Strassenmagazin Nr. 410 6. Okt. bis 19. Okt. 2017
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Pfarrer Sieber
Der Hirte
Ein Zwiegespräch mit Gott über den bekanntesten Pfarrer der Schweiz Seite 8
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GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO
Auch vielseitig engagiert für die Zukunft. Mit weniger CO2 kochen, heizen und fahren.
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TITELBILD: JOSEPH KHAKSHOURI
Editorial
Oh, Gott! Wir hatten eine kurze gemeinsame Zeit, der liebe Gott und ich. Aufwachsend mit zwei Religionen – dem Islam meines Vaters und dem Christentum der Zürcher Mehrheits gesellschaft –, wurde ich früh skeptisch. Zwei Wertesysteme, die viel Gemeinsames ha ben, sich aber auch widersprechen. Und doch implizit jeweils die absolute Wahrheit in Sachen Seelenheil für sich beanspru chen. Schon in der Primarschule beschloss ich, dass da etwas nicht stimmen konnte. Das Resultat ist mein fester Zweifel an der Existenz eines Gottes, sowie die Erkenntnis: Ich werde nie abschliessend herausfinden, ob es ihn gibt – und kann mich daher ge nauso gut anderem zuwenden. Mein rationaler Ansatz ist dem Glauben möglicherweise nicht angemessen. Glauben ist nicht Wissen, die Frage nach dem Be weis nicht zielführend. Doch der rationale Umgang mit Religion dominiert dieser Zeit. Die abstossenden Gräuel radikaler Islamisten, konfessionell motivierte Gewalt
4 Aufgelesen 5 Vor Gericht
Hirnverbrannter Chabis? 6 Moumouni...
... auf dem Mond 7 Die Sozialzahl
«Quick wins» in der IV
8 Pfarrer Sieber
«Ein Original, aber nicht der Einzige»
und diffuse, nach Bedarf zurechtgebogene christliche Werte: Religion macht Schlagzei len, weil sie instrumentalisiert wird von jenen, die ihre Überforderung mit der Viel falt menschlichen Lebens auf ein solides Fundament zu stellen versuchen. Eine regelrechte Offenbarung war da die Recherche unseres Reporters Beat Camenzind zum Lebenswerk von Pfarrer Ernst Sieber, der sich – wie viele seiner Mitstreiterinnen – in seiner Arbeit für die Versehrten und gegen Ausgrenzung vom Glauben angetrieben fühlt (Seite 8). Es ist egal, ob es Gott gibt oder nicht. So lange die Menschen sich in ihrem Handeln auf ihn beziehen, müssen wir uns mit ihm befassen. Im Guten wie im Schlechten.
Eine erhellende Lektüre wünscht, AMIR ALI Redaktor
20 Flitzer
Der Underdog als Held
Enzyklopädie der abstrusen Sportarten 27 Veranstaltungen
12 Fotografie
Henkersmahlzeiten machen Menschen
28 Surplus
24 Buch
Die Psychiatrie in den Krimi gepackt 26 Randnotiz
Auf der Achterbahn des Alterns
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26 Buchtipp
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Verkäuferporträt
«Mir tut jeder kleine Schwatz gut»
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Aufgelesen
News aus den 115 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
FOTO: ANDRÉS CUENCA ALDECOA
Vom Gebet zur Arbeit «Buenos Aires ist wie ein ganzer Kontinent an einem Ort», sagt Fotograf Andrés Cuenca Aldecoa. «Menschen aus der ganzen Welt haben sich diese Ecke Lateinamerikas ausge sucht, um hier zu leben.» Unter den afrika nischen Einwanderern sei die senegalesische Community am grössten. «Es kursieren viele Gerüchte über diese Immigranten, aber kaum einer hat mal genauer nachgeforscht», so Aldecoa. «Ich wollte mehr wissen über ihr Leben, ihren Alltag, und eine noch unbe kannte Realität zeigen: das Leben von Menschen, die nur das Beste für ihre Fami lien wollen und ihr Dasein Allah widmen.»
FACTOR S, URUGUAY
Drei Wünsche auf einmal Kreiere ein Produkt, das einen echten Nutzen für die Gesellschaft hat, lautete eine Aufgabe im Design-Studium von Veronika Scott. Tagtäglich war Scott mit Obdachlosen konfrontiert, von denen in ihrer Stadt Detroit rund 16 000 leben. Ihnen wollte Scott etwas Gutes tun und erfand einen Mantel, der sich zum Schlafsack umfunktionieren lässt: der «EMPWR coat». Die Abkürzung steht für «empower» – ermächtigen, und ist Programm. Die Näherinnen der Mäntel sind selbst Betroffene, denen durch die Anstellung bei der 2011 gegründeten NGO Empowerment Plan sowohl die Rückkehr in eine eigene Wohnung als auch der Einstieg in einen anderen Job erleichtert wird. In den letzten sechs Jahren kamen so 39 ehemalige Obdachlose zu einem Job, und es konnten 20 000 EMPWR-Mäntel her gestellt werden.
DENVER VOICE, DENVER
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Schleichende Integration
Von Anfang 2014 bis September 2016 haben in Deutschland 1,25 Millionen Menschen einen Asylan trag gestellt. Die Integration aller dings geht zögerlich voran: Derzeit besuchen 425 000 Geflüchtete in Sprach- und Integrationskursen, nur 30 000 konnten bis Ende 2016 in den Arbeitsmarkt i ntegriert werden. Die 30 grössten börsennotierten Unternehmen Deutschlands haben bisher insgesamt gerade einmal 54 Geflüchtete eingestellt.
Vor Gericht
Eigentor ASPHALT, HANNOVER
Ärgernis Airbnb
Der Deutsche Mieterbund ist gegen die Umwandlung von Mietwoh nungen in Airbnb-Unterkünfte. Die Zweckentfremdung sei «ein grosses Ärgernis». Vor allem die Gross städte müssten strenger gegen professionelle Airbnb-Anbieter vor gehen. Umstritten sind vor allem Anbieter, die ihre Wohnungen nicht als Ferienwohnungen angemeldet haben. Diese Wohnungen würden dem Wohnungsmarkt entzogen.
HEMPELS, KIEL
Wende angesagt
In seinem neuen Buch «The New Urban Crisis» warnt Ökonom Richard Florida vor einer «Vernichtung der Mittelklasse». Dagegen helfe «nachhaltige Urbanisierung», also bezahlbaren Wohnraum für alle. Die US-Regierung gibt 46 Milliarden Dollar für soziales Wohnen aus, gegenüber 200 Milliarden an Unterstützung für Eigenheime. Auch sei der Ausbau des ÖV wichtig, da er Ärmeren Zugang zu besseren Jobs verschaffe.
STREETWISE, CHICAGO
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Mauro P.* ist ein Habitué am Bezirksgericht. Seit gut einem Vierteljahrhundert kehrt er regelmässig auf einen Besuch zurück. Doch diesmal sei er unverschuldet hier, versichert er, und «wie auch immer das Urteil ausfällt, bezahlen werde ich keinen Rappen». Sowieso sei er kein krimineller Mensch, seine Delikte seien Peanuts im Vergleich zu den Abzockern bei den Banken. Aber es sei halt so, bricht es aus ihm heraus: «Wenn einer im Raum einen Furz ablässt, dann zeigen alle auf mich.» Mauros Zappeligkeit, die hohlen Wangen und sein lückenhaftes Gebiss weisen auf eine längere Drogenlaufbahn hin. Parallel dazu durchlief er eine Karriere bei der Justiz: mehrfacher Diebstahl, Einbruch, Raub, Drogenbesitz und -handel, Fahren ohne Fahrausweis, dafür unter Drogenund Alkoholeinfluss. Und jetzt hat es ihm, ausgerechnet an seinem 45. Geburtstag, einen Strafbefehl «ins Haus geschneit». 50 Tagessätze à 30 Stutz, «ein schönes Geschenk», das er aber nicht anzunehmen gedenke, weswegen es nun zur Gerichtsverhandlung kommt. Er sei im Zug nach Zürich eingeschlafen, als einer «wie gestört» an ihm rumgerüttelt habe. Der Kondukteur habe ihn einfach geduzt, worauf er ihn fragte: «Händ mir scho mal zäme Söi ghüetet?» Da sei der Typ ausgerastet und Mauro habe sich dann halt auch nicht mehr zurückgehalten: «So öppis wie Sie sett mä ... », habe er gedroht. «Was man sollte, habe ich aber nicht ausgesprochen.» Es stimme zwar, dass er kein Billet gehabt habe, aber nur weil der Automat keine
oten annimmt, er keine Kreditkarte habe N und keiner ihm mit Münz aushalf. Also im Grunde könne er nichts dafür, dass er schwarzfahren musste, aber das wollte der Kondukteur nicht einsehen. Dieser fand die Situation mittlerweile bedrohlich und erstattete Anzeige. Zumal gemäss seinen Aussagen später auf dem Perron am Hauptbahnhof der Schwarzfahrer ihn an den Rücken gespuckt hatte. Das sei, ereifert sich nun Mauro, «hirnverbrannter Chabis». Da müsste das Gericht sich doch fragen, ob der Herr seine Augen eigentlich am Hinterkopf habe, wenn er so etwas gesehen haben wollte. Mauro, der bald sein Methadonprogramm abschliessen kann, hat seit einem halben Jahr einen Job in seinem gelernten Beruf als Gärtner, wohnt in einer betreuten WG und hat gegen 120 000 Franken Schulden. Der Richter weist ihn vor der Urteilsberatung noch einmal auf die Kostenfolgen hin, sollte es zu einem Schuldspruch kommen. Doch Mauro bleibt dabei, dass er diesmal unschuldig sei. Zahlen könne er sowieso nicht. «Da gehe ich lieber grad in die Chischte und lerne dort, wie man richtig kriminell wird», antwortet er patzig. Der Richter jedoch schenkt den Aussagen des Zugchefs Glauben und spricht Mauro wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte schuldig, bei einer Geldstrafe von 1500 Franken unbedingt, dazu kommen noch rund 1000 Franken Gerichtsgebühren und die Busse. «Sie können Antrag auf Umwandlung in Haft stellen», erklärt der Richter. Zum Abschied wünscht er Mauro alles Gute und hofft, ohne grosse Zuversicht, ihn nicht wieder zu sehen. * persönliche Angaben geändert YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.
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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
in Wirklichkeit geht es gar nicht ums Geschichtenerzählen, sondern darum, die Person mit der krassesten Reiseerfahrung in der Runde zu sein. Beim Himalaja angelangt, kann niemand mehr von der Eiger-Nordwand erzählen, ausser dort ist irgendwas passiert, was wirklich viel krasser ist als alles, was im Himalajagebirge je passiert sein kann. Niemand bezieht sich mehr auf das vorher Gesagte, alle warten nur auf Stichwörter, um auf ihre eigene Geschichte überleiten zu können. Das klingt dann so:
Moumouni...
... auf dem Mond Nachdem die Hauptreisesaison nun vorbei ist, gewöhnen wir uns langsam wieder daran, dass man sich das Wetter im richtigen Leben nicht aussuchen kann. Bevor der Winter anfängt, möchte ich mich allerdings noch einmal kurz an den Urlaub erinnern. Mir sind Gespräche über Reisen manchmal unangenehm. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie Leute, die ich kenne, sich irgendwo im Ausland danebenbenehmen. Am schlimmsten sind die Backpacker: Die erkennt man daran, dass sie mit anderen darum wetteifern, wer sich weniger oft gewaschen hat und für weniger Geld unterwegs war. Stolz werden Fotos von Unterkünften gezeigt, die «nur 5 Franken» gekostet haben, aber aussehen, als hätte man für den Aufenthalt eher Geld 6
verlangen sollen. Dann gibt es die Partytouris. Die erinnern sich oft gar nicht mehr richtig an ihren Urlaub – ein Glück: weniger Geschichten über Kotzereien auf Ibiza. Und es gibt jene, die Tausende von Kilometern fliegen und nichts von der Kultur des jeweiligen Landes sehen ausser dem, was extra auf sie als west liche Touristen zugeschnitten wurde, wie Kamelreiten am Strand oder Fototermine mit «echten» Massai. Und hinterher behaupten sie, in Namibia, Marokko oder Sri Lanka gewesen zu sein! Aber gut. Was soll man machen, wenn man sich eigentlich für besseres Wetter interessiert, aber zu viel Geld hat, um einfach nur ins Solarium zu gehen. Das nervt sicher auch die Einheimischen. Ich glaube ja, die Geschichten von der unglaublichen Gastfreundlichkeit überall im Ausland sind von der Tourismusindustrie erfunden worden. Der andere Grund, warum ich Gespräche über vergangene Reisen schlimm finde ist, weil sie, vor allem in Gruppen, häufig lächerlich aus dem Ruder laufen. Denn
«Ich war ja letztens in Südamerika, das war voll krass!» «Südamerika? Ah, mir gefällt Südafrika ziemlich gut, ich hab’ da einen Freund, den hab’ ich übers Couchsurfen kennengelernt!» «Woah jah, Couchsurfen ist richtig geil, ich war mal bei ’nem DJ in Tel Aviv.» «Israel, da kann man gut Party machen, Goa letztes Jahr, da war’n mir zu viele Junkies!» «Ich war vor zwei Jahren in Afghanistan, die rauchen da einfach Opium auf der Strasse – ich meine O-PI-UM! Hier bei uns wird man schon für ein bisschen Gras verfolgt!» «Pah, das ist gar nichts, in Nordkorea bin ich letzten Sommer wegen Zigaretten von Soldaten mitgenommen worden.» «Hah, das ist mir auch schon passiert – in Venezuela, das Paramilitär wollte mich in den Dschungel verschleppen, ich hatte zum Glück ’nen Zwanziger, das war für die ein halber Monatslohn.» «Wusstet ihr, dass es einen recht nicen Strand in Guantanamo gibt?» Ich unterbreche und erzähle, wie es auf dem Mond so war. Jemand sagt, die Eiger-Nordwand sei steiler als jedes Mondgebirge. Und zeigt Fotos auf einem Smartphone. Ich warte auf das obligatorische, durch ein Flugzeugfenster geschossene Foto vom Flügel eines Flugzeugs. Das bedeutet, die Diashow ist zu Ende.
FATIMA MOUMOUNI macht gerne Fotos von Leuten, die Selfies mit dem Sonnenuntergang, dem Meer und dem Eiffelturm machen. Polonaise tanzt sie nur zuhause.
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Die Sozialzahl
Die IV unter Stress Als Ende der Neunzigerjahre die schwerste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit überwunden war, schrieb die Invaliden versicherung tiefrote Zahlen. Zugleich war die Zahl der Rentenbezügerinnen und -bezüger deutlich angestiegen. Was war passiert?
INFOGRAFIK: BODARA, QUELLE: BUNDESAMT FÜR SOZIALVERSICHERUNGEN (2017): IV-STATISTIK 2016. TABELLENTEIL. BERN
Die IV wurde von der Wirtschaft als Notausgang benutzt. Die Unternehmen vermieden so imageschädigende Entlassungen von Mitarbeitenden, die jahrelang für den Betrieb gearbeitet hatten. Die Politik reagierte auf die finanzielle Schieflage mit einer Kaskade an Revisionen und baute die Invalidenversicherung von der Rentenanstalt zur Integrationsagentur um. Im Zentrum der Revisionen standen Massnahmen, mit denen man eine drohende Invalidität möglichst früh erkennen und den Verlust der Erwerbsfähigkeit und des Arbeitsplatzes vermeiden wollte. Schattenseite dieser Neuorientierung waren Leistungskürzungen, die nur mit wenigen Verbesserungen ergänzt wurden, etwa den sogenannten Assistenzbeiträgen. Im Zweifelsfall entschieden die zuständigen Instanzen bei der Prüfung von Rentenanträgen immer öfter gegen die Betroffenen. In der Folge sank die Zahl der Rentenbeziehenden von Jahr zu Jahr, auch der Anteil der Rentenbeziehenden an der IV-versicherten Bevölkerung nahm ab.
nicht nachhaltig sind. Zumindest bei IV-Rentnerinnen und -Rentnern, denen man nach längerem Bezug wieder eine Teilerwerbsfähigkeit attestierte, sind die Erfolgsmeldungen bei der Arbeitsmarktintegration nämlich äusserst bescheidener Natur. Auch bei Menschen mit psychischen Erkrankungen hat sich wenig geändert. Auffällig viele junge Erwachsene sind in dieser Kategorie zu finden. Sie stehen denn auch im Zentrum der nächsten Revision, die bald im Parlament behandelt wird. Diskutiert wird die Forderung, ihnen bis zum 30. Lebensjahr gar keine Renten mehr zuzusprechen, sondern die Bemühungen um eine berufliche Integration zu verstärken. Weil die Bilanz bei der Arbeitsmarktintegration also zu wünschen übrig lässt, führen viele den vordergründigen Erfolg der IV vor allem auch auf eine verschärfte Anerkennungspraxis zurück. Rentenanträge, die früher ohne Weiteres gutgeheissen wurden, werden heute offenbar abgelehnt. Es fällt auf, dass parallel zur Neuausrichtung der Invalidenversicherung die Klagen aus der Sozialhilfe über eine steigende Zahl von gesundheitlich beeinträchtigten Hilfesuchenden gestiegen sind. Vor allem ältere Menschen, die von der Sozialhilfe unterstützt werden, leiden unter physischen und psychischen Beeinträchtigungen. Der körperliche Verschleiss und der wachsende Stress am Arbeitsplatz haben zum Jobverlust beigetragen und in die Armut geführt. Die aktuelle Situation hat unlängst Martin Waser, ehemaliger Stadtrat von Zürich, auf den Punkt gebracht: «Viele Personen in der Sozialhilfe sind zu wenig leistungsfähig für den Arbeitsmarkt, aber zu wenig krank für die IV.»
Heute ist keine Abnahme der IV-Renten mehr zu beobachten. Seit einigen Jahren steigt die Zahl der neu gesprochenen Renten wieder langsam an. Umstritten ist nach wie vor, worauf die vorübergehende Abnahme zwischen 2008 und 2013 zurückzuführen ist. Gerne würde man der Erklärung der IV Glauben schenken und dies den Bemühungen zum Erhalt und zur Förderung der Arbeitsintegration zuschreiben. Die sich abzeichnende Trendwende lässt aber vermuten, dass es sich lediglich um «quick wins» handelte, schnelle Erfolge also, die jedoch
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Neubezügerinnen und –bezüger von IV-Renten in der Schweiz nach Gebrechensart (Dezember 2007 bis Dezember 2016) 18 000
17 044
16 903 15 628
16 000
15 136
15 426
14 518
14 000
13 626
13 646
2013
2014
13 990
14 139
2015
2016
12 000 10 000 8000 6000 4000 2000 0
2007
2008
Psychische Krankheiten
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2009
Nervensystem
2010
2011
Knochen und Bewegungsorgane
2012
Weitere Gründe (Geburtsgebrechen, Unfall, andere Krankheiten)
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«Die Liebe zu den Ärmsten startet eine Revolution» Pfarrer Sieber Er hat unseren Umgang mit den Schwächsten geprägt, geschickt aber wurde Pfarrer Ernst Sieber von keinem Geringeren als Gott. Ein Zwiegespräch über einen schrägen Vogel und sein Lebenswerk. TEXT BEAT CAMENZIND FOTOS JOSEPH KHAKSHOURI
Ein konstruktiver Querschläger mit dem nötigen Glauben: Pfarrer Ernst Sieber in seinem Atelier in Unteriberg SZ.
Gibt es Gott? Wenn man die Surprise-Redaktion fragt, lautet die Antwort: Nein. Oder zumindest: Kaum. Fragt man andere Menschen, klingt es anders. Die Recherche über das Lebenswerk von Pfarrer Ernst Sieber, der Ende Februar 90 Jahre alt wurde, bestand in mehrstündigen Gesprächen mit drei Menschen, für die Gott existiert. Alle Aussagen in diesem Interview stammen von folgenden Personen: Christoph Zingg, Gesamtleiter der Sozialwerke Pfarrer Sieber; Christian Sieber, zehn Jahre lang Mitarbeiter der Sozialwerke Pfarrer Sieber und heute Berater bei der Surprise-Regionalstelle Zürich; und Pfarrer Ernst Sieber selbst. 8
In diesen Gesprächen wurde klar, dass deren Arbeit für sozial benachteiligte Menschen durch ihren Glauben an Gott motiviert ist. Was wiederum den Schluss zulässt, dass Gott zumindest in dieser Hinsicht existiert und manifest wird. Die Frage, ob es Gott gibt, ist deshalb in gewisser Weise obsolet, wenn sich Menschen in ihrem Handeln auf Gott beziehen. Spricht man mit Menschen wie Pfarrer Sieber und Christian Sieber (die übrigens nicht verwandt sind) oder mit Christoph Zingg, spricht man also auf gewisse Weise auch mit Gott – für Journalisten eine einmalige Gelegenheit, die wir uns nicht entgehen liessen. Surprise 410/17
Hallo Gott? Ist «Du» ok? Ja, «Du» ist ok. Als Nicht-Gläubiger kann ich Dich ja gar nicht sehen. Bist Du eigentlich ein Mann oder eine Frau? Weder noch. Ich bin einfach Gott. Es hat lange gedauert, bis wir uns treffen konnten. Warum bist Du immer so beschäftigt? Der Stress hat zugenommen. Seit einiger Zeit sind viele Christen in der Sinnkrise, und ich muss allerorten eingreifen. Du hast der Stadt Zürich mit Pfarrer Sieber einen Engel beschert. Weshalb? Ich hatte Huldrych Zwingli auf die Idee gebracht, die Zürcher Armenordnung einzuführen. Er errichtete den Mues hafen auf dem Hirschenplatz, wo jeder um elf Uhr ein warmes Essen bekam. Bezahlt hat die Stadt Zürich. Seither kümmert sich die Stadt um ihre Armen. Es gab aber immer Menschen, welche die Stadt nicht erreichte. Der Winter 1963 war für die Obdachlosen zu kalt. Aber die Leute haben sich bewusst für ein Leben auf der Strasse entschieden. Sie wollen sich nicht in eine feste Einrichtung begeben.
«Katholisch, reformiert, orthodox, das ist mir zu theoretisch.»
Und Sieber? Es war zu befürchten, dass Menschen erfrieren. Also steckte ich Sieber die Idee, die Obdachlosen zu sammeln und sie zu einer Lebensgemeinschaft zusammenzuschweissen. Er führte sie in einen Bunker beim Helvetiaplatz. Es gelang ihm, bis zu 70 Menschen über Jahre zu helfen. Sie lebten autonom in ihrer Gemeinschaft. Dieses Modell hat Sieber später wieder verwendet. Das kopierten viele Betriebe im sozialen Bereich. Daneben hat Sieber es geschafft, dass die Stadt bei der Armenhilfe mehr mit Privaten zusammenarbeitet. Man begann sich zu vertrauen. Später half der «Knecht», wie Sieber sich selber bezeichnet, das Zürcher Drogenproblem zu entschärfen. Beim Platzspitz und beim Letten war er nicht der Einzige, das wäre auch zu viel für ihn gewesen. Ich habe auch Bruder Benno und andere dahin geschickt. Da waren ja sämtliche menschlichen Abgründe zu sehen: Die Dealer waren das inkarnierte Böse. Es gab Tötungen auf offener Strasse, einer hat seinen Kunden ausgepeitscht, weil der den Stoff nicht bezahlen konnte. Zurück zum Thema bitte … Also Sieber war nicht der Einzige, aber er hat eine grosse Klappe. Ein schräger Vogel mit einem guten Kern, man vertraute ihm. Er trug viel dazu bei, dass man die Süchtigen als Menschen wahrnahm. Die Drogenpolitik trägt
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seine Handschrift: Nächstenliebe und Ausstiegsprogramme für die Süchtigen, Information der Bürger, Härte gegen die Dealer. Sieber hat lange für sein Aids-Hospiz kämpfen müssen. Wäre das mit Deiner Hilfe nicht schneller entstanden? Ich habe getan, was ich konnte. Nur glauben halt nicht alle Menschen an mich. Oder sie behaupten, ich existiere nicht. Bei solchen Menschen helfen auch die tollsten Wunder nichts. Du weisst ja, Zürich ist die Stadt der Banken, des Geldes. Das ist eine grosse Konkurrenz. Aber Du bist doch allmächtig? Das bin ich halt nur für Gläubige. Deshalb musste ich Sieber auch mit einem derart sturen Kopf ausstatten. Die Stadt Zürich räumte den Platzspitz, hatte aber keine Unterkünfte für die Menschen eingerichtet. Sieber war so frech, die Beamten vor fertige Tatsachen zu stellen. Er hatte sein Hospiz ohne Bewilligung aufgebaut. So machte er sichtbar, dass man etwas tun kann gegen das Elend. Er handelte, statt über Konzepte zu diskutieren. So muss man mit sturen Beamten umgehen: einfach noch sturer sein. Und frech. Aber nicht beleidigend. Was heisst Surprise nochmal? Überraschung. Überraschung, genau. Auch Christus überrascht, wenn ihr euch anschaut, was er getan und gesagt hat. Religion ist kein Zuckerschlecken. Sie muss Kontrast zum Bestehenden sein. Sieber konnte also voll auf Dich vertrauen? Ja, ich habe ihm klargemacht, dass es auch bei der Verwaltung Menschen gibt, die das Herz am rechten Fleck tragen. Seine Aufgabe war es, so lange dranzubleiben, bis er diese Menschen von seinen Ideen überzeugen konnte. Und es brauchte ihn. Niemand wollte mehr zusehen, wie verstorbene Süchtige in einer Kiste voller Sägemehl vom Platzspitz oder vom Letten abtransportiert werden. Siebers Aids-Spital gab diesen Menschen wenigstens beim Sterben ihre Würde zurück. Wie hast Du Sieber für den Glauben gewonnen? Viel musste ich nicht tun. Seine Eltern waren gläubig, das prägt. Seine Mutter hat immer ein paar Teller mehr als nötig aufgetischt. Und die Menschen haben das geschätzt und sind zu Siebers essen gegangen. Sein Vater hat auf dem Hof ein Chalet mit breitem Dach gebaut. Da sind diese Leute untergekommen: Schizophrene, Kranke, Verlorene, alle miteinander. Als Sieber Teenager war, verliebte er sich in die Natur. Er war auf der Suche nach etwas Beständigem. Er hatte begriffen, das Leben ist vergänglich. Er ging oft zum Sihlsprung, um die Natur anzubeten. Ich habe ihn dabei immer ein wenig geschüttelt. Bis er merkte, dass ich das bin. Seither ist er mir treu ergeben. Und Du hast ihm eine Lebensaufgabe aufgetragen? Genau, hilf den Letzten, denjenigen, an die niemand mehr glaubt. Er hat den nötigen Glauben und die Kraft für diese 9
Aufgabe. Er ist ein Querschläger, durchtrieben, konstruktiv. Wenn er oder ich eine Idee hatten, diskutierten wir das. Sobald ich einverstanden war, fing er an. Er glaubt an das Gute im Menschen. Und gibt jedem noch eine hundertste Chance. Dafür geben ihm diese Menschen Liebe, Herzlichkeit und Vertrauen zurück. Das war auch nicht immer leicht für ihn? Natürlich nicht. Wir haben auch gehadert und gestritten. Das kann man gut mit ihm, er ist nicht nachtragend. Aber er hat seine Aufgaben gut erfüllt, und das habe ich ihm auch gesagt. Er ist ja auch ein wenig eitel und hört gern meine Schmeicheleien. So konnte ich ihn jeweils zum Weitermachen überreden. Apropos eitel: Ist er nicht ein bisschen zu medienaffin? Dank seiner Medienpräsenz kamen viele Spenden für seine Werke zusammen. Sieber hat sich mit seinem Schalk eine Art Narrenfreiheit erarbeitet. Das kommt seinen Sozialwerken zugute, die brauchen Aufmerksamkeit. Das ist ein Garant, dass seine Arbeit bestehen bleibt. Und er kann auch dank seinem Verstand gut überzeugen. Er spricht einfach und weiss, wovon er redet. Das ist nicht einfach. Er musste sich das erarbeiten. Er war fleissig in der Schule.
Er hat mir aber erzählt, dass er gerne mal schwänzte? Jaja, das gehört doch dazu. Ich habe dann jeweils seine Mutter angehalten, ihn Aufsätze schreiben zu lassen. Von seinen Mitarbeitern verlangt er auch einiges? Er ist halt genauso herzlich wie fordernd. Ich habe ihm diese Lebensaufgabe gegeben. Und er dachte, seine Mitarbeiter seien auch 24 Stunden für ihn und seine Brüder und Schwestern im Einsatz. Diese Intensität ging manchen an die Substanz. Viele gaben den Job auf, er hat ihn 70 Jahre gemacht. Er ist drangeblieben und hat an seine Brüder und Schwestern geglaubt. Brüder und Schwestern? Du weisst doch, dass er so die Armen nennt, die er pausenlos um sich hatte. Er suchte die Mitte bei den Figuren am Rande. Aber sein Konzept war doch, dass diese Brüder und Schwestern autonom leben konnten? Konzept, Konzept. Das ging nicht immer auf. Manche Brüder und Schwestern waren halt mehr an Drogen als an einer sinnvollen Beschäftigung interessiert. Die brauchten dann starke Persönlichkeiten, die sie auf Kurs brachten.
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REALISATION BENOIT LANGE et PIERRE-ANTOINE HIROZ SCENARIO CLAUDE MUREt et BENOIT LANGE IMAGE CAMILLE COTTAGNOUD MONTAGE IMAGE MIKE FROMENTIN et THOMAS QUEILLE SON KEVIN PINTO et ERIC GHERSINU MUSIQUE ORIGINALE FRANCOIS BERNHEIM et KEVIN QUEILLE MONTAGE SON ELEONORA POLATO MIXAGE SON DENIS SECHAUD ETALONNAGE RODNEY MUSSO PRODUCTION DAVID RIHS, BENOIT LANGE et FREDERIC ANSART DE LESSAN EN COPRODUCTION AVEC RTS RADIO TELEVISION SUISSE AVEC LA PARTICIPATION de L’OFFICE FEDERAL DE LA CULTURE (DFI), CINEFOROM et le soutien de la LOTERIE ROMANDE, SUISSIMAGE, Succès passage antenne, SSR SRG DISTRIBUTION SUISSE ADOK FILMS
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Je mehr Zentren er aufmachte, desto mehr Angestellte brauchte Sieber. Ich musste ihm immer mehr Wohlgesinnte schicken, die für ihn arbeiteten. Das war oft nicht einfach. Es gibt keinen zweiten Sieber, das hätte er auch nicht vertragen. Und manch ein Angestellter zerbrach unter der Arbeitslast. Immer wieder musste ich Menschen eingeben, sie sollen sich bei ihm melden. Das war schon anstrengend. Immerhin merkte er schnell, wen ich geschickt hatte und wen nicht. Und er betraute die Leute mit den richtigen Aufgaben in den richtigen Teams. Inzwischen sind es rund 180 Angestellte, die für ihn arbeiten, alles ist professionalisiert, es gibt viel Administration und weniger freiwillige Helfer bei Siebers Werken. Naja, das ist nicht mehr ganz in seinem Sinn. Aber nach wie vor gäbe es diese Angebote ohne Freiwillige nicht. Ich habe Sieber immer gesagt: Das Geld ist Nebensache. Wie auch die Konfession, Religion, Nationalität, Herkunft. Die Menschen sind wichtig. Helft ihnen in der Not.
«Natürlich ist Ernst Sieber ein Original. Aber er ist nicht der Einzige.»
Sieber wurde im Februar 90, er könnte kürzertreten. Und die Stadt Zürich tut doch viel für die Armen. Braucht es ihn noch? In Zürich ist jeder Achte arm. Das ist ein Skandal in so einer reichen Stadt. Die Stadt und andere Organisationen tun einiges. Oft ist der Zugang zu Einrichtungen aber erschwert. Bei Sieber bezahlt man erst mal nichts. Das ist Nächstenliebe. Sieber liebt die Menschen, für ihn sind alle Menschen Kollegen, für ihn gibt es keine Hierarchien, kein Reich, kein Arm, er ist mit allen per Du. Das klingt gut, aber geht es etwas konkreter? Wenn jemand einen Entzug machen will, braucht der nicht einen Termin in drei Wochen. Dann muss sofort Hilfe her. Die Menschen waren ja oft lange auf der Gasse und sind misstrauisch. Sie wurden aus der Psychiatrie, aus den Spitälern oder aus den städtischen Wohnheimen rausgeschmissen. Die brauchen ihre Zeit, um sich auf andere einzulassen und Hilfe anzunehmen. Diese Menschen müssen erst einmal eine Bezugsperson finden, der sie vertrauen, mit der sie aber auch streiten können. Das beste Sozialprogramm bringt nichts, wenn sie keine Menschen haben, die sie berühren können, ohne Angst. Und dann fangen sie auf einmal an, ihr Bett zu machen. Dann kann man sie in die Pflicht nehmen: Putzt doch gleich auch unter dem Bett. Und macht untereinander ab, wer wofür verantwortlich ist.
Leider glauben viele Menschen an den Neoliberalismus statt an mich. Geld und Leistung sind für diese Leute wichtiger als Liebe. Sogar Geistliche sind dem verfallen. Dabei habe ich schon im Mittelalter gezeigt, wie es gehen könnte: Es gab Kirchen mit Betten im Seitenschiff, wo die Leute einander halfen. Die neoliberale Ideologie hat ein Prekariat geschaffen. Es reicht eine hohe Zahnarztrechnung, und alles bricht zusammen. Die Leute schämen sich, nichts erreicht zu haben. Wäre auch jemand anders für Zürich infrage gekommen anstelle von Pfarrer Sieber? Natürlich ist Ernst einzigartig, ein Original. Aber er ist nicht der Einzige. Ich habe in viele Städte solche Engel geschickt. Sie sind nicht alle so schrill, charismatisch, schräg. Aber sie schaffen alle Erleichterung für Menschen, die am Abgrund stehen. Sieber redet nun häufig von einem Bundesdorf, das er errichten will. Die Menschen sollen dort erleben können, dass sie würdig sind. In der liberalen Welt und der offenen Gesellschaft ist die Liebe zum Menschen wichtig. Wer das zu 100 Prozent lebt, startet eine Revolution. Es geht nicht darum, dass ich nur Fehler verzeihe, wenn die Menschen an mich glauben. Meine Liebe ist grösser. Apropos Liebe: Was wäre Sieber ohne seine Frau? Diese Goldseele habe ich ihm geschickt. Ich wusste, er würde sie nehmen, wenn sie ihn küsst. Er fand das wunderbar. Und ohne sie hätte er kaum die Kraft gehabt für seine Taten. Wird Sieber dereinst selig gesprochen? Wichtiger ist, dass es weiterhin Menschen gibt, welche die Liebe ins Zentrum ihres Handelns stellen, für die Letzten da sind und ihnen Würde geben. Er ist kein Heiliger. Das hat ihn umso glaubwürdiger gemacht. Und das Seligsprechen ist eine Erfindung der Kirche. Mit der bin ich auch nicht immer einverstanden. Aber die Kirche hat ihn getragen? Dort hat man schnell gemerkt, dass ich auf seiner Seite bin, dass er seine Visionen von mir hat. Weisst du, katholisch, reformiert, orthodox, das ist mir zu theoretisch. Was soll das? Wichtig ist doch, sich auf die Seite der Ärmsten zu schlagen, nicht nur zu reden, sondern zu handeln. Ihnen die Not abzunehmen, ihnen ein Gesicht und eine Sprache zu geben. Und den Menschen klarzumachen, dass ich dahinterstecke.
Reicht das aus, was Sieber tut? Oder müsste er noch mehr tun für seine Schwestern und Brüder? Surprise 410/17
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Das letzte Gericht Fotografie Als der neuseeländische Fotograf Henry Hargreaves anfing, sich mit
Henkersmahlzeiten auseinanderzusetzen, war er schockiert. Und zwar darüber, wie menschlich ihm die Verurteilten plötzlich erschienen. TEXT WHITNEY O’CONNOR FOTOS HENRY HARGREAVES
Durchschnittlich 47 Menschen werden in den USA pro Jahr hingerichtet. Traditionell haben sie vielerorts das Recht auf eine letzte Mahlzeit. Obwohl dies gesetzlich nicht vorgeschrieben ist, gilt die letzte Mahlzeit als ein Privileg, das die amerikanischen Bundesstaaten so gut wie allen ihren Insassen gewähren. In manchen Staaten ist die Auswahl der Insassen auf jene Produkte beschränkt, die in der Gefängnisküche vorhanden sind, anderswo wird für die Kosten ein Höchstbetrag festgelegt – wie beispielsweise im Bundesstaat Oklahoma, wo es Personen zwar gestattet ist, Essen von ausserhalb des Gefängnisses zu bestellen, es darf jedoch nicht mehr als 15 US-Dollar kosten. 2011 sorgte Texas für Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass das Letzte-Mahlzeit-Programm für Todestrakt-Insassen gestrichen wurde. Der neuseeländische Fotograf Henry Hargreaves nahm dies zum Anlass für ein Fotoprojekt: «Ich war schockiert, wie menschlich mir diese Leute erschienen, als ich über ihr Essen las», erzählt er im Interview. «Als ich ihre Wünsche sah, wurden aus den Zahlen echte Menschen.» Damals stellte er die letzte Mahlzeit von einem Dutzend zum Tode Verurteilten nach. Für die Fotoserie erntete Hargreaves nicht nur Anerkennung: «Viele missverstanden das Projekt und waren der
Meinung, ich würde die Taten der Insassen gutheissen. Aber darum geht es mir nicht», so der Fotograf. Nun hat der 38-Jährige sich für seinen 2016 erschienenen Bildband «A Year of Killing» erneut mit dem Thema beschäftigt. Er will mit seinen Bildern eine Diskussion ins Rollen bringen. «Ich versuche, mich in die Situation der Personen hineinzuversetzen, die kurz vor dem letzten Moment ihres Lebens stehen. Ihnen wurden gerade ihre letzten Rechte verlesen. Danach bestellen sie ihre letzte Mahlzeit. Ich stelle mir die Spannung vor, die diese Personen fühlen», erzählt er. Eine vorgefertigte Meinung will der Neuseeländer damit nicht verbreiten. «Für mich gibt es keine richtige oder falsche Antwort, nichts Konkretes. Ich möchte bloss, dass man sich darüber Gedanken macht und all dies bewusster wahrnimmt als bisher.» Wie aktuell die Debatte um die Todesstrafe in den USA ist, zeigt eine Abstimmung aus Oklahoma: Hier stimmten im letzten November 66 Prozent der Bevölkerung dafür, das Recht auf die Vollstreckung der Todesstrafe in der Verfassung zu verankern. Mit freundlicher Genehmigung von: The Curbside Chronicle, INSP.ngo Aus dem Englischen von Borbála Eke, Trommons.org
Vorhergehende Doppelseite: Teresa Lewis, 41, Virginia: Verurteilt für Mord, gemeinsames Vorhaben eines Verbrechens und Raub. Giftspritze. Letzte Mahlzeit: Brathähnchen, Buttererbsen, Apfelstrudel und Erfrischungsgetränk Dr. Pepper.
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Victor Feguer, 28, Iowa: Verurteilt fĂźr Kidnapping und Mord. Gehenkt. Letzte Mahlzeit: Eine Olive mit Stein.
Ferdinando Nicola Sacco & Bartolomeo Vanzetti, 36 und 39, Massachusetts: Verurteilt fĂźr Doppelmord. Elektrischer Stuhl. Letzte Mahlzeit: Suppe, Fleisch, Toast, Tee. Im Jahr 1977 wurden beide postum durch den Gouverneur von Massachusetts rehabilitiert. Der Fall ist immer noch offen. Surprise 410/17
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John Wayne Gacy, 52, Illinois: Verurteilt für Vergewaltigung und 33 Morde. Giftspritze. Letzte Mahlzeit: Zwölf gebratene Crevetten, eine Portion original Kentucky-Fried-Chicken-Pouletstücke, Pommes Frites, ein Pfund Erdbeeren. Bevor Gacy verurteilt wurde, managte er drei KFC-Filialen.
Angel Nieves Diaz, 55, Florida: Verurteilt für Mord, Kidnapping, bewaffneter Raubüberfall. Giftspritze. Letzte Mahlzeit: Lehnte eine Mahlzeit ab, bekam stattdessen das reguläre Gefängnisessen, das er ebenfalls zurückwies.
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Stephen Anderson, 49, Kalifornien: Verurteilt für Einbruchdiebstahl, Körperverletzung, Ausbruch aus dem Gefängnis, sieben Morde. Giftspritze. Letzte Mahlzeit: Zwei Käsetoasts, eine Portion Hüttenkäse, Maisgrütze mit Zuckermais, Pfirsichkuchen, Stracciatella-Glace, Radieschen.
Ricky Ray Rector, 42, Arkansas: Verurteilt für Doppelmord. Giftspritze. Letzte Mahlzeit: Steak, Brathähnchen, Erfrischungsgetränk Cherry Kool-Aid, Pecan-Nusskuchen. Ass den Nusskuchen nicht und sagte dem Wärter, er bewahre ihn für später auf. Surprise 410/17
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Ronnie Lee Gardner, 49, Utah: Verurteilt für Einbruchdiebstahl, Raub und Doppelmord. Erschiessungskommando. Letzte Mahlzeit: Hummerschwanz, Steak, Apfelkuchen, Vanille-Glace und währenddessen die «Herr der Ringe»Trilogie schauen.
Allen Lee «Tiny» Davies, 54, Florida. Verurteilt für Raub und 3 Morde. Elektrischer Stuhl. Letzte Mahlzeit: Hummerschwanz, Bratkartoffeln, ½ Pfund frittierte Shrimps, 170 g frittierte Muscheln, ein halbes Knoblauchbrot, ein Liter A&W Root Beer (Limonade aus Wurzel- und Kräuterextrakten). 18
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Ted Bundy, 43, Florida: Verurteilt für Vergewaltigung, Leichenschändung, Gefängnisausbruch und mehr als 35 Morde. Elektrischer Stuhl. Letzte Mahlzeit: Lehnte eine spezielle Mahlzeit ab, bekam dafür die traditionelle letzte Mahlzeit: Steak (medium), Spiegeleier, Rösti, Toast mit Butter und Marmelade, Milch, Saft.
Timothy McVeigh, 33, Indiana: Verurteilt für 168 Morde (Terroranschlag). Giftspritze. Letzte Mahlzeit: Zwei Portionen Minz-Glace mit Schokoladenstückchen.
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Das ist ein Surprise-Verkäufer – zumindest im Film «Flitzer». Der, der ihn verkörpert, heisst Daniel Mangisch.
«Eigentlich geht es um Anerkennung» Kino In Peter Luisis Komödie «Flitzer» rennt Beat Schlatter nackt
über Fussballfelder. Ein Gespräch über Underdogs, kleinkriminelle Ideen und eine Novelle von Gottfried Keller. INTERVIEW DIANA FREI
Herr Luisi, in Ihrer Komödie «Flitzer» rennen Menschen an Fussballspielen nackt über das Spielfeld. Es sind Personen, die im Leben etwas zu kurz gekommen sind. Was interessiert Sie an Verlierern? Peter Luisi: Der Underdog ist eine klassische Figur im Film. Einer, von dem man nicht erwartet, dass er etwas Grosses er20
reicht, und der es dann eben doch schafft. Es ist menschlich, dass man ihm zusehen will und eine Sympathie für ihn hat. Der Underdog ist ein Held, dem man es auf den ersten Blick aber nicht ansieht. Ich würde daher nicht sagen, meine Figuren sind lauter Verlierer. Ich würde sagen, das ist eine Gruppe von speziellen Leuten, die ein Team bilden.
Es ist ein Surprise-Verkäufer dabei, dargestellt von Schauspieler Daniel Mangisch. Um auf die Idee zu kommen, eine solche Figur einzubauen, muss man ein bestimmtes Bild von ihm haben. Was war das für Sie? Beat Schlatter: Es gibt bestimmte Berufsgruppen, bei denen man das Gefühl hat, die hätten immer Zeit für alles. Künstler gehören Surprise 410/17
Das Leben dieser Figuren wendet sich zum Besseren, indem sie über ihren Schatten springen. So etwas wünscht man denen, die Probleme haben, viel mehr als den Erfolgreichen. Wie kamen Sie eigentlich aufs Flitzen? Schlatter: Ich gehe oft an Fussballmatches. Nicht nur, um das Spiel zu sehen, sondern um Kollegen zu treffen, auf der Tribüne Witze zu machen und Bratwürste zu essen. So kommt man auf Ideen. Aber bevor wir an einen Film dachten, versuchte ich mit meinen Freunden, das in echt zu machen. Wir hatten mehrere Sitzungen bei mir zuhause. Der Plan wäre gewesen, dass man unsere Internetseite hinter einer virtuellen Orchidee versteckt gefunden hätte. Da hätte man erfahren, bei welchem Spiel und in welchem Stadion wir Flitzer hineinschicken. Die Idee wäre gewesen, dass es zwei sind. Einer mit roten und einer mit blauen Schuhen. Über das Internet hättest du dann wetten können, welcher länger drinbleibt, für wie viele Sekunden. Aber mir wurde dann bewusst, was das bedeuten würde. Ich habe Freunde, die im Fussballkader sind. Fredy Bickel, ehemaliger Sportchef des FCZ und dann Sportchef bei YB, sagte zu mir: «Wenn du mit Flitzern ins Wankdorf kommst und ich weiss, dass du da dahintersteckst, geht unsere Freundschaft in eine andere Richtung.» Ich habe es später Peter Luisi erzählt, und er sah das Potenzial in dieser Geschichte. dazu und Surprise-Verkäufer. Man kann sich deshalb vorstellen, dass sie für eine Idee wie das Flitzen zu haben wären. Es kann auch heikel sein, wenn man auf fixen Vorstellungen und Klischees aufbaut. In Ihrer Flitzer-Truppe finden sich eine Verklemmte, ein Asylsuchender, der nicht richtig Deutsch kann, ein Exhibitionist und ein Surprise-Verkäufer. Hatten Sie keine Angst, dass das als politisch unkorrekt aufgefasst werden könnte? Luisi: Eigentlich geht es um Anerkennung. Das ist ein grosses Thema im Kino, auch bei dieser Geschichte. Es geht darum, die Anerkennung von anderen zu bekommen, die einem oft nicht gegeben wird. Mit Figuren, die schon im klassischen Sinn erfolgreich sind, zittert und fiebert man nicht mit. Wenn ich aber einen nehme, der im Leben ein bisschen ins Schleudern gekommen und aus der Bahn geraten ist, will man als Zuschauer, dass er sein Ziel erreicht. Surprise 410/17
Aber diese Geschichte ist nicht wirklich wahr? Schlatter: Doch. Die Idee wäre gewesen, dass du nach dem Spiel eine Aufzeichnung aufs Mobiltelefon geschickt kriegst, um zu sehen, wie das Ergebnis war. Kennen Sie Flitzer? Schlatter: Es begann mich zu interessieren, was Flitzer für Leute sind. Über Kontakte der Luzerner Kurve fand ich dann einen und traf ihn. Das ist ein völlig normaler Typ, der macht seinen Job in einer Internet-Firma und geht Montag bis Freitag von 9 bis 5 Uhr arbeiten. Der Arbeitstitel des Films hiess «Kleider machen Leute», wie die Novelle von Gottfried Keller. Dort geht es um Realität und Täuschung, darum, wie Äusserlichkeiten das Bild prägen, das man von jemandem hat. Was passiert denn mit den Menschen, wenn sie sich ausziehen?
Luisi: Die Hauptfigur in Gottfried Kellers «Kleider machen Leute» heisst Strapinski. Balz Näf, die Hauptfigur in unserem Film, wählt ihn als Code-Namen. Strapinski in der Novelle wird für einen anderen gehalten, weil er schönere Kleider trägt, als er sich leisten kann. So kommt er zu Ruhm und einer schönen Frau. Bei uns rennt Balz Näf alias Strapinski am Schluss nackt über das Spielfeld. Und bekommt genau dafür Anerkennung. Das ist das Gegenteil davon, wie die Welt normalerweise funktioniert: Man wird über Äusserlichkeiten beurteilt.
«Der Underdog ist ein Held, dem man es auf den ersten Blick nicht ansieht.» PE TER LUISI
Es kommt durchaus vor, dass jemand, der im Leben gestrandet ist, auf eine wahnwitzige Idee kommt. Dass einer aus dem Nichts eine Galerie eröffnen oder einen Energydrink erfinden will. Aus der Verzweiflung heraus wagt man Grosses. Luisi: Ich denke, es ist etwas Nachvollziehbares, dass man aus der Not heraus ex treme Ideen hat. Wenn ich von einem höre, der aus dem Nichts eine Galerie aufmachen will, sehe ich sofort eine Geschichte dahinter. Ich frage mich: Wie macht er das denn? Wie eignet er sich sein Wissen an? Wo macht er die Fehler? Das ist spannend, und man kann emotional nachvollziehen, wenn einer aus Verzweiflung auf eine abstruse Idee kommt. Schlatter: Der Film «Katzendiebe» ist auch so entstanden. Das war der erste Kinofilm, bei dem ich für den Inhalt mitverantwortlich war. Ich war in einer PunkBand. Wir hatten zu wenige Auftritte und verdienten zu wenig, mussten aber unseren Übungsraum bezahlen, der monatlich 150 Franken kostete. Gleich nebenan war eine Alterssiedlung, wo die Bewohner ihr Haustier mitnehmen durften. Da kamen wir auf die Idee, die Katzen zu klauen, im Übungsraum zu halten und zu warten, bis Vermisstmeldungen hingen. Dann brachten wir die Katze zurück und bekamen je 20 oder 30 Franken Finderlohn. Irgendwann 21
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Auch im Coiffeursalon des albanischen Kumpels entstehen Ideen: Bendrit Bajra und Beat Schlatter.
eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht haben. Ich habe mit ihnen zehn Jahre meines Lebens verbracht. Und es war tatsächlich so, dass man sich immer mit einem Bein in der Illegalität bewegte. Allein die Auftrittsmöglichkeiten von PunkBands: Es gab vielleicht vier, fünf legale Orte, die uns engagierten, der Rest waren das Autonome Jugendzentrum und besetzte Häuser. Da waren natürlich immer die Leute dabei, die sich im Leben ein bisschen durchgemischelt haben. Es gibt auch die, die ganz abgestürzt sind. Wenn ich heute auf den Friedhof gehe, wo meine Mutter ist, liegen dort auch mindestens fünf bis sechs Kollegen von mir. Sie haben die Kurve nicht gefunden. Ich schon. Es war bei «Flitzer» ein Glücksfall, dass es eine Gage gab. Wenn ich dagegen zusammen mit Stephan Pörtner, Ihrem Surprise-Kolumnisten, ein Stück für die Bühne schreibe, dauert das ein Jahr. Wir müssen dafür ein Büro mieten, da zahlt uns kein
Sie haben eine Punkvergangenheit und kleinkriminelle Ideen. Und zum anderen findet man Homestorys in der Glückspost und der Schweizer Illustrierten, wo Sie ein biederes Image von sich transportieren. Wo gehören Sie wirklich hin? Schlatter: Ich gehörte zu der ersten Generation Punks. Als ich begann, gab es in der Schweiz vielleicht sechs Punk-Bands. Da war egal, ob man in Zürich spielte oder in Lausanne, es waren immer die gleichen Leute, die kamen. Ich fände es nun etwas peinlich, wenn man da stehenbleiben würde. Ich höre diese Musik heute nur noch selten und gehe auch fast nie mehr an Punk-Konzerte. Man macht ja eine Entwicklung durch. Aber klar habe ich diese Vergangenheit. Wenn ich Lehrer gewesen wäre statt Punk-Musiker, wären andere Ideen entstanden. Das heisst, Sie hatten mehr Freiraum als andere? Schlatter: Ja, du wirst geprägt von deinen Freunden, mit denen du zusammen bist. Die Punks waren andere Leute als die, die 22
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merkten wir, dass sich die Idee für eine Komödie eignen würde. Sie entstand aus einer Not und Unterbeschäftigung heraus. Ich glaube, die meisten Ideen, die die Leute haben, entstehen ähnlich. Je erfolgreicher man ist, desto schwieriger wird es aber, sich Freiräume zu schaffen, in denen etwas entsteht.
Der Regisseur Der Zürcher Regisseur Peter Luisi ist mit «Verflixt verliebt» (2004) und «Der Sandmann» (2011) bekannt geworden. Das Drehbuch zu «Flitzer» hat er zusammen mit seinem Hauptdarsteller Beat Schlatter geschrieben.
Mensch etwas dran. Wir hatten Budgetsitzung, das Ganze kostet uns 198 000 Franken, um das Stück nur herauszugeben. Da muss man sich das Leben von einer anderen Seite her querfinanzieren, indem man mal Werbung macht oder so. Das bezeichnen Sie dann vielleicht als bieder. Ich finde das nicht bieder. Ich dachte, Sie seien ein Promi, dem es gut geht. Fühlen Sie sich unter Druck? Schlatter: Nein, mir geht es gut. Ich genies se meine Freiheiten und meine Unabhängigkeit. Aber ich habe keine Pensionskasse. Meine AHV wird einmal winzig klein sein, und ich werde bis 97 arbeiten müssen. Stört es Sie, dass sich das die meisten Leute wahrscheinlich anders vorstellen? Schlatter: Da muss man eben schauen, dass man sich mit Leuten anfreundet, bei denen man das Gefühl hat, es gehe ihnen ungefähr gleich. Schauen Sie, die materiellen Dinge bedeuten mir relativ wenig. Ich hatte einmal eine Freundin, die aus dem Entlebuch kam, und ich besuchte ihre Eltern immer mit dem ÖV. Sie dachten, ich sei am Verarmen. Für viele Leute ist das Auto immer noch ein Statussymbol, und viele beurteilen andere nach Äusserlichkeiten. Ich mache das nicht. Peter Luisi: «Flitzer», CH 2017, 93 Min., mit Beat Schlatter, Bendrit Bajra, Daniel Mangisch u. a. Der Film läuft ab 12. Oktober im Kino.
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Kino Menashe ist orthodox, aber nicht ganz so sehr
Kino Der Brite Jack Preger hat sein altes Leben an
wie seine Gemeinde. Als Witwer kämpft er darum, seinen Sohn selbst grosszuziehen.
den Nagel gehängt, um als Arzt in Kolkatas Elendsvierteln Strassenmedizin zu betreiben.
Im New Yorker Stadtteil Brooklyn leben rund 300 000 ortho doxe Juden. Einer davon ist Menashe (Menashe Lustig). In seiner chassidischen Gemeinde ist er ein Aussenseiter: Er hält sich nicht an die Kleidervorschriften, hat nur ein Kind und will es wenig streng erziehen. Doch seit dem Tod der Mutter lebt Sohn Rieven bei seinem peniblen Onkel und dessen Grossfamilie. Diese und der Rabbi finden: «Der Junge soll in einem richtigen Zuhause aufwachsen.» Und zu ei nem solchen gehöre eine Frau. Eine weitere arrangierte Ehe möchte Menashe aber nicht eingehen. Er will beweisen, dass er auch allein ein fähiger Vater ist. Doch er hat Geldschulden und muss im Super markt Nachtschichten übernehmen. Er holt seinen Jungen unerlaubterweise zu sich, serviert Soda und Kuchen zum Frühstück, verliert die Hoffnung und Geduld. Dann be schliesst der Rabbi: Bis zur Gedenkfeier der Mutter darf Rieven bei Menashe wohnen. Diese will der Witwer in seiner engen Wohnung abhalten – und so allen zeigen, dass er sein Leben im Griff hat. Der Schauspieler Menashe Lustig teilt mit seiner Figur mehr als den Vornamen. Er ist ebenfalls Witwer, Vater, Supermarktangestellter und unangepasster Chassid. Die wenigs ten in seiner Gemeinde waren je im Kino, niemand besitzt einen Fernseher. Lustig betreibt einen Youtube-Kanal, auf dem er selbstgedrehte Slapstick-Clips teilt. Bisher wurde die ultrakonservative Gemeinschaft der Chassiden nur selten in einem Film gezeigt. Der New Yorker Regisseur Joshua Z. Weinstein engagierte für sein Spielfilm debüt orthodoxe Laiendarsteller sowie Übersetzer, die sie anwiesen. Denn weder Weinstein noch sein Team verstan den das in «Menashe» gesprochene Jiddisch. Nahe an der Realität entstand so ein leises und packendes Drama über EVA HEDIGER ein universelles Thema: Elternliebe.
Jack Preger sitzt Jioty Ram gegenüber, einem von 50 Kin dern, dem jedes Jahr von seinem Hilfswerk Calcutta Rescue eine höhere Ausbildung ermöglicht wird. «Arbeite nicht zu hart, hab auch ein bisschen Spass», ermutigt der alte Mann das Mädchen. Er ist Realist und kein Weltfremder, keiner, der über kulturelle Eigenheiten oder menschliche Schwä chen ein Urteil fällt. Sister Cyril, eine irische Nonne, die ihn tatkräftig unterstützt, beschreibt ihn denn auch nicht verklärend als Übermenschen. Er habe einen schwierigen Charakter, aber sie sage das voller Bewunderung und Freundschaft, betont sie. Der heute 87-jährige Waliser kaufte nach seinem Wirt schaftsstudium einen Bauernhof in Wales, heiratete und bekam einen Sohn, aber die Ehe ging in die Brüche. Aus einer Eingebung heraus verkaufte er den Hof, um seinem Leben mit einem Medizinstudium eine neue Richtung zu geben. Ein Radio-Aufruf führte ihn 1972 in das vom Bür gerkrieg zerrüttete Bangladesch. Die Not in den Flüchtlings lagern traf ihn – dessen Familie den Holocaust direkt erlebt hatte – tief. Da er einen Kinderhändlerring denunzierte, wurde er des Landes verwiesen. Preger zog ins indische Kolkata, arbeitete bei Mutter Teresa, doch der missionari sche Eifer dort passte ihm nicht. Auf sich allein gestellt be gann er, direkt auf den Strassen als Arzt für die Ärmsten am Rand der Gesellschaft zu wirken. Auf die Frage nach dem Sinn seiner Arbeit angesichts des nie enden wollenden Leids sagt er mit einem Zitat Mutter Teresas: «Lieber eine Kerze anzünden als im Dunkeln sitzen bleiben.» «Doctor Jack» von Benoit Lange ist das sensible Porträt eines bescheidenen Mannes, der sagt, er tue, was getan wer den müsse. Der Film wahrt stets eine respektvolle Distanz, speziell auch gegenüber seinen von Krankheit und Armut MONIK A BET TSCHEN gezeichneten Patienten.
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Dr. Jack zündet eine Kerze an
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Glaube, Liebe, Hoffnung
Joshua Z. Weinstein: «Menashe», USA 2017, 81 Min., Jiddisch mit UT, mit Menashe Lustig, Ruben Riborski u. a. Ab 19. Oktober im Kino.
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Benoit Lange: «Doctor Jack», Dok, CH 2016, 83 Min., Ab 12. Oktober im Kino.
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FOTO: CHRIS MAROGG
Gute Zusammenarbeit: Petra Ivanov (oben), Mitra Devi (Mitte) und der Tod.
Ein zweites Gedächtnis Buch Die renommierten Schweizer Krimi-Autorinnen Mitra Devi und Petra Ivanov
loten in ihrem gemeinsamen Thriller «Schockfrost» den schmalen Grat zwischen gesund und krank, zwischen Realität und Wahn temporeich aus. TEXT JOËLLE JOBIN
Protagonistin Sarah Marten steht stets unter Strom: im Spannungsfeld zwischen ihrem Beruf als Psychiaterin, dem pubertierenden Sohn, ihrer noch jungen Liebe zu Künstler Till und der Fürsorge für die schwerbehinderte Schwester Rebekka gelingt es ihr, den vielfältigen Ansprüchen gerecht zu werden. Bis unerklärliche Vorkommnisse ihren ebenso routinierten wie disziplinierten Alltag durchbrechen: Dr. Marten stürzt, begeht Fehler, traut sich selbst 24
und ihrem Denkvermögen nicht mehr. Als Rebekka Anzeichen von Misshandlungen aufweist, trifft die Skepsis von Rebekkas Betreuer Dr. Marten an ihrer empfindlichsten Stelle, sie empfindet angesichts der Entscheidungsgewalt einer Behörde ein Gefühl der Ohnmacht. Um keinen Preis will Sarah das Fürsorgerecht für ihre Schwester verlieren. Doch wer oder was treibt hier ein böses Spiel? Ein fieberhafter Suchlauf beginnt. Surprise 410/17
«Schockfrost» ist das erste gemeinsame Buch der Zürcher Krimi-Autorinnen Mitra Devi und Petra Ivanov. Auch wenn Autorenduos in der Suspense-Literatur im skandinavischen, angelsächsischen oder deutschsprachigen Raum keine Seltenheit sind: In der Schweiz finden sich nur wenig prominente Beispiele – das Ehepaar Jacques und R oswitha Kuhn etwa, die in ihren Krimis Polizist Noldi Oberholzer im Tösstal ermitteln lassen, oder das Zuger Autorengespann Judith Stadlin und Michael van O rsouw mit dem Hobby-Ermittler Goran Voltic. Dass Devi und Ivanov zusammengefunden haben, erweist sich als Glücksfall. Wer bei welcher Figur federführend war, verraten die beiden im GeMITR A DEVI spräch nicht. Nur so viel: Selbst die erfahrene Stammleserschaft soll nicht herausgefunden haben, welche Passagen von welcher Hand geschrieben wurden. Und was die Autorinnen über ihre Figuren und den Schreibprozess erzählen, ergänzt sich so harmonisch, als wäre es aus einem Mund gesprochen. Kennengelernt haben sich Mitra Devi und Petra Ivanov vor rund zehn Jahren, als beide bereits ihre Debüts veröffentlicht hatten. Sie begannen zunächst, ihre je eigenen Texte gegenseitig gegenzulesen, danach war der Übergang zur Zusammenarbeit fliessend. Ein gemeinsames Buch bedeutete, dass sie ihre Stärken verbinden konnten. «Im Arbeiten hat jede ihre eigenen Schwerpunkte», erklärt Devi, und Ivanov betont: «Damit die Co-Autorenschaft gelingt, muss das Produkt im Mittelpunkt stehen, nicht das Ego. Für mich war die Herausforderung, dass eigene Visionen, die im Text angelegt sind, manchmal nicht umgesetzt werden. Der Text entwickelt sich in der Zusammenarbeit immer wieder in eine andere Richtung, als man es selbst vorausgespürt hätte.» Dazu braucht es Vertrauen, sind sich Devi und Ivanov einig. Man müsse loslassen und in manchen Dingen nachgeben können.
Während sich Petra Ivanov beim Schreiben von den Figuren leiten lässt, beschreibt sich Mitra Devi als Planerin beim Storyboard: «Ich lege Wert auf die Handlung und auf ein schnelles Tempo und definiere gerne Motiv, Täter und falsche Fährten.» Devi, die einige Jahre in einer Gärtnerei zur Wiedereingliederung für Menschen mit psychischen Erkrankungen gearbeitet hat, konzentrierte sich bei «Schockfrost» auf die psychologischen Aspekte der Charaktere. «Im Zusammenspiel führten unsere beiden Vorgehensweisen zu einem guten Resultat», freut sich Devi rückblickend. «Die grösste Herausforderung war für mich, die erste Fassung eines Kapitels, die meist nicht die bestmögliche Variante ist, mit jemandem, in dem Falle mit Co-Autorin Petra, zu teilen». Ivanov hingegen lässt ihre Rohfassungen immer bereits früh von Fachleuten inhaltlich korrigieren. So wurde auch «Schockfrost» von einer Psychiaterin und einer Sozialarbeiterin vorab gelesen, um sicherzugehen, dass die beschriebenen Abläufe mit realen Vorgängen übereinstimmen. «Die Fakten müssen von Beginn an stimmen, ansonsten fällt der ganze Roman in sich zusammen», sagt Ivanov aus Erfahrung. Entsprechend gehört auch eine eingehende Recherche bezüglich der Vorlieben und Hobbys der Figuren zum Entstehungsprozess des Buches. Zur Konstruktion von Protagonistin Sarah Marten, PE TR A IVANOV die Bogenschützin ist, hat Petra Ivanov ein halbes Jahr Bogenschiessen trainiert. «Der grosse Vorteil an der Zusammenarbeit ist, dass man ein zweites Gedächtnis hat: Die andere kann Denkfehler anmahnen», so Ivanov. Auch Devi schätzt den Austausch über den Text: «Die Diskussion ist toll, denn die findet sonst im eigenen Kopf statt. So hat man eine Diskussionspartnerin, die den Text genau gleich gut kennt.» Ist denn nun zu zweit schreiben besser als alleine? «Zu zweit schreiben ist anders. Der Leser, die Leserin kann entscheiden, ob sie lieber ‹Schockfrost› mögen oder unsere Einzelromane.» Ob sie für einen weiteren Thriller zusammenfinden werden, wollen sie nicht verraten. Gebannt von der «Schockfrost»-Lektüre, wünscht man es sich.
«Ich lege Wert auf die Handlung und definiere gerne Motiv, Täter und falsche Fährten.»
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BILD: ZVG
Das System Psychiatrie in den Krimi gepackt Was darf Psychiatrie, wo sind die Grenzen und wo werden sie überschritten? Was ist normal und wer definiert dies? Diesen Grundfragen ihres Thrillers näherten sich die Autorinnen aus unterschiedlichen Perspektiven, was sich für das gemeinsame Schreiben als nützlich erwies. «Ich interessiere mich für das System Psychiatrie und dessen Strukturen», so Ivanov. Etwa dafür, wann eine fürsorgerische Unterbringung gerechtfertigt ist und wann sie angefochten werden muss. «Hätte ich das Buch alleine geschrieben, würden vermutlich alle Szenen nur im Gerichtssaal spielen», ergänzt sie lachend. Ivanov ist es ein Anliegen, in ihren Büchern auf Missstände in der Gesellschaft einzugehen und die Leserinnen und Leser anhand fiktiver Figuren mit brisanten Themen emotional und intellektuell herauszufordern.
«Hätte ich das Buch alleine geschrieben, würden vermutlich alle Szenen nur im Gerichtssaal spielen.»
Mitra Devi und Petra Ivanov Schockfrost Unionsverlag 2017 CHF 26
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Randnotiz
Sport-Exzentriker
Nichts für Weicheier
Buch Eine ungewöhnliche Enzyklopädie versammelt eine
bunt-abstruse Palette zu Recht vergessener Sportarten. Seit ich diesen Frühling 43-jährig nach Bern gezogen bin, habe ich einen grösseren Spiegel im Badezimmer. In Berlin war er winzig und stets beschlagen, wenn ich nach dem Duschen hineinschaute. Wieder mit meinem Äusseren konfrontiert, beginne ich in Bern meinen Körper neu zu entdecken. Er hat sich stark verändert, seit ich mich das letzte Mal mit ihm beschäftigt habe. Er ist plump geworden, wie ein gefüllter Sack. Bis jetzt konnte ich essen, was ich wollte. Damit ist es vorbei, ich muss sofort ab nehmen. Aber diese Falten um die Augen und die Geheim ratsecken, die lassen sich nicht ändern.
Im Frühmittelalter war Fussball ein einziges Hauen und Stechen. Beim sogenannten Mob-Fussball traten ganze Dörfer gegeneinander an, wobei es so gewalttätig zuging, dass es neben reichlich blauen Flecken, Brüchen und Blutvergiessen sogar Tote gab. Wie passend, dass das Ziel nicht selten war, die Schweinsblase, mit der gespielt wurde, in den gegnerischen Friedhof zu befördern. Was durchaus an heutige Zustände erinnert, auch wenn in «aufgeklärten» Zeiten der Mob mehr auf den Rängen und vor den Toren der Stadien zu finden ist als auf dem eigentlichen Spielfeld. Nun, diese mittelalterliche Version des Fussballs ist längst in Vergessenheit geraten. So wie viele andere mehr als sonderbare Sportarten, die Edward Brooke-Hitching akribisch alphabetisch assortiert in seiner Enzyklopädie versammelt, von Aalziehen über Autopolo, Goldfischschlucken, OktopusRingkampf und Telefonzellenstopfen bis Zentrifugalkegeln. Nichts scheint so abstrus und ausgefallen zu sein, dass es dem menschlichen Bedürfnis nach Zeitvertreib nicht in den Sinn käme. Wobei die Art der Freizeitvergnügungen nicht wenig über den Zeitgeist aussagt. Was sich da alles an Exzentrik tummelt, zeugt von Humor und Erfindungsgeist bis hin zum schieren Wahn-
Es ist unfassbar, wie alt ich plötzlich aussehe. Ich hätte nie gedacht, dass ich emotional so stark darauf reagieren würde. Panik würgt mich. Mein Spiegelbild ist nicht mehr mein Freund. Ich versuche ihm auszuweichen, aber ich kann nicht ablegen, was ich geworden bin – ein aus der Form geratener, verwelkender Körper. Ich kaufe mir einen Nasenhaarschneider und frage meinen Partner, ob er mir die Kopfhaare rasieren kann. Wir einigen uns auf drei Millimeter. Das Experiment soll mir zeigen, wie es um meinen Haarwuchs steht, wo die Löcher sind, ob sich schon Kahlheit abzeichnet. Als die Haare gefallen sind, der Schock: Vorne und hinten ist es tatsächlich lichter geworden. Der Zahnarzt schraubt mir die ersten zwei falschen Zähne in den Kieferknochen, alles zum Preis eines neuen Kleinwagens. Wenn Sie weiter rauchen, wird es immer teurer, warnt er. Ich weiss, in meinem Alter sollte man wirklich aufhören. Als ob das so einfach wäre. Trotzdem schaffe ich es irgendwie und gehe dabei die Wände hoch.
FLORIAN BURKHARDT war Sportler, Model und Internetpionier. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert. Soeben ist seine Autobiografie «Das Kind meiner Mutter» im Wörtersee-Verlag erschienen.
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Älter werden ist nichts für Weicheier. Das hat mir mal ein älterer Mann gesagt. Ja, ja, habe ich damals gedacht. Jetzt fange ich an zu erahnen, wovon er sprach. Dabei hatte ich stets geflötet, dass ich mich vor dem Älterwerden nicht fürchtete. Ich fühlte mich so unsterblich, dass ich sogar behauptete, mich aufs Alter zu freuen. Und jetzt, beim ersten Anzeichen einer kahlen Stelle, kippe ich schon aus den Latschen. «Von nun an ging’s bergab», singe ich nach Hildegard Knef und rase in Zeitlupe die Achterbahn des Alterns hinunter.
sinn. Der Erfinder des Rollschuhs etwa ist da ein leuchtendes Beispiel, endete eine erste Vorführung 1790 doch in einem sündteuren Spiegel – weil Monsieur Merlin dabei noch unbedingt Geige spielen musste. Es sind nicht zuletzt solche Abenteurer, Tausendsassas und Draufgänger, die die Lektüre zu einem Wechselbad zwischen Schmunzeln und Kopfschütteln machen. Gründe für das Aussterben der vergessenen Sportarten sind vor allem Grausamkeit, Gefahr und Lächerlichkeit. Die Grausamkeit richtete sich in erster Linie gegen Tiere, von denen Zigtausende als adlige Lustbarkeit, zur Volksbelustigung, aus Wettgier oder zur politischen Profilierung zu Tode gejagt, gehetzt oder in der Arena zerfleischt wurden. Der Gefahr und Lächerlichkeit fiel eher der Mensch in seiner Tollkühnheit oder Bescheuertheit zum Opfer. Aber das war wenigstens selbst verschuldet. Dass dieser Ausflug in die verborgenen Nischen der Sport-Geschichte Vergnügen bereitet, hat nicht nur mit der schrillen Buntheit von Dreirad-Regatta, Fahnenmastsitzen, Luftgolf, Ski-Ballett und Co. zu tun, sondern ist auch der kräftigen Prise britischen Humors zu verdanken, mit der Hitching seine ungewöhnliche Enzyklopädie gewürzt hat. CHRISTOPHER ZIMMER
Edward Brooke-Hitching Enzyklopädie der vergessenen Sportarten Liebeskind 2016 CHF 39.90
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BILD: ZVG (1), BILD: RODO WYSS (1), BILD: MARCEL KOLLER (1)
Basel «BUT – Bild und Ton», Konzert, Surprise Strassenchor und Schule für ungehinderte Musik SFUM, Sa, 14. Oktober, 19 Uhr, Union, Klybeckstrasse 95, Basel. www.sfum.ch
gewählt hat: den der persönlichen Erinnerung. Silver Hesse beispielsweise, Architekt und Planer, erinnert sich an seinen Grossvater Hermann Hesse. Und Rosmarie Primault erzählt von Max Frisch, dessen Sekretärin sie 21 Jahre lang war. Dichter dran ist noch die Begegnung mit den hinterbliebenen Ehepartnern und Liebsten von Grössen wie Werner Matthias Diggelmann oder Aglaja Veteranyi. Und auch Joy Matter, Berner Politikerin und Witwe von Mani Matter, beantwortet gern die eine oder andere Frage zur viel zu jung verstorbenen Ikone des Schweizer Chansons. WIN
Die Blockflöte gilt vielen als Folterinstrument. Woche für Woche quälte man sich als Kind in der sterbenslangweiligen Flötenstunde. Einzig das Üben des höchsten D stillte zwischenzeitlich Rachegelüste an Elternohren. Glücklich, wer früh genug die Kurve zu einem anderen Instrument gekriegt hat. An der Schule für ungehinderte Musik SFUM geht es anders zu: Hier ist Selbstbestimmung eines der Unterrichtsziele. Geistig behinderte Menschen lernen den freien Umgang mit Instrument, Inspiration und Komposition. Und nur wer will, erobert eines Tages die Bühne. Wie im Union, gemeinsam mit dem Surprise Strassenchor. WIN
Olten Aare Brut, Prix Suisse d’Art Brut 2017, Sa, 7. Oktober bis Sa, 28. Oktober, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Gerolagcenter, Industrie 78, Olten. www.aarebrut.ch
Zum ersten Mal wird der Performancepreis in Zürich verliehen, und dafür wird erst mal viel performt: von den Zürcher Künstlern Gregory Hari, Leo Hofmann, Annina Machaz und Mira Kandathil, von den Genfern Nicolas Cilins und Tina Smoljko, Jérôme Leuba und Ramaya Tegegne und dem Basellandschäftler Dawn Nilo. Das sind die Facts. Der Rest gehört jenen Zuschauern, die mit Körpern, Bühne, Licht, Raum etwas anfangen können. Denen, die einen Zugang zu Sinnlichem wie zu Intellektuellem finden können. Wer sich jetzt nicht angesprochen fühlt, der soll trotzdem hin und mal schauen, was es mit ihm macht. Denn es gibt noch andere Wege, sich die Welt anzueignen, als über News-Meldungen und Facebook. DIF
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schen mit Behinderungen, hinter der Idee der Ausstellung, zum anderen Kunstschaffende. Jean Dubuffet war es, der in den Vierzigerjahren den Begriff der Art Brut als Kunst von Menschen ohne akademische oder professionelle Ausbildung geprägt hat. Der Unterschied zu Profis: Sie schöpfen aus ihrem Inneren, ohne sich in Nachahmung und Anpassung zu verbiegen. André Robillard, eine Ikone der Art Brut, ehrt die Veranstaltung als Schirmherr. Er wurde von Jean Dubuffet entdeckt und ist bekannt für seine Gewehre, welche das Elend töten. Die Ausstellung endet am 28. Oktober mit einer öffentlichen Auktion. DIF
Zürich «Hottinger Literaturgespräche – Von Nahem erlebt», 22.09. Olten, Schützi 20:00 Joy Matter über Mani Matter, 23.09. Liestal, Pfarreisaal Bruder Klaus 20:00 27. Oktober, 20 Uhr, Theater am Neumarkt, 24.09. Basel , Kulturzentrum Union 17:00 Autodidaktin, Person mit BehinNeumarkt 5, Zürich. derungen, von kon- 19:30 20.10.abweichend Luzern, Lukassaal www.theaterneumarkt.ch ventionellen Lebensentwürfen, 21.10. Winterthur, Pfarrei St. Laurentius 19:30 einzigartiges, persönliches und ATD Vierte WeltSoSchweiz neuartiges Universum: lauten , www.vierte-welt.ch Es ist ein ganz besonderer Zugang, die Teilnahmebedingungen für den Literaturliebhaber und -kritiAare Brut. Zum einen steht Procap, ker Charles Linsmayer für seine der Mitgliederverband für Men«Hottinger Literaturgespräche» Surprise 410/17
Zürich Performancepreis Schweiz 2017, So, 22. Oktober, Performances ab 13 Uhr, Preisverleihung 20.30 Uhr, Gessnerallee, Zürich. www.gessnerallee.ch
22.09. Olten, Schützi 20:00 23.09. Liestal, Pfarreisaal Bruder Klaus 20:00 24.09. Basel, Kulturzentrum Union 17:00 20.10. Luzern, Lukassaal 19:30 21.10. Winterthur, Pfarrei St. Laurentius 19:30 ATD Vierte Welt Schweiz, www.vierte-welt.ch
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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01
bewegstatt.ch, Janine Holenstein, Frauenfeld
02
Naef Landschaftsarchitekten GMBH, Brugg
03
Yogazeitraum, Wädenswil
04
Echtzeit Verlag, Basel
05
Schweizerisches Tropeninstitut, Basel
06
Iten Immobilien AG, Zug
07
AnyWeb AG, Zürich
08
Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
09
Madlen Blösch, GELD & SO, Basel
10
Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern
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Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel
12
Gemeinnütziger Frauenverein Nidau, Nidau
13
VXL gestaltung und werbung ag, Binningen
14
Hervorragend AG, Bern
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Lisa Stettler Körpertherapie, Bäch
16
Coop Genossenschaft, Basel
17
Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar
18
Maya-Recordings, Oberstammheim
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Scherrer & Partner, Basel
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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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ChemOil Logistics AG, Basel
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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern
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Institut und Praxis Colibri, Murten
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Kaiser Software GmbH, Bern
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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo
SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm
Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?
Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.
Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.
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Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.
Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.
Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@ surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!
Wir alle sind Surprise
Sozialer Stadtrundgang
Ausgabe 407
Ich möchte mich ganz herzlich für die beiden Führungen sowie die Interviewstunde mit Stadtführer Markus Christen bedanken. Es hat alles ganz wunderbar geklappt und die Lernenden waren je nach Situation interessiert, überrascht, schockiert und wurden zum Nachdenken angeregt.
Über diese Ausgabe habe ich mich sehr gefreut, weil Sie über Kibrom geschrieben haben: Dieser Mann ist sehr beeindruckend. Jemand, der jeden Tag ein Strahlen im Gesicht weiterverschenkt an Mitmenschen, auch wenn er selbst nicht das leichteste Schicksal hat, ist ein sehr starker und unglaublich guter Mensch. Für mich mit meinen jungen 21 Jahren ist Kibrom ein Vorbild für mich und unsere Gesellschaft.
«Schockiert»
«Ein Vorbild»
IA . KÖZ, Reinach
Ausgabe 408
Ausgabe 408
«Aussergewöhnlich»
Kolumne «Moumouni... beleidigt»
Ein gelungener, liebevoller Bericht über Slavcho Slavov, diesen aussergewöhnlichen, liebenswürdigen Menschen. Ich kann sein Buch wärmstens empfehlen. Surprise wird bei uns regelmässig gelesen, wir danken dem ganzen Team für die immer wieder guten Geschichten!
S. & P. BONET TI, Spiegel
Herzliche Gratulation zu diesem herrlich geschriebenen Artikel einer Frau über die dämliche Ausdrucksweise eines Mannes. Endlich schreibt mal jemand über political correctness so, dass ich als Leser Appetit bekomme, mich in Zukunft politisch korrekter auszudrücken und nicht einfach nur genervt bin. K. BÜRGI, Rheinfelden
Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel
Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer
Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo
Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Joëlle Jobin, Henry Hargreaves, Eva Hediger, Joseph Khakshouri, Whitney O`Connor
Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik
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Druck AVD Goldach
Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Amir Ali (ami)
Auflage 21 800
Sara Winter Sayilir (win), Diana Frei (dif), Reporter: Beat Camenzind (bc), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella
Surprise 410/17
Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach
Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
M. JUNELE, Steffisburg
Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort
Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 410/17
Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Surprise, Spalentorweg 20, CH-4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@surprise.ngo
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FOTO: BODARA
Surprise-Porträt
«Alles ist besser, als zuhause zu sitzen» «Ich bin seit knapp vier Jahren in der Schweiz, und vor eineinhalb Jahren habe ich bei Surprise angefangen. Zu Surprise kam ich über einen Nachbarn, der auch Eritreer ist. Ich sah ihn immer mit den Heften, und eines Tages sprach ich ihn darauf an. Er erklärte mir, worum es ging, und nahm mich mit ins Büro der Regionalstelle Zürich. Zuerst bekam ich dann einen Platz in meinem Wohnquartier Wollishofen zuge wiesen, aber dort verkaufte ich leider sehr wenig. Mitt lerweile arbeite ich an zwei Standorten, mit denen ich sehr zufrieden bin. Beide sind vor einer MigrosFiliale, der eine in Oberwinterthur und der andere in Zürich an der Schmiede Wiedikon. Das mache ich jeweils von Montag bis Samstag, und am Sonntag gehe ich in die Kirche. Bis vor Kurzem ver kaufte ich immer vormittags von acht bis zwölf Uhr, am Nachmittag ging ich in den Deutschkurs. Derzeit bin ich flexibler, denn ich muss warten, bis mir der nächste Kurs bezahlt wird. Ich versuche jetzt, zuhause etwas Deutsch zu lernen, was aber sehr schwierig ist für mich. Ich muss hier alles von Grund auf lernen. In Eritrea, wo ich herkomme, war ich Maurer und Gärt ner. Ich habe zum Beispiel kein Englisch gelernt und war nur sehr kurz in der Schule. Sehr lang hingegen war ich im Militär- oder Nationaldienst. Der Staat kann einen auf unbestimmte Zeit für sich arbeiten lassen, jahre- oder jahrzehntelang. Deshalb bin ich schliesslich geflohen. Als ich in der Schweiz einen sicheren Aufenthaltsstatus hatte, verliess meine Familie Eritrea ebenfalls. Meine Frau ist mit unseren vier Töchtern und dem Sohn der zeit in Äthiopien. Wir mussten einen DNA-Test machen, um zu beweisen, dass wir zusammengehören. Jetzt warten wir darauf, dass sie ein Visum für die Schweiz erhalten. Ich hoffe, dass es nicht mehr lange dauert. 30
Semere Ghebrab, 45, verkauft das Surprise Strassenmagazin in Oberwinterthur und in Zürich Wiedikon. Er möchte besser Deutsch lernen – und hofft, dass seine Familie bald bei ihm sein wird.
Sie fehlen mir alle sehr. Meine Älteste ist 14, die jüngste Tochter fünfeinhalb, der Sohn ist der Mittlere. Sie sind seit einem halben Jahr in Addis Abeba und können dort nicht in die Schule. Das darf nicht zu lange so bleiben. Surprise verkaufen ist eine gute Arbeit. Auch wegen des Geldes, ich kann mir so ein bisschen etwas zur Sozial hilfe dazuverdienen. Mit meinen Sprachkenntnissen habe ich ehrlich gesagt auch keine Aussichten auf eine reguläre Anstellung, und ich würde sagen, dass alles besser ist, als zuhause zu sitzen. Für mich ist es auch fast die einzige Möglichkeit, mit Schweizern in Kontakt zu kommen. Im Alltag sprechen die Menschen ja Schweizerdeutsch, was ich noch viel weniger verstehe. Darum tut mir jeder Schwatz gut, auch wenn es nur zwei, drei Worte sind. Für die Leute, die oft in Eile sind, ist es vielleicht nur eine kleine Geste. Aber ich freue mich darüber immer sehr.»
Aufgezeichnet von AMIR ALI
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Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.
Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1
Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BERATUNG
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN Information
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Erlebnis
Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel
SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und aufSurprise die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. 410/17
INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 PC 09.05.17 15:43 Seite surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: 12-551455-3 | IBAN CH11 1 0900 0000 1255 1455 3
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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS BASEL BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brassierie Lorraine, Quartiergasse 17 Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 Zentrum 44, Scheibenstr. 44 BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 Blend Teehaus, Furrengasse 7 OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 12 | Sphères, Hardturmstr. 66
Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise 32
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