld raus, Charly», befahl sie. «Lass uns erst von hier verschwinden, danach teilen wir», erwiderte dieser und machte Anstalten zu gehen. «Los, komm schon.» 17


«Ich sagte: Rück das Geld raus.» Ihre Stimme hatte sich verändert. Charly starrte sie entgeistert an. «Was soll das, Sandra? Spinnst du?» Der Hund lief zwischen den beiden hin und her, bis der Mann ihn mit einem Tritt verscheuchte. Jaulend stob das Tier ins Dickicht. Theo wandte mit flehendem Unterton ein: «Bitte, Gabi, gib mir meine Einnahmen zurück, und ich verspreche …» «Halt die Klappe, Schwachkopf, ich heisse nicht Gabi. Und du, Charly, überreichst mir jetzt die Kohle und verziehst dich dann. Ich brauch dich nicht mehr.» Seine Wangen wurden rot vor Wut. «Das würde dir so passen, du dumme Kuh! Wir haben das Ganze zusammen geplant.» «Das glaubst auch nur du.»

Sie bäumte sich auf, er zuckte ein letztes Mal zusammen, dann lagen beide reglos da. 86  540 Franken in Scheinen segelten hernieder.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Charly versuchte, die Pistole an sich zu reissen, Sandra sprang zur Seite und lachte böse auf. Theo wich zurück. Das Hündchen bellte. «Gib mir die Waffe!», schrie Charly. Das Geldbündel löste sich, blaue Hunderter und grüne Fünfziger flatterten durch die Luft, ein Tausender tanzte im Wind. Charly griff nach den Scheinen, fuchtelte im Leeren herum. Dann packte er das Messer, das er Theo abgenommen hatte, und hielt es Sandra vor die Nase, während sie mit der Pistole auf ihn zielte. Plötzlich strauchelte sie über einen Stein, ruderte mit den Armen, konnte den Sturz nicht abwenden. Rückwärts knallte sie auf den Kiesweg. Das Knacken ihres brechenden Steissbeins ertönte, Sandra kreischte auf. Im gleichen Moment krachte es ohrenbetäubend durch den Wald. Ein Schuss hatte sich gelöst. Charly riss ungläubig die Augen auf. Aus seinem Hals strömte pulsierend das Blut und lief ihm in den Kragen. Er torkelte, ein Röcheln und undeutliche Worte, die wie «blöde Zicke» klangen, kamen aus seinem Mund. Dann knickten seine Beine ein, seine Hand umklammerte noch immer das Messer. Er prallte auf Sandras Brust, und die Klinge bohrte sich in ihr Herz. Sie bäumte sich auf, er zuckte ein letztes Mal zusammen, dann lagen beide reglos da. 86 540 Franken in gemischten Scheinen segelten auf ihre toten Körper hernieder, ihr Blut vermischte sich und sickerte in den regennassen Boden, der gelbe Schirm flog 18

in einer Windbö von dannen, das Hündchen kam aus dem Unterholz geschossen und wedelte mit dem Schwänzchen. Theo stand eine Minute wie vom Donner gerührt da und starrte auf die Szenerie. Dann stürzte er zu einem Baumstamm, erleichterte sich endlich, und als er fertig war, hetzte er den Planetenweg hinunter, rannte, rannte, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Am Mars vorüber, an Erde, Venus, Merkur vorbei. Er wurde niemals wieder in Frauenfeld gesehen. Gerüchten zufolge trieb er bald darauf in Weinfelden sein Unwesen. Martha hatte den Jupiter passiert und ging gemütlich den Weg zurück Richtung Altersheim «Stadtgarten». Sie trug ein durchsichtiges Häubchen, das ihre Frisur trocken hielt, und ihre festen Schuhe. Bald würde es eindunkeln. Martha mochte diese Abendspaziergänge, Regen hin oder her. Einzig Sissi fehlte ihr, ihr geliebtes Rehpinscherchen, das seit einem halben Jahr ihre treue Gefährtin war. Heute Morgen war Sissi spurlos verschwunden. Martha hatte sie überall gesucht und war dann auf einmal nicht mehr sicher gewesen, ob ihre Hündin vielleicht nicht schon vor Langem gestorben war und sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Immer wieder diese Gedächtnislücken. Seit Kurzem verwechselte sie sogar die einfachsten Dinge, das war sehr lästig. Aber meistens vergass sie es danach wieder. Auch gut. Woran sie sich allerdings immer erinnerte, war ihr Horoskop. Jeden Tag nach dem Aufstehen las sie es. «Der Glücksplanet Jupiter», hiess es zum Beispiel heute, «bringt reichen Segen. Machen Sie sich auf eine Überraschung gefasst.» Martha deutete das als Zeichen, dass sie Sissi wiederfinden würde, und war guten Mutes. Sie trippelte um die Kurve, roch den wunderbaren Waldduft nach feuchter Erde und Nadelhölzern – und stockte plötzlich. Ihr Sehvermögen war nicht mehr das beste, aber das helle, nasse Bündel dort unten sah doch tatsächlich aus wie Sissi. Konnte das sein? Sie verspürte einen freudigen Stich in der Magengegend und ging etwas schneller. In diesem Moment hörte sie das vertraute Bellen. Ihr Hündchen kam ihr entgegengelaufen, sein Schwänzchen wippte hin und her, und Martha hätte am liebsten mitgewedelt. «Sissi!», rief die alte Dame und eilte auf ihr geliebtes Haustier zu. «Wo hast du nur gesteckt? Komm, lass dich streicheln!» Sie fuhr ihm übers nasse Fell, kraulte, küsste und knuddelte es, dann hielt sie inne. «Warum hast du denn so ein rotes Schnäuzchen, mein Liebes? Hast du etwa gejagt?» Sissi blickte mit grossen Augen zu Martha hoch, ihr Frauchen lächelte, dann gingen die beiden nebeneinander den Weg hinunter. Nach fünfzig Metern sah Martha einen Kleiderhaufen auf dem Boden liegen, mitten auf dem Kies. Erst dachte sie, jemand habe seinen Abfall illegal entsorgt, und regte sich darüber auf, dann aber merkte sie, dass es zwei Menschen waren. Ein Mann auf einer Frau. Nun ärgerte sie sich erst recht. Sex auf offener Strasse, so weit war es in Frauenfeld also schon gekommen. Daran waren sicher das Internet, diese SMS und GPS schuld, oder wie sie alle Surprise 405/17


hiessen. Allerdings fehlten die typischen Bewegungen zweier Liebender, seltsam still lagen sie aufeinander. Martha war etwas beklommen zumute, als sie sich dem menschlichen Knäuel näherte. Jetzt war es nicht mehr zu übersehen: Das waren zwei Leichen. Die tote Frau blickte mit offenem Mund leicht dümmlich gen Himmel, vom Mann konnte man nur den Hinterkopf erkennen. Und überall war Blut, viel Blut. Sie betrachtete die roten Barthärchen von Sissi. «Du wirst doch nicht etwa …? Du, Sissi? In so kurzer Zeit verwildert und Menschen angegriffen? Das hätt’ ich nicht von dir gedacht.» Schliesslich machte sich Martha daran, die Unordnung aufzuräumen, so gut das bei diesem Regen eben ging, klappte den gelben Schirm, den sie weiter unten gefunden hatte, zusammen und steckte ihn unter den Arm des Mannes. Der Frau wollte sie den Mund schliessen, damit es nicht länger hineintropfte, doch irgendwie gelang es nicht. Immer wieder klafften die Lippen der Toten auseinander, und das fand Martha nun doch ein bisschen gruselig. Aber zumindest hatte sie es versucht. Als alles so dalag, wie sie es für richtig befand, verliess sie diesen unheimlichen Ort. Zurück im Altersheim, legte sie ihr nasses Häubchen auf die Heizung und hängte den Mantel über die Badewanne. Aus den Taschen knisterte es. Neugierig fuhr Martha hinein, fühlte feuchtes Laub, Kieselsteine, dann Papier. Sie griff mit der ganzen Hand danach und zog einen Haufen Banknoten heraus. Nanu! Woher um alles in der Welt hatte sie denn so viel Geld? Hatte sie womöglich im Lotto gewonnen? Ärgerlich, diese Lücken im Kurzzeitgedächtnis! Sie zählte die Scheine und kam auf 86 540 Franken. Da hatte es jemand wirklich gut mit ihr gemeint. Jupiter, der Glücksplanet? Sorgfältig legte Martha die Scheine zum Trocknen auf dem Tisch aus, verstaute sie dann in einer Schuhschachtel und vergass sie für den Rest ihrer Tage. Nach ihrem Tod wurde das Geld gefunden und gemäss ihrem Testament der Rehpinscherdame Sissi vermacht, die sich noch eines langen und glücklichen Lebens erfreute. Mitr a Devi  ist Krimiautorin und Filmemacherin in Zürich. Ihr Roman «Der Blutsfeind» wurde mit dem Zürcher Krimipreis ausgezeichnet. Im Herbst erscheint der Psychothriller «Schockfrost», den sie mit Co-Autorin Petra Ivanov geschrieben hat.

Gefunden! Von Franz Hohler

Ein Prinz suchte einmal eine Prinzessin, aber er fand keine. Da machte er in der Zeitung ein Inserat, Prinz sucht Prinzessin zwecks späterer Heirat. Hast du Freude am Wandern, Lesen, Musikhören und an einem Königreich? Unter den Zuschriften, die er bekam, interessierte ihn vor allem eine, in der eine Silvia schrieb, sie wäre gern seine Prinzessin, denn sie teile seine Freude am Wandern, Lesen und Musikhören. Das Königreich sei ihr weniger wichtig. Als sie sich in einem italienischen Restaurant trafen, fanden sie sogleich Gefallen aneinander, gingen zusammen auf eine Wanderung, auf der sie sich gegenseitig Geschichten vorlasen, und besuchten am Abend ein Konzert. Silvia war etwas überrascht, als der Prinz die Rede auf sein Königreich brachte, denn sie hatte das Ganze für eine Redensart gehalten. Aber da er ihr wirklich gefiel, sagte sie, wenn es unbedingt sein müsse, nehme sie auch das Königreich. Die beiden heirateten, und sie wurde eine erstaunlich gute Königin, obwohl sie nur eine Lehre als Bauzeichnerin gemacht hatte. Fr anz Hohler,  geboren 1943, lebt und arbeitet in Zürich. Er arbeitet derzeit an seinem neuen Roman «Das Päckchen».

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Aus: Klaus Merz, Werkausgabe Band 3, Haymon 2012

Der Erbe oder Er hatte gefunden, was er brauchte Von Klaus Merz

1 Die Meerschnecke sah aus wie eine kleine Faust, mit hell- und dunkellila Tupfern querüber. Ihr offener Perlmuttermund glänzte mattgelb. Das starke Kalkgehäuse zerbrach nicht in der Jackentasche. Theiler war die Schnecke beim Räumen des Estrichs in die Hände geraten. Er hielt sie ans Ohr, hörte sein Blut darin rauschen, und hinter geschlossenen Augen sah er das Meer. Sein Wasser war grün. Im aufkommenden Wind hörte Theiler die Gespräche seiner Geschwister nicht mehr. Er machte vom Ufer los und fuhr mit gesetzten Segeln im verkauften Elternhaus auf die offene See hinaus. Vater und Mutter blieben im Hafen zurück, winkten ihrem Jüngsten nach, bis er ihre besorgten Totenmäsklein im Schatten der alten Haselbüsche nicht mehr ausmachen konnte. 2 Theiler fuhr schnurstracks ums Kap der Guten Hoffnung herum. Steuerbord tauchte Ma-da-gas-kar aus den Wellen hoch. Über eine grosse Weltkarte gebeugt, prägte sich Theiler jedes Land und jede Stadt am Weg silbenweise ein. Er erreichte Indien bei ruhiger See und bog in die Strasse von Malakka ein. Manchmal hielt er den Atem an, um dem zunehmenden Blau des Himmels und des Wassers besser standhalten zu können. Singapur liess er links liegen, fuhr über das Südchinesische Meer auf die Philippinen zu. Am Wort Ku-a-la Lum-pur hatte er lange zu kauen. Vor ihm wuchs Manilas Grossstadtsilhouette mit einer Reihe halbfertiger Neubauten in den Himmel empor. Theiler erinnerte sich daran, dass er bei seiner ersten Ankunft in Manila leise vor sich hingejodelt hatte. 3 Das Dienen hinter dem Panzerglas hatte Theilers Leben bis zum Antritt seiner Fernostreise Sinn gegeben. Der Umgang mit den Scheinen, das Umwälzen von Kapitalien, Handänderungen, ohne eigentlich Hand anlegen zu müssen, das Geheimnis des Geldes waren ihm teuer gewesen. Es wäre auch zu keinerlei Abweichungen gekommen, hätte ihn das Touristikplakat mit den Reisterrassen von Luzon, das im Schaltervorraum seiner Bank, unmittelbar neben dem Zierfisch­ aquarium, für den Besuch der Philippinen warb, eines Tages nicht doch übermannt. Eine kleine Erbschaft nach dem Tod seiner Eltern sorgte für zusätzliche Aufregung. Theiler sprach bei der Direktion vor, nachSurprise 405/17

dem er sich definitiv für Luzon und damit gegen eine vorteilhafte Festgeldanlage entschieden hatte. Er suchte um einen achtwöchigen Urlaub nach. 4 Die Philippinen, von Magellan entdeckt und 1542 nach Philipp dem Zweiten von Spanien benannt, wurden zu einem grossen Teil durch Augustiner-Eremiten, später durch Franziskaner, Dominikaner und Jesuiten missioniert, las Theiler in seinem Reiseführer. Er selbst war nicht besonders gläubig, aber er ass gerne Reis. Die Flugaufnahme der Reisterrassen von Luzon hatte in ihm jedoch einen Hunger entfacht, dem er mit Reisessen allein nicht mehr begegnen konnte. Theiler ging in Manila an Land. Ein wenig erschrocken über die unangenehme Präsenz europäischer Landsleute, Männer vor allem, in den tiefen und heissen Schluchten der Stadt, verliess er die City, so rasch es ging, in nördlicher Richtung. Ausserhalb des grossen Menschenknotens wurde er sofort wieder neugierig auf die Welt. 5 «Hello Mister!», tönte es, je näher er den Reisterrassen von Luzon kam, aus Fenstern, Türen, Schulzimmern, Bussen, Geschäften. «Hello Mister», so hatte bis anhin nie jemand nach ihm gerufen. Seine anfängliche Verlegenheit legte sich rasch. Er sah sich lachend im Zentrum immer neuer Menschenkreise stehen. «Komm! Schau! Kauf!» Theiler war nicht hierhergereist, um misstrauisch zu sein. Er willigte in jeden Handel ein, wurde geachtet, umworben, geliebt. «Selmat pagi – Siang – Sore – Malam», lernte er je nach Tageszeit grüssen, um auch freundlich zu sein. Er war der Weisse Mann, der Investor. Er war der König von Spanien und nahm mit der milden Haltung eines Weitgereisten die Paraden der Einheimischen ab. – Er war ein Freund unter Freundlichen. Trotz der verbleibenden Distanz von ihm zu ihnen war alles so nah wie nie zuvor in seinem Leben. In Luzon sah er dann den Reis, das sagenhafte Grün, das die breiten Stufen herabfloss, blauer Himmel darüber wie auf dem grossen Plakat. 6 In Bugnay blieb Theiler lange vor Häuptling Macliings verlassenem Haus stehen, studierte die neu angebrachte Grabplatte: «Seine Stimme verstummte durch faschistische Kugeln, aber sie können sein Wort niemals aufhalten», stand in den Stein geritzt. 21


Der Kalinga-Führer Macliing war im Widerstand gegen die geplanten Staudämme von Chico River ermordet worden. «... unser Vater, Bruder, Freund, Kraft der Revolution und Genosse», las Theiler im letzten Absatz der Gravur. Seit Jahrtausenden ernähren sie sich vom Reis, den sie auf ihren Filigran-Terrassen den Bergen abtrotzen. Ihr Land ist ihr Leben, es ist mit den Seelen der Vorfahren verbunden, daraus schöpfen sie ihre Kraft. Als Regierungsvertreter zu Anfang des Widerstandes dem unbeugsamen Stammeshäuptling der Kalinga einen Briefumschlag überreichten, sagte Macliing: «In einem Briefumschlag können nur Geldscheine oder ein Schreiben sein. Da ich nicht lesen kann, muss Geld darin stecken. Da ich nichts zu verkaufen habe, nehmt den Brief wieder mit!» Theiler zog seinen Hut vor Macliings Grab.

9 Zwei Wochen später wurde sein Elternhaus geräumt. Die Geschwister überliessen Theiler die Schnecke, Cypraea mauritania, nahmen dafür die Schwarzwälderuhr, den Kühlschrank, die Teppiche mit. Theiler war es recht so, er hatte gefunden, was er brauchte. Das bisschen Bargeld, das noch in der Küchenschublade gelegen hatte, teilten sie gleichmässig auf. Nach einem kurzen, gemeinsamen Besuch am frisch bestellten Familiengrab brachten die Geschwister ihren Bruder auf seine Station zurück und verabschiedeten sich von ihm. Ihre übertriebene Fürsorglichkeit hatte ihn schon den ganzen Nachmittag genervt. Er schaute nicht einmal zurück, als er seine Verwandten durch die Glastür ins Freie treten hörte, ging auf sein Zimmer und schlief sofort ein.

7 Die acht Wochen seines Urlaubes gingen viel zu schnell vorüber. Er hätte jetzt nur langsam, zu Fuss, per Bahn, im Schiff nach Hause zurückkehren dürfen. Aber sein Flug war gebucht. Auf dem Ticketumschlag stand neben seinem eigenen Namen auch der Name seiner Bank. An einem Freitag kam er in Kloten an. Die zerhäuselte Landschaft unter den sinkenden Tragflächen schnitt ihm beinah den Atem ab. Es regnete. Von Weitem sah Theiler sein Gepäck auf dem Förderband heranfahren. Er stellte sich zu den Wartenden und liess seine Koffer und Taschen noch einige Male im Kreis herumdrehen. Die Zollabfertigung ging zügig voran. Nicht ein einziges Gepäckstück musste er öffnen. Der Beamte winkte ihn mit einer blossen Kopfbewegung weiter. Exit, las er über der automatischen Schiebetür, die er zu passieren hatte. Es war niemand da, der ihn jenseits der Zollschranken erwartete.

10 Jeden Morgen holte er seine Schnecke unter dem Kopfkissen hervor und legte sie in die linke Jackentasche. – Weiss der Teufel, wie seine Eltern zu dieser philippinischen Schnecke gekommen waren. – Mit der Zeit gab es eine Ausbuchtung im Stoff, die durchgescheuerte Stelle. Die Pflegerinnen schüttelten tadelnd den Kopf, liessen in der Näherei das Loch stopfen, so gut es ging. «Hello Mister!», grüssten sie, wenn sie ihm auf der Station begegneten. Theiler nahm ihren Gruss gelassen ab. Zam-bo-an-ga oder Ko-ta Ki-na-ba-lu, gab er manchmal zurück, um die Orte nicht zu vergessen, die er sich auf seiner Reise eingeprägt hatte. Das «Hello Mister» des Pflegepersonals und der spärlichen Besucher aus seiner Bank mutete ihn aber immer läppischer an, ohne dass er jedoch den Ehrgeiz verspürt hätte, sie darüber ins Bild zu setzen. Über seinem Bett hing eine Ansichtskarte vom Mittelmeer. Lauter blauer Himmel, grünes Wasser und weisser Sand. Auf der Rückseite standen die Grüsse eines Lehrlings aus der Bank, der bis nach Aigues-Mortes gekommen war. Das Gerangel am Strand, von dem Oliver berichtete, wollte sich Theiler gar nicht vorstellen. Er hielt die Bildseite der Ansichtskarte für wahrer, näherte sich oft schon vor Ablauf der geregelten Besuchszeiten einem fernen Kap, das er jodelnd umfuhr – die herabfallenden Reisterrassen von Luzon stets vor Augen.

8 Theiler ging langsam durch die Ankunftshalle auf eine weitere Schleuse zu, schaute mitten in alle Gesichter, in alle Schalterfenster hinein und wurde seine Erwartung, von irgendwoher angerufen werden zu müssen, nicht mehr los. In der Mitte der Halle blieb er stehen, witterte. Über seinem Kopf ratterten die Metallplättchen der Anzeigetafel, wechselte Ort und Zeit. «Hello Mister!», sagte er leise, rief es immer lauter in die verglaste Ankunftshalle hinaus. Ein Mann mit Walkie-Talkie und blauer Uniform nahm ihn beiseite und brachte ihn auf den Zug, der pünktlich einfuhr. «Hello Mister!», grüsste er, als er sich am Montag bei seinem Prokuristen zurückmeldete. Er bestand darauf, dass man ihn von nun an so anspräche, tippte mit den Fingerkuppen unruhig gegen das Panzerglas.

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Klaus Merz,  geboren 1945, lebt als freier Schriftsteller in Unterkulm AG. Jüngste Publikationen: «Der Argentinier: Novelle»; «Unerwarteter Verlauf» (Gedichte 2011–2015), erschienen bei Haymon, zudem eine siebenbändige Werkausgabe, herausgegeben von Markus Bundi. Merz wurde u.a. mit dem Hermann-Hesse-, dem Gottfried-Keller- und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet.

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Einfühlungsvermögen Von Tim Krohn

Weil Moritz wusste, dass seine Grossmutter mütterlicherseits – in der Familie Oma Kempf genannt – ihre Geburtstage hasste und für jede Ausrede dankbar war, die es ihr erlaubte, die leidigen Telefonate und Anstandsbesuche zu umgehen, hatte er sie gebeten, ihm beim Bepflanzen des Balkons zu helfen. Das tat sie gern, und sie reiste mit einem ganzen Koffer voller Setzlinge, Samen und Gerätschaften aus Biel an. Moritz hatte extra noch keinen Strich getan, so hatten sie einiges zu erledigen. Als Erstes vermassen sie den Balkon, dann zogen sie los, um Kistchen, Auffangschalen, Hängeeisen und drei Sorten Erde zu besorgen. Auf dem Heimweg gönnten sie sich einen Abstecher in den «Glacégarten». Das Setzen und Säen ging dann leider recht schnell, obwohl sie dabei für die Pflanzen eine Ordnung ausklügelten, die alle Bedürfnisse befriedigen sollte: die der Pflanzen (Licht- und Windeinfall, Beschaffenheit der Erde), optische (die Pflanzenhöhe sollte, wenn man auf dem Balkon sass, ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln, ohne zu viel Sicht zu nehmen) und kulinarische: Es gab Tee-, Kräuter-, Salatblumen- und Gemüsekistchen. Und kurzentschlossen zogen sie noch vor dem Mittag ein zweites Mal los, denn es war Mittwoch, auf dem Kanzleimarkt wurden Tomatensetzlinge angeboten. Die hatte Oma Kempf deshalb nicht mitgebracht, weil sie sich erinnerte, dass er als Kind von Tomaten Ausschlag bekommen hatte, das hatte sich allerdings inzwischen ausgewachsen. Der Ausflug auf den Markt endete mit Einkäufen für ein leichtes Mittagessen – Felchen aus dem Zürichsee, Cime di rapa, Scamorzine fumate, ein Brot im Körbchen und die letzten Clementinen, weil die italienische Verkäuferin schwor, sie seien so süss und saftig wie im Winter. Auf dem Heimweg hatten sie zudem die Idee, für die Tomaten eine Bewässerungsanlage zu konstruieren, denn Moritz schloss nicht aus, dass er ab und zu verreisen würde, und als er Julia anrief und fragte, ob er darauf zählen könne, dass sie gelegentlich giessen würde, sagte sie: «Nein, leider nicht, ich habe nämlich Neuigkeiten. Wir kommen vorbei, und dann erzähle ich.» Nach dem Einkauf brauchte Oma Kempf eine Pause, und so gab Moritz ihr den Schlüssel, als sie das Haus erreichten, stellte die Einkäufe in den Eingang und ging allein nochmals in den «Jumbo», um Schläuche und Kanister zu kaufen. Als er damit heimkam, sass sie mit Adamo Costa in der Küche. Adamo hatte einen Joint hinters Ohr geklemmt. «Dieser junge Mann sass auf der Treppe vor deiner Tür, Surprise 405/17

als ich kam, und ich habe ihn hereingebeten», erzählte sie. «Er hat mir sein halbes Leben erzählt, das war sehr nett.» «Efgenia hat mich ausgeschlossen», sagte Adamo. «Ich sass nur da, um mir eine Zigarette zu drehen, bevor ich zur Arbeit gehe, aber deine Oma hat gesagt: ‹Sie kommen mir gerade recht, Sie werden mir Gesellschaft leisten. Wer weiss, wie lange Moritz mich allein lässt.›» «Ich habe dir doch gesagt, ich brauche nur zehn Minuten, Oma», erinnerte sie Moritz. «Ja, eben», sagte sie, «und du warst sicher eine halbe Stunde weg. Man kann nie voraussagen, wie das Leben spielt.» Dann wandte sie sich an Adamo: «Um die Sache abzuschliessen: Ich stand auch einmal zwischen zwei ... in meinem Fall Männern, und im Nachhinein muss ich sagen, es war eine meiner schönsten Erfahrungen. Nicht das schlechte Gewissen natürlich, auch nicht, was ich meinem Mann damit zugemutet habe. Dafür alles andere. Und auch für unsere Beziehung war es schluss­endlich Gold wert. Es hat uns geweckt, wir wurden wieder neugierig aufeinander und wir fanden eine ganz neue Art, aufeinander einzugehen. Trotzdem verstehe ich ebenso gut Ihre Frau.» «Sie weiss davon noch gar nichts», sagte Adamo. «Dass sie mich ausgeschlossen hat, hat ganz andere Gründe. Ich traue mich nicht, ihr davon zu erzählen.» «Vielleicht ist sie auch nicht der Mensch, der so etwas aushalten könnte», sagte die alte Frau Kempf. «Ich denke, es gibt keine moralische Verpflichtung, einander in der Ehe alles zu verraten. Oder besser gesagt: Der Schutz der Beziehung ist wichtiger. Wenn Sie glauben, Ihre Ehe macht Sinn, wie sie ist, und Sie engagieren sich nach besten Kräften – und ich denke, Sie tun das –, dann leisten Sie bereits, was Sie leisten müssen. Es gibt nicht nur ein Du in einer Beziehung, es gibt auch ein Ich. Und es gibt keine Verpflichtung, das eigene Leben hinter das Wohl des Partners zu stellen. Lassen Sie sich das von einer Frau sagen, die heute 73 Jahre alt geworden ist.» «Herzlichen Glückwunsch», rief Adamo, beugte sich vor und gab ihr Küsschen auf die Wangen.

«Ich hätte auch gern LSD genommen, das muss eine tolle Droge sein, gerade für Paare.»

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«Danke», sagte sie. «Siehst du, Moritz, manchmal ist es sogar nett, Geburtstag zu haben.» Der sagte: «Entschuldigt überhaupt, dass ich hier so herumstehe, ich wollte euch nicht belauschen. Aber ich muss wissen, ob Adamo mit uns zu Mittag isst. Und ob du Wein willst, Oma.» Adamo sagte: «Nein, nein, wie gesagt, ich muss zur Arbeit», stand auf und überreichte der alten Dame den Joint. «Statt Blumen», sagte er. Moritz ging mit ihm hinunter, um noch bei Coop Wein zu kaufen – seine Großmutter wollte gern ein Gläschen. «Zu dieser Oma kann man dir nur gratulieren», meinte Adamo. «Übrigens ist es bloss Gras, und zwar sehr gutes.» «Ich werde es ausrichten», versprach Moritz. «Und wenn du einmal abends ausgeschlossen wirst: Ich habe einen Gästefuton.» Als er wieder in die Wohnung kam, war sie schon dabei, die Bewässerungsanlage zu installieren. «Du weisst doch gar nicht, wie ich mir das gedacht habe», beschwerte er sich. «Das ist auch nicht nötig», sagte sie, «ein bisschen Grips habe ich auch. Geh du lieber in die Küche und brate den Fisch. Das ist etwas, das ich nie in den Griff bekommen habe.» Also ging er kochen. Gedeckt hatte sie bereits, und den Joint hatte sie wie ein Blümchen in ein kleines Glas gestellt. Als er sie zum Essen rief, sagte sie: «Nachher brauche ich ein Nickerchen, doch erst mal guten Appetit.» Und nachdem sie angestossen hatten, sagte sie mit Blick auf den Joint: «Das war richtig nett von dem Mann. Darf man bei dir rauchen?» Er lachte und sagte: «Heute ja, nach Fisch stinkt es auch schon. Aber du weisst, dass das ein Joint ist?» «Ich bin davon ausgegangen», sagte seine Grossmutter. «Hanf ist eine erstaunlich vielseitige Pflanze. Es ist doch Hanf, oder?» Und nachdem er bejaht hatte, erzählte sie: «Das ist nicht mein erster. 1968, als dein Vater 18 oder 19 war, haben wir uns mit ein paar Eltern aus dem Quar-

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tier zusammengetan und einen geraucht – wir wollten wissen, was auf unsere Kinder zukommt. Ich hätte auch gern LSD genommen, das muss eine tolle Droge sein, gerade für Paare. Ich habe gehört, man sieht einander so tief und wahrhaftig wie sonst nie. Leider wurde deinem Grossvater schon von dem bisschen Haschisch übel, deshalb ist es nicht dazu gekommen.» Moritz sagte: «Das hier ist nur Gras, laut Adamo sehr gutes», und nachdem er ihr gezeigt hatte, wie man das Deckelchen abbrennt, zogen sie ins Labor um und machten es sich einigermassen bequem (seine Möbel waren Oma Kempf alle zu hart, und aufs Bett wollte sie nicht, weil sie fürchtete, bis zum nächsten Morgen durchzuschlafen). Sie reichten den Joint ein paarmal hin und her, dann präsentierte Moritz ihr sein Geburtstagsgeschenk. «Keine Sorge, es ist rein ideell», sagte er. «Ich werde dir etwas über die Zahl 73 erzählen, die schönste Zahl des ganzen Universums. Danach wirst du über dein Alter glücklich sein.» Sie kicherte, nahm noch einen Zug, reichte ihm den Joint und schloss die Augen. «Dann mal los», sagte sie. «Zum einen ist 73 eine Primzahl», sagte er. «Dazu ist sie eine sogenannte Mirpzahl, das heisst ihre Umkehrung, 37, ist wieder eine Primzahl. 73 ist die 21. Primzahl, 37 die 12., die 21 und die 12 sind ihrerseits wieder Mirpzahlen. Dazu kommt: Im binären Code schreibt man die 73 als 1001001. Rückwärts gelesen: 1001001, ein Palindrom. Und die Krönung: Ein Palindrom ist die 73 auch als Oktalzahl – das ist ein altes Zahlensystem aus Schweden – nämlich 1-1-1. Rückwärts gelesen 1-1-1. Die 73 gilt als Angelina Jolie der Zahlenwelt: die schiere Perfektion.» «Diese Dame kenne ich nicht», sagte Oma Kempf und öffnete die Augen. «Aber es ist schön zu wissen, dass ich endlich Vollkommenheit erreicht habe, zumindest in den Augen der Mathematik.» Dann klingelte es an der Tür. «Soll ich aufmachen?», fragte Moritz. «Natürlich machst du auf», erklärte sie. «Auch an mei-

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nem 73. Geburtstag habe ich nicht das Recht, der Welt meinen Enkel vorzuenthalten.» Julia und Mona standen draussen. «Puh, bei dir stinkt es aber», sagten beide, als er öffnete. «Keine Sorge, immerhin ist nichts explodiert», sagte er. «Wir feiern nur Omas Geburtstag.» «Ist es für mich?», rief seine Grossmutter aus dem Labor und kam in den Flur. «Das sind Julia und Mona», erklärte er, «meine Lieblingsnachbarinnen.» Die alte Dame gab ihnen die Hand und sagte: «Verzeihen Sie, ich bin ein bisschen stoned. Heisst das noch so?» Sie lachten, und Julia hielt ein Päckchen hoch. «Jacks neuer Koch hat Zuger Kirschtorte gebacken, mit viel Schnaps. Dann überreiche ich die der Oma.» «Die essen wir alle zusammen, kommt rein», sagte die. «Moritz, mach die Fenster auf und koch uns einen starken Kaffee.» Dann hakte sie sich bei Julia ein, damit sie sie in die Küche führte. «Sie müssen wissen», erklärte sie, «ich bin seit heute ein wandelndes Palindrom, sogar ein doppeltes. Das macht meinen Gang gerade etwas wackelig.» «Mama, dein Arm», sagte Mona. «Was ist mit deinem Arm?», fragte Moritz. «Die Blutvergiftung», sagte Julia. «Aber wir kommen gerade von der Ärztin, und sie war sehr zufrieden.» «Da bin ich froh», sagte Moritz. «Und was sind das für Neuigkeiten?» «Jack ist die Neuigkeit», mischte sich seine Oma ein.

«Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff. So strahlt nur eine Frau, die frisch verliebt ist.»

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«Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff. So strahlt nur eine Frau, die frisch verliebt ist.» Julia lachte. «So ist es gar nicht», sagte sie. «Oder zumindest nicht so einfach. Es ist ein Gesamtpaket.» «Moritz, ich durfte Jacks Garten bepflanzen», rief Mona dazwischen. «Nein, sogar die ganze Insel. Mit Pavel. Du musst unbedingt kommen, wenn alles blüht. Nein, schon vorher, zu meinem Geburtstag. Ein Boot kriege ich nämlich auch.» «Ihr zieht doch nicht etwa weg?», fragte er. «Nein», sagte Julia, «doch», rief Mona. «Vielleicht für ein Weilchen», gestand Julia. Moritz stand erst einmal auf und wusch sich das Gesicht. «Ich bin gerade etwas geschockt», sagte er. «Komm, Junge, gib mir mal die Hand», sagte seine Oma, hielt sie fest und sah ihm in die Augen. «Wie alt bist du jetzt?», fragte sie. «24», antwortete er. «Ist das auch eine besondere Zahl?» Er nickte. «Es ist die grösste Zahl mit der Eigenschaft, dass sie durch alle natürlichen Zahlen geteilt werden kann, die kleiner als ihre Wurzel sind, also durch 4, durch 3 und durch 2.» «Und 25?», wollte Oma Kempf wissen. «Ist die kleinste Quadratzahl, die gleichzeitig die Summe zweier Quadratzahlen ist», sagte er. «Warum?» «Siehst du, das Leben geht weiter», sagte sie. «Und jetzt mach endlich den Kaffee.» Tim Krohn  wuchs im Kanton Glarus auf, ist Zürcher Stadtbürger und lebt heute in Sta. Maria Val Müstair. Eine Geschichte aus dem dritten Band von Tim Krohns Grossprojekt «Menschliche Regungen», der im Frühjahr 2018 unter dem Titel «Julia Sommer sät aus» erscheint. www.menschliche-regungen.ch Mit freundlicher Genehmigung des Galiani Verlags Berlin.

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Kreuzworträtsel 1. Preis  Das Surprise Strassenmagazin ein halbes Jahr im Abo 2. Preis  Zwei Mal Teilnahme für zwei Personen am Sozialen

Stadtrundgang, wahlweise in Basel oder Zürich 3. Preis  Drei Mal ein Surprise-Badetuch

Finden Sie das Lösungswort und schicken es zusammen mit Ihrer Postadresse an: Surprise Strassenmagazin, Spalentorweg 20, 4051 Basel oder per E-Mail mit Betreff «Rätsel 405» an info@surprise.ngo Einsendeschluss ist der 10. August 2017. Viel Glück! Die Gewinnerinnen und Gewinner werden unter den richtigen Einsendungen ausgelost und persönlich benachrichtigt. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt.

Gemeinde am Zürichsee

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405 raetsel.ch

11 Tipp: Das Lösungswort kommt in einem der Texte dieser Ausgabe vor.

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S T HA E F DA

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1

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Teil des

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Sudoku Füllen Sie die leeren Felder mit den Zahlen von 1 bis 9. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile, in jeder Spalte und jedem der neun 3 × 3-Blöcke nur ein Mal vorkommen. Die Lösungen finden Sie in der nächsten Surprise-Ausgabe.

Leicht

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Mittelschwer

8

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4 6 2 7 5 8 1 1

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raetsel.ch 50345

Mittelschwer

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Teuflisch schwer

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1

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

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08

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10

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13

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15

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Ausgabe 403

Kein Voyeurismus

Runde Leistung des Teams

Die Lokalitäten und Orte waren sehr gut gewählt, wir bekamen nie das Gefühl von Voyeurismus. Die Führung war für uns sehr eindrücklich, und wir bewundern die Lebensweise und den Optimismus von Ruedi Kälin und Peter Conrath. Wir wünschen den beiden alles Gute und hoffen, dass sie die Ziele, die sie sich gesetzt haben, auch erreichen!

Diese Ausgabe ist wirklich absolut super. Vom Konzept über Umsetzung inklusive Inhalt. Absolut professionell und eine runde Gesamtleistung des Teams. Kann mir gut vorstellen, dass das Magazin so eine grössere Verbreitung und Unterstützung findet. Eine erfreuliche Sache in einer fordernden Welt. Hoffe, Sie machen so weiter und können mit Ihrem Projekt viel bewegen.

Bowl a-Club, Chur

H. Oftinger, Bözen

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 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt,

Surprise 405/17

Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Chi Lui Wong, Christopher Zimmer

Leserbrief

Talente

Das Surprise kaufe ich immer wieder: weil ich damit die Verkäufer*innen unterstütze und gerne auch mal etwas Kritisches lese. Ihr gebt den Stummen eine Stimme. Von den fünf Jahren, die ich jetzt in der Schweiz bin, war ich 20 Monate arbeitslos, hatte vergünstigte Krankenkassenprämien und war zwei Monate Sozialhilfeempfänger. Nun geht es aufwärts. In der Unterstützung minderjähriger Asylsuchender, mit Hangab und Lachyoga, habe ich jetzt den erhofften und verdienten Erfolg. Viele Menschen leiden und jammern hier in der Schweiz auf hohem Niveau. Zurück zur Eigenverantwortung. Jede*r von uns ist mit Talenten aus­gestattet, wir leben sie oder verrecken jämmerlich.

T. Marvin Bauer, Basel

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.–

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FOTO: Bodara

Surprise-Porträt

«Ich habe zwar keine Lehre, aber ich putze gut und gerne» «Ich heisse Tsehay Bihane, komme aus Eritrea und verkaufe das Surprise Strassenmagazin in Pfäffikon im Kanton Zürich. In die Schweiz gekommen bin ich vor zehn Jahren. Mein ältester Sohn Michael, der heute 23 ist, hatte damals gesundheitliche Probleme. Wir sind nach Italien geflogen und dann in die Schweiz geflüchtet. Meine beiden jüngeren Kinder, Dejen (21) und Kisanet (19), kamen zwei Jahre später nach. Ich liebe meine Arbeit als Surprise-Verkäuferin. Ich komme mit vielen Menschen in Kontakt und kann mein eigenes Geld verdienen. Und wenn einer mal kein Heft kauft, geht die Welt nicht unter. Die Kunden lieben mein Lachen. Ich bin eine Frohnatur, wie meine ganze Familie. Neu putze ich auch das Surprise-­Büro in Zürich an der Kanzleistrasse. Nun bin ich nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig. Das macht mich stolz und dankbar. Den Verkaufsjob habe ich seit sechs Jahren. Ich versuche auch andere Eritreer zu überreden, für Surprise zu arbeiten. Ich habe viel profitiert, das will ich niemandem vorenthalten. Trotzdem: Manchmal wurmt es mich, dass ich keine andere Stelle finde. Ich denke, das ist, weil ich nur einen F-Ausweis habe. Ich habe zwar keine Lehre gemacht, aber ich putze gut und gern. Beim Verkaufen schmerzt manchmal mein rechtes Bein, besonders wenn ich lange stehe oder wenn es kalt ist. Das Leiden stammt vom Krieg. Ich war sieben Jahre lang Soldatin, von 1987 bis 1994. Das war Pflicht. Ich wurde am Bein angeschossen. Und im Bauch habe ich einen Bomben- oder Stein­ splitter. Ich weiss nicht genau, was es ist. Doch ich kann das Teil manchmal fühlen. Es wandert im Bauch umher. Darum haben es die Ärzte vermutlich auch nicht gefunden, als sie es rausoperieren wollten. Mir haben sie gesagt, es sei weg. Aber ich rede nicht gerne über den Krieg und seine Folgen. Das ist schon 26 Jahre her. Drei Jahre nach dem Militärdienst kam Michael zur Welt. Ich bin stolz auf ihn. Er hat seine Lehre als Mechanikpraktiker Fach Elektro abgeschlossen und eine Stelle gefunden. Dejen hat Schreiner gelernt, Kisanet macht eine Lehre im Detail­ handel. Michael hat als Einziger der Familie einen B-Ausweis. Wir anderen drei sind immer noch nur ‹vorläufig aufgenom­ men›. Und das nach acht oder zehn Jahren in der Schweiz, ich verstehe das nicht. Seit zwei Jahren haben wir eine Wohnung in Pfäffikon. Nach unserer Ankunft in Chiasso wohnten wir für acht Monate in einem Heim in Oerlikon, danach in einem Heim in Pfäffikon. Insgesamt lebten wir acht Jahre lang in Heimen. Zuhause kann ich mich am besten beim Kaffeekochen entspannen: Erst 30

Tsehay Bihane, 51, verkauft das Surprise Strassenmagazin in Pfäffikon ZH. Seit kurzem ist sie nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig. Ihr Traum: Sie möchte ihre kranke Mutter wiedersehen.

wasche ich die grünen Kaffeebohnen und röste sie in einem Topf. Sind sie dunkel genug, zermahle ich sie. Ich gebe sie in einen speziellen Krug aus Eritrea. Darin erhitze ich den Kaffee mit Wasser, so dass er nie überkocht. Nach etwa drei Aufgüssen und rund einer Stunde Kochzeit ist der Kaffee fertig. Ich trinke ihn mit viel Zucker. Sonntags gehen wir in die Kirche. Wir sind orthodoxe Christen und reisen für den Gottesdienst mal nach Schlieren, mal nach Zürich. Je nachdem, wo gerade ein Saal für uns frei ist. Wir sind gut vernetzt. Mein Traum ist, dass ich meine Mutter wiedersehen könnte. Sie lebt in Eritrea in einem kleinen Dorf. Dort gibt es kein Telefon. Seit drei Jahren habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie ist nicht mehr mobil und kann nicht einfach in die nächste Stadt reisen. Seit das so ist, versuche ich eine Bewilligung für eine Reise nach Eritrea zu erhalten – bisher ohne Erfolg.» Aufgezeichnet von Beat Camenzind

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Leicht

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KRYOLIPOLYSE

GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO

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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS BASEL BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 LUZERN Jazzkantine zum Graben, Garbenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 Blend Teehaus, Furrengasse 7 RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brassierie Lorraine, Quartiergasse 17 Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Sphères, Hardturmstr. 66 STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


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