Surprise 408

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Strassenmagazin Nr. 408 8. bis 21. September 2017

CHF 6.–

Porträt

Am Ziel

Nach zehn Jahren auf Europas Strassen hat Slavcho Slavov in Bern endlich ein Zuhause für sich, Hund und Katz gefunden. Seite 8

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

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Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TiteLbild: Annette Boutellier

Editorial

Bilanz Wenn man so alt ist wie ich, macht man manchmal Witze übers Altern. Tut mir etwas weh, so ist es das Alter, kenne ich mich im Gespräch über Musik nicht aus, bin ich wohl schon zu alt dafür. Diese Klagen sind nicht ernst gemeint und nur deshalb witzig, weil ich das Altern bis­her vor allem als Gewinn betrachten kann. Mit ein bisschen Glück kann ich mir das erhalten. Denn wir bleiben immer länger gesund, viele können auch den dritten und vierten Lebensabschnitt in vollen Zügen geniessen. Das sagt Alternsforscherin Pasqualina Perrig-Chiello. Im Interview ärgert sie sich über die laufende AHV-Debatte, die nur an der Oberfläche kratze, und über unschöne Begriffe wie Überalterung, ab Seite 14. Lange betrachtete Slavcho Slavov das Leben auf der Strasse als Gewinn. Zehn Jahre reiste der Bulgare mit Hund und Katz quer durch Europa auf der Suche nach einem Ort, an dem das Dreiergespann ein Zuhause und ein Auskommen fände.

4 Aufgelesen

Gehalten hat es den (Lebens-)Künstler schliesslich in Bern, wo er auch seine Geschichte niedergeschrieben hat. Mehr dazu ab Seite 8. Einen profaneren Gewinn verfolgt die Alianza PAIS in Ecuador: Die jüngst wiedergewählte Regierungspartei stand einmal für mehr Gerechtigkeit und soziale Wohlfahrt. Sie sorgte dafür, dass die Rechte der «Pachamama», der Mutter Natur, in der Verfassung verankert wurden. Genützt hat es wenig, sagen viele ehemalige Anhänger, solange der sogenannte «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» auf dem Ausverkauf der natürlichen Ressourcen auf Kosten von Umwelt und Demokratie basiert. Ein Stimmungsbild aus dem ecuadorianischen Amazonasbecken ab Seite 18. Ich wünsche eine gewinn­bringende ­Lektüre. Sar a Winter Sayilir Redaktorin

18 Ecuador

Erdöl statt Naturschutz

5 Vor Gericht

Seufzer im Saal

28 Surplus

…beleidigt 7 Die Sozialzahl

Schleichende Privatisierung

24 ZeitRäume Basel

8 Obdachlosigkeit

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Unverzichtbare ­Leichtigkeit 27 Veranstaltungen

6 Moumouni

Odyssee mit Hund und Katz

26 Buch

Die Stadt als Partitur 14 Rentenreform

«Wie man altert, entscheidet sich früh»

26 Randnotiz

Wer die Krone trägt

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Ich stehe zu meinem Glauben»

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Aufgelesen

Foto: The Big Issue North

News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Von Manchester bis Basel Jedes Jahr richtet das Internationale Netzwerk der Strassen­ zeitungen INSP einen Kongress aus. Diesmal trafen sich 127 Delegierte von 54 verschiedenen Projekten aus 28 Län­ dern in Manchester, wo die Strassenzeitung The Big Issue

Einmal im Monat braucht Frau Hygieneprodukte, und diese kosten Geld. Für Frauen mit geringem Einkommen ist die Periode deshalb nicht nur eine körperliche, sondern auch eine finanz­ielle Sorge. Die schottische Regierung schafft Abhilfe und versorgt in einem Pilotprojekt armutsbetroffene Frauen gratis mit Hygieneartikeln. Ginge es nach der Labour-Abgeordneten Monica Lennon, sollte das Projekt auf alle Schottinnen ausgeweitet werden. So würde ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichstellung getan. Einen entsprechenden Vorstoss hat sie bereits eingereicht.

The Big Issue, Glasgow/London

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Die Fakirin Die Dänin Cecilia Gosilla landete mit 15 auf der Strasse. Heute studiert die 25-jährige an der «Akademie für ungezähmte Kreativität», einer modernen Zirkusschule, und arbeitet als Fakirin. Dabei geht sie immer wieder an ihre Grenzen, wie beim Schlucken von Schwertern: «Anfangs konnte ich es nicht. Ich stand im Badezimmer und übergab mich dreimal am Tag während der ersten sechs Monate. Ich war sehr dünn damals. Mein Körper weigerte sich, das Schwert meinen Rachen hinun­ tergleiten zu lassen. Und gleich­ zeitig schickte mein Gehirn diese Signale aus, die meinem Körper mitteilten, er müsse es tun.»

Hus Forbi, Dänemark

Foto: ZVG

Sorgenfreie Tage

North verkauft wird. Auch Surprise war mit von der Partie. Nächstes Jahr kommen die internationalen Kollegen dann zu uns: Surprise ist Gastgeber für den INSP-Kongress 2018, der im August in Basel stattfinden wird.


Illustration: Prisk a Wenger

Armut macht krank

Elf Jahre weniger leben arme Männer in Deutschland im Vergleich zu den bessergestellten. Bei den Frauen sind es acht Jahre. Menschen mit geringem Einkommen haben häufiger Lungenentzündung, Magen­geschwüre und Diabetes, ihr Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko ist dreimal so hoch. Auch psychische Erkrankungen treten häufiger auf, und die Suizidrate unter Arbeitslosen ist 20-mal so hoch wie unter Berufstätigen, erklärte der Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert auf der Nationalen Armutskonferenz im Juli. Mitverantwortlich seien sozialstaatliche Defizite, die zu geringe Unterstützung im Bereich Ernährung und Gesundheit vorsähen.

Strassenkreuzer, Nürnberg

Neue Repression

Ende Juni beschloss Österreichs Nationalrat das Fremdenrechts­ änderungsgesetz (FRÄG). Demnach riskieren abgewiesene Asylbe­ werber 5000 bis 15 000 Euro Strafe, wenn sie sich nicht bemühen, aus eigenen Kräften auszureisen. Auch können «Drittstaat­ange­hörige mit rechtskräftiger Rückkehr­ entscheidung» gezwungen werden, in ein Bundesquartier überzu­ siedeln, dessen Bezirk sie dann nicht verlassen dürfen. Sogar die Möglich­keit von bis zu sechs Wochen Beu­ge­haft sieht das Gesetz vor. Auch Asylbewerber, deren Ver­fahren noch hängig ist, sind neuen Regeln unterworfen. Sie dürfen nicht mehr aus dem Bundesland wegziehen, dem sie aufgrund der Grundversorgung zugeteilt sind.

Megaphon, Graz

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Vor Gericht

Seufzer im Saal Ein düster blickender junger Mann mit Tätowierungen an Händen und Hals umklammert in der Lobby des Bezirksgerichts Zürich einen vielleicht fünfjährigen Buben im Batman-T-Shirt. Eine Frau, die die beiden «Mami» nennen, redet auf den grossen Düsteren ein. Sie will mit ihrem kleinen Sohn draussen warten, während ihr grös­ serer auf der Anklagebank Platz nimmt. Der 23-jährige Tobias* ist angeklagt wegen versuchter schwerer Körperverletzung und Diebstahl. Vor einem Jahr stiess er mit seinem Kumpel zu einem Trinkgelage in der Wohnung eines gemeinsamen Freundes in Altstetten. Begleitet wurden sie von dem obdachlosen, seither verschollenen Patrick. Im Laufe des Abends soll Tobias mehrere Gäste bedroht, dem volltrunkenen Gastgeber eine Flasche über den Kopf gezogen und dann zusammen mit seinen Kumpels Laptop, Videokamera und DVD-Player aus dessen Wohnung entwendet haben. Der 53-jährige Gastgeber, der auf seinem harten Grind lediglich einen blauen Fleck davontrug und irgendwann nach dem Gelage die Polizei verständigte, befindet sich mittlerweile in einer geschlossenen Klinik, wo er einen Alkoholentzug macht. Die anderen Besucher wurden als Zeugen befragt. Gemäss Verteidiger widersprechen sich diese aber eklatant oder können sich nicht erinnern. Der Angeklagte gibt ein Schauspiel der Gleichgültigkeit ab. Selbst Fragen zu seiner Person und seinen Verhältnissen beant-

wortet er mit Seufzern und Schulterzucken. «Haben Sie die Gäste bedroht?» – «Tsss.» – «Wer genau begann damit, die Sachen aus der Wohnung zu tragen?» – «Keine Ahnung.» Schliesslich schiebt er alles auf den verschollenen Patrick. «Das kann nur er gewesen sein.» Für den Staatsanwalt ist klar: Der Angeklagte hat sich am Diebstahl beteiligt und beim Schlag mit der Flasche in Kauf genommen, das Opfer so schwer zu verletzen, dass es bleibende Schäden davontragen könnte. Zumal er ja wegen ähnlicher Delikte bereits vorbestraft sei. Daraufhin verliert der Verteidiger kurz die Contenance. «Man muss schon eine völlig hirnverdrehende juristische Ausbildung genossen haben, um diese Tat als schwere Körperverletzung zu taxieren.» Das Opfer sei ein überaus robuster Mann, der seinen Mandanten mit Unflätigkeiten eingedeckt und in der Wohnung rumgeschubst habe. Sein Mandant habe deshalb die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung überschritten, was laut Gesetz straflos sei. Er fordert deshalb einen Freispruch. Das Gericht erachtet die Notwehr aber als unverhältnismässig. Der Prozess endet mit einer zur Bewährung ausgesprochenen elfmonatigen Gefängnisstrafe wegen der Körperverletzung und einem Freispruch wegen Diebstahl. Für letzteres fehlten zweifelsfreie Beweise. Draussen rennt der Batman-Bub aufgekratzt zu seinem älteren Bruder und ruft: «Du bist verhaftet!» Dann hämmert er an die Wand, wo das Licht Muster wirft. «Das sieht aus wie ein Stern», sagt der Bub und schaut hinauf zu Tobias. «Kann man den kaputt machen?» * persönliche Angaben geändert Isabella Seemann ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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Illustration: Rahel Nicole Eisenring

normal ist, Schwarze als minderwertig zu betrachten. Es soll ja auch Leute geben, die meinen, «Hure» sei einfach eine Be­ rufsbezeichnung und «Arschloch» ein­ fach nur ein Körperteil. Trotzdem wäre es absurd, Erich Hess als Hure oder Arsch­ loch zu bezeichnen und darauf zu beste­ hen, das habe für mich keinerlei ab­ wertende Bedeutung (Erich Hess: «Für mich ist Neger kein Schimpfwort!»). Aus­ser, ich würde mit dem Herrn Hess eine persönliche, gegenseitige und herz­ liche Beleidigungskultur pflegen, in der wir uns beschimpfen, weil wir uns mögen. Aber das wird wohl eher nicht pas­sieren. Dafür bin ich wohl zu links – ich schreibe ja sogar «N-Wort»! Dass Erich Hess eine persönliche, gegenseitige und herzliche Beleidigungskultur mit allen Schwarzen – oder zumindest allen Schwarzen vor der Berner Reithalle – pflegt, schliesse ich ebenfalls einfach mal aus, rein aufgrund meiner Vorurteile über SVP-Politiker.

Moumouni

… beleidigt Erich Hess ist ein Neger. Und für ihn ist das kein Schimpfwort. Für mich schon. Wie praktisch. So kann ich ihn beschimpfen, und er ist nicht beleidigt. Wenn das umgekehrt wäre – also, wenn ich ihn nicht beleidigen wollen würde und er aber beleidigt wäre –, so gäbe es ein Problem. Oder zumindest ein Missverständnis. Ich würde dann wohl davon absehen, ihn so zu bezeichnen. Einfach, damit er mich richtig versteht. So funktioniert doch Sprache, oder? Ich würde mich wahrscheinlich auch ent­ schuldigen, denn ich hätte ja nicht beab­ sichtigt, ihn zu beleidigen. So funk­ tioniert doch soziale Interaktion, oder? Hess dagegen sagt: «Ich lasse mir doch nicht von Linken meinen Wortschatz diktieren!» Damit ist er ein wenig unprä­ zise, die Bedeutung des N-Worts wurde 6

nämlich nicht von linken Political-cor­ rectness-Kriegern geprägt, sondern von Rassentheorien, die festlegten, wie Schwarze halt so sind: primitiv, bar­ barisch, ein wenig dümmlich und eigent­ lich mehr Tiere als Menschen, die man enteignen und ausbeuten kann. Die Be­ deutung, die diesem Wort jahrhunder­ telang beigemessen wurde, hat den Kolo­ nialismus und die Sklaverei sowohl ermöglicht als auch gerechtfertigt. Wenn ich Schwarze nicht als primitive Men­ schen bezeichnen möchte, dann verwen­de ich dieses Wort auch nicht. Punkt. Ah, Komma: Wenn ich gelernt habe, dass man Schwarze so nennt, dann heisst das nicht, dass der Begriff diese Konnota­ tion nicht hat, sondern eher, dass ich mir dieser Konnotation nicht bewusst bin. Vielleicht sogar, weil ich mich in einem Kontext bewege, in dem es ein bisschen

Und dann gibt es ja noch das Argument vom Wortursprung oder der eigentlichen Bedeutung: Vielleicht hat Hess im La­ tein­unterricht gelernt, dass «niger» ein­ fach «schwarz» heisst. Das stimmt. Es stimmt auch, dass, wie Hess behauptet, «negro» spanisch ist und ebenfalls ein­ fach «schwarz» bedeutet. Nach dieser Ar­ gumentation könnte ich Hess aber auch als Dilettanten bezeichnen. Das kommt auch einfach aus dem Lateinischen «delectare» (italienisch: «dilettare») und bedeutet «sich erfreuen». ­Erich Hess erfreut sich ja sicher auch manchmal. Zu­ mindest an rassistischen Äusserungen. Dilettantisch wirkt er, wenn er als rech­ ter Politiker so tut, als wisse er nicht, dass er sich rassistisch ausgedrückt hat.

Fatima Moumouni  entschuldigt sich natürlich für all die Kraftausdrücke im Text: «Sorry.»

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Quelle: Bundesamt für Statistik BFS: Neuberechnung der Gesamtgesundheitsausgaben 2015 (Medienmit teilung vom 27.04.2017), Infografik: Bodara

Die Sozialzahl

Schleichende Privatisierung 51 CHF Zusatzversicherungen

12 CHF Sonstige private Finanzierung

143 CHF Staat 219 CHF Restbetrag

277 CHF Obligatorische Krankenversicherung

50 CHF Sozialversicherungen (AHV, IV, UV) 32 CHF Andere Träger der sozialen Sicherheit und bedarfsabhängige Sozialleistungen 71,4 % Direkte Finanzierung des Gesundheitswesens durch private Haushalte.

Total pro Person und Monat: 783 CHF Verteilung der monatlichen Kosten im Gesundheitswesen pro Person

Im Jahr 2015 haben wir für unsere Ge­ sundheit 77 835 Millionen Franken aus­ gegeben. Die drei grössten Ausgaben­ posten im Schweizer Gesundheitswesen absorbieren rund 70 Prozent der Mittel: Mehr als ein Drittel des Geldes fliesst den Spitälern und Krankenhäusern zu, fast ein Fünftel geht an Arztpraxen und am­ bulante Zentren. Weitere rund 16 Pro­zent werden für sozialmedizinische Institu­ tionen (Alters- und Pflegeheime, Behin­ dertenheime, Psychiatrische Anstalten) aufgeworfen. Diese rund 77,8 Milliarden entsprechen einer monatlichen Ausgabe pro Person von 783 Franken! Wie kommt dieser ­Betrag zustande? 277 Franken stammen im Durchschnitt aus den Prämienzah­ lungen an die Krankenversicherungen. 50 Franken werden über die AHV sowie die Invaliden- und Unfallversicherung gezahlt. Weitere 32 Franken fliessen aus anderen Trägern der sozialen Sicherheit, insbesondere aus bedarfsabhängigen Sozialleistungen wie den Ergänzungs­ leistungen zu. 51 Franken werden über Zusatzversicherungen gedeckt. Der Staat steuert 143 Franken bei. 12 Franken ­entstammen sonstigen privaten Finan­ zierungen. Verbleiben 219 Franken, die weder über Sozialversicherungen noch Einkommenssteuern finanziert sind. Surprise 408/17

Diesen Restbetrag bezahlen die Betrof­ fenen aus dem eigenen Portemonnaie. ­Damit decken sie Ausgaben für die Hotel­ lerie und Betreuung in Pflegeheimen, ­bezahlen die zahnärztlichen Behandlun­ gen und übernehmen den Selbstbehalt im Rahmen der Krankenversicherungen für ambulante und stationäre medizini­ sche Leistungen. Man kann die Rechnung auch anders auf­ machen, wenn man danach fragt, ob diese monatlichen Ausgaben über Lohn­ prozente, Steuern oder Direktzahlungen der Haushalte finanziert werden. Die Prämien für die Krankenversicherungen sind bekanntlich nicht einkommens­ abhängig. Nimmt man die Ausgaben für die Zusatzversicherungen, die weiteren privaten Finanzierungen und den Selbst­ behalt zusammen, so beteiligen sich die Haushalte mit direkten Zahlungen zu mehr als 70 Prozent an der Finanzierung des Gesundheitswesens. Die hohen direkten Belastungen werden zwar über die Prämienverbilligung etwas relativiert, trotzdem gehört die Schweiz damit zu ­jenen Ländern Europas mit den höchsten Anteilen der Privathaushalte an der Deckung der Gesundheitskosten. Ein wei­ teres Fünftel wird über Einkommens­ steuern finanziert, etwas mehr als 6 Pro­ zent über Lohnprozente.

Warum ist diese Zahlenhuberei keine Spielerei? Dies lässt sich an einem aktu­ ellen Thema der Gesundheitspolitik ­illustrieren. Wird eine medizinische Be­ handlung stationär in einem Spital vor­ genommen, so werden die Ausgaben zu 45 Prozent von den Krankenkassen über­nommen, zu 55 Prozent von den Kan­ tonen. Wird die gleiche Behandlung ambulant gemacht, müssen die Kranken­ kassen den vollen Betrag bezahlen. Im Moment bemühen sich die Kantone, die Maxime «ambulant vor stationär» im ­Gesundheitswesen durchzusetzen. Mehr und mehr sollen medizinische Mass­ nahmen nur noch ambulant vorgenom­ men werden. Einzelne Kantone führen bereits Listen dazu und viele Patientin­ nen und Patienten sind von dieser Neuausrichtung bei den Behandlungen und Opera­tionen durchaus angetan. Mit dieser also erwünschten Verschiebung geht aber auch eine Umverteilung der finanziellen Belastungen einher: die Steu­ erzahlenden tragen weniger zu den Gesundheitsausgaben bei, die Versicher­ ten bei den Krankenkassen entsprechend mehr. Die Folgen liegen auf der Hand: die Prämien der Krankenversicherungen steigen weiter, die Ausgaben für die Gesundheit in den Budgets der Familien werden grösser. Immer mehr Haus­halte beantragen Entlastungen durch die Prämienverbilli­gungen. Doch hier halten die Kantone in den letzten Jahren den Deckel darauf. Unter dem Strich findet eine schleichende Privatisierung der Finanzierung des Gesundheitswe­ sens in der Schweiz statt. Es überrascht darum nicht, dass sich die sozialpoliti­ schen Vorstösse mehren, die einer maxi­ malen Belastung der Haus­halte mit Ausgaben für die Gesundheit das Wort reden.

Prof. Dr. Carlo Knöpfel ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhoch­schule Nordwestschweiz.

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Unzertrennlich: Slavo, Kater Matz und Hund Lourd vor Slavos Wohnung in Zollikofen.

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Odyssee mit Hund und Katz Obdachlosigkeit Nach zehnjähriger Reise quer durch Europa hat der Künstler

Slavcho Slavov in der Schweiz ein Zuhause gefunden. Über seine Zeit auf der Strasse hat der ehemalige Wohnungslose ein Buch geschrieben. TEXT  Gisela Feuz FOTOS Annette Boutellier

«Das Leben auf der Strasse kenne ich. Ich malte ja jeden Tag dort und hatte Kontakt mit vielen Leuten, für die die Strasse ihr Zuhause war.»* Wie er da auf dem gemütlichen, etwas abgegriffenen Sofa in seiner kleinen Wohnung in Zollikofen sitzt, würde man nicht vermuten, dass Slavcho Slavov, den alle nur Slavo nennen, eine veritable Odyssee durchlebt hat. Gerade musste der 48-jährige Bulgare eine schmerzhafte Nierenstein-Operation erdulden. Seinen Humor hat er deswegen aber keinesfalls verloren. Lächelnd und mit tiefer, sonorer Stimme erzählt Slavo, wie er 2005 aus Bulgarien auf eine Odyssee quer durch Europa aufbrach, die rund zehn Jahre dauern sollte. Seine Frau Wanja war jung an Krebs gestorben und hatte ihren Mann mit zwei kleinen Kindern zurückgelassen. Slavo zog den Buben und das Mädchen mithilfe seiner Mutter gross, aber als die beiden 14 und 16 Jahre alt wurden, war mehr Geld vonnöten. «Die Ausbildung meiner Kinder war das Wichtigste für mich», erklärt Slavo. Es sei aber so gut wie unmöglich gewesen, im wirtschaftlich angeschlagenen Bulgarien eine Stelle zu finden. Zumal erschwerend dazukam, dass er mit 26 bei einem Autounfall seinen linken Unterarm verloren hatte. So liess Slavo die beiden Kinder in der Obhut seiner Mutter und setzte sich zwecks Arbeitssuche in einen Bus Richtung Westen. Erste Station: Venedig, Italien. Der Anfang in Venedig war hart, denn ohne Freunde und Fremdsprachenkenntnisse, ohne Geld und mit nur einem Arm hatte Slavo auf dem italienischen Arbeitsmarkt keine Chance. Doch er liess sich nicht unterkriegen. «Das Wichtigste ist, dass du keine Berührungsängste hast und offen auf Leute zugehst. Und wenn sich keine Arbeit direkt anbietet, dann muss man halt selbst eine Nische finden», sagt Slavo. Also malte er Bilder, und zwar draussen, im öffentlichen Raum. Anfänglich noch mit Schablonen das berühmte Porträt von Che Guevara direkt auf die Strasse, später kleine, hübsche Strandminiaturen auf Steine, die er als Souvenirs an Touristen verkaufte. Und noch später in kräftigen Farben das weite Meer, seine Tiere oder Naturlandschaften auf Leinwand. Während Slavo von seinen Abenteuern auf der Strasse erzählt, hört Hund Lourd ganz genau zu und beobachtet dabei jede Bewegung seines Herrchens. «Der Welpe sah aus wie ein kleines Plüschspielzeug. Ein sehr hübscher Kerl. Als er getrunken hatte, sah er mich voll Vertrauen und Dankbarkeit an. Ich war hingerissen.»* Surprise 408/17

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Von Italien aus reiste Slavo kreuz und quer durch Europa und besuchte Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Deutschland und Griechenland, wo er jeweils als Strassenkünstler sein Geld verdiente und oft unter freiem Himmel oder in Abbruchhäusern schlief. Im französischen Wallfahrtsort Lourdes verliebte er sich unsterblich: in die bernsteinfarbenen Augen eines Hundebabys mit rot­ goldenem Fell, welches im Haushalt eines Bekannten das Licht der Welt erblickt hatte. Inspiriert vom Ort nannte Slavo den Welpen «Lourd». Fortan war das Duo unzertrennlich. «Plötzlich begann Lourd bei einem der zerstörten Gebäude zu bellen, ich ging näher, konnte aber trotz genauen Hinschauens nichts Aussergewöhnliches bemerken. Lourd hörte auf zu bellen, blieb aber weiterhin unruhig vor den Ruinen stehen. Jetzt hörte ich, was ihn zum Bellen gebracht hatte. Aus den Ruinen hörte ich ein schwaches Miauen.»* Mithilfe eines Baggerführers befreiten Slavo und Lourd einen schneeweissen Kater, der unter die Trümmer eines Abbruchhauses geraten war. Das Tier befand sich in einem schlechten Zustand. Slavo brachte es zum Arzt und trieb danach mehrere hundert Euro zur Behandlung der diagnostizierten Lungenentzündung auf. Der Kater mit einem blauen und einem grünen Auge überlebte, wurde kurzerhand auf den Namen «Matz» (bulgarisches Kurzwort für Kater) getauft und wich von jener Sekunde an nicht mehr von Slavos Seite. So bildeten Slavo, Lourd und Matz ab sofort ein Dreiergespann. «Mit Christin begann nach kurzer Zeit das Gleiche wie mit Karin. Auch Christin wollte über mein Leben bestimmen. Sie hat mir ein Ultimatum gestellt, der Hund oder sie, und es versteht sich: Ich habe mich von ihr getrennt.»* Es habe während seiner Jahre der Wanderschaft immer wieder Frauen gegeben, die an ihm interessiert gewesen seien und ihn von der Strasse hätten wegholen wollen, erzählt Slavo. Aber diese Frauen hätten zum Teil seine wohnungslosen Freunde oder seine Tiere nicht akzeptiert, und ihn gebe es halt nur im Dreierpack mit Lourd und Matz. Ausserdem habe er einen ausgeprägten Freiheitsdrang. Zurzeit habe er keine Freundin, aber einsam sei er keineswegs. Auch wenn die Verständigung manchmal nicht ganz einfach sei – Slavo spricht eine abenteuerliche Mischung aus Italienisch, Deutsch und Französisch –, so 10

habe er während seiner Wanderschaft viele nette und verlässliche Menschen kennengelernt, erzählt Slavo. «Ich habe in all den Jahren nur sehr wenige negative Erfahrungen gemacht und stets grosse Solidarität erfahren. Wenn du offen und anständig mit Menschen bist, sind sie es auch mit dir.» Auch in Bern hat Slavo Freundschaften geschlossen, zuerst mit Obdachlosen, dann mit Nachbarn und Passanten, die ihn ursprünglich wegen seiner Tiere ansprachen. Ausserdem pflegt er trotz geografischer Dis­ tanz ein sehr enges Verhältnis zu seinen beiden Kindern. Slavos Tochter ist mittlerweile selber Mutter einer sechs Jahre alten Tochter und studiert in Sofia Geologie, der Sohn lebt als IT-Spezialist in Frankreich. Weil seine Bleibe in der Nähe von Nizza abgerissen wurde, sah sich Slavo 2010 erneut zum Weiterziehen gezwungen. Abgesehen davon, dass Lourd und Matz wegen Impfungen, Kastration und Krankheiten eine Menge Geld kosteten und regelmässig zu fressen brauchten, war auch das Reisen mit Tieren nicht ganz einfach. So musste Slavo feststellen, dass in Spanien Hunde in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erlaubt sind und dass in Schweden äus­ serst strenge Einreiseregeln für Tiere gelten. In Stockholm wurde er wegen des Verdachts auf Tierschmuggel in eine Arrestzelle gesteckt – Slavo war in Unkenntnis der geltenden Gesetze mit Lourd und Matz eingereist, ohne die beiden anzumelden. Hund und Katze landeten in Quarantäne. «Machen Sie sich keine Sorgen, Sie müssen diese 10 000 Schwedischen Kronen (rund 1100 CHF) bezahlen, dann bekommen Sie Ihre Tiere zurück. Wo sind Sie zu erreichen? Schlafen Sie in einem Hotel?» «Nein, in einem Park», antwortete ich. «Wie wollen Sie denn das Geld für die Bussen bezahlen, jemand, der in einem Park schläft?»* Er habe Rotz und Wasser geheult, weil man ihm nicht sagen wollte, was mit seinen Tieren passieren würde, erzählt Slavo, dem wegen des kräftigen Körperbaus der butterweiche Kern nicht anzusehen ist. Die Geschichte ging gut aus: «Ich hatte das Geld für die schwedischen Pässe für Lourd und Matz bald erarbeitet.» Sobald die drei wieder vereint waren, buchte Slavo die erste Fähre nach Finnland, von wo ihre Reise nach einem Zwischenhalt in Deutschland zum ersten Mal durch die Schweiz führte. «Wir hatten viel Zeit zwischen der Ankunft in Bern und der Weiterfahrt nach Frankreich. Vor dem Bahnhof gab es eine Kirche, Surprise 408/17


Ein eingespieltes Trio, das jede Hßrde gemeinsam bewältigt. Surprise 408/17

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Matz beäugt sich kritisch selber: Er und Lourd dienen oft als Motiv in Slavos Bildern.

In der Berner ­Spitalgasse verkauft Slavo seine Bücher.

Slavos Wohnzimmer ist gleichzeitig auch Arbeitsstätte.

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ich setzte mich auf die Treppe. Während die Tiere frassen, kam eine ältere Frau zu uns. Sie begrüsste mich sehr freundlich und reichte mir zwanzig Schweizerfranken.»* Der herzliche Empfang, den ihm die ältere Dame vor der Heiliggeistkirche bereitet hatte, ging Slavo nicht mehr aus dem Sinn. Er wollte Bern noch einmal einen Besuch abstatten, und das tat er 2011 denn auch. Er habe sich vom ersten Moment an wohlgefühlt in der Stadt und auch schnell Freundschaften geschlossen, sagt Slavo und lächelt. Eine Bekannte verhalf ihm dann zu einer günstigen Wohnung in einem alten, windschiefen Häuschen in Zollikofen, wo er nun seit vier Jahren wohnt. Sein Zuhause macht einen aufgeräumten Eindruck. Im Badezimmer der kleinen und uralten 2,5-Zimmer-Wohnung stehen Farbtuben und Pinsel neben Pflegeprodukten, in der Küche reihen «Meine Odyssee mit sich Putzmittel an Hunde- und Lourd und Matz» Katzenfutter. An der Wand hängen Plastikblumen und ein Traum­fänger, an den Fenstern gehäkelter Sichtschutz. Auf der Staffelei im Wohnzimmer steht ein angefangenes Bild. Ihr sei aufgefallen, was für ein guter Erzähler Slavo sei, beIn seiner autobiografischen richtet eine anwesende BeErzählung berichtet der 48-jährige kannte. Da habe sie ihm geraten, Bulgare Slavcho Slavov, wie er er solle seine Odyssee doch zu in Frankreich zu seinem Hund Lourd Papier bringen. Und genau das und zu seinem Kater Matz kam, hat Slavo dann auch getan, in wie das Dreiergespann mehrere Jahre ohne fes­ten Wohnsitz quer gerade mal zwei Monaten. Das durch Europa reiste und unter Resultat ist ein fast 200-seitiges freiem Himmel oder in Abbruch­ Buch, ins Deutsche übersetzt häusern nächtigte. und in Bulgarien gedruckt. Den Stift Verlag 2017, ca. 20 CHF, Erlebnisbericht, in welchem er erhältlich im Buchhandel, seine Reisen durch Europa mit slavo-art.com Matz und Lourd schildert, verkauft Slavo zurzeit auf den Stras­sen von Bern. Ein Bücherturm im Schlafzimmer zeugt davon, Bulgarien hat gerade 200 neue Exemplare geliefert. Momentan lebt Slavo als selbständiger Künstler mit Aufenthaltsbewilligung B einzig vom Verkauf seiner Bücher und Bilder. Er beziehe weder Sozialhilfe noch IV, ­betont er. Wenn er mit Lourd bei Fuss und Matz auf der linken Schulter loszieht – der Kater hat diese Position selbst gewählt und fühlt sich offensichtlich wohl auf seiSurprise 408/17

nem Ausguck –, dann sorgt das Trio für viel Aufmerksamkeit. Mit dabei ist auch eine Art elektronischer Leierkasten, den Slavo selber zusammengebaut hat. Weil in der Schweiz das Malen auf der Strasse verboten sei, habe er sich etwas anderes überlegen müssen und habe deswegen diesen Kasten gezimmert, in welchen er einen MP3-Player und einen Lautsprecher eingebaut habe. Er sei dann allerdings auch dafür gebüsst worden, weil elektronisch verstärkte Musik auf der Strasse ebenfalls nicht erlaubt sei, was er nicht gewusst habe. «Jetzt brauche ich den Leierkasten halt als Büchertisch», sagt Slavo und grinst breit, wobei er eine Zahnlücke entblösst. Wenn er zurückschaut auf seine rund zehnjährige Odyssee als Wohnungsloser, vermag er in dieser Zeit nur wenig Negatives zu sehen. «In der Gesellschaft wird oft über Rassismus gesprochen, aber das gab es bei uns auf der Strasse nicht. Ausserdem ist doch alles stark davon abhängig, wie wir das Leben betrachten. Wenn wir nur auf die schlechte Seite schauen, sehen wir auch nur das Schlechte.» «Die Schweiz ist ein Land, in dem es keine Rolle spielt, wie viel Geld du hast. Die Leute schätzen dich so, wie du bist», sagt Slavo. Er könne das gängige Klischee von den distanzierten und verschlossenen Schweizern und Schweizerinnen nicht bestätigen. Klar gebe es hier zahlreiche Regeln. «Aber ich bevorzuge Länder mit klaren Regeln: In diesen Ländern ist es mir während meiner Wanderjahre immer gut ergangen», sagt er. «Ich bin froh, dass wir drei hier endlich ein Zuhause gefunden haben, in dem ich in aller Ruhe an meinem neuen Buch arbeiten kann, denn ich bin müde von der Reiserei», sagt Slavo und zerzaust dabei zärtlich das Fell seines Hundes. Ein Kinderbuch soll’s werden. Der Erzähler? Ein weisser Kater mit einem blauen und einem grünen Auge. * Alle abgesetzten Zitate aus «Meine Odyssee mit Lourd und Matz»

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Foto: Mara Truog

«Zwischen Jung und Alt zu differenzieren, ist nicht zeitgemäss»: Pasqualina Perrig-Chiello 14

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«Wie man altert, entscheidet sich früh» Rentenreform Was heisst es eigentlich, alt zu sein? Alternsforscherin Pasqualina Perrig-Chiello über intensiv lebende Männer, befreite Frauen und die Solidarität zwischen den Generationen. Interview Amir Ali

Frau Perrig-Chiello, ich werde in ziemlich genau 30 Jahren das Rentenalter erreichen. Ich frage Sie als pensionierte Alterns- und Generationenforscherin: Worauf darf ich mich freuen? Pasqualina Perrig-Chiello: Auf vieles! Dank des technologischen und medizinischen Fortschritts werden Sie nicht nur länger leben als meine Generation, sondern auch länger gesund sein. Das gilt für einen Grossteil der Menschen. An welche technischen Errungenschaften denken Sie konkret? Roboter etwa, aber auch «Smart Homes», also technologisch entwickelte Wohnräume. Auch künstliche Intelligenz wird zur Autonomie im Alter beitragen. Körperliches Wohlbefinden und Auto­ nomie sind das eine. Wie sieht es mit der Lebensqualität aus? Was die finanziellen und sozialen Aspekte des Alterns angeht, müssen sich Gesellschaft und Politik tatsächlich etwas einfallen lassen. Hochbetagte, also Menschen ab 80, werden auch in ein paar Jahrzehnten noch besonders fragil sein. Gut möglich, dass Sie als frisch Pensionierter in eine in­ ter­generationelle Situation kommen, Ihre hochbetagten Eltern pflegen müssen und gleichzeitig Kinder haben, die noch nicht auf eigenen Füssen stehen oder Sie bereits zur Betreuung der Enkel einspannen. Man geht davon aus, dass sich die Zahl der Achtzigjährigen verdoppeln wird in den nächsten 20 Jahren. Leben wir in einem Land von Alten? Meinen Sie das Wort «alt» hier als Wertung? Als Feststellung, mit dem Hintergedanken, dass alte Menschen aufgrund ihres Surprise 408/17

Alters in gewissen Belangen anders sind als Junge. Ich differenziere nicht zwischen Jung und Alt, das ist nicht zeitgemäss – wir leben ja in einer Vier-Generationen-Gesellschaft! Zudem hat das kalendarische Alter an Bedeutung bereits heute verloren. Noch vor 40 Jahren gehörte eine Frau in meinem Alter zum alten Eisen, war krank und ausgelaugt, hatte kaum Perspektiven mehr. Heute kann man mit 65 eine neue Karriere beginnen oder eine neue Partnerschaft eingehen. Der Takt des Lebens hat sich liberalisiert, wir nennen das in der Wissenschaft die Destandardisierung des Lebenslaufes. Es ist jederzeit alles möglich. Das klingt gut. Aber auf dem Arbeitsmarkt zum Beispiel spielt das kalendarische Alter durchaus eine Rolle. Wer mit 50 die Stelle verliert, findet nur schwer eine neue. Es gibt Bereiche, vor allem in der Wirtschaft, wo dieser Wandel noch nicht ganz verstanden wird. Dort ist das Alter nach wie vor negativ besetzt. Man spricht von der Überalterung. Aber wer bitte definiert denn, wie viele Alte es geben darf? Wir leben doch nicht in einem totalitären Staat! Am Begriff der Überalterung stört Sie die implizierte Wertung? Ja, das ist ein diskriminierender Begriff. Eine langlebige Gesellschaft hat enormes Potenzial. Gleichzeitig sind wir sehr stark voreingenommen und stereotypisieren das Alter. Das ändert sich nur langsam. Wie sollte die Gesellschaft die Pensionierten sehen? Man könnte betonen, was diese Generation leistet: Sie pflegt die Hochbetagten, hütet ihre Enkelkinder, finanziert ihre Kinder, bis sie mit über 30 endlich auf eigenen

Beinen stehen, und dann schiessen sie ihnen noch das Geld für ein Eigenheim vor. Und doch haftet dem Alter etwas Schmarotzerhaftes an. Wir müssen das gemeinsam umdefinieren. Wenn Sie ins Rentenalter kommen, möchten Sie doch auch, dass die Verantwortung, die Sie in der Gesellschaft übernehmen, anerkannt wird. Meine Generation, die Babyboomer, die jetzt in diese Phase kommt, nimmt das glücklicherweise nicht mehr so schicksalhaft hin. Wir sind wählerischer, so etwa hinsichtlich erwarteter Freiwilligenarbeit. Finden Sie, dass wir unsere Mütter dafür bezahlen sollten, dass sie unsere Kinder hüten? Warum nicht, wenn’s angemessen und nötig ist? Frauen sind nach wie vor stärker von Armut im Alter betroffen. Ursache ist, dass ihre Erwerbsbiografien durch das Kinderkriegen unterbrochen werden, was zu einer geringeren Rente führt. Zudem hat ein Drittel der Frauen keine Pensionskasse. Die Vorsorgereform, über die wir demnächst abstimmen, sieht vor, dass Frauen ein Jahr länger arbeiten. Reicht das, um dieser Problematik entgegenzuwirken? Ich sehe keinen Grund, warum die Frauen nicht länger arbeiten sollten. Sie leben im Schnitt länger als Männer und zudem – ebenso wie die Männer – länger in guter Gesundheit als frühere Generationen. Manche Frauen empfinden es sogar als Diskriminierung, dass sie früher aufhören sollen als die Männer. Andere Frauen hingegen, die am Fliessband stehen, in der Reinigung arbeiten oder andere körperlich anstrengende Arbeit verrichten, sollten früher gehen können. Eine Flexibilisierung des Rentenalters wäre die richtige Lösung. 15


«Wir sollten mehr über pflegende Angehörige und die Leistungen der Grosseltern sprechen.»

Woran liegt das? Familie ist bei uns absolute Privatsache, da soll sich der Staat nicht einmischen. Dieses Mantra ist natürlich eine Binsenwahrheit. Gleichzeitig stimmt: Familie ist etwas Hochpolitisches. Einerseits fordern Sie die Flexibilisierung des Rentenalters, andererseits mehr staatliche Intervention zugunsten von Familien. Wäre das der bessere Kom­ promiss gewesen für diese Altersreform? Ich finde das Gezänk um 70 Franken mehr oder weniger AHV-Rente beschämend. Das ist eine sehr oberflächliche Sichtweise, die uns nicht weiterbringt. Man sollte mehr von der Sache sprechen, und mit mehr Sachverstand. Und man sollte begreifen, dass die längere Lebenserwartung uns alle betrifft. Wie sieht das Verhältnis zwischen den Generationen in der Schweiz aus? Wie gehen wir miteinander um? Die Forschung zeigt, dass auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die Älteren wenig über die Jungen wissen und umgekehrt. Ich würde es als desinteressiertes Nebeneinander bezeichnen. Anders ist das Verhältnis innerhalb der Familie: Da geht es um konkrete Beziehungen zwischen einzelnen Menschen, und da ist die Solidarität zwischen den Generationen gross. 16

Wie könnte diese Investition aussehen? Zuerst einmal müsste die Realität gesellschaftlich anerkannt werden. In meiner Forschung habe ich immer wieder festgestellt, dass die Leute sich dieser intergenerationellen Leistungen nicht bewusst sind. Wir sollten mehr über pflegende Angehörige und die Leistungen der Grosseltern bei der Kinderbetreuung sprechen. Wir sollten auch über Geld sprechen und diese Leistungen quantifizieren. Das könnte schliesslich dazu führen, dass diese Arbeit finanziell unterstützt oder steuerlich erleichtert wird. In manchen Kantonen wird das allmählich gemacht, aber es gibt da noch viel Luft nach oben.

Gleichzeitig muss man sich bewusst sein, dass wir uns nicht allein auf diese Solidarität verlassen können. Weshalb nicht? Menschen zwischen 40 und 70 leisten enorm viel für die Solidarität zwischen den Generationen. Berufstätigkeit, Kinderbetreuung und Altenpflege bilden eine Mehrfachbelastung, deren Bewältigung immer schwerer wird. Denn die Frauen, die das in den vergangenen Jahrzehnten wie selbstverständlich übernommen haben, sind immer besser ausgebildet und werden beruflich immer stärker engagiert sein, auch in verantwortungsvollen Positionen. Aufgrund der zunehmenden Scheidungsraten gerade in dieser Altersgruppe werden viele auf Erwerbsarbeit angewiesen sein. Und schliesslich kommt immer weniger Nachwuchs, der mit der gestiegenen Mobilität auch noch über die

Altern Männer und Frauen unterschiedlich? Ja. Es gibt ein Paradox: Frauen leben länger, werden dafür eher krank. Männer sterben früher, sind dafür gesünder. Man könnte sagen, die Männer leben intensiver. Was ausserdem auffällt: Bei den Männern steigt die Suizidrate im Alter markant, bei den Frauen ist das nicht der Fall.

Pasqualina Perrig-Chiello Foto: ZVG

Aber reicht das, um die Schlechterstellung der Frauen im Alter zu beseitigen? Diese Diskriminierung beginnt sehr früh im Leben. Zur Lösung würde ein höheres gesellschaftliches Investment in die Familie gehören, beispielsweise gute und erschwingliche Kinderbetreuung. Zudem müssten sich die Männer mehr in der Familie engagieren können, was eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten erfordert. Mehr staatliche Unterstützung für Familien führt hier zu mehr Gerechtigkeit. Die Schweiz steht in dieser Hinsicht im europäischen Vergleich ganz am Schluss.

ganze Welt verteilt ist. Das bedeutet: Es braucht eine gesellschaftliche Investition, um die innerfamiliäre Solidarität zu unterstützen.

Die emeritierte Professorin für Entwicklungs­ psychologie der Universität Bern ist Mitglied des Stiftungsrates Pro Senectute Schweiz. Ihre Forschungsarbeiten fokussieren auf Wohlbefinden und Gesundheit in der zweiten Lebenshälfte, Generationenbeziehungen und Geschlechtsrollenentwicklung. Sie ist Herausgeberin vielbeach­teter Bücher wie «Generationenbericht Schweiz» (2008), «Sozialbericht 2012 – Fokus Generationen» (2012) und Autorin des kürzlich erschienenen Buchs «Wenn die Liebe älter wird» im Hogrefe Verlag.

Nehmen sich Männer aus psychischen Gründen das Leben, oder handelt es sich eher um Sterbehilfefälle? Bei Suiziden von Männern gibt es eine Spitze im mittleren Alter und eine nach der Pensionierung. Männer nehmen sich das Leben selbst. Bei den Frauen verzeichnet man einen markanten Anstieg erst im höheren Alter, wenn sie Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Auch bei älteren Paaren steigt die Scheidungsrate. Was bedeutet das Älterwerden für Paarbeziehungen? Tatsächlich hat sich die Scheidungsrate bei über 30-jährigen Ehen in den letzten Jahrzehnten verdreifacht, Tendenz steigend. Früher löste der Tod viele der Probleme, die Beziehungen halt mit sich bringen. Das hat sich mit der steigenden Lebenserwartung geändert. Vor allem Frauen harrten früher in einer Ehe aus, schlicht und einfach, weil sie finanziell von ihren Männern abhängig waren. Dazu sind immer weniger gezwungen. Auch die Werte haben sich gewandelt. Das persönliche Glück des Individuums steht zumeist über allem. Surprise 408/17


In einer Ihrer Studien haben Sie herausgefunden, dass 96 Prozent der älteren geschiedenen oder verwitweten Frauen es ablehnen, mit einem neuen Partner in einem gemeinsamen Haushalt zu leben. Ist das Leben mit uns Männern für Frauen so traumatisierend? Nein, aber Frauen gehen in jüngeren Jahren mehr Kompromisse ein als Männer. Sie haben meist ihr Leben lang einen Haushalt geführt, haben zuerst ihre Kinder grossgezogen, dann die Enkel betreut, und schliesslich ihre Eltern und dann ihre Ehemänner gepflegt. Wenn das alles vorbei ist, entdecken sie im Alter eine neue Freiheit, die sie sich dann nicht nehmen lassen wollen. Sie haben einmal gesagt: «Man altert so, wie man gelebt hat. Man darf die Zügel für das eigene Schicksal nicht aus der Hand geben.» Was heisst das? Wie man altert, entscheidet sich schon früh im Leben. Neben einer guten Bildung ist eine hohe Selbstwirksamkeit eine wichtige Voraussetzung für ein langes

«Frauen gehen in jüngeren Jahren mehr Kompromisse ein als Männer. Im Alter entdecken sie eine neue Freiheit, die sie sich dann nicht nehmen lassen wollen.»

Leben in guter Gesundheit. Das Gefühl, im Leben etwas bewirken zu können, wird früh erworben und geht einher mit einer hohen Selbstverantwortung. Beide Faktoren erweisen sich in Studien mit 100-Jährigen als viel wichtiger als etwa medizinische Parameter. Die Rahmenbedingungen in der Schweiz sind gut, wir nennen das die Demokratisierung des Alters. Die meisten haben Zugang zum Gesundheitswesen und auch genügend finanzielle Mittel. Am Ende aber hängt es von uns selbst ab, wie wir altern. Selbst im Alter kann man lernen, die Zügel in die Hand zu nehmen. Hier gilt: Lieber spät als gar nicht! Selbstoptimierung bis zum bitteren Ende? Die letzte Aufgabe, die wir im Leben haben, ist, Ja sagen zu können zu unserer Biografie, mit uns ins Reine zu kommen. Sich auch zu versöhnen mit Unrecht, das man erfahren hat, und die Verantwortung zu tragen für Fehler, die man gemacht hat. Ja, es ist Arbeit bis zum Ende. Aber wenn sie gelingt, ist das Ende durchaus süss.

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In Pompeya nutzen Dorfbewohner alte Ă–lpipelines zur Befestigung von Pfaden durch den Regenwald. 18

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Sozialismus auf dem Buckel der Indigenen Rohstoffe Der «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» soll in Ecuador Wohlstand für alle bringen. Doch der ist grösstenteils durch Erdölgeschäfte mit China erkauft. Die Leidtragenden sind die Indigenen im ressourcenreichen Amazonasbecken. Text und Fotos  Samuel Schlaefli

An diesem Morgen liegt der Río Napo vor Puerto Francisco de Orellana, auch bekannt als El Coca, noch in dichtem Nebel. Vom mächtigen Fluss ist lediglich ein dünner Streifen dreckigen Brauns zu sehen. Das undurchdringbare Grün des endlosen Regenwaldes flussabwärts lässt sich erst erahnen. El Coca ist mit über 40 000 Einwohnern die zweitgrösste Stadt im Oriente, wie das Amazonasbecken Ecuadors genannt wird. Und sie ist der Ausgangspunkt zu den über 70 Kichwa-Gemeinden entlang des Río Napo, von denen die meisten einzig mit Motorkanus oder Transportfähren erreichbar sind. Hier, 100 Kilometer südlich des Äquators, scheint die Sonne nicht, sie brennt, und die Luft ist fast so feucht wie der Schweiss, der einem tagsüber aus allen Poren rinnt. Wären da nicht die schwüle Hitze, die kurzen, heftigen Regenschauer und gelegentlich ein leuchtfarbener Ara, der vorbeifliegt, man würde schnell vergessen, dass man sich in der Umgebung des weltberühmten Yasuní-Nationalparks befindet. Über 600 Vogelarten wurden hier gezählt, und auf einem Hektar sollen mehr Baumarten vorkommen als in den gesamten USA. Doch rund um diesen einzigartigen Flecken Regenwald hat sich ein Geschwür festgesetzt. Eines, das sich allmählich weiter in den Regenwald frisst und den Lebensraum von Millionen Menschen bedroht: die Gier nach Erdöl. El Coca ist ein kleiner Moloch. In der Umgebung wimmelt es von grossen Erdölunternehmen und durch Militär bewachten Förderplattformen: Die chinesischen Sinopec und Andes Petroleum sind hier, die spanische Repsol sowie die staatlichen Petroamazonas und Petroecuador. Hinzu kommen Hunderte von Zulieferfirmen, wie die texanische Halliburton, einer der weltweit grössten Dienstleister der Erdölindustrie. Mitten durch den Urwald brettern schwere Laster über makellos geteerte Strassen, die von rostigen Pipelines gesäumt werden. Beladen sind die Laster mit Diesel, Baumaschinen und Metallrohren. Hinter mächtigen Würgfeigen schiessen Flammen von abgefackeltem Methan in den Himmel, einem Abfallprodukt aus der Ölförderung. Und vor hohen Zäunen, gekrönt mit Stacheldraht, stehen Heere von neusten Pick-up-Trucks, weiss glänzend, die Feuerlöscher am Gestänge der Ladefläche befestigt – sie sind das Erkennungsmerkmal der «Petroleros», wie die Erdölarbeiter hier genannt werden. «Als ich damals im Oriente ankam, war das Erste, was ich betrat, eine Erdöllache», erinnert sich der 55-jährige Luis Yanza. 1977 zog er als Jugendlicher mit seiner Familie nach Lago Agrio, 90 Kilometer nördlich von El Coca, wo der Erdölboom Ecuadors einige Jahre vor seiner Ankunft begonnen hatte. Amerikanische Unternehmen installierten dort erste Bohrtürme inmitten des Surprise 408/17

Regenwaldes. Abfälle, allen voran Teer, kippten sie auf die Stras­ sen, um diese für ihre Lastwagen besser befahrbar zu machen. Plötzlich kamen die Kinder mit pechgeschwärzten Hosen nach Hause, erzählt Yanza. Umweltstandards gab es damals noch keine. Am meisten saute das texanische Unternehmen Texaco (heute Chevron). Rund um Lago Agrio, inmitten des Regenwaldes, verursachte es während 25 Jahren eine der grössten Umweltkata­ strophen Lateinamerikas. Das dreckige Erbe von Chevron Luis Yanza vertritt als technischer Berater der «Frente de Defensa de la Amazonía» seit über 20 Jahren betroffene Gemeinden in den Provinzen Orellana und Sucumbíos. Laut einem Urteil des ecuadorianischen Obergerichts hat Texaco 68 Milliarden Liter Förderabfälle, darunter Rohöl und verschmutztes Wasser, in den Regenwald und die Flüsse um Lago Agrio gekippt. Mehrere medizinische Studien belegen eine Zunahme von Krebs und Geburtsfehlern in den Gemeinden nahe der Förderstellen. Viele Flüsse und Grundwasserbecken sind bis heute mit Chemikalien belastet, Böden bleiben unfruchtbar. Chevron wurde 2011 von einem ecuadorianischen Gericht zu 9,5 Milliarden US-Dollar Schadenersatz verklagt, wehrt sich jedoch bis heute mit einem Heer von Anwälten und PR-Beratern gegen sämtliche Anschuldigungen. Im Juli 2016 gelang es Chevron sogar, den Spiess umzudrehen: Der ecuadorianische Staat bezahlte dem Unternehmen 112 Millionen US-Dollar für entgangene Geschäfte. Eine Massnahme, um das Vertrauen von ausländischen Investoren zurückzugewinnen, wie Experten erklärten. Yanza und seine Mitstreiter fühlten sich verraten. «Ecuador hätte niemals bezahlen dürfen.» Das Schicksal des kleinen Landes im Nordwesten Südamerikas ist eng an seine natürlichen Ressourcen gekoppelt, über 50 Prozent der Exporteinnahmen gehen auf die Erdölförderung zurück. Als Rafael Correa und seine Alianza PAIS 2007 an die Macht kamen, wurde die Erdölförderung weitgehend verstaatlicht. Verträge mit ausländischen Unternehmen wurden zugunsten Ecuadors neu verhandelt, Zwischenhändler ausgeschlossen. Konzessionen wurden den beiden staatlichen Fördergesellschaften übertragen, sodass Regierung und Erdöllobby heute mit derselben Stimme sprechen. Diese Stimme versichert bei jeder Gele­ genheit, dass nur neuste Fördertechnologien eingesetzt werden und ein Umweltfiasko, wie damals in den Siebziger- und Achtzi­ gerjahren durch Texaco, heute unmöglich ist. Umweltorgani­ sationen zählen hingegen nach wie vor durchschnittlich ein Ölleck pro Woche, die meisten davon im Oriente. Finanziert wird die staatliche Erdölproduktion hauptsächlich von China. In den 19


Umweltorganisationen zählen nach wie vor durchschnittlich ein Ölleck pro Woche, die meisten davon im Oriente. vergangenen sieben Jahren vergab China elf Kredite im Wert von 15,2 Milliarden US-Dollar an Ecuador. Im Gegenzug begleicht das lateinamerikanische Land seine Schulden mit Erdöl. Auch Schweizer Unternehmen haben von den Erdölgeschäften Ecuadors profitiert (siehe Kasten). «Unsere Eltern lebten noch in Ruhe und Frieden und die Dorfbewohner schauten zueinander», sagt der 28-jährige Yutzu Abiles Gutierrez. «Mit dem Einzug der Ölfirmen, Geld, Alkohol und Drogen hat sich unsere Art zu leben verändert.» Ich treffe den engagierten Jugendarbeiter kurz vor den ecuadorianischen Wahlen vom 2. April in Pompeya. Rund 300 Kichwa leben hier an einer Waldlichtung drei Stunden stromabwärts von El Coca. Als ich mit dem Motorkanu dort ankomme, verteilt Gutierrez auf einer Wahlveranstaltung beim überdachten Sportplatz für die sozialistische Alianza PAIS und Correas Nachfolger, Lenín Moreno, Prospekte und T-Shirts. Gutierrez ist der Sohn des Gemeindepräsidenten und vertritt die Jugendlichen im Dorf. Rund 100 Zuhörer sind gekommen. Die meisten jedoch nicht wegen der Wahlpropaganda, sondern um sich für den «Bono de Desarrollo Humano» zu registrieren, einen Sozialbeitrag, der unter Correa deutlich angestiegen ist. Die perfekte Wahlplattform für die amtierende sozia­ listische Regierung. Trotz der negativen Effekte auf sein Dorf ist Gutierrez überzeugt, dass die von der Regierung forcierte Erdölförderung im Oriente für Ecuador eine Notwendigkeit ist. Auch seine Gemeinde habe profitiert: «Früher mussten wir die Schule selbst bezahlen und konnten uns deshalb nur zwei Lehrer leisten. Heute wird sie von der Regierung finanziert. Seither haben wir 20 Lehrer, und der Analphabetismus ist rückläufig.» Auch den neuen Polizeiposten rühmt er, wo sich Frauen melden können, wenn sie Opfer häuslicher Gewalt werden. Und Bauern in entlegenen Gebieten hätten besseren Zugang zu Krediten. Enttäuschte Verfechter der «Revolución Ciudadana» Tatsächlich haben zumindest finanziell auch arme Bauern und Arbeiter von den Petrodollars profitiert. Die Sozialleistungen wurden zwischen 2006 und 2012 verdoppelt; rund zwei Millionen Ecuadorianer erhalten heute Sozialhilfe. Die Armut verringerte sich unter der Alianza PAIS um 13 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt stieg von 46 Milliarden US-Dollar im Jahr 2007 auf 110 Milliarden im Jahr 2016. Das sieht man dem Land an, die Regierung hat massiv in die Infrastruktur investiert. Wer heute von der Hauptstadt Quito, auf 2850 Meter über Meer, gen Osten ins Amazonasbecken hinunterfährt, erfreut sich einer piekfeinen Strasse. Noch vor wenigen Jahren setzten Basketball-grosse Schlaglöcher und abgerutschte Hänge den Autos und Bussen arg zu. Neue Flughäfen wurden errichtet und Staudämme hochge20

«Die Erdölförderung ist für Ecuador eine Notwendigkeit», gibt sich Jugendarbeiter Yutzu Abiles Gutierrez überzeugt.

zogen, entlegene Gebiete elektrifiziert. Heute exportiert das einst bettelarme und vom Ausland abhängige Land sogar Strom nach Kolumbien. Eine komfortable Ausgangslage für die sozialistische Regierung bei den Wahlen vom vergangenen April, könnte man meinen. Doch der erste Urnengang hatte gezeigt, dass Guillermo Lasso, ein neoliberaler Ex-Banker, reelle Chancen hatte, die Wahlen zu gewinnen. Schliesslich siegte aber Lenín Moreno, Correas Nachfolger, mit 51 Prozent der Stimmen. Im Amazonasbecken sah die Lage allerdings anders aus: Dort hatte die Mehrheit gegen die Alianza PAIS gestimmt. Nicht aus Sympathie für den Ex-Banker Lasso, sondern weil sie den Wandel einem «business as usual» um jeden Preis vorgezogen hätten. Während meiner Reise durch den Oriente und in Quito führte ich kurz vor den Wahlen mehr als ein Dutzend Gespräche mit Umweltaktivistinnen, Vertretern der Zivilgesellschaft und Minderheiten. Die meisten waren einst glühende Verfechter von Rafael Correas «Revolución Ciudadana», seiner staatsbürgerlichen Revolution. Sie gaben ihm vor zehn Jahren ihre Stimme, aus Unmut über eine kleptokratische Regierungselite, einen Neoliberalismus für wenige und zunehmende Privatisierungen. Sie Surprise 408/17


Eine von vielen Transportfähren auf dem Río Napo. Sie liefern Bau­maschinen, Diesel und Nahrungsmittel für die Camps der Petroleros.

Juan Pablo Luisa arbeitete 15 Jahre für eine Erdölfirma. Wegen des tiefen Ölpreises wurde er kürzlich entlassen – wie viele seiner Kollegen.

begeisterten sich für den von Correa proklamierten Pfad eines «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» und setzten grosse Hoffnungen in seine linke Agenda, in Versprechungen zugunsten sozialer Umverteilung, des Umweltschutzes und der Rechte von indigenen Gruppen. Zu Beginn sahen sie ihre Hoffnungen bestätigt: Die Rechte der «Pachamama», der Mutter Natur, wurden in der neuen Verfassung festgeschrieben. Die Natur wurde damit zur eigenen Rechtspersönlichkeit erhoben. Gleichzeitig wurden die Rechte der Indigenen in die Verfassung aufgenommen. Dies bedeutete unter anderem: Angehörige der Waorani, Shuar, Siona, Secoya, Cofán und Kichwa sollten bei der Förderung von Rohstoffen auf ihrem Land das letzte Wort haben. Die linke Politologin und Umweltaktivistin Natalia Greene gehört zu den ehemaligen Befürworterinnen von Correas Sozia­ lismus des 21. Jahrhunderts. Heute ist sie enttäuscht und wütend. Sie werde ihre Stimme der Opposition geben, erzählt sie mir kurz vor den Wahlen. Die 34-jährige Mutter eines einjährigen Sohnes kämpft seit Jahren gegen die Erdölförderung im Regenwald und setzt sich für die Rechte der Gruppen ein, die den Wald ihr Zuhause nennen. «Als Correa nach seinem ersten Wahlsieg 2007 immer repressiver wurde und wir uns zu wehren begannen, konnSurprise 408/17

ten uns viele Freunde aus dem Ausland nicht verstehen», erinnert sie sich. «Viele meinten: ‹Aber ihr habt doch nun diese linke Regierung, die ihr immer wolltet.› Doch Correa wurde kurz nach der Wahl zunehmend autokratisch; seine Politik trug bald Züge der Rechten.» Sie gibt einige Beispiele: Die lokale «Fundación Pachamama», die für die Rechte der Natur und der Indigenen eintrat, wurde 2013 von der Regierung geschlossen. Ausländische Entwicklungsagenturen wurden aus dem Land geworfen. Greene hat die zunehmende Repression am eigenen Leib erfahren: Sie ist Mitglied von «Yasunidos», einem Netzwerk, das durch seinen Kampf gegen die Ausweitung der Erdölförderung und für ein Referendum zugunsten des Schutzes des Yasuní-Nationalparks von sich reden machte. Correa hat sie, genauso wie viele andere Umweltaktivistinnen, in einer Fernsehansprache öffentlich als Staatsfeindin diffamiert. «Das Erdöl regiert unser Land», sagt Greene. «In Ecuador hat die Erdölindustrie heute mehr Rechte als das Volk.» Sie wirft der Regierung vor, dass der wirtschaftliche Aufschwung Ecuadors in den vergangenen Jahren einzig auf Chinas Energiehunger und Raubbau an der Natur basiert habe. Der ehemalige Präsident habe das Land schlicht an China verkauft. 21


Der streitbare Pater José Miguel Coldaraz kämpft seit 40 Jahren für die Rechte der Indigenen.

Nicht alle sehen in den Pipelines eine Gefahr: Buben beim Freizeitvergnügen.

«Wir sind es leid, dass unsere Bürgerrechte missachtet werden», sagt Umweltaktivistin Natalia Greene.

Den höchsten Preis für diese Politik bezahlen die indigenen Gruppen im Oriente. Für sie ist der Regenwald weit mehr als eine ökonomische Ressource, er ist Lebensraum, Ernährungsgrundlage, Quelle für Medizin und das Zentrum ihrer Kultur. Verschwindet er, verschwinden auch sie. Mit neuen Ölplattformen, Pipelines und Strassen dringen immer auch illegale Jäger und Holzfäller, Viehzüchter und Palmöl-Produzenten in den Regenwald vor. Diese setzen dem Ökosystem oft noch mehr zu als die Ölplattformen selbst: Alleine zwischen 2004 und 2015 wurden in Ecuador 87 525 Hektaren Regenwald zerstört, das entspricht etwa 8000 Fussballfeldern pro Jahr. Die seit über 40 Jahren andauernde Industrialisierung und Modernisierung der Amazonasregion brachte soziale Umwälzungen mit sich: «Die Indigenen lebten traditionell in grossen Territorien», erzählt Milagros Aguirre, eine landesweit bekannte Journalistin und Verlegerin. «Doch plötzlich lagen ihre Friedhöfe und Jagdterritorien in Gebieten, die von den Petroleros oder neuen Siedlern beansprucht wurden. Ethnische und territoriale Konflikte haben stark zugenommen.» Aus Not oder von der Pers­ pektive eines «modernen», bequemeren Lebens angezogen, heuerten manche als einfache Hilfskräfte bei den Petroleros an – als 22

Ortskundige, Holzfäller und Bauarbeiter. Andere protestierten gegen die zunehmende Umweltzerstörung und Marginalisierung. Die Männer, früher Jäger in den Wäldern oder Fischer auf dem Río Napo, begannen ihr kleines Einkommen in den Dorfkneipen zu verprassen, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Die häusliche Gewalt nahm zu, und wenn vom Verdienst nichts für die Familie übrig blieb, prostituierten sich die Frauen bei den Petroleros. Wer weiss, was die Bevölkerung will «Viele Kichwa- und Waorani-Gemeinden liessen sich von Erdölunternehmen kaufen», erzählt Luis Yanza, der Vertreter der «Frente de Defensa de la Amazonía». «Die sozialen Praktiken der Petroleros sind bis heute dieselben: Sie teilen die Gemeinden, und wer kooperiert, erhält Geschenke, wie Baumaterialien, Esswaren, Disco-Equipment und Fussbälle.» Manchmal fallen die Geschenke auch etwas grösser aus, wie ich während langer Flussfahrten durch den Oriente sehe: In den Ufergemeinden tragen viele Wassertürme das Logo von Petroamazonas, Elektrizität und Fährverbindungen über den Río Napo sind für die Dorfbewohner oft kostenlos. «Die Petroleros sind meist sehr geschickte Surprise 408/17


Die Schweiz und das ecuadorianische Erdöl Auch in der Schweiz ansässige Unternehmen profitierten von der Erdölförderung im Amazonas­ becken Ecuadors. Dies zeigt eine ausführliche Recherche der Nachrichtenagentur Reuters von Ende 2013. Die PetroChina Co Ltd., damaliger Hauptkäufer ecuadorianischen Erdöls, hat dem­nach über Taurus Petroleum mit Sitz in Genf Öl für den Verkauf in die USA verschifft. Taurus Petroleum wurde 1993 vom US-Amerikaner Benjamin R. Pollner gegründet und machte bereits im «Oil for food»-Skandal im Irak Negativschlagzeilen. Das Unternehmen steht bis heute in einem Rechtsstreit mit der irakischen Ölgesellschaft. 2015 wurde es aufgelöst und liquidiert. Der ehemalige ecuadorianische Präsident Rafael Correa (2007–2017) hatte nach Amtsantritt private Erdölhändler als korrupt bezeichnet und unter anderem die Schweizer Glencore Xstrata vom Ölkauf im Land ausgeschlossen. Umso erstaunlicher waren die Enthüllungen des erneuten Mitmischens von Schweizer Zwischenhändlern.

Unterhändler», sagt Yanza. «Sie wissen genau, wie sie sich die Zustimmung einer Gemeinde erkaufen können.» Die Regierung unterlässt bis heute keine Gelegenheit, der Erdölförderung als Garant für Fortschritt und Wohlstand zu huldigen. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist Pañacocha, einer Kichwa-Gemeinde, vier Stunden Bootsfahrt von Pompeya entfernt. Hier hat die Regierung vor drei Jahren eine komplett neue Siedlung für rund 300 Einwohner aus dem Boden gestampft – «gracias a recursos petroleros», wie es auf der Webseite von Petroamazonas heisst, «dank der Erdölvorkommen». Pañacocha liegt an einer grossflächig gerodeten Uferlichtung nahe einer Ölplattform von Petroamazonas. Die Regierung hatte dort 270 Millionen Dollar investiert, um geschätzte 42 Millionen Barrel Öl ­­­(=6,7 Milliarden Liter) zu fördern. Als ich Pañacocha an einem Mittwochmorgen besuche, finde ich ein Geisterdorf. Lose Pflastersteine und ausgerissene Strassenschilder liegen auf leeren, mit Gras bewachsenen Gehsteigen. Von den neugebauten Einfamilienhäusern stehen viele leer. Ihre Fassaden blättern bereits wieder ab. Es sind Bauten, wie man sie in der Agglomeration einer US-amerikanischen Kleinstadt erwarten würde, aber nicht inmitten der Amazonasregion. Alles wirkt der Umgebung seltsam Surprise 408/17

entrückt, die exakt angeordneten Strassenlaternen genauso wie die übergrossen, nicht genutzten Abfallkübel. Zu Besuch beim revolutionären Pater Ich frage einen Polizisten, wo all die Bewohner sind: «Zurück auf ihren Fincas im Wald», antwortet er. «Sie kommen einzig am Wochenende her zum Biertrinken und Fussballspielen.» Das neue Dorf sei bei seinen Bewohnern nicht sonderlich beliebt. Manuel Bayon, ein Humangeograf aus Quito, hat Pañacocha in den vergangenen zwei Jahren mehrmals besucht. Sein Fazit ist vernichtend: «Das Ganze ist eine Art Modernitätsfassade», sagt er. «Das Geld wurde einzig in die Infrastruktur investiert, ohne dass sich jemand die Mühe gemacht hätte zu schauen, was die Bewohner tatsächlich brauchen.» So seien die Häuser zu weit weg von den Fincas, wo die Bewohner ihr Gemüse anbauen und Tiere halten. Den Diesel für die tägliche Hin- und Rückreise könnten sich die meisten nicht leisten. Unter den Blechdächern der neuen Schule sei es bei Sonnenschein viel zu heiss. Und während der oft heftigen Regengüsse verstehe man sein eigenes Wort kaum noch. Zudem fehlen im Dorfkern Schatten spendende Bäume für ein angenehmes Klima. Correa kündete ursprünglich den Bau von 200 solcher «Ciudades del Milenio» an, wie die Siedlung von der Regierung genannt wird. Das war jedoch noch vor dem Zerfall des Ölpreises vor drei Jahren. Bis heute wurden erst zwei gebaut. Am Abend besuche ich José Miguel Coldaraz in der Kapuzinermission von Nuevo Rocafuerte, drei Stunden flussabwärts von Pañacocha, an der Grenze zu Peru. Ein Wildwest-Dorf mit staubigen Strassen und schummrigen Hotels, beliebt bei Petroleros genauso wie bei Backpackern auf der Amazonasroute nach Brasilien. Der energische Pater ist eine Legende am Río Napo. Seit 40 Jahren setzt sich der heute 80-Jährige für die Rechte der Indigenen ein. Dies auch mit für Kleriker unkonventionellen Methoden: Um den Kichwa Geburtsurkunden und Identitätskarten zu verschaffen, organisierte er Protestmärsche und kidnappte Regierungsbeamte, bis die Regierung mit ihm kooperierte. Später verschaffte er den bis dahin Rechtlosen eigene Landtitel. Ich spreche ihn auf die «Ciudades del Milenio» an. «Was die Regierung damit anstrebt, ist eine schleichende Kolonisierung des Bewusstseins und der Herzen der Indigenen», sagt er. Die kleinen, von den Gemeinden selbst aufgebauten Schulen um Pañacocha seien alle zugunsten der neuen, zentralisierten Schule geschlossen worden. Dort fände der Unterricht ausschliesslich auf Spanisch statt, anstelle wie zuvor zweisprachig auf Spanisch und auf Kichwa. Für Coldaraz ein Skandal: «Die Regierung will, dass die Kichwa ihre Sprache und Kultur allmählich aufgeben.» Der in der Verfassung verbriefte Schutz der Indigenen bleibe ein nicht eingelöstes Versprechen der Alianza PAIS. Derzeit nehme die Armut entlang des Río Napo wieder zu, erzählt der Pater. Das liegt vor allem am Zerfall des Ölpreises. «Hunderte wurden von den Petroleros entlassen, und neue Jobs gehen fast nur noch an Techniker aus China.» Im November 2015 hatte Coldaraz im Nachbarsdorf El Edén eine Demonstration von Arbeitern gegen Petroamazonas mitorganisiert, weil diese während sechs Monaten keinen Lohn mehr erhalten hatten. «Und wie reagierte die Regierung? Sie schickte das Militär und brachte die Arbeiter zum Schweigen.» Dieser Artikel wurde durch den Medienfonds «real21 – die Welt verstehen» finanziell unterstützt.

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Foto: anna katharina scheidegger (2)

Ist Basel eine Stadt, die Demokratie lebendig macht? Kommt drauf an, wie es auf der Gasse klingt.

Die Stadt als Partitur ZeitRäume Basel Der Zürcher Musik- und Kunstwissenschaftler Andres Bosshard

ist überzeugt, dass der Ortsklang essenziell für den Erfolg einer Stadt ist. Text  Michael Gasser

Ende September lädt Andres Bosshard im Rahmen von «ZeitRäume Basel», der Biennale für Neue Musik und Architektur, zu vier Klangspaziergängen durch Basel ein. Kein unbekanntes Themenfeld für den studierten Musikund Kunstwissenschaftler, der bereits 2009 das Buch «Stadt hören. Klangspaziergänge durch Zürich» veröffentlicht hat. Für dieses spazierte Bosshard zwei Jahre lang durch seine Heimatstadt – stets begleitet von der Frage: Wie klingt Zürich? «Die Aufgabe entpuppte sich als schwieriger als gedacht», sagt der 62-Jährige. Um überhaupt zu einem Fazit zu gelangen, habe er lernen müssen, anders als in einem Studio oder auf einer Bühne zu hören. «Mittlerweile erlebe ich Städte als Partituren. Und deren Klänge sind deutlich differenzierter, als man gemeinhin annimmt», betont Bosshard. Beispiel? An der Basler Schifflände, wo das Luxushotel Les Trois Rois auf die älteste Hafenanlage der Stadt trifft, müsse man bloss zwei Treppenstufen nach unten steigen: «Und schon befinde ich 24

mich in einer komplett anderen Klanglandschaft, in der ich die verschiedenen Tramlinien zwar wahrnehme, diese jedoch in den Hintergrund treten.» Aus seiner Sicht klinge Zürich erheblich anders als Basel, erklärt Bosshard, der diesen Monat vom Bundesamt für Kultur mit dem Musikpreis 2017 ausgezeichnet wird. «Mit seinen vier Hügeln wirkt Zürich wie eine grosse Arena. Basel hingegen erstreckt sich entlang dem Rhein, ist sehr labyrinthisch und klingt wie ein alemannisches Dorf.» Der Zürcher Bahnhofplatz wird zur Trommel Seinen Klangspaziergang durch Basel habe er bis anhin schon gut und gerne 25 Mal durchgeführt, sagt Bosshard. «Ich fühle mich dabei wie in einem Klanggarten, was ich als sehr bereichernd empfinde.» Inzwischen sei es ihm sowohl in Basel wie auch in Zürich möglich, allein anhand des Klanges festzustellen, ob er sich in einem gut betuchten oder eher bescheidenen Quartier aufhalte. «Und das Surprise 408/17


hauptsächlich aufgrund menschlicher Stimmen. Deren Sound ist an der Zürcher Langstrasse deutlich lebendiger als beispielsweise im Seefeld.» Im vergangenen Jahr veröffentlichte Bosshard gemeinsam mit weiteren Autoren die Publikation «Klangqualität für öffentliche Stadt- und Siedlungsräume» – im Auftrag der Städte Zürich und Basel. Dabei gelangte er etwa zur Erkenntnis, dass der Ortsklang auch ein Schlüssel für eine lebendige und erfolgreiche Stadt sei. «Ich bin sogar der Auffassung, dass eine gute Akustik im öffentlichen Raum elementar für eine funktionierende Demokratie ist», sagt Bosshard. «In einer Strasse redet man miteinander, und wenn es zu laut ist, ist das nicht mehr möglich. Es geht darum, dass man nicht nur Informationen austauscht, sondern dass man den anderen wahrnimmt, argumentiert, verhandelt. Ich bin überzeugt, dass das Gespräch ein Grundwert des demokratischen Miteinanders ist.» Für ihn sei es ein absolutes Qualitätsmerkmal, dass man Gesprochenes auf einem Platz oder einer Strasse gut hören und verstehen könne. Bosshard lobt sowohl den Basler Kasernenplatz, auf dem jede gesprochene Silbe klar und deutlich zu vernehmen sei, als auch den «wie eine Bühne klingenden» ­Zürcher Lindenhof. «Hörenswerte Orte wie diese zwei müssten in klanglicher Hinsicht eigentlich für Neubausiedlungen als akustisches Vorbild dienen. Doch das geschieht leider viel zu selten. Man verdichtet und macht da grobe Fehler. Zum Beispiel, wenn man eine Siedlung parallel zur Autobahn baut und nachher erstaunt ist, dass der Innenhof völlig kahl ist.» Die Akustik einer Stadt will genau erforscht sein, denn so einfach ist es oft nicht. Andres Bosshard vergleicht den Zürcher Limmatplatz mit dem Bahnhofplatz: Obwohl die Traminseln beim Bahnhof aus Lärmschutzgründen mit Glasscheiben abgetrennt wurden, stuft Bosshard den Lärm hier als nerviger ein als beim Limmatplatz. Zusammen mit der Bahnhofswand staut sich der Lärm, und unterirdisch liegt das Shopville, was den darüberliegenden

Boden des Platzes zum Trommelfell macht. Am Limmatplatz dagegen bildet der Kiosk in der Mitte einen Zylinder, der die tiefen Töne der Lastwagen auffangen kann. Solche Erkenntnisse kann man in der Planung nutzen. Bosshard und sein Arbeitspartner, ein Ingenieur, machen Planungshilfen für die Kan­tone Zürich und Basel, und seit Jahren sind sie in die Erarbeitung des neuen Lärmgesetzes involviert: Das aktuelle läuft 2018 aus. Auch bei der Beurteilung der schweizerischen Klangqualität, die das Bundesamt für Umwelt durch­ führt, arbeiten Bosshard und sein Partner mit. Besitzt denn auch die Schweiz ihren ganz eigenen Klang? «Auf jeden Fall», sagt der Klang­ ­­spezialist. «Unser Land zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass es durchgängig urban klingt. Selbst in den Bergregionen ist man einem Dauertosen ausgesetzt.» Von Lärm mag Bosshard dabei allerdings nicht sprechen. «Zürich besitzt an die 1200 Brunnen. Ein paar davon klingen extrem toll.»

«Ich bin der Auffassung, dass eine gute Akustik im öffentlichen Raum elementar für eine funktionierende Demokratie ist.»

Der Event «Stadt hören – Klangspaziergänge mit Andres Bosshard durch Basel-Stadt» findet im Rahmen der Biennale für Neue Musik und Architektur «ZeitRäume Basel» statt: Fr, 22. September, 15.30 Uhr; So, 24. September, 16 und 18 Uhr; Mo, 25. September, 11 Uhr. www.zeitraeume.com

Basel hört sich an wie ein alemannisches Dorf. Zürich dagegen wie eine grosse Arena. Surprise 408/17

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Nach dem Anschlag

Randnotiz

Wer die Krone trägt

Buch Catherine Meurisse hat in einem Comicband

ihre schmerzliche Rückkehr ins Leben nach dem Attentat auf Charlie Hebdo nachgezeichnet.

Ich glaube an keinen Gott. Ich denke, dass wir selbst es sind, die das «Übergeordnete» verkörpern: die Gemeinschaft der Konsumenten als Ganzes. Denn zusammen haben wir tatsächlich die Möglichkeit – was man früher einem Gott zuschrieb –, verändern zu können, was verbessert werden muss, als Summe der Tätigkeiten jedes Einzelnen.

Es kann jeden treffen. Jederzeit. In einem Café, einer Disco, einer Shopping Mall, auf einem Boulevard. Der Terrorismus findet seine Opfer überall. So wie auch am 7. Januar 2015 beim Massaker in der Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo. Ein Anschlag, der um einen entscheidenden Faktor mehr zum Fanal wurde, weil er ein Herzstück der demokratischen Gesellschaft traf: die Meinungsfreiheit. Vor allem aber fielen den Schüssen der Attentäter Menschen zum Opfer. Freunde und Kollegen der Comiczeichnerin Catherine Meurisse, die selber durch einen puren Zufall verschont blieb. Aus «Schlaflosigkeit aufgrund von Herzensangelegenheiten» kommt sie zu spät zur Redaktionssitzung, später als die Attentäter, die Brüder Kouachi. Die Schüsse, die ihre Freunde auslöschen, hört sie nur. Doch die «islamistisch-blutige Operette», wie ihr verletzter Kollege Philippe Lançon das Ereignis nennt, filtert von da an ihr ganzes Leben. Wie wird man mit einem solchen Schicksalsschlag fertig? Wie lebt und überlebt man damit? Unter Personenschutz, von Albträumen verfolgt und umgeben von weltweiter Solidarität («Wir sind Charlie»), die sich auch als Hype entlarvt? Catherine Meurisse versucht zuerst, die gewohnte Arbeit wiederaufzunehmen, und wirkt an der Ge-

Ich nenne es «Post-God»; etwas, das für die Zeit nach dem Glauben an einen Gott steht. «Post-God» ist kein Teil von etwas, sondern selbst das grosse Ganze. Als verbindende Basis sehe ich die Erkenntnis, dass wir als Konsumenten mit jedem Kauf einen Teil der Verantwortung übernehmen, wie es der Welt und ihren Bewohnern geht. Wir sind etwas, das die Macht hat, als Kollektiv vieles zu verändern und zu korrigieren, angetrieben von Aufklärung und Reflexion. Weit über unsere Landes­ grenzen hinaus, denn weil wir global agieren, müssen wir auch global denken. Es geht um nicht weniger als die Verbesserung der Welt allein durch etwas, das wir sowieso jeden Tag machen, nämlich konsumieren. Etwas, an dem jeder von uns teilhat. Etwas, wodurch jeder von uns direkt Einfluss aufs Ganze nehmen kann. So beeinflussen wir die Produktion, denn was verkauft werden kann, wird produziert. Und umgekehrt. Was bedeutet es, wenn ich dieses Produkt erwerbe? Unterstütze ich damit Tierquälerei, Tiermord, Ausbeutung, Verstösse gegen die Menschenrechte? Es geht ums Erkennen und Verantwortung tragen. Jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten. Ich bin kein Hippie, kein Alternativer, kein Weltverbes­ serer. Ich trage meine Mitverantwortung nicht zur Schau. Es ist nicht mein Job und auch nicht meine Religion. Es ist vielmehr selbstverständlich und natürlich für mich, Teil von etwas Grösserem zu sein und dieses mitgestal­ten zu wollen. Auch in meinem eigenen Interesse. Denn wenn das Grössere zusammenbricht, reisst es mich mit.

Florian Burkhardt war Sportler, Model und Internetpionier. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert. Kürzlich ist seine Autobiografie «Das Kind meiner Mutter» im Wörtersee-Verlag erschienen.

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Bild: ZVG

Wir glauben nicht mehr an eine finale Gerechtigkeit nach dem Tod. Wie Woody Allen in einem Film sagen lässt: «Durch die Abwesenheit Gottes ist man gezwungen, die Verantwortung selbst zu übernehmen.» Wer keine höhere Macht anerkennt, der krönt sich selbst. Aber wer eine Krone trägt, der trägt auch Verantwortung.

staltung der «Nummer danach» mit. Dann aber geht nichts mehr. Der Schock sitzt zu tief, sie verliert das Gedächtnis. Sie reist nach Cabourg, dorthin, wo Proust gelebt hat, auf der Suche nach den verlorenen Erinnerungen. Und auch auf der Suche nach der verlorenen Leichtigkeit des Seins, die zwar unerträglich sein mag, gerade jetzt, aber auch unverzichtbar ist, wie Lançon feststellt – in seinem Vorwort zu Meurisses erschreckend aktuellem und bitter-komischem Comicband «Die Leichtigkeit», der ihre Suche nach dem Verlorenen aufzeichnet. Nach dem verheerenden Anschlag auf das Bataclan am 13. November flieht sie nach Rom, in die Villa Medici. Hier versucht sie, die Erinnerung durch Schönheit wiederzugewinnen. Schön­ heit, die, wenn sie uns überflutet, wie ein Schock wirken kann. Ein Schock, von dem sie sich Heilung verspricht. Keine leichte Übung, wie sich herausstellt, denn die Motive vieler Kunstwerke sind blutgetränkt. In den verstümmelten Statuen erkennt sie die Opfer der Anschläge wieder. Dennoch gelingt das Ex­ periment, das Auftauchen aus dem Schockzustand und die Rückkehr in die Normalität, so gefährdet diese auch sein mag. Am Ende gewinnt sie die Schönheit für sich selbst zurück und damit – uns zur Ermutigung – die Leichtigkeit und das Leben.

Christopher Zimmer

Catherine Meurisse: «Die Leichtigkeit», Carlsen 2017, CHF 28.90

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Bild: Michael Gilgen (1), Bild:ZVG (3)

Tour Jurczok 1001, Live-Programm «Spoken Beats»: 10. September, Kaufleuten Zürich, 16. September, Zum Hut, Uster, 19. Sep­ tember, Loge Luzern, 24. September, Schlachthaus Theater Bern, 10. November, Buch Basel, 25. November, Luzerner Theater. www.masterplanet.ch/jurczok

Ein mit der Stimme erzeugter Beat, ein paar dezent gesetzte Gesangsak­ zente, ein gesprochener Text: Der Spoken-Word-Künstler Jurczok 1001 hat in den letzten Jahren ein eigenes Format entwickelt. Seine Texte handeln von der (Un-)Möglichkeit der Liebe oder werden zum Beispiel als Ansammlung von aktuellen T-Shirt-Sprüchen zu verblüffend aussa­ gekräftigen Zeitdokumenten. Oder sie verhandeln politische Sprache. Speziell interessiert sich der Spoken-Beats-Künstler für den ausgeprägten Sprechrhythmus eines Roger Köppel, der es mittels Duktus schafft, den absurdesten Aussagen die Aura der genauen Analyse zu verleihen. Bei Jurczok geht das dann so: «Wenn eine Bevölkerung sich so weit vom Volk entfernt hat, dass sie nicht mehr weiss, wer das Volk ist, dann sprechen wir von einer Scheinbevölkerung.» DIF

Schweiz Filmfestival «Filme für die Erde», Fr, 22. September, 12.15 Uhr, 16 Uhr, 18 Uhr und 20 Uhr, verschiedene Spiel­orte in der Schweiz und Liechtenstein. filmefuerdieerde.org

öffentlichen Diskurs mitgestaltet wie mit Hashtags, Demos und poli­ tischen Vorstössen. Das kleine Filmfestival «Luststreifen» stellt sich in die Reihe der Protestieren­ den. Zu sehen gibt es hier zum Beispiel «The Student» des kreml­ kritischen russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov, der vor Kur­ zem aus fragwürdigen Gründen verhaftet wurde. Er erzählt die Geschichte einer Radikalisierung: Schüler Venya macht sich in seiner Klasse zum Leitwolf, seinen abs­ trusen Ideen folgen zuletzt fast alle. Schwul daran ist einer seiner neugewonnenen Jünger, der auch körperlich auf Venyas Verfüh­ rungskünste anspricht. Politisch daran ist der ganze Rest. DIF

Träume verwirklicht. Und dann ist da die Realität, die die zu hoch ge­ hängten Vorstellungen wieder he­ runterholt. So geht’s den beiden Paaren in Raphael Urweiders und Meret Matters Sozialkomödie «Über die Verhältnisse». Sie wollen viel und zerstören sich dabei selbst – mit Krediten und Schulden genauso wie mit Schummeleien und Lügengeschichten. Der Druck steigt, die Rettungsmassnahmen werden drastischer, und langsam dämmert’s einem, dass Glück und Unglück so eng vielleicht gar nicht mit dem Geld zusammenhängen. Gebärdensprachtheater für Hö­ rende und Gehörlose. DIF

Bern Theater «Über die Verhältnisse», Tojo Theater ­Reitschule Bern, Do, 28. bis Sa, 30. September, 20.30 Uhr, So, 1. Oktober, 19 Uhr, Neubrückstrasse 8, Bern. www.tojo.ch Das Lebensglück, so suggeriert es unsere Gesellschaft, ist nur zu er­ reichen, wenn man materielle Anzeige

haltigkeit. Aus­serdem geht es um wilde Tiere in Grossstädten, um Bruno Manser und sein Vermächt­ nis sowie um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Ozeane. Und wer’s verpasst, kann die Filme jederzeit kostenlos im Internet an­ schauen – mit einem dieser elekt­ ronischen Helferlein. WIN

Basel Luststreifen – Queer Film Festival Basel, 28. September bis 1. Oktober, Neues Kino, Klybeckstrasse 247, und Kult.Kino Camera, Rebgasse 1, Basel. www.luststreifen.ch

Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass die Herstellung von Smartphones und Co. alles andere Olten , Schützi 20:00 als 22.09. nachhaltig ist. Und doch ver­ schliessen gern die Augen vor Bruder Klaus 20:00 23.09.wir Liestal , Pfarreisaal dem, was unsere liebgewonnenen 24.09. Basel , Kulturzentrum Union 17:00 elektronischen Helferlein verursa­ chen: Umweltzerstörung, kata­ 19:30 20.10. Luzern, Lukassaal strophale Arbeitsbedingungen und 21.10. Winterthur,­ Death Pfarrei St. Laurentius 19:30 gefährlichen Müll. Die Doku « ATD Vierte Schweiz by Design» von SueWelt Williams greift , www.vierte-welt.ch Es gibt eine queer-feministische dies auf. Sie ist eine von vier Filmen Bewegung, die in den letzten Jahren am diesjährigen Festival «Filme für stärker geworden ist und die mit die Erde» rund ums Thema Nach­ juristischen Mitteln genauso den

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22.09. Olten, Schützi 20:00 23.09. Liestal, Pfarreisaal Bruder Klaus 20:00 24.09. Basel, Kulturzentrum Union 17:00 20.10. Luzern, Lukassaal 19:30 21.10. Winterthur, Pfarrei St. Laurentius 19:30 ATD Vierte Welt Schweiz, www.vierte-welt.ch

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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Yogazeitraum, Wädenswil

02

Echtzeit Verlag, Basel

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Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

04

Iten Immobilien AG, Zug

05

AnyWeb AG, Zürich

06

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

07

Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

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Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

09

Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

10

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau, Nidau

11

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

12

Hervorragend AG, Bern

13

Lisa Stettler Körpertherapie, Bäch

14

Coop Genossenschaft, Basel

15

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

16

Maya-Recordings, Oberstammheim

17

Scherrer & Partner, Basel

18

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

19

ChemOil Logistics AG, Basel

20

Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

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Institut und Praxis Colibri, Murten

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Wir alle sind Surprise

Leserbrief

Sozialer Stadtrundgang

Ich finde das Surprise seit seiner Neugestaltung wirklich viel attraktiver! Das Layout ist viel schöner geworden, die Papierqualität besser und überhaupt auch der Inhalt: meine besten Glückwünsche an das Redaktionsteam. Und den Artikel über Murghob fand ich höchst spannend, mit diesen aussagekräftigen, guten Fotos. Ich war dort zwischen 2001 und 2006 mehrmals zu Besuch anlässlich meiner beruflichen Statio­ nierung in Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans.

Ausgabe 406

«Sehr eindrücklich»

Sozialer Stadtrundgang

Sozialer Stadtrundgang

«Authentische Art»

«Menschlich beeindruckend»

Hans Rhyner hat uns eindrückliche Seiten der Stadt gezeigt und uns mit seiner Geschich­ ­te auch für uns neuere Situationen näher­­­­ gebracht. Dieser Nachmittag war dank Hans’ authen­tischer Art sehr spannend. Wir danken Ihnen und speziell Hans für den super Einsatz!

Hans Peter Meier und Ewald Furrers Stadtführung war sehr authentisch und menschlich beeindruckend, sie lassen keinen unberührt und geben Anstösse zur Veränderung. Ein grosses Danke an dieser Stelle an beide!

Wir haben als Gruppe von neun Personen in Zürich den Sozialen Stadtrundgang mit Ruedi Kälin und Peter Conrath besucht. Dieser war sehr eindrücklich, und die zwei Stadt­führer haben uns sehr persönliche und spannende Geschichten erzählt und Plätze gezeigt. Wir haben einen zusätzlichen Eindruck von Zürich erhalten, den wir sehr wertvoll finden. Wir möchten uns nochmals bei den zwei Stadtführern bedanken.

D. Vielmi und R. Oeschger, Reformierte Kirche Adliswil

A .L . Glat t, über Facebook

T. de Breet, Soziale Dienste, Stadt Zürich

D.M. Züst, Bern

Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel

Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Chi Lui Wong, Christopher Zimmer

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo

Mitarbeitende dieser Ausgabe Annette Boutellier, Gisela Feuz, Michael Gasser, Lucian Hunziker, Samuel Schlaefli

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse

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Foto: Lucian Hunziker

Surprise-Porträt

«Ich stehe zu meinem Glauben» «Den Glauben habe ich von meiner Mutter. Mit 13 habe ich Ja zu Jesus gesagt. Das war noch in Simbabwe. Es war eine strenge Kirche, sehr religiös. Die Frauen durften keinen Schmuck, keine Schminke, keine Hosen tragen. Ich hatte deswegen viele Komplexe. Jetzt bin ich bei der Oikos-Gemeinde in Münchenstein. Das ist eine freie Kirche mit Pfingstglauben. Hier habe ich das erste Mal gehört, dass Jesus nicht das Äusserliche sieht, sondern das Herz. Das war wie eine Erleuchtung. Ich versuche zu leben, was in der Bibel steht. Ich stehe morgens um viertel vor zwei auf, von zwei bis sechs Uhr lese ich in der Bibel und bete. Ich bitte den Heiligen Geist, mich zu leiten. 1971 bin ich mit 22 Jahren durch die Ehe mit einem Schweizer Mann hierher gekommen. 13 Jahre waren wir zusammen. Dann hat er mich verlassen. Seine Eltern wollten mich in die Reformierte Kirche holen. Das habe ich nicht verstanden. Wahrscheinlich hatten sie etwas gegen mich, ich will nicht darüber urteilen. Dann haben sie ihn mit einer jüngeren Frau bekannt gemacht. Mit ihr ist er jetzt verheiratet. Er will keinen Kontakt zu mir und den Kindern. Wir haben drei Kinder. Die Tochter ist 43, der eine Sohn 40 und der Jüngste 38. Ich selbst bin jetzt 67. Mein jüngster Sohn nimmt mir bis heute übel, dass ich damals nach der Scheidung wieder arbeiten gehen musste. Manchmal nennt er mich eine Rabenmutter und kommt doch immer wieder zu mir, wenn er Hilfe braucht. Tagsüber habe ich im Altersheim in der Küche gearbeitet, nachts war ich Putzfrau bei einer Bank in Reinach. Dann bin ich in die Wäscherei gewechselt. Aber mir wurde dort weniger gezahlt, als mir versprochen wurde. Danach kam ich über die Kirche zu einer neuen Stelle als Bürohilfe. Das war toll. Doch dann habe ich wegen eines Autounfalls, den mein zweiter Mann verursacht hatte, länger gefehlt und verlor die Stelle. Mein zweiter Mann war ein Christ aus der Pfingstkirche. Er leitete einen Gebetskreis, wirkte ehrlich und treu. Aber hat zu viel Alkohol getrunken. Diese Seite habe ich erst nach der Heirat kennengelernt. Eigentlich hat er mich wegen der Sozialhilfe geheiratet. Nach einem Jahr hat er mich verlassen. Mein älterer Sohn ist verheiratet und lebt mit seiner Frau in Brugg. Sie haben eine vierjährige Tochter. Seine Frau akzeptiert mich nicht so wegen des Glaubens. Sie halten auch das Enkelkind von mir fern. Mein Sohn kommt zu mir, aber wenn ich ihn anrufe, drückt er mich weg – und ruft dann an, wenn er auf der Arbeit ist. Ich habe nichts dagegen, ich liebe sie beide und das Kind. Aber eigentlich verstehe ich sie nicht. Sie wirft mir vor, dass ich zweimal verheiratet war und wieso meine Ehen nicht gehalten hätten. Und sie sagt, ich hätte missioniert, aber das stimmt nicht. Ich stehe nur zu meinem Glauben. Ich habe nicht 30

Shireen Aebi-Storey, 67, singt im Surprise Strassenchor und manchmal auch beim Heftverkauf vor dem Warenhaus Pfauen an der Freien Strasse in Basel.

viel Geld übrig, das ich meinen Kindern offerieren kann. Aber ich habe sie geboren und ich liebe sie. Und eine Beziehung zu ihnen ist das, was ich tun kann, was ich geben kann. Meine Tochter ist sehr lieb und hilfsbereit. Sie ist Kindererzieherin. Ich bin sehr stolz auf sie. Sie hat eine Ehe hinter sich und zwei Kinder. Seit diesem Frühjahr singe ich im Surprise Strassenchor und verkaufe das Magazin. Letzte Woche kam eine Frau zu mir, die immer das Heft kauft, und sie kam mit einer grossen Flasche voller Münz. Sie sagte zu mir: ‹Du bist so eine Bereicherung auf dieser Strasse. Du tanzt und singst und verkaufst und bringst uns alle zum Lächeln. Ich möchte dir dies schenken.› ‹Aber das ist dein Erspartes›, habe ich geantwortet, ‹das kann ich gar nicht annehmen!› ‹Doch, doch, du bist es wert, du hilfst uns, nimm es›, hat sie gesagt. Mir sind die Tränen gekommen, sowas habe ich noch nie erlebt.» Aufgezeichnet von Sar a Winter Sayilir

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