Surprise 409

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Strassenmagazin Nr. 409 22. Sep. bis 5. Okt. 2017

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Strassenfussball

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Spiel des Lebens Die Geschichte von einem, der kein Problem hat. Oder doch? Seite 8


Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

Erlebnis

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

Information

Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. 2

BASEL BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 Restaurant Genossenschaft Brassierie Lorraine, Quartiergasse 17 Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 12 | Sphères, Hardturmstr. 66

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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TITELBILD: ANNETTE BOUTELLIER

Editorial

Zu blank geputzt Ganz am Anfang meines Studiums in Berlin, das war in den Nullerjahren, verabredete ich mich mit einer Kommilitonin am Kottbusser Tor. Die Gegend um den U-Bahnhof war bekannt als Klein-Istanbul, wir wollten ein wenig darin eintauchen. Als Treffpunkt vereinbarten wir die U-Bahn-Unterführung. Ich kam als Erstes. Kaum stand ich eine Minute wartend herum, sprach mich eine Polizistin an: Ich dürfe hier nicht stehen bleiben. Der Bahnhof gelte als reiner Durchgangsort – wegen der Drogen­szene –, und ich müsste jetzt weitergehen. Der Vorfall beschäftigte mich lange. Dass ich nicht stehen durfte, wo ich wollte, irritierte mich. Zudem fühlte ich mich gar nicht bedroht: Die wilde Mischung an Menschen und Lebensweisen war doch gerade das Spannende, Anziehende an Kreuzberg. Die Strategie der Polizei, den hippen Zuzügern, Touristen und Investoren mehr Sicherheit bieten zu wollen, endete in der Durchgentrifizierung des Stadtteils. Das Flair von damals ist verschwunden.

4 Aufgelesen

12 Strassenfussball

5 Vor Gericht

Angeknackster Spieler

Total im Seich 6 Challenge League

200 000.­– 7 All Inclusive

Sonderwünsche? 8 Wegweisungen

Saubere Städte

Auch in der Schweiz setzt man seit zwei Jahrzehnten auf Wegweisungen als Mittel der «Stadtsäuberung». Warum dies Mensch und Stadt auf lange Sicht nicht guttut und noch dazu die Demokratie gefährdet, lesen Sie ab Seite 8. Stolz dürfen wir verkünden, dass Surprise auf dem diesjährigen Kongress des Inter­ nationalen Netzwerks der Strassenzeitungen INSP in Manchester den Preis für das «Best News Feature» gewonnen hat. Ausgezeichnet wurde die Geschichte «Jetzt erst recht» von Dominik Galliker und Julien Gregorio aus Ausgabe 389 über das Flüchtlingspärchen Laila und Toufik, deren Hochzeitspläne durch eine überflüssige Ausschaf­ fung zum regelrechten Thriller wurden. Ich wünsche eine bleibende Lektüre.

SAR A WINTER SAYILIR Redaktorin

18 Armin Grässl

Einsame Erinnerungen 22 Culturescapes

Kulturaustausch

25 Film

Jenseits der Fünfzig 26 Veranstaltungen 27 Wörter von Pörtner

Biogas gesucht 28 Surplus 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Ich hätte gern mehr Zeit»

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Aufgelesen

BILD: WHITLEY O’CONNOR

News aus den 110 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Der Puppenspieler Marionetten halten Jack Howell ­ am Leben, seit ihn Frau und Kinder verliessen und er auf der Strasse landete. An die 30 Puppen hat er seither gebastelt, aus dem, was er im Müll von Oklahoma City findet. Auf der Strasse spielt Howell kleine Shows für jene, die ein wenig Zeit übrig haben. Damit Geld zu ver­die­ nen, ist nicht sein Ziel: «Ich mache das, um nicht verrückt zu werden. Ich habe nie jemanden um etwas gebeten. Aber ich mag das Lächeln auf den Gesichtern der Kinder.»

THE CURBSIDE CHRONICLE, OKLAHOMA CITY

BILD: ALEC REDDING

«Buddhas on Death Row» Moyo war 18, als er in Texas des Doppelmordes angeklagt und für schuldig befunden wurde. Seit 16 Jahren sitzt er nun in Isolationshaft. «Ich rechne nicht damit, dass ich lebend hier rauskomme», sagt er. Über Bücher fand Moyo zum Buddhismus und zur Meditation. Und er begann zu malen. Einer intensiven Brieffreundschaft mit einer Finnin ist es zu verdanken, dass Moyos Bilder nun erstmals öffentlich zu sehen waren: Die Ausstellung «Buddhas on Death Row» wurde in Helsinki und im Zen Buddhism Center in Ann Arbor, Michigan gezeigt.

GROUNDCOVER NEWS, ANN ARBOR, MICHIGAN

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Deutschland geht es immer besser, glaubt man dem BIP: Seit 2006 stieg es um 25 Prozent auf über 3000 Milliarden Euro. Auch die ­Armut steigt: 15,7 Prozent der Deutschen gelten heute als arm, sie haben pro Person nicht mehr als 917 Euro im Monat zur Verfügung. Besonders Rentner sind immer stärker betroffen. Ihr Anteil liegt ­aktuell bei 15,9 Prozent. Seit 2005 hat die Zahl der Rentner unterhalb der Armutsschwelle damit um 49 Prozent zugenommen, wie Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes belegen.

DONAUSTRUDL, REGENSBURG

Kein Weg zurück

Einmal drin, führt kaum ein Weg wieder heraus: Die deutsche Sozialhilfe Hartz IV ist für fast zwei Drittel der Bezüger zum Dauer­zu­ stand geworden. Laut Zahlen der Bundesagentur für Arbeit sind deutschlandweit rund 2,8 Millionen Menschen sogenannte Langzeit­ leistungsbezieher. Als solcher gilt, wer in den letzten 24 Monaten ­mindestens 21 Monate von staat­ lichen Leistungen der Grundsicherung abhängig war.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

Moderne Sklaverei

Zwei Euro die Stunde und weni­­ger verdienen Strafgefangene in Deutschland mit ihrer Arbeit. 63 000 Menschen zimmern bundesweit Büromöbel, backen Brote oder verpacken Gegenstände. In vielen Bundesländern können sie hierzu verpflichtet werden. Geht man ­davon aus, dass ein Gefangener im Schnitt 100 Stunden pro Monat arbeitet, sparen Staat und Wirtschaft mit dieser Art Zwangsarbeit rund 517 Millionen Euro Lohnkosten ein.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

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Vor Gericht

ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Reiches Land, arme Alte

Causa Democratica Nun, wo für das vergangene Jahr die Fallzahlen erhoben, die Erledigungsraten ermittelt und die Geschäftsberichte verfasst sind, lässt sich feststellen: Das Schweizer Gerichtswesen ist überlastet – «total im Seich», wie man in der Gastronomie sagen würde. Im gepflegteren Ton der Juristerei konstatiert stattdessen das Bundesgericht: «Die Geschäftslast bewegt sich weiterhin auf sehr hohem Niveau.» Das Problem ist erkannt, doch die verschiedenen Reformen zeigten nicht die erwünschte Linderung. «Von einer Entlastung, die das Bundesgerichtsgesetz von 2007 bezweckte, kann nicht die Rede sein.» Nicht besser ist die Lage an den kantonalen Gerichten, wo einzelne Abteilungen eine Zunahme der Fälle von bis zu 52 Prozent melden. Klar: Ein Zuwachs dieses Ausmasses lässt sich mit dem vorhandenen Personal nicht bewältigen. Im Kanton Zürich kann der reguläre Gerichtsbetrieb nur noch mit einem Heer von Ersatzrichterinnen und -richtern aufrechterhalten werden. Derweil wuchs im Kanton St. Gallen der Stapel der unerledigten Fälle von 571 auf 684. Die Situation in der Schweiz ist für das betroffene Personal zwar belastend, aber noch besteht für das demokratische System keine Gefahr. Anders als in Deutschland, wo wegen der Überlastung des Rechtssystems bereits das Ende des Rechtsstaats heraufbeschworen wird. Verfahren werden bis zur Unkenntlichkeit abgekürzt und Richterstellen mit unqualifizierten Bewerbenden besetzt, sodass Zivilrechtsprofis plötzlich Strafprozesse leiten – und umgekehrt. Expertinnen warnen inzwischen schon eindringlich vor einem bevorstehenden Infarkt der Rechtsprechung. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Einerseits wächst die Bevölkerung stetig an. Andererseits werden die Verfahren – auch in der Schweiz – immer komplexer und aufwendiger. Man denke etwa an internationale Wirtschaftsfälle oder digitale Kriminalität, die gigantische Datenberge mit sich bringen. Was es heisst, wenn die Justiz vollständig kollabiert, lässt sich in Indien beobachten, dem langsamsten Rechtssystem der Welt. Insgesamt sind an den dortigen Gerichten rund 30 Millionen Fälle hängig. Nicht wenige seit den Fünfzigerjahren, der älteste ist seit 1878 pendent. Der Vorsitzende des High Court in Delhi rechnete

kürzlich vor, dass sein Gericht unter gleichbleibenden Voraussetzungen 466 Jahre brauchen würde, um alle hängigen Fälle abzuarbeiten. Die Auswirkungen sind sowohl für die Opfer als auch die Beschuldigten dramatisch. Rund eine Viertelmillion Angeklagte sitzen derzeit in Haft und warten zum Teil seit Jahren auf ihren Prozess – weit über die Hälfte der Inhaftierten des Landes sind Untersuchungshäftlinge. Es ist durchaus möglich, wegen einer Bagatelle länger in Untersuchungshaft zu verbringen, als die maximale Sanktion es überhaupt vorsehen würde. Unter diesen Umständen gedeiht die Korruption – und es ist klar, wer profitiert: Wer über die nötigen Mittel verfügt, kauft sich frei. Angehörige niederer Schichten haben weder als Opfer noch als Beklagte irgendeine Aussicht auf einen fairen Prozess. Solche Verhältnisse sind für das hiesige Rechtssystem nicht zu befürchten. Aber sie erinnern und daran, wie fragil der demokratische Rechtsstaat ist, wenn er nicht mit allen Mitteln gestützt wird. YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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FOTO: FLURIN BERTSCHINGER

Challenge League

Eine grosse Investition Anfang Jahr erreichte mich eine erfreuliche Rückmeldung zu meiner Kolumne. Via Facebook schrieb mir eine Frau, dass sie meine Kolumne jedes Mal lese und sie ihr gefalle. Sie schrieb mir auch, dass sie sich für Geflüchtete engagiere. Andrea Hilber Thelen, Mutter von zwei Töchtern, betreut im Kanton Graubünden seit 2015 einen 27-jährigen Äthiopier. Sie hat ihm im Umgang mit den Behörden geholfen und sich dafür eingesetzt, dass er in der Schweiz bleiben kann. Allerdings ver­ geblich. Als wir uns ein paar Wochen später auf einen Kaffee treffen, erzählt mir Andrea, dass der Äthiopier in einem Ausschaffungszentrum sei. «Ich kann jetzt nichts mehr für ihn tun», sagt sie. Die Behandlung durch das System sei un­würdig, sagt Andrea noch. Immerhin trifft sie ihn regelmässig, darüber freut sie sich. Das Thema Flucht hat auch Andreas Familie geprägt. Ihre jüdischen Grosseltern flohen während des Zweiten Weltkriegs aus Deutschland nach Liechtenstein. Bei unserem Treffen fanden wir aber heraus, dass wir abgesehen vom Interesse an Migrationsthemen noch weitere Gemeinsamkeiten haben. Andrea macht auch Filme, wie ich. Sie wollte mir ein Video zeigen, das sie gemacht hatte, und schaltete ihren Laptop an. Plötzlich sprang sie auf und führte einen Freudentanz auf. Ich war etwas verwundert und fragte nach. Der Grund der Freude: Das Unternehmen, in dem sie für Kommunikation und Fundraising zuständig ist, hatte von einer Stiftung aus Liechtenstein gerade 10 000 Franken erhalten. Andrea arbeitet seit einem Jahr bei der JLT Bag AG in Altdorf im Kanton Uri. Die Firma produziert Taschen und Etuis aus Leder und Textilien. Und sie arbeitet mit anerkannten Flüchtlingen, Frauen und Männern aus verschiedenen Ländern, die dort Praktika für sechs bis zwölf Monate machen. Dabei lernen sie Handwerkliches, wie industrielles Nähen oder Siebdruck und Allgemeinbildung. Nach dem Praktikum sucht die Firma auch Anschlusslösungen. Aber die Leute lernen bei JLT Bag nicht nur arbeiten. Zu den Praktika gehört auch Unterricht in Deutsch, Mathematik, IT-Kenntnissen und Allgemeinbildung. Andrea erklärt: «Jeden Mittwoch lernen die Praktikanten und auch die bereits Fest­ angestellten den ganzen Tag Deutsch.» Jeder bekommt einen Computer, damit sie zuhause mit einem Sprachprogramm selbständig weiterlernen können. Danach sieht die Lehrerin am Computer, wer wie viel geübt und welche Fortschritte gemacht hat. Alles nicht so einfach, wie es klingt, sagt Andrea: «Manche haben vorher noch nie mit einem Computer gear­ beitet.» Das Ausbildungsprogramm kostet die Firma insgesamt fast 200 000 Franken pro Jahr. Weil das eine grosse Investition ist und sich nicht allein aus dem Verkauf von Taschen finanziert, sucht Andrea finanzielle Unterstützung bei Stiftungen. 6

Die Firma, in der Andrea Hilber Thelen arbeitet, lässt sich die Ausbildung von Geflüchteten jährlich 200 000 Franken kosten.

Die Firma kümmert sich auch darum, dass die Praktikantinnen nach ihrer Ausbildung nicht alles Gelernte wieder ver­ gessen. «Je nach Interessen der Leute suchen wir mit ihnen Möglichkeiten, wie sie den Anschluss nicht verlieren, zum Beispiel indem wir sie in einem Fussballklub anmelden.» In Zukunft möchte JLT Bag zudem mit anderen Firmen zu­sammenarbeiten, damit die Praktikanten einfacher auch Stellen ausserhalb finden.

Der kurdische Journalist KHUSRAW MOSTAFANEJAD floh aus seiner Heimat Iran und lebt seit 2014 in der Schweiz. Beim Interview mit Andrea Hilber Thelen erfuhr er, dass ihre Firma auch die neuen Surprise-Rucksäcke produziert hat.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

lich Ausnahmeregelungen geben. So könnten zum ­Beispiel sogenannte Mobilitätshelfer zum Einsatz kommen, Personen also, die ­Behinderten beim Einund Aussteigen helfen.» Wie war das nochmal mit dem «selbständig reisen bis 2024» im Image-­Video?

All Inclusive

Müssen Behinderte immer motzen? Wer auf den Rollstuhl angewiesen ist und Zug fahren möchte, muss eine Stunde vorher bei der SBB anrufen. Denn viele Züge und Bahnhöfe sind nicht barrierefrei, weshalb für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer jeweils ein SBB-Mitarbeiter mit einer Rampe oder einem Lift bereitstehen muss. Letztes Jahr erzählte der junge Rollstuhl­fahrer Simon Hitzinger in der SRF-­ Webserie «True Talk», wie er am Telefon angeschnauzt wurde, als er einmal nur 57 Minuten vorher anrief. ­Hitzingers öffentlicher Kommentar dazu: «Baut doch den Zug so, dass ich einsteigen kann, dann muss ich gar nie anrufen.» Das Video ging viral, die SBB griff die Kritik auf und veröffentlichte einen flauschigen Image-Clip (Kom­ponenten: sympathischer Rollstuhlfahrer, weiches Gegenlicht, sanfte Musik), in dem sie versprach, dass Rollstuhl­fahrerinnen und -fahrer bis 2024 selbständig reisen können werden. Slogan: «Weil die Zukunft heute beginnt.» Was die SBB im Video verschweigt: Sie tut das natürlich nicht aus Surprise 409/17

lauter Nettigkeit, sondern weil sie aufgrund des Behindertengleichstellungsgesetzes verpflichtet ist, bis ins Jahr 2024 Barrierefreiheit zu gewährleisten. Der Einführung dieses Gesetzes im Jahr 2004 ging die von Betroffenen initiierte Volks­ initiative «Gleiche Rechte für Behinderte» voraus, welche vom Bund als «zu radikal» bewertet und mit dem abgeschwächten Gegenentwurf beantwortet wurde. Die SBB hatte seither immer wieder verlauten lassen, dass es eine «Herausforderung» darstelle, ihre Infrastruktur «in so kurzer Zeit» (20 Jahre) barrierefrei gestalten zu müssen. Eine Herausforderung ist es natürlich besonders dann, wenn man die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen erst ab dem Zeitpunkt zu beachten beginnt, ab dem man gesetzlich dazu gezwungen wird – und auch dann immer noch Ausflüchte sucht. Anno 2014 wurde die SBB im Blick folgendermassen zitiert: «Ein wichtiger Punkt im Gleichstellungsgesetz sei die Verhältnismässigkeit. Aus diesem Grund werde es voraussicht-

2012 zog die SBB gegen die Behinderten­ verbände gar bis vors Bundesgericht, weil diese gefordert hatten, dass bei der Beschaffung von neuen Zügen die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrenden besser beachtet werden müssten. Die SBB übertitelte die Medienmitteilung damals mit: «SBB ziehen Urteil ans Bundesgericht weiter – neue Züge bis zu zwei Jahre verspätet.» Dadurch vermittelte sie den Eindruck, dass an der Verspätung alleine die Sonderwünsche der Behinderten schuld seien, obwohl ein Grossteil der Verzögerung auf technische Konstruktionsfehler des Herstellers zurückzuführen war, die mit dem behindertengerechten Ausbau gar nichts zu tun hatten. Aber die Behinderten müssen ja immer motzen. Und dann kostet es auch immer so viel. Dieses Lamento ertönt nicht nur regelmässig im Bezug auf die Forderung nach barrierefreien öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern auch bei öffent­ lichen Bauten, die laut Behindertengleichstellungsgesetz barrierefrei sein müssen. Irgendwas ist fertig gebaut, und dann kommen die Behinderten und reklamieren, dass beispielsweise der Neubau des Landesmuseums für Rollstuhlfahrer nicht problemlos zugänglich sei. Es würde gar nicht viel mehr kosten und architektonisch auch nicht so vermurkst aussehen, wenn man von Anfang an barrierefrei planen würde. Man plant ja auch nicht ohne Notausgang oder ohne Toiletten. Apropos Toiletten: Man könnte auch einfach auf Pissoirs verzichten. Die brauchen 50 Prozent der Bevölkerung ja nicht. Nichtbehinderte würden aber auch «dauernd meckern», wenn in öffentlichen Gebäuden regelmässig die Pissoirs «vergessen gingen». Oder in mehrstöckigen Gebäuden nicht nur der Lift, sondern gleich auch die Treppen fehlen würden. MARIE BAUMANN dokumentiert unter ivinfo.wordpress.com seit 2009 das politische Geschehen rund um die Invalidenversicherung.

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Leben in der Filterblase Öffentlicher Raum Während die Gentrifizierung in aller Munde ist, sind polizeiliche

Wegweisungen kaum ein Thema – dabei gefährden sie die Demokratie. TEXT  SIMON MUSTER FOTO  FLURIN BERTSCHINGER

Wer die Idylle stört, wird einfach entfernt.

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Der grosse Star der Stadtaufwertung heisst Gentrifizierung. Der Prozess wird so viel und so kontrovers diskutiert, dass andere Massnahmen zur Stadtaufwertung aus dem Blick geraten. So zum Beispiel ein in 18 Kantonen geltender Gesetzesartikel, der sich als unbürokratisches und effizientes Mittel zur «City-Pflege» erweist. Das hat besorgniserregende Parallelen zur Filterblasen-Bildung in den Sozialen Medien. Eines vorweg: Es gibt in der Schweiz keine gesetzliche Definition des öffentlichen Raumes. Doch es besteht ein scheinbar übergreifendes Grundsatzverständnis. Der öffentliche Raum grenzt sich in erster Linie vom privaten Raum ab, heisst also: von dem Raum, der nicht der öffentlichen Hand gehört. Zudem unterscheidet er sich von Räumlichkeiten der öffentlichen Hand, die eine explizite Aufenthaltsbewilligung verlangen. Darunter fallen etwa Militäreinrichtungen oder Spitäler. Was übrig bleibt, sind Seepromenaden, Stadtparks und Bahnhofsplätze, die sich gerade im Sommer grosser Beliebtheit erfreuen. Kein Filter im Alltag In einer Zeit, in der sogenannte Bub­bleBildungen in den Sozialen Medien eine immer grössere Herausforderung für die Demokratie darzustellen scheinen, erhält der gute alte öffentliche Raum eine grössere Bedeutung. Während man online Unliebsames mit wenigen Klicks rausfiltern kann, ist man beim Gang durch den Bahnhof gezwungen, sich diesen zu stellen. Unterschiedliche Meinungen sind die Grundlage für politischen Diskurs, die Konfrontation mit dem Unbekannten und Befremdlichen sein Antrieb. Gerade diese Konfrontation aber ist in Gefahr. Die weltweite politische Polarisierung wird immer öfter in Zusammenhang gebracht mit der Bubble-Bildung in den Sozialen Medien. Zwar ist dieser Zusammenhang umstritten. Doch niemand bezweifelt, dass die Verlagerung des politischen Diskurses von der Stammtisch- und Landsgemeinde auf Facebook und Twitter eine tiefgreifende Veränderung bedeutet. Surprise 409/17

Kein Mensch, keine Begegnung.

Genau in dieser Situation könnte der öffentliche Raum Abhilfe schaffen. Es ist unrealistisch (und auch nicht wünschenswert), den politischen Diskurs vollständig zu seinen analogen Ursprüngen zurückzuführen. Aber dadurch, dass die Nutzerinnen und Nutzer des öffentlichen Raumes keine Filter anwenden können, kommt ihm neue Bedeutung zu: nämlich als Ort, wo die unterschiedlichsten Lebenswege und Weltanschauungen kollidieren können. Wobei: Neu ist diese Bedeutung nicht. Wie der Architekt Christoph Haerle sagt, beginnt die Geschichte des öffentlichen

Es ist wohl kein Zufall, dass der öffentliche Raum, wie wir ihn heute verstehen, seinen Ursprung in der Wiege der Demokratie hat.

Raumes bei den alten Griechen. Dort wurden Freiräume geschaffen, umrahmt von staatlichen Institutionen, Bildungsanstalten, Handelsgebäuden und Kulturpalästen. Der symbolische Charakter ist offensichtlich: Die grossen Elemente einer zivilisierten Gesellschaft bilden einen Raum, in welchem Begegnungen ermöglicht und provoziert werden. Es ist wohl kein Zufall, dass der öffentliche Raum, wie wir ihn heute verstehen, seinen Ursprung in der Wiege der Demokratie hat. So merkt Haerle im zweiten Teil des sehr empfehlenswerten Gesprächs mit der Plattform «Geschichte der Gegenwart» an, dass «öffentlicher Raum glückt, wenn dieses Aushandeln so passiert, dass alle Beteiligten zugunsten eines Gesamtinteresses einen Schritt von ihrem Eigeninteresse zurücktreten». Die demokratische Grundmaxime also. Ein wenig Mittelalter in der Moderne In der Realität ist die Diskussion um öffentliche Räume aber seit jeher geprägt von Nutzungskonflikten. Im Mittelalter galt die Wegweisung aus dem Stadtstaat als gängige Strafe, in Istanbul gingen die Massen 2013 gegen den Bau eines Einkaufszentrums auf dem Areal des Gezi­-Parks auf die 9


Menschenleer um der Ästhetik willen.

Strasse. Erstere Methode erlebt in der Schweiz seit 1997 ein Revival. Damals wurde mit der Einführung der Lex Wasserfallen in Bern zum ersten Mal ein sogenannter Wegweisungsartikel in ein kantonales Polizeigesetz geschrieben. Dieser erlaubt es der Polizei, eine Person mit einem Rayonverbot zu belegen, wenn «der begründete Verdacht besteht, dass sie oder andere, die der gleichen Ansammlung zuzurechnen sind, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder stören». Der damalige Polizeidirektor Kurt Wasserfallen wollte mit dem neuen Polizeigesetz eine Möglichkeit schaffen, die offene Drogenszene rund um den Bahnhof zu bekämpfen. Doch früh war auch klar, dass die offene Formulierung des Artikels dazu verwendet werden kann, alle unliebsamen Personen und Ansammlungen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. «Ursprünglich war die Lex Wasserfallen dazu gedacht, störende Menschen aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben», ist Ruedi Löffel, langjähriger Gassenarbeiter beim

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Verein Kirchliche Gassenarbeit Bern, überzeugt. Der Hintergedanke: Menschenansammlungen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, schaden dem Stadtbild. Der Verein Kirchliche Gassenarbeit Bern gehörte zu den ersten Stimmen, die sich gegen die Einführung und Umsetzung des Artikels einsetzten. Er unterstützte die Betroffenen auch bei der Formulierung von Beschwerden. «Am Anfang gab es viele Einsprachen, einige wurden sogar gewonnen. Aber da die Einsprachen auf die Wegweisung keine aufschiebende Wirkung haben, hatten sie keinen unmittelbaren Effekt», erinnert sich der Gassenarbeiter. Trotz des vehementen Widerstandes gegen die Praxis erwies sich der Wegweisungsartikel als Exportschlager für Bern: Heute steht er in der einen oder anderen Form in 18 kantonalen Polizeigesetzen. Es geht nicht um Sicherheit Und so sind Wegweisungen mittlerweile ein «anerkanntes Instrument der Polizeiarbeit», wie der Sicherheitsdirektor von Bern, Reto Nause, unlängst feststellte. Ein Mittel, mit dem man dem Wunsch der Bevölkerung nach mehr Sicherheit nachkomme. Doch gerade hier widerspricht Löffel: «Den Sicherheitsaspekt bei den Wegweisungen, mit welchen wir zu tun haben, sehe ich nicht.» Die meisten Wegweisungen, mit denen sich der Verein Kirchliche Gassenarbeit Bern beschäftige, fänden in Stadtgebieten statt, die vor allem durch Kundinnen und Touristen frequentiert sind. «Aus meiner Sicht ist es ein Instrument dafür, das Stadtbild sauber zu halten.» Oder, um es mit einem einprägsamen Scheinanglizismus auszudrücken: Die Wegweisungen dienen der «City-Pflege». Durch die Wegweisung von Menschen, die den gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen, kann der öffentliche Raum aufgewertet werden, so die Theorie hinter der «City-Pflege». Und wenn man sich die Sprache von Politikerinnen und Politikern anschaut, die sich für Wegweisungen einsetzen, dann erhärtet sich der Surprise 409/17

Eindruck, dass zumindest implizit der Wunsch nach einem ästhetischen Stadtbild mitschwingt. Da verkommt der Bahnhof Basel schnell mal zur Beiz für Randständige, die Flusspromenade von Olten zur schlechten Visitenkarte für die Stadt, das alte Bahnhofsportal in Luzern wird zu einem Schandfleck. Bubble im öffentlichen Raum Hier offenbart sich der Nutzungskonflikt. Für die einen nehmen sogenannte Randständige den öffentlichen Raum in Beschlag; für die anderen bilden die Wegweisungen einen unrechtmässigen Eingriff in ihre Bewegungsfreiheit. «Bei Wegweisungen entsteht bei den Betroffenen nicht das Gefühl, etwas Falsches getan

«Je mehr man die Leute vor Andersartigkeit schützt, desto ängstlicher werden sie, desto mehr rufen sie nach strengeren Gesetzen.» DANIEL MOECKLI, STA ATSRECHTLER

zu haben. Sie halten sich in ihrem Wohnzimmer, der Gasse, auf und verstehen nicht, wieso sie stören», sagt Ruedi Löffel. «Wenn sich meine Freunde irgendwo treffen, dann gehe ich doch wieder dorthin. Da nehme ich die Busse halt in Kauf.» Dabei sei nach dieser langen Zeit auch eine Resignation zu spüren. So gebe es Personen, die schon mehr als 100 Wegweisungen erhalten haben. Das führt laut Löffel zu einem Teufelskreis: Da viele Betroffene kein Geld hätten, um die entsprechenden Bussen zu zahlen, würden sie ins Gefängnis gehen, um diese abzusitzen.

Das sei nicht nur moralisch fragwürdig, sondern auch aus finanzpolitischer Sicht völlig unsinnig: Laut Löffel sitzt man pro Tag 100 Franken Busse ab, während ein Tag im Gefängnis den Staat gemäss Schätzungen 400 Franken kostet. Und nicht minder bedenklich als der moralische und finanzielle Aspekt der Praxis: Die Wegweisung als Instrument der «City-Pflege» funktioniert als Filter im öffentlichen Raum. Motiviert durch eine Ästhetisierung des Stadtbildes, werden gewisse Personengruppen systematisch vom öffentlichen Raum ferngehalten. Dadurch entfällt nicht nur die Repräsentation dieser Lebenswelten in der öffentlichen Debatte, sondern es wird auch eine Sensibilisierung für die Probleme einer Gesellschaftsschicht verhindert. Oder wie es der Zürcher Staatsrechtler Daniel Moeckli ausdrückt: «Je mehr man die Leute vor Andersartigkeit schützt, desto ängstlicher werden sie, desto mehr rufen sie nach strengeren Gesetzen.» Der öffentliche Raum muss nach der demokratischen Grundmaxime gestaltet sein. Ist dies zum Beispiel aufgrund von Rayonverboten nicht der Fall, wird produktive Konfrontation verhindert, der politische Diskurs unterbunden. Wer sich vor einer Bubble-Bildung in den Sozialen Medien fürchtet, der sollte sich mindestens genauso viele Sorgen um ein Stadtbild machen, das einen sowieso schon unterrepräsentierten Teil der Gesellschaft ausschliesst. Einige, wie zum Beispiel Staatsrechtler Daniel Moeckli, sehen durch die Wegweisungen den Rechtsstaat in Gefahr. Für die Menschen, mit denen der Verein Kirchliche Gassenarbeit Bern zu tun hat, bedroht die Wegweisungs-Praxis ihren Lebensmittelpunkt, ihr Wohnzimmer – und am Ende ihre Freiheit.

Dieser Artikel wurde zuerst auf daslamm.ch publiziert und erscheint mit freundicher Genehmigung.

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Muss zusehen: Philippe Egli hat sich im Trainingslager am Fuss verletzt. 12

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Die Eule sucht den Überblick Strassenfussball Philippe Egli war ein schlechter Schüler und hat mit seinen 25 Jahren

keinen festen Job. Im Trainingslager in Huttwil bereitet er sich nicht nur auf die Strassenfussball-Weltmeisterschaften vor. Sondern auch auf das eigene Leben. TEXT  DIANA FREI FOTOS  ANNETTE BOUTELLIER

Philippe ist angeknackst. Er steht in der Tür der Männertoilette im Trainingscenter Huttwil, Abdul, Matiows und Saeid kommen in Sportkleidung durch den Flur, sie sind auf dem Weg zum Training. Es ist Donnerstag, der zweitletzte Tag des Vorbereitungscamps der Surprise-Nationalmannschaft, danach geht es nach Oslo an den Homeless World Cup: an die Strassenfussball-Weltmeisterschaft. Seit gestern ist Philippe verletzt, er hat den Knöchel zweimal geknickt. Irgendwas mit den Bändern vermutlich, aber gerissen sind sie nicht. Der Fuss ist nicht geschwollen, Philippe war nicht beim Arzt. Der Arzt würde sagen: drei, vier Wochen kein Sport mehr. Das will Philippe jetzt nicht hören. Er will nach Oslo. «Der Verstand sagt: Bleib daheim. Der Bauch sagt: Geh mit», sagt Philippe. Jeder Spieler darf nur einmal am Homeless World Cup teilnehmen, so sind die Regeln. Wenn Philippe gar nicht erst mitgehen würde, hätte er nächstes Jahr wieder eine Chance. Geht er hin und fällt nach dem ersten Spiel aus, dann war’s das. «Eigentlich möchte ich die Mannschaft jetzt nicht im Stich lassen. Die Truppe ist gut. Wie es nächstes Jahr ist, weiss man ja nicht.» Er zieht entschuldigend die Schultern hoch, wie er es oft tut. Spitzbübisches Grinsen, vorsichtiger Blick. Die Schultern PHILIPPE EGLI hängen leicht nach vorn, und wenn man Philippe später mit Zimmergenosse Michael zum Spielfeld hinüberhinken sieht, leidet man mit. Das Bein schleift er hinterher wie ein Holzbein, durch den Schmerz im Fuss zieht es nun auch im Oberschenkel. «Ich will den Fuss nicht unnötig belasten. So geht es am besten.» David Möller, der Sport-Coach vom Surprise Strassenfussball, holt die beiden sogar im gemütlichen Schritttempo schnell ein. Fast eine Woche Intensivtraining mit der Mannschaft hat er hinter sich, und es ging dabei nicht nur um Sport. An den Strassen-

fussball-Weltmeisterschaften spielen Teams aus der ganzen Welt mit, und alle Spieler erfüllen mindestens eins der nötigen Kriterien, die der Homeless World Cup voraussetzt: Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Armut, Depression, Suchtproblematik, Flüchtlingshintergrund. Direkt von Huttwil fahren alle zusammen nach Basel, eine Stunde Aufenthalt, dann mit dem Bus nach Hamburg, dort zwei Tage Training mit der deutschen Nationalmannschaft, dann Oslo. Lückenlos. «Wenn wir schon alle zusammenhaben, behalten wir sie», sagt David Möller. So verlässt keinen der Mut, so geht keiner verloren, so stürzt keiner ab. Lavinia Besuchet ist die Leiterin von Surprise Strassenfussball, heute ist sie nicht nach Huttwil gekommen. Gestern war sie hier, um den Vorbereitungsmatch gegen YF Huttwil United zu begleiten und ein theaterpädagogisches Training zu geben. Tags darauf ist sie im Büro in Basel mit letzten Vorbereitungen für die Schweizermeisterschaften beschäftigt, die im September in Bern stattfinden. Auf einem Stapel liegen selbstgestrickte Fussballschals mit Schweizerkreuzen, die freiwillige Strickerinnen geschickt haben. Die werden in Oslo an die anderen Mannschaften verschenkt. «Strassenfussball ist die perfekte Sportart, um das pädagogische Ziel zu erreichen, das wir uns gesetzt haben», sagt sie. «Es ist ein kurzes Spiel, es findet auf einem kleinen Feld statt, du hast nur drei Spieler und einen Goalie. Das Spiel konzentriert sich auf jeden Einzelnen. Ein perfektes Setting, um Leute von der Strasse abzuholen. Sie spüren ihren Körper, sie lernen, mit Erfolg und Niederlage umzugehen.» Besuchet arbeitet mit anderen sozialen Institutionen zusammen. Mit einem sozialen Fussballprojekt im Tessin, mit einer Kirchgemeinde, mit Flüchtlingsprojekten. Mit Glattwägs in Zürich, wo jungen Menschen bei der Jobsuche geholfen wird, und mit der Basler Gassenarbeit. «Wenn jemand

«Immer war mein Hindernis: Ich bin nicht der Typ, um angestellt zu sein.»

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Pause: David Möller, Abdul Ali, Christian Müller, Günther Rothenfluh (von links nach rechts).

Persönlichkeitstraining: Philippe Egli (vorne), Abdul Ali, Saeid Zadeghi, Matiows Gebray.

Matiows Gebray ist aus Eritrea in die Schweiz geflüchtet.

«Welches Bild erzählt etwas über eure Situation?» Jeder wählt eine Ansichtskarte aus.

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von sich aus auf uns zukommt, sage ich ihm: Wenn du bei uns mitspielen willst, musst du eine Form von sozialer Benachteiligung haben. Weil es nicht nur Fussballspielen ist. Es ist ein Programm für dich, und du musst das machen wollen.» Lavinia Besuchet kennt Philippe noch nicht so gut. «Er ist über Glattwägs zu uns gekommen. Er hat morgens offenbar Mühe aufzustehen, er schläft nicht viel, er hat keinen festen Job. Aber ich verstehe noch nicht ganz, was sein Problem ist.» Philippe sitzt nun direkt neben dem Spielfeld auf einem Holzpalett, das notdürftig als Bank dient. «Ich habe kein Problem», sagt er. «Ich spiele für Glattwägs Strassenfussball», sagt er. «Ein ehemaliger Schulkollege meines Vaters ist dort Coach, über ihn bin ich dazu gestossen. Ich bin oft in Mannschaften, bei denen es um die Integration von Ausländern oder um soziale Integration geht. Ich spiele gerne so. Lerne neue Leute kennen. Helfe mit dem Deutsch.» «Glattwägs ist ein soziales Projekt. Eine Institution für junge Menschen, die keine klare Situation haben», sagt Lavinia Besuchet. Das Smartphone ist das neue Passivrauchen Auf dem 22 mal 16 Meter kleinen Feld trainiert die Mannschaft: Luis aus dem Tessin und Kiril aus Mazedonien, Matiows und Efrem, beide aus Eritrea, der Iraner Saeid, der Somalier Abdul, Michael und der Assistenztrainer Günthi, beide Schweizer. «Wir reden mit Hand, Fuss, Kopf, Englisch und Google. Es geht immer irgendwie», sagt Philippe. Mit Abdul und Michael teilt er das Zimmer. Sie reden Schweizerdeutsch. Abdul hat in der Schweiz gleich Dialekt gelernt, das hat ihn mehr interessiert als Hochdeutsch. Michael kommt vom Feld, das Training ist vorbei, er ist in Plauderlaune, eigentlich immer. Er hat zu vielem eine dezidierte Meinung, und manchmal scheint es, als brodle alles in ihm drin wie in einem Dampfkochtopf. Sein Smartphone hat Michael auf Anraten von Lavinia Besuchet zuhause gelassen. «Da bin ich stolz drauf, kein Youtube, kein Facebook. Wenn ich da mal drauf bin, komme ich nämlich nicht mehr weg.» Beim Neumarkt Center in Oerlikon, wo er Surprise verkauft, wissen die LadenbePHILIPPE EGLI treiber, dass er im Trainingslager in Huttwil ist: Kosmetiksalon, Migros, Mobilezone, Schuhgeschäft. «Aber schön wäre es, wenn auch die anderen das Handy zuhause gelassen hätten. Passiv mitzukriegen, wie andere am Smartphone hängen, ist nämlich genau das Gleiche wie Passivrauchen. Du kriegst den Stress auch mit ab.» Michael fand in den letzten Tagen einmal, Philippe schlafe zu lange. Da versuchte er ihn zu wecken, mit Besen und Wasser. «Ich hab’s nicht mal mitbekommen, die anderen haben es mir erzählt. Man muss Michael nehmen, wie er ist», sagt Philippe. Er zieht die Schultern hoch und lächelt. «Wenn ich um 7.50 Uhr oben sein muss, dann stehe ich um 7.35 Uhr auf. Ich koste es bis zur letzten Minute aus.» Philippe hat seinen Schlafrhythmus, daran ändert er nichts. Ein Nachtmensch. «Ich bin nicht einer, der um 7 Uhr wach ist», sagt er. Und: «Mir reichen auch vier bis fünf Stunden Schlaf. Mein Körper hat sich dran gewöhnt.» Schulterzucken. Er lächelt mit seinen Spitzbuben-Grübchen. Michael sagt: «Dank Philippe haben wir eine gute Stimmung in der Gruppe.»

Philippe ist 25, in den letzten Jahren hat er nie regelmässig gearbeitet. Er half in Küchen aus, er half den Eltern im Haushalt. Gelegenheitsjobs, Babysitten. «Ich habe die Lehre als Hauswart gemacht. Gezwungenermassen, irgendetwas musste ich ja lernen. Als Hauswart bist du der Depp vom Dienst. Ein bisschen was darfst du selbst machen. Und wenn es ernst gilt, dann musst du jemand anders anrufen, den Sanitär oder so. Nach der Lehre habe ich angefangen zu jobben.» Die Sek B hat er gemacht, und ein guter Schüler war er nie. Einmal sagte der Lehrer: Wenn du mehr lernen würdest, wärst du ein guter Sek-A-Schüler. «Da muss man ehrlich sein, ich war nicht der Fleissigste. Ich war öfter krank, auch wenn es nicht ganz stimmte. Ich spielte immer Fussball und hoffte, es würde einen Profivertrag geben.» Aber – er formuliert es selbst so: «Wie bei vielen ist das nicht verwirklicht worden.» Schon als Acht-, Neunjähriger spielte er allein im Hof und hat das Spiel gleich selbst kommentiert. Bis die Nachbarn riefen: Jetzt sei mal still! Am liebsten möchte Philippe Sportmoderator werden. «Dafür hätte ich wohl mindestens die Sek A machen müssen, wenn nicht das Gymi. Die berufliche Auswahl wäre besser gewesen.» Jetzt versucht Philippe, sich mit Massagen selbständig zu machen und belegt Kurse an der Migros Klubschule. «Immer war mein Hindernis: Ich bin nicht der Typ, um angestellt zu sein. Die Freiheit fehlt mir. Ausser bei meinem Traumberuf, Sportmoderator beim Fernsehen. Im Bereich Sport, da wäre mir alles recht. Aber wenn die Arbeit keinen Spass macht, wird es schwierig. Ich will nicht Stunden zählen, bis der Tag vorbei ist.» «Was wir bei uns schulen, ist Selbstkritik», erklärt Strassenfussball-Leiterin Lavinia Besuchet in ihrem Büro in Basel. «Da werden Fragen gestellt: Wo stehe ich heute? Was konnte ich an meiner Haltung ändern? Man muss an sich arbeiten wollen. Die Leute lernen auf dem Spielfeld, mit Erfolg und Niederlage umzugehen.» Besuchet hat ein Ziel. Sie will der Gesellschaft zeigen, dass man etwas verändern kann. «Unsere Leute sollen über sich sagen können: Auf dem Feld bin ich ein guter Fussball­spieler. Statt: Ich bin ein Sozialfall, weil ich meine Schulden wieder nicht bezahlen konnte.» Philippe wohnt in einer eigenen Wohnung, die Miete kann er bezahlen. Unter ihm wohnen die Eltern. Sie hätten kein Problem damit, dass er keine feste Anstellung habe, sagt Philippe. «Es hat sie gestresst, als ich schlecht war in der Schule. Aber man wird älter und vernünftiger. Ich komme ja über die Runden.» Und seit sein Neffe auf der Welt ist, zählt eh nur noch der Kleine. «Der muss nur einmal lachen, und alles ist in Ordnung.» Philippe ist der Götti. Und freut sich darauf, endlich mit ihm Fussball spielen zu können. «Oder reden. Einen Satz wenigstens: ‹Ich wett go tschuutte› zum Beispiel.» Philippe grinst wieder, Grübchen im Gesicht. Mit Arbeitgebern hat er sich auch schon gestritten, mit einem Fussballcoach noch nie. «Da redet man vom Gleichen, da gibt es nichts zu streiten.» Wenn Philippe spielt, will er gut sein. In Oslo wäre es schon seine Ambition, in die ersten Ränge zu kommen. Schön, haben wir mitgemacht – das ist keine Einstellung, findet Philippe. Nicht, dass er andere aburteilen würde: «Weil ich nicht weiss, was ihr Potenzial wäre. Ich weiss nicht, ob sie ihr Bestes

«Ich stehe bereits vor der Hürde, weiss aber nicht, ob ich kurz vor dem Ziel doch noch stolpere.»

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Abdul Ali (sitzend) im Interview mit Sport-Coach David Möller (an der Tafel).

geben. Das wissen nur sie. Mir selbst gegenüber bin ich streng. Wenn ich die Leistung nicht bringe, kann ich nicht lächelnd vom Platz.» Quatsch machen mit dem Baby 11 Uhr. Das Training ist vorbei, Philippe geht mit seinen Teamkollegen zurück zum Wohntrakt. Es folgt eine Stunde im Gruppenraum: «ICH als Spieler, WIR als Team». Coach David Möller macht mit allen Spielern Einzelinterviews: Jeder erzählt von einem Erlebnis, das ihm besonders gutgetan hat. Abdul setzt sich auf den Stuhl vor die Gruppe. «Ich erzähle von einem Besuch bei einem Onkel. Das war noch in Somalia.» – «Wenn du zurückdenkst, wie war die Stimmung?» – «Wir machten einen Familienausflug in die Berge und an den Strand. Am Strand konnte man weit aufs Meer hinausblicken, etwa zehn Kilometer weit. Aber ganz oben auf dem Berg konnten wir unter uns gar nichts sehen, weil da Wolken waren.» – «Wenn du zurückdenkst und du müsstest eine Postkarte davon zeigen: Was wäre auf dem Bild?» – «Wellen am Strand. Und mir kommt der Geruch in den Sinn. Wenn es lange nicht geregnet hat, und plötzlich kommt der Regen, dann gibt das einen besonderen Geruch.» – «Was hast du gemacht, damit dieser Ausflug möglich wurde? War es deine Idee?» – «Es war meine Idee, dass wir angeln gehen am Meer.» – «Du hast den Vorschlag gemacht.» – «Ja. Aber es war ein Dieb am Strand. Mein Onkel hatte Angst, dass uns auch etwas passiert.» – «Was hast du da gemacht?» – «Ich habe meinen Onkel beruhigt.» – «Das konntest du? Du warst ja noch ein Kind!» – «Ja, ich konnte das.» David hat die Antworten protokolliert. «Wir haben gehört, Abdul macht gerne Ausflüge mit anderen zusammen. Er kann Ideen einbringen und Leute beruhigen, wenn Panik aufkommt. Das können wir vielleicht auf dem Spielfeld auch einmal brauchen.» Michael hat eine Nachfrage: «Wie lange bist du schon in der Schweiz?» – «Fünf Jahre.» Anerkennender Handschlag. Alle klatschen. 16

Philipp war gestern dran, das Protokoll seines Interviews hängt bereits an der Wand: - Geburt Neffe (Luca) - stolz auf Schwester - Glück, Freude - Neugierde, etwas Neues - Besuch - Luca in den Armen halten - Quatsch machen - spazieren gehen Im Sprung über die Hürde David sagt: «Bald gehen wir zusammen nach Oslo. Wir treffen da auf Spieler aus den USA, aus Australien, Brasilien. Die haben alle auch ihre Geschichten, ihre Familien. Ich weiss, die Sprache ist manchmal ein Problem. Die meisten Spieler können nur ihre Muttersprache. Aber man kann sich immer ein bisschen austauschen. Ich möchte euch ermutigen, sie auch nach ihren Geschichten zu fragen.» Jetzt soll jeder eine der Ansichtskarten auswählen, die auf dem Tisch ausgebreitet liegen. Die Frage ist: Welches Bild spricht mich an? Was erzählt es über meine Situation? Michael hat einen Wald gewählt. «Wenn man das Bild ansieht, sieht man, dass Sonnenstrahlen hereindringen», sagt er. David: «Gehst du selbst durch einen dunklen oder einen hellen Wald?» – «Durch einen dichten Wald.» Matiows hat eine Berglandschaft vor sich. Weil er gerne in den Bergen ist, weil er gerne durch die Landschaft rennt. «Im Moment fühlst du dich wie in den Bergen, ohne Verkehr und Lärm? Und wie rennst du?» – «Ich bin müde.» – «Müde? Aber es geht noch?» – «Ja.» Philippe hat die Karte mit der Sportlerin in der Hand, mitten im Sprung über die Hürde. «Ich sehe eine klassische Hürdenläuferin, die die Hürde überspringen kann – mit dem Ziel vor Augen. Aber auf mich bezogen sehe ich das Gegenteil. Ich stehe bereits vor der Hürde, weiss aber nicht, ob ich kurz vor dem Ziel doch noch stolpere.» Surprise 409/17


Teamkollegen, Zimmergenossen: Philippe Egli und Surpise-Verkäufer Michael Hofer.

Es ist 14 Uhr, Philipp sitzt draussen in der Sonne neben dem Campus-Restaurant. Sein Fuss schmerzt, er nimmt’s locker. «Es gibt ja nichts, was ich persönlich ändern könnte, damit es wieder gut geht. Ich bin deswegen nicht gestresst.» Eigentlich wäre er mit seiner Familie jetzt auf Mallorca in den Ferien. Er hat wegen des Trainingslagers abgesagt. «Jetzt habe ich keine Ferien und vielleicht auch keinen World Cup», sagt er. «Aber was will man machen. Es gibt so viel Schlimmeres auf der Welt. Wir können uns in der Schweiz über nichts beklagen. Über was auch.» Phi­ lippe zieht die Schultern hoch und lächelt entschuldigend. Seine Bänder waren vor ein, zwei Monaten schon einmal angerissen. «Ich dachte, das wird schon wieder.» «Wir werden nicht richtig schlau aus Philippe», sagt Lavinia Besuchet. «Bei ihm verstehe ich nicht ganz, was Realität und was Wunschvorstellung ist.» Die anderen haben heute Nachmittag eine Trottinett-Abfahrt von der Ahornalp aus auf dem Plan. Langsam erscheint einer nach dem anderen vom Wohntrakt her. Rucksack, Regenjacke, ein Gewitter ist angesagt. Vorher müssen alle noch ihre Sachen in die Wäscherei bringen, pünktlich bis 14.30 Uhr. David kommt zu Philippe herüber: «Hast du deine Wäsche auch gebracht?» – «Ich habe keine Wäsche», sagt er, nach einer Woche Trainingslager. Er blinzelt in die Sonne. Zwei Tage später ist die Mannschaft in Oslo angekommen. Philippe ist nicht dabei. In einer Übung im Gruppenraum musste jeder ein Tier wählen, das seine Rolle auf dem Spielfeld charakterisiert. Philippe entschied sich für die Eule. «Ich habe immer den Überblick», hat er dazu gesagt. «David findet, das stimmt», sagt Lavinia Besuchet.

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Strassenfussball Regeln Gelbe, rote und blaue Karten

Ein Strassenfussball-Match (auch: Street Soccer) dauert zwei Mal sieben Minuten. In einer Mannschaft sind vier Spieler: zwei Stürmer, ein Verteidiger und ein Goalie. Der Schiedsrichter hat drei statt zwei Karten zu vergeben. Fairplay wird bewertet: Wird die gelbe Karte gezeigt, bedeutet das einen Punkt Abzug in der Fairplay-Wertung. Bei der roten Karte ist der betreffende Spieler für das nächste Spiel gesperrt. Die Mannschaft muss das Spiel mit zwei Feldspielern zu Ende spielen. Dann gibt es noch die blaue Karte. Sie bedeutet Strafzeit: Die Mannschaft spielt zwei Minuten mit einem Spieler weniger. Strassenfussball ist ein sehr lebendiger Sport: Die Anzahl Ballwechsel ist hoch, die der Tore ebenso. Die Surprise Strassenfussball-Liga besteht aus 18 Teams in der ganzen Schweiz, einschliesslich Tessin und Romandie. Es finden in der Liga jährlich vier Spiele statt. Aus den 18 Teams werden jedes Jahr acht Spieler für den Homeless World Cup HWC nominiert, sie bilden die Surprise-Nationalmannschaft. Der HWC findet in wechselnden Städten rund um den Globus statt und stellt die gleichen Kriterien wie der Surprise Strassenfussball: Die Teilnehmer haben unterschiedlichste Probleme in ihrem Sozialleben, von Einsamkeit und Depressionen über Alkoholismus und Drogensucht bis zur Obdachlosigkeit. Pro Land darf nur ein Strassenfussball-Projekt am HWC teilnehmen, für die Schweiz spielt die Surprise-Nationalmannschaft. Jeder Spieler darf nur einmal am HWC mitspielen. Neben der Surprise Strassenfussball-Liga existieren in der Schweiz noch zwei weitere Ligen, die vor allem mit Jugendlichen arbeiten. Surprise ist die grösste Liga und spielt auf öffentlichen Plätzen wie dem Zürcher Helvetiaplatz oder dem Berner Bundesplatz. Hauptsponsor ist neben Erdgas VSG die Swiss Football League, die den Strassenfussball nicht nur finanziell, sondern auch inhaltlich unterstützt. Der 14. Homeless World Cup ging am 5. September zu Ende. Die Surprise-Nationalmannschaft hat sich gegen starke Gegner wie Italien durchgesetzt und lag im Schlussrang auf Platz 20 von 45: bisher die beste Platzierung des Schweizer Teams. DIF

Surprise Strassenfussball-Liga: Schweizer Meisterschaften 2017 24. September, 11 bis 17 Uhr, Bundesplatz Bern 13.30 Uhr Surprise Nati gegen All Stars mit Leonardo Nigro («Die Schwarzen Brüder», «Schellen-Ursli»), Daniel Mangisch («Flitzer», «Tempo Girl»), Frau Feuz (Journalistin und RadioFrau) und FC Nationalrat (u. a. mit Surprise-Vorstandspräsident Beat Jans). Anpfiff: Alexander Tschäppät

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Der Fotograf und der See Fotografie  Sieben Jahre lebte Armin Grässl auf dem Vierwaldstättersee und trauerte um seinen Sohn.

Seine Bilder zeigen, was von dieser Zeit geblieben ist: schöne, einsame Erinnerungen. TEXT  STEPHANIE ELMER

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Raum und Zeit zum Trauern fand Armin Grässl auf dem Wasser.

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Armin Grässl ist ein Zugvogel. Einer, den es zieht. Mit 17 weg vom kleinen Dorf im Luzerner Hinterland, hinaus in die Welt, nach Paris, Peru. Ein Zwischenstopp in der Fotoschule Vevey – ein kurzer, weil der Unterricht ihn langweilte. Dann weiter als Modefotograf nach New York, zurück in die Schweiz, nach Gstaad, zu den Promis ins Palace. Die Kinder, sagten er und seine Frau sich damals, die sollen in der Schweiz aufwachsen.

FOTO: BEA WEINMANN

«Im Frühling und Herbst ist der Vierwaldstättersee wichtiger Rastplatz für Durchzügler.»

«Haubentaucher häufig. Kormoran häufig. Teichhuhn regelmässig.» «Der See, der war damals mein Zufluchtsort», sagt Armin Grässl. «Ein Raum, in dem ich Schutz fand.» 1992 fand er seinen einjährigen Sohn Hippolyt leblos im Bett. «Plötzlicher Kindstod», lautete die Diagnose. «Es gibt Studien», sagt er, «die zeigen, dass rund die Hälfte der Paare durch einen solchen Schicksalsschlag zusammengeschweisst werden.» Und dann gibt es die andere Hälfte, die daran zerbricht. So wie bei Armin Grässl. Seine Frau zog mit der gemeinsamen Tochter Pandora nach Paris. Und Armin Grässl, plötzlich allein, zog auf das kleine Schiff auf dem Vierwaldstättersee, das er von seinem Vater geerbt hatte. Sieben Jahre blieb er während der Sommermonate Tag und Nacht auf dem einfachen Motorboot, das so manchem Sturm trotzte. Er, der von sich sagt, kein guter Schwimmer zu sein, ankerte nur, wenn er einen Auftrag bekam. Damals arbeitete er als Location-Scout für japanische Filmfirmen. Ansonsten liess er sich treiben und stellte sich seiner Trauer. «Du kannst wegrennen, aber irgendwann holt sie dich ein. Wie ein Hammer. Dann, wenn du nicht mehr mit ihr rechnest.» Manchmal, erzählt er, träumte er von Haien, die um sein Schiff schwammen. Er erzählt auch vom Föhnsturm im Urnersee, der ein solches Farbspektakel an den Himmel zauberte, dass es bei Grässl bis heute Spuren hinterlassen hat. «In der Natur», sagt er, «fühle ich mich eins mit der Schöpfung.» Als Jugendlicher war Grässl Ministrant. Das ewige Licht faszinierte ihn. Doch schon am ersten Tag bekam er die Aufgabe, die Kerze zu wechseln. «Das ewige 20

«Selbstmitleid hilft niemandem. Der Mensch gewöhnt sich an alles. Irgendwann.» ARMIN GRÄSSL

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Hermann Hesse gehört zu Armin Grässls Lieblingsautoren. Und Hesse schrieb einst, dass er den Vierwaldstättersee auf dem Boot erkundete. Als Armin Grässl dies las, war sein Interesse geweckt. Und er begann selbst zu recherchieren. Erkundete den See. Tauchte in die unterschiedlich­ sten Lektüren rund um das Gewässer ein. Und begann, den See in all seinen Facetten zu fotografieren. Mit dem vertrauten Blick eines alten Bekannten und mit dem abenteuerlichen Erkundungsdrang eines Reisenden. «Durch die Fotografie habe ich gelernt, das Leben zu beobachten.» Und das Leben, das spielte sich auf dem See ab.

Mal keine «People»: Grässls Aufnahmen sind menschenleer.

«Heringsmöwe selten. Krickente regelmässig. Steppenmöwe selten.»

Zwischen Kitsch und Mysterium: Der See inszeniert sich fast von selbst.

Licht – eine auswechselbare Kerze!» Die Enttäuschung hallt nach, auch über 40 Jahre später noch. «Teichhuhn regelmässig. Silberente selten. Sturmmöwe regelmässig.» Im Herbst, wenn die kalte Luft über den See zischte, verlegte Armin Grässl seinen Wohnort vom See in eine einfache Alp­ hütte bei Gstaad, um während der Wintermonate als Hoffotograf im Gstaad Palace zu arbeiten. Im Frühling, wenn die illustre Gästeschar wieder nach Hause zog, zog es Grässl zurück auf den See. «Wasser reinigt», sagt er. Und: «Der See gab mir Raum und Zeit zu trauern. Zeit ist Luxus. Und heilt.» Heute steht der 58-Jährige am Ufer und blickt auf den ruhenden See, über dem die heisse Luft flimmert. Die Sonne blendet. Grässl kneift die Augen zusammen. Zwischen ihnen bildet sich eine kleine weisse Falte im sonst braungebrannten Gesicht. «Moorente selten. Mittelsäger selten. Höckerschwan häufig.» Surprise 409/17

Lange sprach Armin Grässl nicht über seine Geschichte. Als er sie vor ein paar Jahren in einer Radiosendung des SRF erzählte, sagte er: «Vielleicht musste ich diese Traurigkeit einmal selbst erleben. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte ich traurige Menschen allein durch meine Anwesenheit trösten. Ich hatte so eine unglaubliche Lebensfreude. Und ein tiefes Urvertrauen. Und dann war ich auf einmal selbst tieftraurig.» Das Urvertrauen, sagt Grässl, «das gibt’s als Kind gratis.» Später muss man es sich zurückerarbeiten. Und Armin Grässl arbeitete, bis es wiederkam. «Selbstmitleid hilft niemandem», sagt er. Und: «Der Mensch, der gewöhnt sich an alles. Irgendwann.» Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Hermann Hesse, Stufen

Aus den Bildern, die damals auf dem Wasser entstanden, entstand das Buch «Der See», das Grässl gemeinsam mit Peter Schulz publiziert hat. Seine Trauer hat sich gewandelt, heute sind es vor allem schöne Erinnerungen, die ihn mit seinem verstorbenen Sohn verbinden. Die Faszination für den See ist geblieben. Die Zelte in Gstaad hat Armin Grässl abgebrochen und hat sie mit seiner zweiten Frau M ­ artina in Seelisberg wieder aufgestellt. Sie stammt von dort, vom See. Mit ihr hat er gewagt, wovor er lange Zeit Angst hatte: eine neue Familie gegründet. Er, der jahrzehntelang international gearbeitet hat, der einst in New York im Studio von Andy Warhol ein und aus ging und in Peru Doku­mentarfilme drehte, widmet sich nun am liebsten dem Vierwaldstättersee: «Landschaftlich einer der beeindruckendsten Orte», findet Grässl. In Buochs hat er sich ein Atelier eingerichtet, der See auf Leinwand ist allgegenwärtig. Stilles Wasser, schroffe Felsen, tanzende Wellen. In der Ecke vertreibt ein kleines Räucherstäbchen den Bürogeruch. Beim Eingang ein kleines Bild, auf dem Grässl Luftballons in Myanmar festgehalten hat. Der Vierwaldstättersee und der Duft der Weite teilen sich den Raum. «Das Gefühl von zuhause ist nicht an einen Ort gebunden», sagt er. Und damals, in der Radiosendung: «Wenn ich nachts in die Sterne blicke, bekomme ich Fernweh. Vielleicht ist es auch Heimweh.» Bilder Vielwaldstättersee von Armin Grässl, «Aufzählung der Vogelarten am Vierwaldstättersee im Winter» von Sirio Trinkler: Aus dem Buch «Der See» von Armin Grässl, erschienen im Verlag Pro Libro Luzern. www.armingraessl.ch

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«Mich interessiert, wie sich Kultur unter den jeweiligen Voraussetzungen an einem bestimmten Ort offenbart.» JURRIA AN COOIMAN, KUR ATOR

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Umgekehrte Entwicklungshilfe Kulturfestival Die Basler Biennale Culturescapes widmet sich dem geplagten Griechenland. Und zeigt auch dieses Jahr, wie man einen nachhaltigen Austausch schafft. TEXT  MONIKA BETTSCHEN

Er sei einem Bauchgefühl gefolgt, sagt Jurriaan Cooiman, Direktor der Basler Biennale Culturescapes, als er vor einigen Jahren entschied, eine europäische Trilogie vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise zu präsentieren. «Unter dem Eindruck der ökonomischen Schieflage kristallisierten sich während der Programmgestaltung drei Länder heraus: Island, Griechenland und Polen», so Cooiman. Nach Island 2015 ist jetzt Griechenland an der Reihe. Was 2008 als Bankenkrise in den USA begann, weitete sich rasch zu einem globalen ökonomischen Flächenbrand aus. In Griechenland offenbarte die Finanzkrise bereits bestehende Strukturschwächen besonders dramatisch, und die verordneten Sparmassnahmen haben die Lage weiter zugespitzt. Unzählige Menschen haben ihre Jobs und Häuser, ihre Ersparnisse und Renten verloren. Zur maroden Wirtschaftslage gesellt sich verschärfend die Flüchtlingskrise: Migranten haben im krisengeschüttelten Griechenland einen besonders schweren Stand. «Ich interessiere mich dafür, wie sich Kultur unter dem Einfluss der jeweiligen Voraussetzungen an einem 22

bestimmten Ort offenbart und entfaltet. Wir fühlen einer Gesellschaft den Puls und setzen deren Befindlichkeit in ein Verhältnis zu unserer Wahrnehmung dieses Landes, in diesem Jahr von Griechenland», sagt Kurator Cooiman. Im Rahmen des diesjährigen Kulturfestivals Culturescapes zeigen rund 100 Projekte, Theaterstücke, Musikgruppen und Filme, was Griechenland beschäftigt und wie sich eine derart aufgeladene Grundstimmung im Alltag und im kulturellen Leben niederschlägt. Aus Vaters Portemonnaie Da ist etwa das griechisch-schweizerische Bühnenstück «Money Piece I (Comedy)», das am Festival uraufgeführt wird. Es geht der Frage nach, wie sich die zunehmende Ökonomisierung auf das Wesen des Einzelnen auswirkt. Die Performerinnen und Performer werden über ihren persönlichen Umgang mit Geld sprechen. Jemand erinnert sich zum Beispiel vor Publikum daran, wie er einst heimlich Geld aus dem Portemonnaie des Vaters klaute. Gerade so viel, dass es nicht auffiel. Diese Geschichte verbindet Surprise 409/17


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sich im Laufe des Stücks assoziativ mit der historischen Rolle der Schweiz im internationalen Finanzmarkt. «Hier wurden und werden in ähnlicher Manier Gelder behalten, weil es niemand merkt», sagt Marcel Schwald, der Basler Regisseur des Stücks. Über Geld zu sprechen ist unangenehm, man fühlt sich je nach Kontostand bedroht oder blossgestellt. Das haben Schwald und sein Team während der Arbeit an diesem Stück am eigenen Leib erfahren: «Die meisten bereits existierenden künstlerischen Arbeiten zur Wirtschaftslage in Griechenland haben dokumentarischen Charakter. Echte Betroffene standen im Zentrum und wurden auf ihr Betroffensein reduziert», sagt Schwald. Vor allem die griechischen Mitglieder seiner Gruppe hätten eine tiefe Abneigung gegen eine weitere «Bebilderung der Krise» empfunden. «Sie wollten die Opfer der Krise nicht noch einmal ausbeuten und aus ihrem Elend künstlerischen Profit ziehen. Es schien uns ehrlicher, unsere eigenen Geschichten zum Ausgangspunkt zu nehmen. Dabei spürten wir sehr direkt, dass wir nicht nur darauf reduziert werden wollten.» Culturescapes hat Marcel Schwald vor zwei Jahren kontaktiert, ob er sich eine Kollaboration mit griechischen Kunstschaffenden vorstellen könne. Diese grosszügige Zeitspanne habe ihm von der Gruppenzusammenstellung über die Herausarbeitung des Themas bis hin zum Austausch unter den Mitwirkenden viel Raum für eine vertiefte und nachhaltige Auseinandersetzung eröffnet. Und: «Unser Aufenthalt in Athen hat bereits in andere Projekte hineingewirkt», so Schwald. Ariane Andereggen, die bei «Money Piece I (Comedy)» auf der Bühne stehen wird, hat Surprise 409/17

parallel zu Schwalds Stück noch ein eigenes Projekt realisiert, bei dem Konstellationen mit anderen Athener Kunstschaffenden zustande kamen. Ausserdem haben Schwald und sein Team privat Freundschaften geschlossen. Man besucht sich im Sommer oder entwirft Pläne für künftige Projekte. Nischendenken aufbrechen Dieser Projektverlauf steht exemplarisch für die Vision, die Kurator Jurriaan Cooiman mit der Biennale verfolgt. Der Austausch, der noch lange über ein solches Festival hinaus nachwirken soll, bildet das Herzstück. Die Organisatoren streben eine Vernetzung mit den jeweiligen Ländern an, die in gegenseitiges Verständnis und in facettenreiche Projekte münden soll. «Wir möchten dem Publikum in der vertrauten Umgebung neue Inhalte zeigen und so das Nischendenken aufbrechen», sagt Cooiman. Das Programm soll dazu anregen, die eigenen Bilder und Vorstellungen über ein Land zu hinterfragen. Gastspiele sind dabei nur ein mögliches, noch nicht sehr verbindliches Format. Einen Schritt weiter gehen Co-Produktionen zwischen Kunstschaffenden aus der Schweiz und dem Gastland. Dabei beteiligt sich Culturescapes auch an der Finanzierung. Ein solches Projekt ist etwa die Kollaboration der Mädchenkantorei Basel mit dem Rosarte Children’s Choir aus Griechenland. In beiden Ländern haben die Chöre in Flüchtlingslagern Lieder und Melodien aus den Herkunftsländern der Migrantinnen und Migranten zusammengetragen und werden diese unter dem Titel «next generation» in Basel am 28. Oktober in der Theodorskirche 23


BILD(1–3): ZOE HATZIYANNAKI, BILD(4): AKRIVIADIS.GR

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Ariane Andereggen in Marcel Schwalds Produktion «Money Piece I (Comedy)». 2­­–3 Bei den Proben in Athen: «Money Piece I (Comedy)». 4 Der Athener Rosarte Children's Choir hat in Flüchtlingslagern Lieder der Menschen vor Ort zusammengetragen.

vortragen. Die jungen Musikerinnen Julia Bachmann und Hannah Bächtold haben in der Schweiz den Kontakt mit Flüchtlingen hergestellt. «Musik wird oft romantisiert als gemeinsame Sprache aller Menschen. Doch wir beide als geübte Sängerinnen mussten feststellen, dass die Musik, welche die Migranten uns gezeigt haben, ganz anders gesungen wird als das uns vertraute Repertoire», sagt Julia Bachmann. «Für mich war das eine ganz neue Stimm­erfahrung, und auch an die Rhythmen muss sich das Schweizer Ohr gewöhnen. Am meisten hat mich beeindruckt, mit wie viel Selbstverständlichkeit diese Menschen singen. In unserer Kultur ist man da viel gehemmter.» Hannah Bächtold ergänzt: «Sie haben uns sehr gut an ihre Musikkultur herangeführt. Für uns war es erst einmal ungewohnt, ein Stück ohne Noten zu lernen, für sie ist das eine Selbstverständlichkeit. Im Gegenzug haben wir ihnen ein Schweizer Volkslied beigebracht, was für sie wiederum eine neue Erfahrung war.» Austausch um jeden Preis Um Verbindungen auch über die Dauer des Festivals hinaus zu schaffen, fördert Culturescapes das Artist Invest­ ment: Ein Künstler aus dem Gastland kommt in die Schweiz und lernt das Land kennen. Darauf aufbauend ist schliesslich eine Umkehrung möglich. So begleiten griechische Kuratoren Ausstellungen im Kunsthaus Baselland oder in der Kunsthalle Basel, was dem Schweizer Publikum eine Aussensicht auf das eigene Land ermöglicht. «So schliesst sich der Kreis», sagt Kurator Jurriaan Cooiman. Nachhaltige Beispiele früherer Culturescapes-Projekte sind etwa der Film «Love. State. Kosovo» von 24

Beatrice Fleischlin, der während Culturescapes Balkan 2013 entstanden ist, oder die israelisch-schweizerische Co-Produktion «When you’re dead you’re done» der Basler Tänzerin und Choreografin Tabea Martin, entstanden während Culturescapes Israel 2011. Er sei jedes Mal aufs Neue bewegt von der Begeisterung, mit der Kulturschaffende in den Gastländern auf die gebotene Plattform reagierten, sagt Cooiman. Dieser Enthusiasmus führe ihm die Notwendigkeit und Dringlichkeit von Kunst, anders als in der Schweiz, ganz unmittelbar vor Augen: «Ich empfinde Culturescapes als eine Art umgekehrte Entwicklungshilfe.» Gleichzeitig sei er zutiefst dankbar für den hohen Stellenwert, den Kunst und Kultur in der Schweiz geniessen – was sich ja auch in der hohen Finanzierungsdichte äussere. Das spartenübergreifende Kulturfestival kennt bei der Wahl der Gastländer keine Berührungsängste – nicht um zu provozieren, sondern um dem eigenen Grundsatz des kulturellen Austausches treu zu bleiben. «Bei der Wahl der Gastländer haben wir immer die Programmhoheit. Wir finden, dass gerade auch die Zusammenarbeit und Begegnung mit Kunstschaffenden aus politisch umstrittenen Ländern wie China, Israel oder der Türkei wichtig ist. Ein solcher Austausch ist der Isolation eines Landes auf jeden Fall vorzuziehen. Man erfährt aus erster Quelle, was die Menschen dort beschäftigt.» Und so würde ­Cooiman auch zu einem Gastland Saudi-Arabien oder Nordkorea nicht Nein sagen. Culturescapes Griechenland 2017: 5. Oktober bis 3. Dezember 2017. Infos und Programm unter www.culturescapes.ch

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Kino Eine Frau stellt sich der Menopause, einer dem Jugendwahn verfallenen Gesellschaft und ihrer Jugendliebe.

Kino Wie wirken sich Schweizer Geschäfte am

Amazonas und in Sambia aus? Der Dok-Filmer Daniel Schweizer ging vor Ort.

Aurore, Mutter zweier erwachsener Töchter, ist geschieden, seit Kurzem arbeitslos, und die Nebenwirkungen der Wechseljahre haben sie fest im Griff. Während sie mit Hitzewallungen zu kämpfen hat, wächst der Babybauch von Tochter Marina. Aurore muss sich überlegen, ob sie fortan gerne «Mémé» genannt werden möchte, und als wäre das der emotionalen Überforderung noch nicht genug, trifft sie auch noch ihre Jugendliebe wieder: Totoche. Aus ihm ist ein Ultraschallspezialist in einer Klinik geworden. Wie praktisch: Aurore arrangiert für ihre schwangere Tochter einen Termin bei ihm. Und als Mutter muss sie natürlich mit. Über dem gewölbten Bauch treffen sich die Blicke von Aurore und Totoche, man redet lieber über Dating-Termine statt über die Fruchtwasserblase. Das Enkelkind auf dem Monitor im Hintergrund wird zur Nebensache. Vor dem Spital stellt die gekränkte Tochter ihre verknallte Mutter wütend zur Rede, bis man gemeinsam weint und lacht. Jede in ihrem eigenen hormonellen Ausnahmezustand. «Aurore» ist eine leichtfüssige Komödie, die sich des weiblichen Älterwerdens mit all seinen Begleiterscheinungen annimmt: mit viel Situationskomik und einigen grotesken Schauspielerinnen-Nummern. Und trotzdem, zum alten Eisen zu gehören ist ein sehr reales Leiden. Emotional, aber auch existenziell. Da geht nicht mal mehr die automatische Schiebetür für einen auf, so unsichtbar wird man in der Welt. Der Ernst der Lage wirkt hier zwar amüsant, vergessen geht er aber nicht. Da ist das Arbeitsamt und da sind abgefahrene Züge, da sind die Töchter und vergangene glückliche Tage, da ist die Leidenschaft, die plötzlich ins Leben zurückkehrt. Und da ist die Angst, jenseits der Fünfzig für die Gesellschaft unsichtbar zu werden. Ein Wechselbad der Gefühle, und Agnès Jaoui spielt die Aurore als Frau, die es schafft, grad knapp MONIK A BET TSCHEN nicht darin zu ertrinken.

Auf Kleideretiketten steht ja, woher die Ware stammt. Bangladesch. Indien. Burma. Ländernamen, die mit den dortigen Arbeitsbedingungen verknüpft sind. Dem Milliardengeschäft mit Rohstoffen wie Kupfer oder Eisenerz, das zu einem guten Teil über Firmensitze in der Schweiz abgewickelt wird, haften noch keine solche Bilder an. Dies könnte sich mit dem neuen Film von Daniel Schweizer ändern. «Trading Paradise» beschliesst seine Trilogie über das Verhältnis der gegenwärtigen Gesellschaft zu ihren Rohstoffen. Der Film zeigt, wie die enorme Nachfrage an Ressourcen zu Lasten der Bevölkerung in rohstoffreichen Ländern wie Peru, Brasilien oder Sambia geht. Deren Regierungen tun nichts dafür, ihre indigenen Völker zu schützen. Anhand zweier Konzerne leuchtet der Film diese Thematik aus: Glencore, weltgrösstes Rohstoffunternehmen mit Firmensitz im Kanton Zug, verzeichnet einen doppelt so hohen Umsatz wie Nestlé. Der Konzern Vale mit Niederlassung im Kanton Waadt zählt zu den drei grössten Bergbauunternehmen der Welt. Daniel Schweizer reist vor Ort zu den Bergwerken, um hinter die Fassade der klimatisierten Firmenzentralen zu blicken. Und dort mit den Menschen reden, die den Schadstoffemissionen der Rohstoffgewinnung ausgesetzt sind: Mit der Bäuerin im Süden Perus, die unterhalb des Klärbeckens der Kupfermine Antapaccay wohnt. Mit der Anwohnerin neben der Mopani-Mine im sambischen Mufulira. Oder mit Vertretern des Stammes der Xikrin im Amazonas Brasiliens, wo Vale die grösste Eisen­ erzförderung der Welt betreibt. Schweizers Zeugen berichten von giftiger Luft, kranken Menschen und Tieren und verschmutzen Flüssen, von unfruchtbarem oder enteignetem Land und von fehlenden Perspektiven. «Trading Paradise» ist engagierter Journalismus, der zeigt: Wenn Menschenrechte und Gewinnorientierung in den Waagschalen liegen, so wiegt letzteres meist schwerer. JOËLLE JOBIN

Blandine Lenoir: «Aurore», FR 2017, 89 Min., mit Agnès Jaoui, Thibault de Montalembert, Pascale Arbillot u.a. Der Film läuft zurzeit im Kino.

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FOTO: ZVG

Fragen wir die Bäuerin selbst

FOTO: ZVG

Hormoneller Ausnahmezustand

Daniel Schweizer: «Trading Paradise», CH 2016, 78 Min. Läuft zurzeit im Kino.

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BILD: PIERRE NYDEGGER (1), BILD: RICO SCAGLIOLA & MICHAEL MEIER (1)

Basel «Performance Process – 60 Jahre Performancekunst in der Schweiz», 20. September bis 28. Januar 2018, Museum Tinguely; 26. September bis 1. Oktober, Kaserne Basel; 19. Januar bis 18. Februar 2018, Kunsthalle Basel. www.performanceprocessbasel.ch www.kaserne-basel.ch

Das Museum Tinguely, die Kaserne Basel und die Kunsthalle Basel feiern in einer Kooperation mit dem Pariser Centre culturel suisse die Vielfalt der Schweizer Performancekunst von 1960 bis in die Gegenwart. Und die reicht von alternden Supermännern über Club-Performance mit elektronischer Musik bis hin zum Tanz-Spaziergang entlang der Basler Stadtgrenze. Es geht um Zeit, Raum und Körperwahrnehmung. Einmal provokativ, ein andermal geheimnisvoll. Und dass sich das alles ein bisschen vage anhört, ist genau die Qualität der Performance: Sie schafft es, die Spielregeln der Kunst immer noch ständig zu erneuern. DIF

Davos «Jetzt soll ich wieder am Theater malen» – Ernst Ludwig Kirchner und das alpine Theaterschaffen, bis 29. Oktober, Kirchner Museum Davos. www.kirchnermuseum.ch Was viele wissen: Ernst Ludwig Kirchner war ein expressionistischer Maler, dessen Werke von den Nazis als entartet eingestuft wurden. Was wir nicht wussten: Dass er in der Schweiz Bühnenbilder malte. Und zwar nicht etwa am Zürcher Schauspielhaus, das Schauspielern aus Nazi-Deutschland zur neuen Heimat wurde. Sondern vor allem für das Laientheater des gemischten Chors in Frauenkirch, fünf Mal im Ganzen. Das muss man sich mal vorstellen: Da geht man in den Dreissigerjahren in den Gasthof «Zum Sand» im Sertigtal und schaut sich an, wie sich die schauspielernden Nachbarn aus dem Dorf durch ihren Text hangeln – in einem Kirchner-Bühnenbild. Der Maler inte­ grierte sich offenbar eh auf vorbildliche Weise. Mit der jungen Tänzerin Nina Hard arrangierte er in der Zürcher Heilstätte Clavadel einen Tanzabend, und 1937 schuf er eine Bühnenmalerei für eine Theateraufführung für Kinder in der Schule Davos Sertig. DIF St. Gallen Rico Scagliola & Michael Meier: «Together», bis 29. Oktober, Di bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Sa und So 11 bis 17 Uhr, Kunsthalle St. Gallen, Davidstrasse 40, St. Gallen. www.kunsthallesanktgallen.ch

Rico Scagiola und Michael Meier haben die letzten Jahre damit zugebracht, Menschen jeglichen Milieus und Alters und unterschiedlicher Herkunft unbemerkt im öffentlichen, halböffentlichen und im privatisierten urbanen Raum zu fotografieren. In verschiedenen Städten – darunter Zürich, Paris, New York und Beirut – wählten sie Orte aus, an denen das allgemein sichtbare Zusammenleben einer Gesellschaft stattfindet. Hier gehen die Leute ihren Alltagshandlungen nach, hier werden ihr Selbst und ihre Verhaltensformen visuell besonders deutlich, und zwar ausser­h alb ihrer Privatsphäre. Nämlich auf Strassen und Plätzen, in Cafés, Bahnhöfen und Einkaufszentren. Eine gegenwartsnahe Bestandsaufnahme des allgemein sichtbaren, alltäglichen Zusammenlebens verschiedener Gesellschaftsschichten. DIF

Thurgau «Stets zu Diensten – Zum Alltag der Dienstboten», Dauerausstellung, Schloss Oberhofen, noch bis So, 22. Oktober, Di bis So, jeweils 11 bis 17 Uhr. Ohne Dienstboten wäre das feudale Leben des Adels nicht denkbar gewesen. Auch wenn all die Dienstmädchen, Kammerdiener, Gouvernanten, Köchinnen, Kutscher und

Gärtner kaum je in die Geschichte eingingen, gehörten sie zum Lebensstandard der Herrschaften. Diesen Personen einen Namen, eine Biografie und eine Stimme zu geben, ist der Grundgedanke der neuen Dauerausstellung im Schloss Oberhofen, gelegen am Nordufer des Thunersees, rund 20 Bus- und knapp 30 Schiffsminuten von Thun. Schlafkammern im einstigen Dienstbotentrakt des Schlosses wurden restauriert und erstmals überhaupt öffentlich zugänglich gemacht. So offenbaren sich Geschichten, die der Dienstbotenalltag einst schrieb. Der Blick in diese unbekannte Welt wird durch allgemeine Informationen zur Situation der Hausangestellten um 1900 erweitert und in einen grösseren Kontext gestellt. AMI

Zürich Interkulturelle Stadt­ wanderung, So, 1. Oktober, 14.30 Uhr. Treffpunkt: Tram-station Bahnhof Enge. Nur bei trockenem Wetter. Infos: 044 415 65 89, Teilnahme gratis. Grosses beginnt mit einem kleinen Schritt. Das ist bei der Integration nicht anders. Wieso also nicht gemeinsam spazieren? Immerhin ist das eine Tätigkeit, der mensch wohl so ziemlich überall auf der Erde nachgeht. Bei uns natürlich organisiert und moderiert von der Asyl­ organisation Zürich: Ausländerinnen und Schweizer spazieren einen Nachmittag durch die Stadt und sprechen über alltägliche Dinge, die sie unterwegs antreffen. Und vielleicht schon auf dem Nachhauseweg wird man denken, dass Grosses ganz von alleine geschieht. AMI

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Wörter von Pörtner

Kompost Der Bergsturz von Bondo hat es eindrücklich vor Augen geführt, unser Lebenswandel hat Konsequenzen für die Umwelt. Dass wir den CO2-Ausstoss reduzieren müssen, ist unbestritten. Ein möglicher Beitrag dazu ist, statt mit Öl mit Gas zu heizen. Da Gas importiert werden muss, ist das jedoch keine befriedigende Lösung. Allerdings können wir hierzulande selber Gas her­stellen. In Zürich gibt es seit ein paar Jahren ein praktisches System, bei dem organische Abfälle gesammelt und in Biogas umgewandelt werden. Diese werden in einer grünen Tonne gesammelt, die einmal die Woche geleert wird. Abbaubare Beutel für Küchenabfälle gibt es beim Grossverteiler, die Tonne schluckt auch Gartenabfälle. Eine prima Sache, die jedoch nur von wenigen Leuten genutzt werden kann. Der Grund dafür ist die Gebühr für so einen Container. Sie beträgt 180 Franken pro Jahr. Die grossen Immo­ bilienfirmen, zum Teil im Besitz von Grossbanken und Ver­ sicherungskonzernen, weigern sich, die Tonnen anzuschaffen, weil es ihnen zu aufwendig ist, die Gebühr auf die Mieter abzuwälzen. Aufgrund dieser Logik werden tausende Tonnen wertvollen Abfalls verschwendet. Wer in Zürich Wohnungen vermietet, macht ein hervor­ragendes Geschäft, die Mieten und mit ihnen die Profite erreichen laufend neue Höchstwerte. Die betroffenen Unternehmen hätten also die Gelegenheit, einen Beitrag zur Senkung des CO²-Ausstosses zu leisten, wenn sie die Kosten für die Tonnen nicht etwa abwälzen, sondern einfach übernehmen würden. Man könnte denken, dass zumindest Banken und Versicherungen bei ihrem Liegenschaftsportfolio bereit wären, diesen Minimalstbetrag für die Zukunft Surprise 409/17

aufzuwenden und gleichzeitig ihren Mietern das Leben zu erleichtern. Doch ein Renditeverzicht selbst im äussersten Promillebereich liegt nicht drin, nicht für die Umwelt, nicht für die Mieterinnen, nicht für die Zukunft. Das gesparte Geld fliesst stattdessen in Hochglanzbroschüren zum Thema Corporate Social Responsibility, in denen sie mit ihrem Verantwortungsbewusstsein hausieren gehen und von einer Zukunft schwa­ dronieren, die ihnen ach so sehr am Herzen liege, illustriert mit Bildern lachender Kinder. Konkret jedoch zählt nur der Profit. Statt weniger vom Ausland abhängig zu werden, wenn auch nur in kleinen Schritten, wird in Pipelines investiert. Wirtschaftsvertreter behaupten gerne, Unternehmen seien von sich aus nachhaltig und weitsichtig und hätten ein soziales Bewusstsein. Gesetze, die sie zu verantwortungsvollem Verhalten zwingen, würden da nur stören. Freiwilligkeit reiche vollkommen. Denken Sie das nächste Mal, wenn Sie so etwas hören, an einen gut gefüllten Kompostkübel, mit einem Satz aus schwarztropfenden Fencheltrümmern und zermanschten Tomatenleichen, gedeckt von einer schimmligen Teigwarenmasse, auf der sich Pizzareste und ölgetränkte Papiertücher ausbreiten, gesprenkelt mit Fleischresten, die bereits zu neuem Leben erwacht sind, denn Konsistenz und Geruch dieser Masse stellen den Inhalt solcher Aussagen sehr präzis dar. Leider können Letztere nicht in Biogas umgewandelt werden.

STEPHAN PÖRTNER kompostiert leidenschaftlich Compliance- und Nachhaltigkeitsberichte.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

bewegstatt.ch, Janine Holenstein, Frauenfeld

02

Naef Landschaftsarchitekten GMBH, Brugg

03

Yogazeitraum, Wädenswil

04

Echtzeit Verlag, Basel

05

Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

06

Iten Immobilien AG, Zug

07

AnyWeb AG, Zürich

08

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

09

Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

10

Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

11

Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

12

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau, Nidau

13

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

14

Hervorragend AG, Bern

15

Lisa Stettler Körpertherapie, Bäch

16

Coop Genossenschaft, Basel

17

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

18

Maya-Recordings, Oberstammheim

19

Scherrer & Partner, Basel

20

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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ChemOil Logistics AG, Basel

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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

23

Institut und Praxis Colibri, Murten

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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Wir alle sind Surprise BILD: ZVG

Für unsere jährliche Schalaktion haben die Teilnehmerinnen mehr als 100 Schals gestrickt, gewebt und genäht. Zum Siegerschal kürten unsere Spieler schliesslich das Werk von Frau Dall’O aus Oberweningen. Den Ausschlag gaben die liebevoll selbstgestickten Motive: Fussbälle, Schweizerkreuze und sogar ein Fussballschuh. Neben diesem reisten noch viele weitere Schals mit der Surprise Nati zum Homeless World Cup nach Oslo und wurden vor und nach den Spielen an die gegnerischen Mannschaften, Coachs und Schiedsrichterinnen verschenkt. Vielen Dank, liebe Strickerinnen!

Efrem, Michael und Abdul von der Surprise Nati überreichen dem Captain der Mannschaft aus Simbabwe den Siegerschal.

L AVINIA BESUCHET, Projektleiterin Strassenfussball

Ausgabe 406

Sozialer Stadtrundgang

Tadschikistan

«Viel Grips»

Diese Geschichte ist der Hammer!

Ganz herzlichen Dank für die wunderbare Stadtführung, die uns Heiko Schmitz erleben liess. Er hat das mit so viel Grips, Humor und Herz gemacht. Wir wollten ihn fast nicht mehr ziehen lassen.

Ich suche im neuen Surprise-Magazin immer zuerst die Seite von Khusraw Mostafanejad. Seine Menschenporträts sind hervorragend, die Flucht-Lebensgeschichten so wahr, der politische Kommentar schreibt sich mit. Hoffentlich setzt er die Serie fort.

J. OBERLI, Thun

J. WÜTHRICH, Seltisberg

B. STR ÄULI, Zürich

Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel

Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Chi Lui Wong, Christopher Zimmer

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99
 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo

Mitarbeitende dieser Ausgabe Flurin Bertschinger, Monika Bettschen, Annette Boutellier, Stephanie Elmer, Ruben Hollinger, Joëlle Jobin, Isabel Mosimann, Simon Muster, Bea Weinmann

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
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 Ständige Mitarbeit
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Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Leserbrief

«So wahr»

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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FOTO: RUBEN HOLLINGER

Surprise-Porträt

«Ich bin von Herzen dankbar» «Vor gut acht Jahren habe ich mich mit meinen fünf Kindern auf die Reise in die Schweiz gemacht. Schliesslich sind wir genau am 9.9.2009 bei meinem damaligen Ehemann in Bern angekommen. Er war zwei Jahre zuvor aus unserem Heimatland Eritrea geflüchtet und in der Schweiz als Flüchtling aufgenom­men worden. Nachdem er die Aufenthaltsbewilligung B erhalten hatte, durfte ich mit unseren zwei Töchtern und drei Söhnen nachreisen. Ein Jahr nach meiner Ankunft kam in Bern der jüngste Sohn zur Welt – er sagt deshalb immer, er sei der einzige Schweizer in der Familie. Das stimmt natürlich nicht, denn von uns allen hat noch niemand den Schweizer Pass. Dafür sprechen die Kinder untereinander fast immer Berndeutsch und essen wie ihre Freunde viel lieber Spaghetti und Pizza als traditionelles eritreisches Essen wie zum Beispiel Injera. In den acht Jahren seit meiner Ankunft ist einiges passiert. Ich bin mittlerweile geschieden und lebe mit fünf meiner sechs Kinder in einem Dorf in der Nähe von Bern. Die älteste Tochter – ich habe sie schon mit fünfzehn bekommen – ist bereits ausgezogen, sie ist verheiratet und hat selbst zwei Kinder. Der älteste Sohn, der übrigens an seinem zehnten Geburtstag in die Schweiz gekommen ist und am 9. September somit seinen 18. Geburtstag gefeiert hat, ist im zweiten Lehrjahr zum Spengler. Der zweitälteste Sohn absolviert ein Berufswahljahr. Die jüngeren drei Kinder gehen noch zur Schule, der Kleinste kam im August in die erste Klasse. Wenn alle Kinder versorgt sind und der Haushalt gemacht ist, komme ich an die Reihe: Am Dienstagund Mittwochvormittag besuche ich an der Volkshochschule einen Deutschkurs, um meine Chancen auf eine Arbeitsstelle zu erhöhen. Mittlerweile bin ich auf Niveau B1. Ich habe schon verschiedene Kurse, Schnupperwochen sowie ein halbjähriges Praktikum in einer Altersheimküche absolviert, doch mit einer festen Arbeitsstelle hat es bisher nicht geklappt. In meiner momentanen Familiensituation könnte ich eine 50-Prozent-Stelle annehmen, als Küchenhilfe oder in der Reinigung habe ich schon Erfahrung. Verbessere ich weiter mein Deutsch, ist vielleicht sogar der Einstieg in die Pflege möglich, was mir auch gefallen würde. Donnerstag, Freitag und Samstag verkaufe ich jeweils am Vormittag Surprise bei der Migros im Kalchackermärit in Bremgarten. Der Anfang vor vier Jahren war etwas schwierig, weil ich noch niemanden kannte und 30

Senait Arefaine, 35, aus Eritrea managt ihre Familie und den Haushalt, verkauft Surprise, verbessert ihre Deutschkenntnisse – und manchmal bleibt sogar noch ein wenig Zeit für sie selbst.

schüchtern war, aber inzwischen kenne ich eine Menge Leute. Die Menschen in Bremgarten sind sehr nett, immer wieder bleibt jemand stehen, und wir unterhalten uns. Leute, die mich besser kennen, erkundigen sich, wie es den Kindern geht, oder fragen, ob sie mir irgendwie helfen können. Einer Frau, die früher Lehrerin war, habe ich gesagt, dass ich Hilfe beim Deutschlernen brauchen könnte – jetzt gehe ich jeden Montag eine Stunde zu ihr in den Unterricht. Eine andere Frau hat mich einmal zuhause besucht, da habe ich für sie unsere traditionelle Kaffeezeremonie gemacht. Diese Kontakte und die Unterstützung sind für mich sehr, sehr wertvoll, und ich bin von Herzen dankbar dafür. Da die jüngsten zwei Buben noch nicht alleine hingehen können, begleite ich sie dreimal pro Woche nachmittags zum Fussballtraining, dazu kommen noch die Fussballmatches am Samstag und Sonntag. Freizeit bleibt für mich kaum. Ich hätte vor allem gerne mehr Zeit, um in Ruhe Deutsch zu lernen. Da ich auf meinem Handy aber verschiedene Apps zum Deutschlernen installiert habe, kann ich jeweils auch im Zug oder Bus ein wenig üben. Habe ich trotzdem ein paar Stunden frei, fahre ich sehr gerne Velo und gehe im Sommer ins Schwimmbad.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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