Strassenmagazin Nr. 412 3. bis 16. November 2017
CHF 6.–
davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden
Aufstieg
Im Schatten
Die Geschichte von einem, der sich von ganz unten nach oben kämpft Seite 8
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Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.
Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden
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Editorial
Underdogs und Anreize Von den Armen und Schwachen fordert man gerne mehr Anstrengung und Zielstre bigkeit. Das Stichwort lautet: Anreizsystem. Man mag ja gemeinhin Kämpfernaturen. Sich nicht unterkriegen zu lassen, nach jedem Hinfallen wieder aufzustehen – das wird gelobt und bewundert. Daher auch die Faszination für Sport, der uns die grossen menschlichen Dramen in verkraftbaren Por tionen aus erträglicher Distanz bietet. Kaum etwas versinnbildlicht den Kampf des Underdogs so sehr wie das Boxen. Es sind Geschichten wie jene des kürzlich mit 95 verstorbenen Jake LaMotta, dessen aus Sizilien nach New York eingewander ter Vater ihn schon als Kind im Quartier kämpfen liess, um die Miete mitzufinanzie ren. Oder jene von Mike Tyson, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und mit 13 ein Kleinkrimineller, später aber der letzte wahre Schwergewichtschampion.
ins Licht. Seine Geschichte ist die des schmächtigen Sohnes, der die Mutter vor den Prügeln des Vaters schützt. Heute ist er der wahrscheinlich beste Boxer der Schweiz (ab Seite 8). Hakobs Geschichte zeigt aber auch: Ausdauer und Willens stärke kommen an ihre Grenzen, wenn die richtigen Papiere oder das nötige Geld fehlen. Anreize sind nur so stark wie die Strukturen, auf denen sie basieren. Zum Schluss noch etwas in eigener Sache: Mit diesem Editorial verabschiede ich mich in eine berufliche Auszeit. Ab sofort und bis nächsten Sommer vertritt mich Georg Gindely auf der Redaktion. Er war viele Jahre Redaktor beim Tages-Anzeiger, zuletzt Mitgründer und Chefredaktor des Magazins «Grosseltern». Ich freue mich auf frischen Wind – und jetzt schon auf mein nächstes Editorial. Eine gute Zeit wünscht,
Auch Ando Hakob, der Mann auf unserer Titelseite, kämpft sich aus dem Schatten 4 Aufgelesen 5 Vor Gericht
Hofer und das Kokain
12 Selbsthilfe
«Die Empörung der Armen wächst»
AMIR ALI Redaktor
16 Ausbeutung
Wo alles besser werden soll
28 SurPlus Positive Firmen
... mit den Nachrichten 7 Die Sozialzahl
8 Aufstieg
Der Traum des Boxers
22 Migration
Nagmeldin zählt die Tage 24 Tanz
Neue Orte
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Lieder der Roma 27 Veranstaltungen
6 Moumouni ...
Späte Kinder wirken nach
26 Randnotiz Konzert
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt
«Ich war meine eigene Chefin»
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Aufgelesen
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
FOTO: REUTERS/LUKE MACGREGOR
Einzigartig «Jeder von uns hat das Recht auf eigenen Wohnraum und Privatsphäre», lautet die Maxime von Y-SÄÄTIÖ, der finnischen Stif tung für günstigen Wohnraum. 16 000 Wohnungen in 55 Städten und Gemeinden unterhält die Organisation, die in den letzten 30 Jahren geschätzt 8500 Menschen ein Dach über dem Kopf verschafft hat. Die Stiftung konnte damit die Zahl der Obdach losen im 5,5 Millionen-Einwohner-Staat Finnland von 20 000 im Jahr 1985 auf heute 7500 reduzieren. Europaweit ist Finnland derzeit das einzige Land, das einen Rückgang der Obdachlosigkeit verzeichnet.
FOTO: TANU K ALLIO
STRASSENKREUZER, NÜRNBERG
Nach zehn Jahren auf der Strasse hat der Finne Risto Haverinen wieder ein eigenes Zuhause.
Felidae In Australien leben 3,3 Millionen Hauskatzen – Grund genug für die dortige Strassenzeitung, ein paar Fakten zum Thema zusammenzutragen. Wussten Sie, dass erwachsene Katzen nur Menschen anmaunzen, nicht aber andere Katzen? Rechts und links sind bei den Vierbeinern Fragen des Geschlechts: Katzen sind in der Regel Rechtspföter, Kater Linkspföter. Fast alle erwachsenen Katzen sind laktose-intolerant. Sie können «süss» nicht schmecken und schlafen knapp 17 Stunden am Tag. Und jeder Haustiger läuft schneller als der jamaikanische Rekordsprinter Usain Bolt.
THE BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE
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Kater Bob bewacht die Münzen, die seinem Begleiter, dem ehemaligen Obdachlosen und Strassenmusiker James Bowen, hingeworfen wurden. Bowens Buch über seine lebensverändernde Begegnung mit dem Kater wurde jüngst verfilmt und kam Anfang des Jahres unter dem Titel «Bob, der Streuner» in die Kinos. Surprise 412/17
Wer gut verdient und über Bildung verfügt, lebt länger. Laut einer amerikanischen Studie sterben die Bewohner der ärmsten Regionen der USA rund 20 Jahre früher als in den reichen Gegenden des Landes. Auch in Deutschland und der Schweiz leben die Menschen in den Regionen mit dem höchsten Durchschnittseinkommen am längsten. Wer kein Geld und kein Zuhause hat, dem ergeht es schlecht: Laut einer Hamburger Studie werden Langzeit obdachlose im Durchschnitt nur 47 Jahre alt.
HEMPELS, KIEL
Aufgefüllt
Anders als in der Schweiz fliesst Trinkwasser in Deutschland nicht aus jedem Brunnen. Um zu verhindern, dass die Menschen unterwegs Wasser in PET-Flaschen kaufen und damit Müll verursachen, wirbt «refill-deutschland.de» für das kostenfreie Auffüllen von Mehrweg flaschen in Gaststätten. «Refill- Station»-Aufkleber und eine Online- Landkarte bieten Orientierungshilfe. Seit Mai sind so mehr als 700 Nachfüllstationen entstanden.
BODO, BOCHUM/DORTMUND
Leuchtfeuer 67 Prozent der deutschen Fussballstadiongänger sprechen sich laut einer repräsentativen Studie für das Abbrennen von Pyrotechnik im Stadion aus, sofern dieses sicherer gestaltet wird. Nun hat eine dänische Firma eine Variante der Leucht signale entwickelt, die mit 200 Grad Brandtemperatur rund 1000 Grad kühler brennt als die klassische Variante, sich mit Wasser löschen lässt und damit deutlich weniger gefährlich ist – aber auch weniger hell leuchtet.
ASPHALT, HANNOVER
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Reich und gesund
Vor Gericht
Dealen gegen Midlife-Krise Auf den ersten Blick ist nicht auszumachen, wer von den beiden Herren in der Wandelhalle des Bezirksgerichts Zürich der Angeklagte und wer der Verteidiger ist. Beide verfügen über ein gepflegt-kreditwürdiges Aussehen, beide tragen sie Anzug mit Krawatte, ein Hemd in unschuldigem Weiss und eine Brille. Und beide stellen ihren Aktenkoffer zwischen die Füsse. Nur wer genau hinschaut, bemerkt die schiefen, abgetragenen Absätze am einen Herren schuhpaar. Sie gehören zum Anwalt, wie sich bei Verhandlungsbeginn herausstellt. Der andere, der mit den tadellosen, polierten Lederschuhen und dem akkuraten Seitenscheitel, ist Filialleiter, Vater von zwei Kindern und Grossvater. Im Frühling letzten Jahres klickten bei ihm die Handschellen. Er ist angeklagt wegen Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz. Gelegentlich spürt eben auch der brave Bürger das Verlangen, die Gegenden ausserhalb des rechten Weges zu erkunden. Dafür drohen ihm nun 13 Monate Gefängnis. Der bislang völlig unbescholtene Herr Hofer* hatte in einem Fitness-Club einen ehemaligen Schulkollegen getroffen, der statt einer kaufmännischen Karriere eine als Drogendealer gemacht hatte und ihm immer wieder Räuberpistolen aus seiner kriminellen Vergangenheit erzählte. «Da bin ich auf die irrwitzige Idee gekommen, so etwas auch einmal zu versuchen.» Gedacht, getan: Über die alten Kontakte des Dealers kaufte er 100 Gramm gestrecktes,
verkaufsfertiges Kokain, die ihm ein Kurier namens «Arkan» geliefert hatte. Ebenfalls über den erfahrenen Dealer liess er in der Nachtclubszene nachfragen, wer Interesse daran habe. Den ersten Deal brachte Herr Hofer mit Erfolg über die Bühne. Er konnte 300 Franken ins Portemonnaie stecken. Der zweite Deal, rund 10 Gramm, brachte sogar 800 Franken ein. Doch die Freude war von kurzer Dauer. Kurz nach dem dritten Deal wurde der Käufer festgenommen, und der führte die Poli zei direkt zu Herrn Hofer. Als sie seine Wohnung durchsuchten, fanden die Beamten in der Werkzeugkiste die restlichen 85,1 Gramm gestreckten Kokains, jedoch keine Hinweise auf eigenen Konsum. Herrn Hofers Familie und seine Freundin seien aus allen Wolken gefallen, wie der Verteidiger wortreich schildert: Schliesslich sei sein Mandant Nichtraucher und Abstinenzler, der nicht einmal ein Gläschen Rotwein zum Essen trinke. Dass er etwas mit Drogen zu tun haben könne, sei unbegreiflich. Herr Hofer – der Anwalt streicht es mehrfach heraus – sei kein Dealer. Sein Mandant habe wohl eine Midlife-Krise geschoben. «Es ging mir nur um die Abenteuerlust und den Nervenkitzel», ergänzt Herr Hofer reumütig. «Wenn ich darüber nachdenke, hätte ich besser eine Harley gekauft.» Die Dealerei sei eine Riesendummheit gewesen. Es bleibt bei der vom Staatsanwalt beantragten 13-monatigen Freiheitsstrafe – auf Bewährung, weil er keine Vorstrafen hat – sowie einer Busse von 500 Franken. «Halten Sie sich von dubiosen Leuten fern», rät ihm der Richter freundschaftlich. «Über haupt: Hände weg von Drogen!» Herr Hofer nimmt den Tipp dankend an. * persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN ist Gerichtsreporterin in Zürich.
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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
arüber bilden kann, wenn man keine d Nachrichten schaut. Ich glaube, es wäre mir lieber gewesen, sie hätten Sachen gesagt, wie: «Ist mir eigentlich wurscht, was in China passiert. Hauptsache, es fällt kein Sack Reis um und die wollen alle hierher.» Oder: «Hauptsache, der Flügelschlag irgendeines Schmetterlings klaut mir nicht die Butter vom Brot!»
Moumouni …
... mit den Nachrichten Ich habe in letzter Zeit gleich zwei Leute getroffen, die mir in einem Gespräch einfach so, frei heraus (ich habe nicht ge fragt) erzählt haben, sie schauten keine Nachrichten mehr, weil das alles zu trau rig sei, was da gezeigt werde. Ich erlaube mir, das zu kommentieren (auch wenn mich niemand gefragt hat), denn es hat mich ein wenig verwirrt. Meine erste Reaktion war ein verständnis volles Nicken und ein wenig Mitleid. Nachrichten sind schon belastend, finde ich auch. Möchte man auf oberflächli chen Beschreibungen bestehen, waren beide Personen weisse Männer Ende 30, die ansonsten gern und viel reisen und relativ wohlhabend sind. Mit relativ meine ich: Kim Kardashian würde wohl lachen, alle anderen vom armen Kind in Afrika bis zur Zürcher Studentin würden sagen: «Läuft bei dir!» 6
Leider erst im Nachhinein dachte ich: Komm schon, Junge! Du musst weder bei jeder Anschlagsmeldung hoffen, dass deine Familie nicht davon betroffen ist, noch dass die Meldung eine Auswirkung darauf hat, wie du in nächster Zeit als Mitglied einer Gesellschaft behandelt wirst. Kaum etwas im Leben dieser Män ner ist von dem Bösen in den Nachrich ten, die zu schauen sie zu sehr depri miert, auf irgendeine Weise gefährdet. Und doch ziehen sie es vor, über ihre Empfindsamkeit zu sprechen statt über die Missstände selbst. Im weiteren Verlauf ging es im einen Gespräch um die Gefahr einer Invasion durch die Chinesen, im anderen um die Schönheit der Welt, die durch Reisen ausgiebig erkundet wurde. Weiter noch einige Themen, von denen ich fand, dass man sich eigentlich kaum ein Urteil
Ich sollte vielleicht klarstellen, dass es mir nicht um die Einschaltquote von «10vor10» geht. Und ich verstehe auch, wenn man keine Lust hat, sich den Tag von Meldungen über Anschläge auf Flüchtlingsheime und Kriege in der Welt verderben zu lassen, oder zumindest von der Empathie, mit der man darauf rea giert. Ich verstehe auch, dass es frustrie rend ist, das Gefühl zu haben, man könne nichts gegen das Leid auf der Welt tun (viel reisen und viel konsumieren hilft allerdings auch nicht, glaube ich). Ich möchte jedoch beim besten Willen nicht auch noch Mitleid mit erwachsenen, wohlhabenden Männern haben müssen, die darüber jammern, wie sehr sie Nach richten (die sie nicht einmal schauen) belasten. Ich finde es komisch, dass beide ihre Ignoranz als Sensibilität tarnten und sich lieber als besonders einfühlsam darstellten, als sich einfach als unpoli tisch zu outen. Sich dafür entscheiden zu können, keine Nachrichten mehr zu schauen oder zu lesen, ist keine Schwäche. Sondern ein Privileg. Wie sagte Onkel Jill Scott Heron schon? «The Revolution will not be televised.» Damit hat er wohl recht. Vor allem, wenn keiner mehr hinschaut.
FATIMA MOUMOUNI hockt sich jetzt vor die Glotze und wartet auf die Chinesen. Ausserdem denkt sie darüber nach, dass wahrscheinlich nicht nur weisse Männer Heulsusen sind.
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Die Sozialzahl
Späte Elternschaft
INFOGRAFIK: BODARA, QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2017): FAMILIEN IN DER SCHWEIZ. STATISTISCHER BERICHT 2017. BERN.
Das Elternglück stellt sich immer später ein. Bei den Geburts jahrgängen 1934 bis 1943 waren rund zwei Drittel der Frauen und die Hälfte der Männer bei der Geburt des ersten Kindes unter 30 Jahren alt. Eine Generation später zeigt sich ein ganz anderes Bild. Nur noch 30 Prozent der Frauen und 19 Prozent der Männer der Geburtsjahrgänge 1974– 1983 waren unter 30 Jahre alt, als sie Eltern wurden. Das Bild akzentuiert sich noch, wenn das Bildungsniveau der Eltern berücksichtigt wird. Über den ganzen Beobachtungszeitraum liegt der Anteil der frühen Eltern bei den Frauen und Männer mit einem Tertiärabschluss (höherer Berufsbildungsab schluss, Studium an einer Universität oder Hochschule) unter jenem der Frauen und Männern mit einem tieferen Bildungs niveau. Je kürzer die berufliche Ausbildung dauert, je früher kommt es zu einer Familiengründung. Bei den Geburtsjahr gängen 1974–1983 sind nur noch rund 14 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer unter 30 Jahre alt, wenn ihr erstes Kind zu Welt kommt. Die Bildungsexpansion der Frauen hat über die Jahre deutliche Spuren bei der Elternschaft hinterlassen. Der längeren Aus bildungszeit schliesst sich eine Phase der Erwerbsarbeit an, bevor an die Gründung einer eigenen Familie gedacht wird. Dies gilt insbesondere für Frauen mit einem Tertiärab schluss. Der Entscheid für ein Kind hängt dann sehr stark von der Aufteilung der Kinderbetreuung zwischen den Eltern sowie der vorhandenen Kinderbetreuungsmöglichkeiten ab. Ist beides nicht gegeben, bleiben gut ausgebildete Frauen immer öfter auch kinderlos. In der Alterskohorte der 50 bis 59-jährigen Frauen mit einem hohen Ausbildungsniveau haben schon heute 30 Prozent keine Kinder zur Welt gebracht.
atsächlich liegt die durchschnittliche Geburtenrate in der T Schweiz aber bei rund 1,5 Kindern pro Frau. Das Leben führt dazu, das gehegte Kinderwünsche nach unten korrigiert werden. Man ist schon froh, wenn man den familiären und beruflichen Alltag mit einem oder zwei Kindern zu bewältigen vermag. Es wird sich zeigen, ob der Ausbau bei den familienergänzenden Angeboten (Kitas, Mittagstische, Tagesschulen) dazu beitragen wird, dass sich die Lücke zwi schen gehegtem Kinderwunsch und realisierter Kinderzahl allmählich schliesst. Eine späte Elternschaft hat Langzeitwirkung. Machen wir die Rechnung auf. Wenn eine Frau mit 32 ihr erstes Kind bekommt, so ist diese Tochter oder dieser Sohn erst 50 Jahre alt, wenn die Mutter bereits 82 Jahre gelebt hat und allmählich auf Hilfe und Betreuung angewiesen ist. Wurde das Kind selber erst mit 32 Mutter oder Vater, so sind zu diesem Zeitpunkt die Enkelkinder gerade mal 18 Jahre alt, wenn deren Gross mutter das vierte Lebensalter erreicht. Die Mehrfachbelastung für diese Töchter und Söhne aus der späten Elternschaft wird damit besonders deutlich sichtbar. Sie haben sich um ihre Kinder in der Ausbildung zu kümmern und für ihre eigenen betagten Eltern zu sorgen. Da stellen sich nur materielle Fragen, sondern auch Fragen der emotionalen Bewältigung dieser Familienkonstellation. Eine weitreichende Entlastung der spä ten Elternschaft ist dringend und notwendig. Es geht nicht mehr nur um den Mutterschaftsurlaub, sondern auch um den Betreuungs- und Pflegeurlaub, es geht nicht mehr nur um die Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Beruf, sondern auch um die Vereinbarkeit von Betreuung und Pflege von älteren Familienangehörigen und Erwerbsarbeit, und dies für Frau und Mann!
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Die späte Elternschaft wirkt sich auch auf die Gesamtzahl der Kinder aus. Befragungen zeigen, dass die meisten jungen Frauen und Männern gerne zwei Kinder haben würden.
Anteil Frauen und Männer, die bei Geburt des ersten Kindes unter 30 Jahren alt waren, nach Jahrgängen
80
Obligatorische Schule / Sekundarstufe II
70
Tertiärstufe
60 50 40 30 20 10 0
1934–1943
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1944–1953
1954–1963
1964–1973
1974–1983 7
Alles fĂźr seinen Traum: Ando Hakob lebt seit Jahren von 400 Franken pro Monat.
Ein einziges Ziel Aufstieg Ando Hakob ist der vielleicht beste
Boxer der Schweiz. Doch statt um die grossen Titel kämpft er um die eigene Existenz. TEXT SIMON JÄGGI FOTOS KOSTAS MAROS
Da steht er in seinem Trainingsraum und boxt gegen einen Unsichtbaren: Ando Hakobs Fäuste schneiden durch die Luft wie Propellerflügel, die einzelnen Schläge verschwimmen vor den Augen des Betrachters. Rechter Haken, linker Haken, Aufwärtshaken, wumm, wumm, wumm. Jemand hat bei Youtube ein Video von ihm hochgeladen, «The world’s fastest boxer» steht darüber. Mit vollem Namen heisst der 28-Jährige Andranik Hakobian. Zu umständlich, wie er findet, weshalb er sich für die Kurzform entschieden hat. In Hakobs Leben muss jedes Detail stimmen. Denn er hat sich einem einzigen Ziel verschrieben: Er will der beste Boxer der Welt werden. Ando Hakob – 68 Kilo schwer, 1,75 Meter gross, Weltergewicht – beendet sein Training und setzt sich schwitzend auf einen kleinen Klappstuhl. Schweissperlen auf der Stirn, sein Atem geht rasch. Er ist keiner, dem Bescheidenheit liegt: «Ich bin heute der beste Boxer der Schweiz. Und wer das Gegenteil behauptet, kann sich gerne mit mir im Ring messen.» Aufmerksamkeit erregen ist Teil seiner Strategie. In den sozialen Medien hat er sich eine breite Fanbasis erarbeitet, die er fast täglich mit Bildern und Videos versorgt. Ob auf Facebook, in Zeitungsinterviews oder im Ring: Hakob weiss sich in Szene zu setzen. Und er kann boxen, davon zeugen seine sportlichen Erfolge. Hakob wurde Amateur-Schweizermeister, Süddeutscher Meister und gewann in Deutschland das bedeutendste Vereinsturnier des Landes, unter anderem mit einem Sieg gegen den damaligen russischen Vizemeister. Dass Hakob zu den Besten der Schweiz gehört, ist in der Boxszene wenig umstritten. Doch statt um die grossen Titel kämpft er weiterhin um die eigene Existenz. «Erfolgreiche Boxer haben so gut wie immer eine schwierige Vergangenheit», sagt Hakob und meint damit auch sich selbst. Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf im Nordosten Armeniens, sein Vater war Elektro ingenieur. Weil er keine Arbeit fand, zog die Familie von der Hauptstadt Jerevan auf den Bauernhof von Hakobs
Grossvater. Dort stand der kleine Andranik jeden Tag auf dem Feld, half beim Pflügen, Säen und Ernten. «Es war ein hartes Leben», sagt Hakob. An den Füssen trug er stets dieselben alten Gummistiefel, um die Hüfte diente ihm ein altes Seil als Gurt. Es gab Tage, an denen die Familie nichts zu essen hatte. «Dann ereignete sich ein Unfall» Als er sieben wurde, entschieden sich die Eltern zur Flucht in ein neues Leben. In Deutschland, so hofften sie, würden ihre drei Kinder eine bessere Zukunft finden. Die Erinnerungen an die Flucht werde er nie vergessen, sagt Hakob: Zusammen mit seiner Familie musste er nachts über zugefrorene Flüsse laufen, in Polen wohnten sie in einem schmutzigen Zimmer, zu fünft auf zehn Quadratmetern. «Die Wände waren voll mit Schimmel, es hatte Kakerlaken. Bis heute denke ich daran zurück, wenn ich mich hier in der Schweiz über etwas beschweren möchte.» Von Polen reiste die Familie weiter nach Deutschland, Frankreich und Spanien. Ihr Gesuch um Asyl wurde überall abgelehnt. Drei Jahre nachdem sie ihre Heimat verlassen hatten, gelangten die Hakobians 1999 in die Schweiz, erst nach Genf, dann in einen Zivilschutzkeller im Aargau. Schliesslich konnten sie in einem Flüchtlingsheim eine kleine Wohnung beziehen. Sie waren Wirtschaftsflüchtlinge, und auch in der Schweiz standen ihre Chancen schlecht. Die Ungewissheit, ob er in der Schweiz würde bleiben können, habe wie Steine auf ihm gelastet, sagt Hakob. «Stell dir vor, jeden Tag hast du Angst, dass du abgeschoben wirst. Dass am Morgen früh die Polizei kommt und an die Türen klopft. Bäm, bäm, bäm, und abschieben.» Was das bedeutete, wusste Hakob von der Schule, wo manchmal am Morgen ein Stuhl frei blieb und der Mitschüler nie mehr wiederkam. Es war ein Schicksal, das auch Hakob drohte. «Dann ereignete sich in unserer Familie ein Unfall.» Ando Hakob erzählt bis heute nur stockend davon.
Wenn der Vater die Mutter schlug, stellte sich Ando Hakob dazwischen. In jener Zeit wurde er zum Boxer.
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Die Streitereien zwischen seinen Eltern begleiteten ihn die ganze Kindheit hindurch, nach der Ankunft in der Schweiz wurden die Auseinandersetzungen heftiger. Der Vater, der zur Rückkehr nach Armenien drängte, ging immer wieder auf die Mutter los. War Hakob zuhause, stellte er sich dazwischen. «Meine Mutter war mir heilig. Ich sagte meinem Vater, er solle sie nicht anfassen.» Oft bekam Hakob selber die Fäuste seines Vaters zu spüren. Als er eines Tages am Mittag von der Schule nach Hause kam, stand die Polizei mit einem Grossaufgebot vor dem Wohnhaus. Der Vater, so einer der Beamten, habe die Mutter mit einem Messer angegriffen. Sie erholte sich von den Verletzungen, der Vater wurde nach Armenien abgeschoben. Doch im Leben der Familie kehrte keine Ruhe ein. Der Vater drohte der Mutter weiterhin, zuerst aus Armenien. Eines Tages stand er plötzlich vor der Wohnung der Familie in Ennetbaden. Die Polizei verhaftete ihn, die Behörden reagierten und entschieden: Die Familie darf bleiben. Eine Rückweisung nach Armenien sei aufgrund der anhaltenden Drohungen nicht mehr zumutbar. In jener Zeit wurde Ando Hakob zum Boxer. Er, damals ein schmächtiger Junge, wollte sich nicht länger hänseln lassen und begann sich zu wehren. Wollte Dampf ablas10
sen. Zuerst auf der Strasse, dann wechselte er in den Boxclub. Nur ein Jahr, nachdem er mit dem Boxsport begonnen hatte, wurde Ando Hakob Amateur-Schweizermeister. Er schloss die kaufmännische Ausbildung ab und setzte fortan alles auf den Sport. «Ich sagte mir, ich lebe im sichersten Land der Welt. Wo, wenn nicht hier, soll ich es riskieren und meinen Traum leben?» Wegen eines Streits mit Swiss Boxing, dem schweizerischen Boxverband, setzte er seine Karriere zuerst in Deutschland fort. Nach seinem Titel als Süddeutscher Meister und dem Sieg am Internationalen Chemnitzer Boxturnier wurde der deutsche Boxverband auf ihn aufmerksam. Er war im Gespräch, um für Deutschland an der renommierten World Series of Boxing anzutreten, der weltbekannte Boxmanager Egis Klimas lud ihn ein, in die USA zu kommen. Alles schien möglich. Ein schmächtiger Junge lässt Dampf ab Doch was Hakob fehlte, war ein gültiger Reisepass. Mit dem Schweizer Ausländerausweis konnte er seine Karriere in Deutschland nicht fortsetzen. Weil Armenien sich weigerte, ihm einen Reisepass auszustellen, kehrte Hakob zurück in die Schweiz. Seit zwei Jahren ist er inzwischen Surprise 412/17
Ein Jahr, nachdem er zu Boxen begann, wurde Hakob Schweizermeister.
Weil ihm das Geld fehlt, provoziert er Wunschgegner auf Facebook.
als Profi registriert. Seine bisherige Bilanz ist makellos: neun Kämpfe, neun Siege, davon fünf durch K.O. Zuschreiben kann er diese Erfolge allein sich selber. Hakob ist Trainer, Manager und Promoter in einem. «Ich bin mein bester Mitarbeiter», sagt er, «ich halte meinen Kopf in den Ring.» Er hätte gerne einen Manager, doch der richtige sei bisher noch nicht gekommen. Also macht er es lieber selbst. Es fehlt das Geld Es ist ein hartes Leben, das der vielleicht beste Boxer der Schweiz führt. «Finanziell lohnt sich das überhaupt nicht. Ich lebe seit fünf Jahren von 400 Franken im Monat.» Seine täglichen Bedürfnisse deckt er zu einem grossen Teil über Tauschgeschäfte. Mit Restaurants, Kleiderlabels, Yoga studio oder Physiotherapie – über 20 Sponsoringverträge hat er abgeschlossen. Er verhilft seinen Partnern zu mehr Öffentlichkeit, im Gegenzug kann er ihre Angebote gratis nutzen. Hakob weiss sich zu helfen, in einer entscheidenden Sache jedoch fehlt ihm das Geld. Möchte er auf der Weltrangliste nach oben gelangen, muss er gegen höher klassierte Gegner gewinnen. Einen solchen Gegner he rauszufordern kostet mehrere tausend Franken – Mittel, Surprise 412/17
über die Hakob nicht verfügt. «Stattdessen versuche ich, meine Wunschgegner auf den sozialen Medien so lange zu provozieren, bis sie zu einem Kampf einwilligen.» Solche Wettkämpfe sind eine Möglichkeit, wie Hakob die Spitze erobern könnte. Vor Kurzem hat er den Schweizer Pass beantragt. Er hofft, dass es einfacher wird, wenn er ihn hat. Dann kann er endlich wieder im Ausland boxen, in den USA, an den Olympischen Spielen vielleicht. Vorwärts geht es für Hakob vorerst in kleinen Schritten. Anfang Oktober kämpfte er in einem Berner Parkhaus. Bis am Tag zuvor hatte er noch Sponsoren gesucht, T-Shirts drucken lassen, auf Facebook die letzten Tickets verkauft. Schliesslich stieg er vor 800 Zuschauern in den Ring. Rechter Haken, linker Haken, Aufwärtshaken, wumm, wumm, wumm. Sein tiefer klassierter, aber technisch starker Gegner aus Georgien ging in der achten Runde zu Boden. Hakob errang seinen neunten Sieg als Profiboxer und rutschte auf der Weltrangliste um 90 Plätze nach oben. Seine neue Position: 265 von 2192. Bis zur Spitze ist es noch ein weiter Weg.
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Wo Armut zuhause ist Selbsthilfe Das Internetcafé Planet 13 in Basel hat als Anlaufstelle für
Armutsbetroffene Preise gewonnen und Nachahmer gefunden. Die Gründer selbst sind der Armut auch nach zehn Jahren nicht entronnen. TEXT SIMON JÄGGI FOTOS LUCIAN HUNZIKER
Dienstagnachmittag, Klybeckstrasse, Kleinbasel. Das Tram Ein pensionierter Informatiker, der im Planet 13 als rollt vorbei in Richtung Deutschland, der Nachmittags Schreibhilfe arbeitet, hilft gerade einer jungen Frau aus verkehr stockt in einer Kolonne. Am Strassenrand, vor Syrien, die sich auf eine Stelle als Reinigungskraft bewirbt. einem Lokal mit grosser Glasscheibe, stehen ein paar äl Erwerbsarbeit ist eines der dominierenden Themen hier. tere Männer afrikanischer Herkunft. Hinter der Eingangs Ein weiterer Freiwilliger ist Sama. Er ist vor 20 Jahren aus türe befindet sich das Internetcafé Planet 13: Anlaufstelle Kamerun in die Schweiz gekommen und gerade dabei, für Arbeitslose, Working-Poor, Migrantinnen, Obdachlose für einen Gast die Bewerbungsunterlagen auszudrucken. und Einsame. «Ich kann hier der Gesellschaft etwas zurückgeben und Es ist laut, ein Stimmengewirr in unterschiedlichsten wertvolle Arbeitserfahrungen sammeln», sagt er. Die Ar Sprachen erfüllt den Raum. Im Vorraum spielen zwei Män beit im Planet 13 ist für viele ein Sprungbrett zurück in ner Schach, umringt von einem halben Dutzend Zuschau den ersten Arbeitsmarkt. So haben über 20 ehemalige ern. Die Arbeitsplätze mit den 30 Computern Arbeitslose auch durch ihr Engage sind restlos besetzt. Menschen suchen Woh ment im Planet 13 wieder zu einer nungen, schreiben Stellenbewerbungen, je festen Anstellung gefunden. mand ist auf Facebook. Bis zu 150 Personen Eine Viertelstunde später sitzen Christoph Ditzler und Avji Sirmoglu am gehen hier jeden Tag ein und aus. Mitten in dem Gewirr steht Christoph Ende der Strasse unter den schattigen Ditzler, der das Planet 13 vor zehn Jahren zu Bäumen eines Bistros. Und erklären, sammen mit seiner Kollegin Avji Sirmoglu wie die Unglückszahl 13 in den Namen gegründet hat. Die Idee: einen Ort zu schaf ihres Internetcafés geraten ist. «In Flug fen, wo Armutsbetroffene kostenlos Zugang zeugen oder in Hotels gibt es oft keine zum Internet haben. Und wenn nötig Unter Sitze oder Zimmer mit der Nummer 13. stützung finden bei Bewerbungen oder im Eben weil sie als Unglückszahl gilt», Kontakt mit Behörden. Über die Jahre sind sagt Sirmoglu. So symbolisiere die Zahl ein Kulturprogramm, eine Reparaturwerk auch ihre Gäste: Menschen, die mitten statt für PCs und Laptops sowie Deutschin der Gesellschaft stehen und doch und Computerkurse für Fremdsprachige hin CHRISTOPH DIT ZLER nicht wahrgenommen werden. zugekommen. Viele der Menschen, die ins Christoph Ditzler und Avji Sirmoglu Planet 13 kommen, sind ausserhalb der wissen, wovon sie reden, wenn sie Schweiz geboren, manche von ihnen sind geflüchtet. An über Armut und Ausgrenzung sprechen. Ditzler verdiente der Wand hängen Bilder vom Meer, von Palmen, von einem sein Geld einst als Marktfahrer. Sirmoglu verlor ihre gut Haus aus Backstein. «I love Eritrea», hat jemand auf eines bezahlte Stelle und landete später wie Ditzler bei der Sozi der Bilder geschrieben. alhilfe. Die beiden waren arbeitslos, als sie vor zehn Jahren Alle paar Minuten ruft jemand Christoph Ditzlers das Internetcafé Planet 13 gründeten, und sind bis heute Name, er eilt vom einen zum nächsten. Ditzler und Sir armutsbetroffen. Ihr Projekt hat zwar Preise gewonnen moglu sind zwei von rund 20 freiwilligen Mitarbeiterin und wird von grossen Stiftungen unterstützt, doch Ditzler nen und Mitarbeitern, die das Planet 13 betreiben. Alle und Sirmoglu erhalten für ihre Arbeit kein Geld. Beide leben sind selber von Armut betroffen oder gefährdet. nach wie vor von der Sozialhilfe.
«Wenn die soziale Schere sich weiter öffnet, werden Proteste folgen.»
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Bewerbungen schreiben und im Internet surfen: die Computerplätze sind begehrt.
Sieht den sozialen Frieden gefährdet: Christoph Ditzler.
Viele Gäste des Planet 13 scheuen die Öffentlichkeit. Armut gilt als Stigma.
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Wollen oder können Sie sich keinen Lohn ausbezahlen? Avji Sirmoglu: Vor einigen Jahren hat ein kantonales Amt angeboten, uns beiden einen Lohn zu finanzieren, aber wir haben Nein gesagt. Denn in dem Projekt steckt viel Idealismus und solidarisches Denken. Das ganze Team müsste einen Lohn verdienen, oder niemand. Würden alle etwas verdienen, kämen wir jährlich auf rund 600 000 Franken Lohnkosten. Am liebsten möchten wir ein eigenes Produkt herstellen, mit dem wir uns finanzieren können. Etwas Sinnvolles, Neuartiges, das sich erfolgreich verkauft. Einzelne Kulturveranstaltungen erhalten jedes Jahr ein Vielfaches von euren berechneten Lohnkosten. Weshalb ist das für Sie keine Möglichkeit? Christoph Ditzler: Mit dem Thema Armut ist es nicht ein fach, Geldgeber zu finden. Man hört immer noch häufig: Armut in der Schweiz gibt es gar nicht. Diese Bilder sind oft verschoben, das macht es schwierig.
«Uns grüssen und kennen viele. Aber wir leben in unserer eigenen ökonomischen Realität.»
Sie stehen seit zehn Jahren in engstem Kontakt mit Armutsbetroffenen. Was sind Ihre Beobachtungen? Sirmoglu: Wir sehen bei uns die abschreckende Wirkung der Schweizer Flüchtlingspolitik. Viel weniger Geflüchtete schaf fen es in die Schweiz. Es waren vor zehn Jahren viel mehr Asyl suchende in Basel unterwegs als heute. So erleben wir es. Das an dere, was wir sehen, sind viele Sozialhilfeempfangende in Not. Es gibt Verschärfungen im Sozi AVJI SIRMOGLU alhilferecht. Und es gibt die De batten über Missbrauch, in denen den Bedürftigen vieles unterstellt wird. Dabei ist das Sozialhilfegeld sehr knapp bemessen. Die Leute drehen jeden Rappen zweimal um. Ditzler: Und es gibt mehr Wohnungslose. Da beob achten wir seit einiger Zeit eine massive Zunahme. Sirmoglu: Menschen, die keine eigene Wohnung mehr haben, aber noch nicht unter der Brücke angekommen sind. Und bei Freunden oder Verwandten auf der Couch schlafen. Es gibt immer mehr Menschen in dieser Über gangsphase. Frauen scheinen davon stärker betroffen zu sein als Männer. 14
Ditzler: Diese Menschen stehen alle enorm unter Druck Sie werden rasch krank, verändern sich psychisch und physisch. Woran liegt das? Sirmoglu: Die Menschen in der Sozialhilfe sind enorm erpressbar. Sie stecken in einem sehr engen Korsett. Die ses Wissen um die eigene Erpressbarkeit macht die Men schen mürbe. Was meinen Sie mit Erpressbarkeit? Sirmoglu: Die Menschen haben keine Perspektiven. Für das Überleben brauchen sie eine Existenzgrundlage. Die erhalten sie durch die Sozialhilfe. Das ist wiederum ver knüpft mit klaren Forderungen, wie zum Beispiel Arbeits einsätze in Programmen des zweiten Arbeitsmarktes und zahlreiche Bewerbungen. Wer sich nicht daran hält, dem drohen Sanktionen. Gleichzeitig ist das Angebot an ein fachen Jobs klein, es gibt kaum Stellen. Die Freiheiten dieser Menschen sind stark beschnitten. Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, damit der soziale Druck schwächer wird? Ditzler: Es braucht mehr richtig entlöhnte Arbeit für weni ger gut Qualifizierte im ersten Arbeitsmarkt. Und mehr guten und bezahlbaren Wohnraum. Von der Sozialhilfe bekommt eine Einzelperson für die Miete 700 Franken. Der marktübliche Preis für eine zumutbare Einzimmerwoh nung zumindest in den Städten wäre aber eher 1100 Fran ken. Nur will zum Beispiel hier in Basel der Kanton seine Beiträge nicht erhöhen, weil man Angst hat, dass dann mehr armutsbetroffene Menschen hierherkommen. Für viele Armutsbetroffene wird es zunehmend schwieriger. Zu gleich entsteht durch die Medien der Eindruck, die Behör den würden immer mehr für Asylsuchende machen, wäh rend sich für die Menschen auf der Strasse kaum etwas ändert. So zumindest erleben es die Betroffenen selber. Es entsteht eine Rivalität? Ditzler: Genau. Die einen bekommen etwas, die anderen nichts. Das schafft Konflikte. So werden Asylsuchende plötzlich zu politischen Gegnern von anderen Armutsbe troffenen. Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass bei den Institutionen eine starke Spezifizierung stattfin det. Die einen kümmern sich nur noch um Asylsuchende, die anderen nur noch um Obdachlose. Man spaltet also gewissermassen die Ärmsten untereinander auf. Das macht uns Sorgen. Surprise 412/17
Wie zeigt sich diese Rivalität? Sirmoglu: Bei uns sitzen dann Menschen, die sich als Schweizerin oder als Schweizer verstehen und ausrufen: Habt ihr das gesehen, jetzt haben sie wieder etwas für Asylsuchende gemacht. Und was wird für uns getan? Wir versuchen dann jeweils, den Groll zu schmälern. Ich ant worte dann, dass die doch nichts dafürkönnen und es ih nen genau gleich elend geht. Aber das ist oft eine Sisyphus arbeit. Ditzler: Das ist auch die Folge der verfehlten Sozialpolitik. Die kantonale Wohnbaupolitik in Basel-Stadt zielt nur noch auf Profit und kümmert sich nicht mehr um b ezahlbaren Wohn raum. Gleichzeitig schaut der Staat zu, wie immer mehr nie derschwellige Arbeitsplätze ver loren gehen und die Roboteri sierung voranschreitet. Sirmoglu: Ich achte Gandhi sehr und bin überhaupt nicht CHRISTOPH DIT ZLER für Gewalt. Aber was die Mäch tigen heutzutage treiben, pro voziert die Menschen enorm. Die Empörung wächst. Was da raus entstehen wird, kann ich nicht voraussagen. Ditzler: Der Druck auf Armutsbetroffene nimmt stetig zu. Wenn die soziale Schere sich weiter öffnet, ist der so ziale Frieden gefährdet. Und Proteste werden folgen.
«Arbeitslosen fehlt nicht nur Geld, sie vereinsamen. Dieses Problem kann auch ein Grundeinkommen nicht lösen.»
vereinsamen. Dieses Problem kann auch ein Grundein kommen nicht lösen. Bevor Sie vor zehn Jahren das Planet 13 gegründet haben, standen Sie an einem ähnlichen Punkt wie viele Ihrer Gäste heute. Was hat sich bei Ihnen seither verändert? Ditzler: Ökonomisch betrachtet sind wir immer noch gleich arm wie damals. Sirmoglu: Wir können heute aber täglich tun, was wir als sinnvoll erachten. Stehen Sie noch am Rand der Gesellschaft? Ditzler: Logo, wir stehen immer noch am Rand. Das sieht man auch. Woran sieht man das? Sirmoglu: Christoph konnte vor ein paar Jahren ganz güns tig drei Strickjacken kaufen, die inzwischen verschlissen sind. Das sehen andere und schauen hin. Mit deinem Er scheinungsbild und dem sozialen Stand beginnt das Be werten und Beurteilen. Wir leben in einer Parallelwelt. Uns grüssen und kennen viele. Aber wir leben in unserer eigenen ökonomischen Realität mit bescheidenen finan ziellen Mitteln, daran hat sich nichts verändert. Dann müssen die beiden zurück ins Internetcafé. Eine Firma hat am Vortag eine Ladung mit gebrauchten Com putern vorbeigebracht, die wollen sie jetzt aussortieren.
Würden Sie sich als Kapitalismusgegner bezeichnen? Sirmoglu: Wir sind Ausbeutungsgegner. Und wir finden, Gewinn und Ertrag sollten anders verteilt sein. So, dass alle ein anständiges Leben in Würde führen können. Irgendwo wird es sonst knallen, wenn vermutlich auch nicht in der Schweiz. Aber auch hier stimmt das Gleich gewicht schon lange nicht mehr, wenn zum Beispiel der CSS-Chef 2014 rund 770 000 Franken Jahresgehalt erhielt und die Armutsbetroffenen Purzelbäume schlagen müs sen, damit sie eine Vergünstigung der Krankenkassen prämie erhalten. Ditzler: Die grösste Prüfung steht mit der Roboteri sierung erst noch bevor. Wir sehen täglich, dass arbeitslo sen Menschen nicht nur das Geld fehlt. Sondern eben auch die sozialen Beziehungen und Kontakte. Die Menschen Surprise 412/17
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Flüchtlingswirtschaft Ausbeutung Die Migranten, die auf den Feldern Süditaliens schuften, sind billiger als Maschinen. Auf einer verlassenen Farm keimt die Hoffnung auf eine stille Revolution. TEXT FRANZISKA TSCHINDERLE FOTOS MARTIN VALENTIN FUCHS
ITALIEN
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Foggia
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Ibrahim verdient 3,50 Euro, um eine 300 Kilogramm schwere Kiste mit Tomaten zu füllen.
Wenn Ibrahim vom Feld zurückkommt, steigt er die Stufen hoch und steht für ein paar Minuten einfach nur da, auf dem Flachdach des weissen, zweistöckigen Be tonklotzes. Nichts versperrt seine Sicht, kein Haus und kein Hügel, und er blickt auf die Strasse, die wie mit dem Lineal ge zogen durch die Ebene von Foggia führt, gesäumt von Feldern, Olivenhainen und Äckern. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt von hier zur Adriaküste, zu Sandstränden, Buchten und Luxushotels. Zum Italien der Touristen, das Ibrahim nicht kennt, obwohl er weiss, dass es dort hinten irgendwo liegt. Wenn im August die Sonne gnadenlos vom Himmel brennt und die Urlauber zum Strand fahren, wird Foggia zum Mekka für Menschen wie Ibrahim: Migranten, die auf den Feldern zu Niedriglöhnen schuften. Die meisten von ihnen leben in Ghettos am Rande der Stadt – Orte der Gewalt, der Armut, der Anarchie. Von dort ist Ibrahim abgehauen. Zuflucht hat er in der Casa Sankara gefunden, einem Ort, an dem alles besser werden soll. Rund 200 Menschen wohnen in dem Gemeinschaftsprojekt, nur ein winziger Bruchteil der Arbeiter, die hier in der Region schuften. Wie unwürdig das Leben als Feldarbeiter im Süden Italiens ist, zeigt sich auch an den alltäglichen Selbstverständlichkeiten, die für die Be wohner der Casa Sankara schon eine Er rungenschaft sind. Ein Stockbett für jeden, Duschräume, warmes Essen – für Ibrahim und seine Mitbewohner ist das Luxus. Wenn Ibrahim vom Dach herunter kommt, um sich in dem schlecht verputz ten Betonklotz in seinem Stockbett auszu ruhen, träumt er von einer Karriere als Fussballspieler. Seine Zimmerkollegen nennen ihn «Iniesta», nach dem spani schen Star des FC Barcelona, der jährlich fünf Millionen Euro verdient. Ibrahim ver dient 3,50 Euro, um eine 300 Kilogramm schwere Kiste mit Tomaten zu füllen. In Europa nennt man Ibrahim nicht Iniesta, sondern: Wirtschaftsflüchtling. Dabei hat sich hier längst eine Flüchtlings wirtschaft etabliert. Junge, kräftige Männer in Sizilien, Kalabrien oder wie hier im apu lischen Foggia ernten zu Niedriglöhnen Tomaten, Orangen, Oliven oder Auberginen. Surprise 412/17
Die Landwirtschaft profitiert von der Mi gration. Während die italienische Regie rung in Rom mit der libyschen Küsten wache verhandelt, um möglichst viele Menschen daran zu hindern, in ein Boot zu steigen, gehören Süditaliens Gemüse produzenten zu den Nutzniessern der irre gulären Zuwanderung. Denn trotz zuneh mender Automatisierung und dem Einsatz von Maschinen auf den Feldern ist die italienische Landwirtschaft unter Druck. China exportiert nicht nur Textilien nach Italien, sondern auch immer mehr Agrar produkte, insbesondere Tomaten. Von ei ner «roten Flut» schreibt das deutsche Handelsblatt. Um in diesem Preiskrieg zu bestehen, sind die Landwirte auf billige Saisonarbeiter angewiesen. Neben Afrika nern, die über die Mittelmeerroute nach Europa geflüchtet sind, auch auf Bulgaren, Rumänen beziehungsweise Roma und Sinti. In Süditalien arbeiten die Saisonar beiter für einen Stundenlohn von drei und vier Euro. Sie leben in Ghettos am Rande der Städte, in stillgelegten Fabriken oder verlassenen Kornspeichern. Disco, Prostitution und Feldarbeit Ibrahims Erzählung von seiner Zeit im Ghetto handelt von improvisierten Elends siedlungen, weit weg von den Blicken der Einheimischen. Die Menschen leben dort ohne Strom und Wasser, in alten Wohn wagen, Containern und Holzverschlägen. Aus Karton, Pressspanplatten und Plastik planen zimmern sie sich Unterkünfte für den Sommer. Nach der Tomatenzeit ziehen sie weiter nach Kalabrien, an die Spitze des italienischen Stiefels, wo sie Zitrusfrüchte ernten. Ihr Leben ist einer strengen Hierar chie unterworfen: Einige wenige kontrol lieren alles, Shops, Diskotheken, Prostitu tion, Drogenhandel und den Transport zu den Feldern. Die Bosse werden «Caporali» genannt, eigentlich eine Bezeichnung für einen militärischen Rang. Die Capos be sorgen den Landwirten billige Arbeiter aus dem Ghetto und verdienen selbst daran mit: 50 Cent pro gefüllter Tomatenkiste und fünf Euro für die Fahrt auf die Felder. Sie sind die Kommandanten in diesem Heer von Erntearbeitern. 17
Hervé will, dass die Menschen eine Alternative bekommen. Essen, Wasser, Vergnügen: Im Ghetto verdienen die Caporali an allem mit.
Die italienische Landwirtschaft ist unter Druck, auch weil China immer mehr Agrarprodukte exportiert.
«Wer 2000 bis 3000 Menschen auf einmal Arbeit verschafft, der hat Macht», sagt Hervé über die Caporali. «Und genau des wegen müssen wir aufpassen.» Hervé, 55 Jahre alt, heisst eigentlich Faye Papa Latyr. Er trägt noch heute den Spitznamen, den ihm sein Grossvater gab, als er ein kleiner Junge war. Gross gewachsen, mit sport licher Kleidung und einer Kette aus Holz perlen um den Hals, wirkt er jugendlich. Sein Ziel: Die Menschen in den Ghettos sol len eine Alternative bekommen. Eine Op tion. Sie sollen die Wahl haben, unter men schenwürdigen Bedingungen leben zu können, ohne Gewalt, Hierarchien, Drogen. Statt Capo wurde er Aktivist Vor zehn Jahren verliess Hervé seine Hei mat Senegal, um nach Italien zu gehen. Zuerst arbeitete er als fliegender Händler, verkaufte Sonnenbrillen und billigen Schmuck an den Stränden der Adria, dann
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wurde er zum Feldarbeiter und erntete Kirschtomaten. Dann, als er eigentlich so weit gewesen wäre, um von dem System zu profitieren, das ihn jahrelang ausgebeu tet hatte, stieg er aus. Männer wie Hervé, die schon lange genug hier sind, um fliessend Italienisch zu sprechen, werden in der Regel selbst zu Capos. Hervé hinge gen wurde vom Tomatenpflücker zum Lob byisten, wandte sich an die Behörden, traf sich mit Politikern und Gewerkschaften. Die Stadtregierung von Foggia stellte ihm einen verlassenen Hof zur Verfügung. Hervé schuf Casa Sankara, einen Rück zugsort für Getriebene wie ihn. Der Ort, an dem für die Erntemigranten von Foggia alles anders werden soll, ist benannt nach Thomas Sankara, sozialistischer Revoluti onär, Freiheitskämpfer und in den Achtzi gerjahren Präsident von Burkina Faso. Auf einem Wandgraffiti sieht man ihn die Faust in die Höhe recken. Und Hervé nennt das, Surprise 412/17
«This is Italy!», sagt Hervé. Regeln, Gesetze, Vertrauen – all das gibt es in Foggia nicht
Foggia-Tomaten bei Migros Auch beim grössten Schweizer Detailhändler landen Tomaten aus Foggia: «Die Tomaten für die gehackten und geschälten Tomaten in der Dose sowie das Tomatenpüree werden in der Region Foggia angebaut», erklärt die Migros auf Anfrage. Zudem beziehe die Migros andere Produkte wie zum Beispiel Fenchel und Broccoli aus Foggia. Frische Tomaten stammten aus anderen Gegenden in Italien. Angaben zu ihren Lieferanten macht die Migros nicht. Wie die im Text erwähnte Princes- Gruppe verweist die Migros darauf, dass ihre Hauptlieferanten für Tomatenkonserven aus Italien grösstenteils maschinell ernteten. Die Migros betont, man toleriere «keine unwürdigen Arbeitsbedingungen, illegale Beschäftigung und Ausbeutung» und nehme «über Standards, Verträge und entsprechende Kontrollen vor Ort Einfluss». Bei Coop heisst es, man beziehe aus Foggia «im Frühling Kleinstmengen an Spargeln und einige Bio-Produkte». Sowohl frische als auch verarbeitete Tomaten stammen aus anderen Regionen Italiens. (ami)
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was hier im Kleinen seinen Anlauf nimmt, stolz «eine Revolution», wenn auch eine stille. Auf dem Areal der Casa Sankara le ben die Menschen in blauen Zelten, die man aus den grossen UN-Flüchtlingsla gern kennt, in zweistöckigen Betonhäu sern und Stahlcontainern. Der Unterschied zum Ghetto, neben dem Luxus eines eige nen Bettes: Alkohol, Drogen und jegliche Form der Gewalt sind verboten. So steht es in der Charta, die jeder unterschreiben muss, bevor er hierherzieht. In einem Container, der als Büro dient, surren die Ventilatoren. Draussen hat es 39 Grad, die Woche zuvor war es noch heisser. Die Hitze macht träge und müde, auf dem Feld kann sie tödlich sein, wenn man nicht genug Wasser trinkt. «Und im Ghetto», sagt Hervé, während er sich auf einen Stuhl niederlässt, «ist nichts gratis.» Transport, Essen, Wasser, Vergnügen: An allem verdienen die Caporali mit. Im
Ghetto existieren keine staatlichen Gesetze oder Kontrollen. «Dort könnte jemand ster ben, und niemand würde es merken», sagt Hervé. Er sitzt an seinem Schreibtisch und heftet Passfotos in Papierausweise. In der Casa Sankara wird jeder Bewohner und jede Bewohnerin, vom Erwachsenen bis zum Kind, mit Namen, Geburtsdatum und anderen Daten registriert. Hervé macht das, um den Behörden völlige Transparenz zu signalisieren. Was das an der Lage der Menschen der Casa Sankara verbessert, kann oder will Hervé nicht sagen. Dann wechselt er das Thema, redet über die Ge walt im Ghetto oder die Skrupellosigkeit der Caporali. So machen das alle hier in Foggia. Inter viewpartner erscheinen nicht zu Terminen, Informanten schalten ihre Handys aus, wenn sie nicht mehr sprechen wollen. Ständig wird man vertröstet, von Person zu Person weitergereicht. Und irgendwann 19
verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse: Auch die Gewerkschaft, die sich für die Arbeitsrechte der Menschen ein setzt, ist plötzlich nicht erreichbar, wenn man mit den Arbeitern auf die Felder fah ren will. Und die Beamten im staatlichen Asylzentrum schauen weg, wenn die Migranten, die eigentlich noch im Asylver fahren sind und nicht arbeiten dürften, sich morgens an die Strasse stellen und auf die Capos warten. «This is Italy!», lacht Hervé. Regeln, Ge setze, Vertrauen? All das gibt es in Foggia nicht. Es bleibt das Gefühl, dass einem nie mand wirklich sagen will, was sich hier ab spielt. Nicht einmal Hervé. An einem Ort wie diesem, wo die Polizei bestochen und Staatsanwälte von Mafiabossen erpresst werden, wirken seine Ziele zu schön, um wahr zu sein. Er möchte auf seinen Feldern seine Farm vergrössern und genügend Ar beit für die Bewohner schaffen: zu fairen Bedingungen und fairen Preisen. Dann möchte er seine eigenen Tomaten verkau fen. Nicht nur Bio, sondern auch «Caporalifree» sollen sie sein, frei von Ausbeutung. In der Küche will Hervé dann frisch geern tetes Gemüse verarbeiten. Die Bewohne rinnen der Casa Sankara sollen ein kleines Restaurant betreiben, in dem die lokale Bevölkerung und die afrikanischen Ernte arbeiter sich begegnen. Das baue Vorurteile ab und verbessere das Klima. «Es ist un sinnig zu glauben, dass eine Person dieses System stürzen kann», sagt Hervé, «aber jeder muss seinen Beitrag leisten. Ich kämpfe dafür, dass die Leute eine Möglich keit haben, in einem anderen Umfeld zu leben.» Hervé führt über das Gelände der Farm, immer wieder schüttelt er Hände, umarmt den einen oder anderen Bewohner, weist einige aber auch forsch zurecht, dass sie ih ren Müll wegräumen sollen. Hier gilt: Jeder soll mithelfen. Ibrahim teilt das Mittagessen aus, andere putzen die Duschen oder erle digen die Wäsche. Wovon Hervé allerdings noch weit entfernt ist: die 200 Bewohner der Farm vor Ausbeutung zu schützen. Denn auch vor den Toren der Casa Sankara halten morgens um fünf Uhr die weissen Minibusse der Caporali. Davon er 20
zählt Ibrahim, der junge Mann aus Gambia, der von einem Leben als Fussballstar träumt. Und davon berichtet auch Abdou laye Barry, der jetzt neben Hervé Platz nimmt und schildert, wie es ihm bei der Arbeit ergeht. Er spricht, als würde er einen Vortrag vor versammeltem Publikum hal ten. Davon, wie hart die Arbeit ist und wie schwer es ihm fällt, mit den anderen mit zuhalten. Davon, dass es den Arbeitern besser ergehen würde, wenn die grossen Konzerne nicht zum billigsten Preis pro duzieren müssten. Am Ende sagt Abdou laye Barry: «Europa hat uns zu Maschinen gemacht. Wir sind Motoren, mehr nicht.» Schuften für den Export Im Stadtzentrum von Foggia liegt das Büro von Daniele Iacovelli, Vorsitzender der italienischen Gewerkschaft Flai-CGIL. Iacovelli hat dasselbe Ziel wie Hervé: die Arbeitsbedingungen verbessern und die Caporali schwächen. Doch der Italiener spricht weniger euphorisch als der Sene galese. Die Realität hat ihn nüchtern ge macht, seit Jahrzehnten haben sich die Bedingungen nicht merklich verbessert. Früher erledigte vornehmlich die arme, ita lienische Bevölkerung den Job der Ernte arbeiter. In den Neunzigerjahren kamen Bulgaren und Rumänen, jetzt mehr und mehr Afrikaner. 50 000 Menschen sollen laut Gewerkschafter Iacovelli auf den Fel dern rund um die Provinzhauptstadt Foggia arbeiten. Apulien ist eines der grössten Tomatenanbaugebiete Europas, zwei Millionen Tonnen Tomaten werden allein in der Region Foggia jedes Jahr ge erntet und weiterverarbeitet. In Fabriken werden sie geschält, gewürfelt und zu Sosse und Mark konzentriert. Die Konser ven landen in den Regalen europäischer Supermärkte, wichtigste Abnehmer sind Deutschland, England und Frankreich. Auf den Feldern des Südens wird für den Ex port in den Norden geschuftet (zur Schweiz siehe Box Seite 19). Auf die Frage, wie sich die Bedingungen verbessern lassen, seufzt Iacovelli. Das Problem sei die internationale Produk tions- und Lieferkette, die ihre Kosten mög lichst tiefhalten und die Margen vergrössern
Ein Bauer in Foggia bekommt für ein Kilo Tomaten 10 Cent. Zwischen Europas Supermarktketten tobt ein Preiskrieg.
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Im korrupten Apulien wirken die Ziele von Casa Sankara zu schön, um wahr zu sein.
«Es ist unsinnig zu glauben, dass eine Person allein dieses System stürzen kann», sagt Hervé.
wolle. Ein Landwirt in Foggia bekommt für ein Kilo Tomaten gerade einmal 10 Cent. Zwischen den Supermarktketten tobt ein Preiskrieg. Einer der grössten Produzenten in Fog gia ist die Princes-Gruppe aus England, eine Tochtergesellschaft der japanischen Mitsubishi Corporation. Zum Princes-Sor timent gehören Fisch-, Gemüse- und Fleischkonserven, aber auch Softdrinks, Öle oder Baked-Beans. In Foggia produ ziert das Unternehmen laut eigenen An gaben 200 000 bis 300 000 Tonnen Toma ten im Jahr, die zu Saucen und Konserven weiterverarbeitet werden. Princes bezeich net sich als der «am schnellsten wachsende Lebensmittelkonzern in Europa». Südita lien spielt für das Unternehmen eine Schlüsselrolle. Foggia sei für die Tomaten produktion der wichtigste Standort. Den Vorwurf, wonach Tomaten, die in Princes- Surprise 412/17
Produkten landen, von Migranten geerntet werden, weist Princes zurück. Der Grossteil ihrer Tomaten werde von Maschinen geerntet. Nur wenn es regnet und die Ma schinen im Schlamm stecken bleiben, komme es vor, dass Menschen die Ernte übernehmen. Gewerkschafter Daniele Iacovelli geht davon aus, dass mehr Menschen für Prin ces schuften, als der Konzern zugeben möchte. Um sich gegen Razzien und Ins pektoren abzusichern, haben Bauern in der Gegend begonnen, Scheinverträge mit den Arbeitern abzuschliessen. Ein soge nannter grauer Markt ist entstanden. Ita lien hat zwar 2016 ein Gesetz verabschie det, mit dem Caporali und Landwirte mit bis zu acht Jahren Gefängnis bestraft wer den können. Aber das Hauptproblem sind laut Iacovelli nicht die fehlenden Kontrol len, sondern dass die Arbeiter gegenüber
den Inspektoren nicht die Wahrheit sagen, aus Angst, ihren Job zu verlieren. Ibrahim, alias Iniesta, kennt noch nicht einmal den Namen seines Bosses. «Padrone» nennt er ihn einfach. Die wenigsten Erntearbeiter begehren gegen die schlechten Bedingungen auf. Alle wissen: Wer sich beklagt oder mehr Geld verlangt, wird sofort ersetzt. Die Ghettos sind voller junger, arbeitsloser Männer, die bereit sind, unter widrigsten Bedingungen zu schuften. Hervé war einmal einer von ihnen. Al les, was er bisher tun konnte ist, einem Bruchteil von ihnen ein Dach über den Kopf zu bieten. Und eine Dusche. Das ist immer hin ein Anfang.
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Acht Jahre, fünf Monate und eine Woche Migration Nagmeldin Mohammed ist einer von tausenden Dublin-Fällen,
welche die Schweiz nach Italien ausgeschafft hat. Nun zählt er die Tage. TEXT BEAT CAMENZIND FOTO SABINE TROENDLE
«In der Schweiz bin ich ein anderer Mensch»: Nagmeldin Mohammed zu Besuch in Zürich. 22
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Um 9:52 Uhr trifft der Schnellzug aus Basel im Zürcher Hauptzum Flughafen Kloten. Begleitet von einer Psychologin flog er bahnhof ein. Dutzende Passagiere eilen zur Bahnhofshalle. nach Rom. Nagmeldin Ahmed Mohammed schlendert etwas abseits, ganz für Erst dort interessierte sich die Polizei für ihn. Er durfte erst sich alleine, in dieselbe Richtung. Er grüsst leise, lässt den Fotoals letzter Passagier aus dem Flugzeug steigen. Man fotografierte termin am Ende des Perrons geduldig über sich ergehen, lächelt ihn, nahm noch einmal die Fingerabdrücke und brachte ihn in scheu. In beinahe perfektem Italienisch erzählt der 18-Jährige von ein Römer Flüchtlingslager. «Da lebte ich vom 21. Januar 2016 seinem Stamm, den Masara, der im Westen Sudans in der Region bis zum 12. Februar 2017.» Mit den Regeln hatte er Mühe: «Der Darfur lebt. «Es gibt da so eine Geschichte mit den Franzosen. Die ganze Tagesablauf ist festgelegt: Man sagt dir, wann du aufstefällt mir aber jetzt nicht ein», lächelt er. Die Masara hatten sich hen, wann du essen, wann du drin sein und wann du schlafen 1910 gegen die Kolonialisierung durch die musst. Man ist nicht frei.» Und wer nicht Franzosen gewehrt – vergeblich. Mohammeds fleissig Italienisch lerne und sich an die ReMuttersprache ist Masalit, in der Schule hat geln halte, werde nach sechs Monaten auf er Arabisch gelernt. Sein Englisch verbessert die Strasse gestellt. Nagmeldin Mohammed er täglich, mit Deutsch aber hat er Mühe: «Das blieb dieses Schicksal erspart. Im Februar liegt mir einfach nicht.» Das wurmt ihn, denn 2017 wurde er in ein anderes Flüchtlingsladie Schweiz hat es ihm angetan: «Hier habe ger verlegt und erhielt eine Aufenthaltsbeich meinen Frieden gefunden. Hier möchte willigung. Italien gewährt Sudanesen aus der ich leben.» Region Darfur, deren Dorf im Bürgerkrieg Doch daraus wird auf absehbare Zeit zerstört wurde, subsidiären Schutz für minnichts. Auf das Asylgesuch traten die Schweidestens fünf Jahre. Das Land darf er höchszer Behörden nicht ein, die Einsprache gegen tens für drei Monate verlassen. Reisen nach den Entscheid lehnten sie ab. Mohammed Sudan sind untersagt. war über Italien eingereist und wurde dort Mittlerweile lebt Mohammed nicht mehr registriert. Laut Dublin-Abkommen muss im Lager, seit Anfang Juli wohnt er bei einer er deshalb in Italien um Asyl ersuchen. Nach Schweizerin im Römer Bezirk Monte Mario. sechs Monaten in der Schweiz musste Alles gut also? «Nein», sagt Mohammed. Er Mohammed das Land verlassen. Das BunNAGMELDIN MOHAMMED zählt die Tage im Land des Dolce Vita: «Ich desverwaltungsgericht liess sein Arztzeugnis lebe nun schon seit einem Jahr, sechs Monanicht gelten. Mohammed ist traumatisiert. ten und 23 Tagen in Rom. Aber ich werde Als er vier Jahre alt war, verlor er seine Brüder mich dort in hundert Jahren nie wohlfühlen.» und seine Eltern, sein Dorf wurde von SolDas Land sei geteilt in Italiener und Flüchtdaten niedergebrannt. Er wuchs mit seiner linge, Schwarze und Weisse, er spüre den Schwester in einem Flüchtlingslager des Rassismus jeden Tag. Die Menschen seien Roten Kreuzes auf. Mit 15 wurde er gekidnappt, man wollte ihn hart zueinander. Mohammeds Fazit: «Seit ich in Italien bin, habe zum Kindersoldaten drillen und misshandelte ihn. 2014 floh ich keine Träume mehr. Ich tue alles, damit ich mich gut fühle. Mohammed: über Tschad und Libyen gelangte er nach Sizilien. Aber die Zukunft in Italien stelle ich mir schwierig vor.» 2015 kam er in die Schweiz. Hier zweifelte man an seinem Alter. Das heisst nicht, dass er sich gehen lässt. Im Herbst beginnt Laut seiner Zeitrechnung war er damals 16. Ein Arzt unterzog er eine Ausbildung zum Kulturvermittler. Er will dereinst andeihn der umstrittenen Handknochenanalyse und schätzte ihn auf ren Flüchtlingen helfen. Bis zum Schulstart trainiert er dreimal 19 – gerade alt genug, um ihn auszuschaffen. pro Woche 100- und 200-Meter-Lauf und lernt Italienisch. Früher bekam er davon Kopfschmerzen, «spätestens nach einer halVon Kloten nach Rom ben Stunde Lernen musste ich pausieren», erzählt er. Inzwischen Trotzdem ist Mohammed voll des Lobes für die Schweiz: «In sind die Schmerzen verkraftbar. Geblieben ist das Grübeln: «Ich den sechs Monaten hier habe ich viele Freunde gefunden. Ich versuche positiv zu denken und an mich zu glauben. Aber manchkonnte tun, was ich wollte. Wildfremde Menschen redeten mit mal fühle ich mich allein in dieser Welt.» Zum ersten Mal im mir.» Mohammeds Augen leuchten, wenn er das sagt. Er ist für Gespräch bewegt sich Mohammed. Er streckt beide Arme aus eine Woche zu Besuch in der Schweiz. Italien steht still, es ist und spielt, als ob er hin- und hergerissen würde. «Am einen Arm Ferragosto. Er hat viele Freunde im Raum Basel, da er damals in die Zukunft, am anderen die Vergangenheit», erklärt er. Dann Thürnen bei Sissach wohnte. Mohammed hatte schnell Anschluss nimmt er den ersten Schluck vom stillen Wasser, das er im Café gefunden, spielte Fussball, trainierte Schnelllauf, sang im S urprise bestellt hat. Strassenchor, lernte Deutsch und Englisch. Auch in Zürich hat er Bei der Einreise in Rom wollten die Polizisten von Mohammed Freunde, einige davon sind Landsleute, die seine Muttersprache wissen, ob er in Italien bleiben wolle. Ihm blieb nichts anderes sprechen. «In der Schweiz bin ich ein anderer Mensch. Mein Denübrig. «Ich war genervt darüber, aber es ist wohl das Beste für ken hatte sich positiv entwickelt. Hier fühlte ich mich wohl und mich.» Denn er hat ein Ziel: «Eines Tages kehre ich in die Schweiz sicher», erklärt er seine Liebe zum Land, das ihn möglichst schnell zurück. Hier bin ich näher bei den Menschen.» Dazu muss er erst loshaben wollte. Italiener werden. Das ist frühestens nach zehn Jahren möglich, Die Ausschaffung verlief ruhig. Keine Polizei, keine Handdrei davon muss er erwerbstätig gewesen sein. Die Jobsuche ist schellen. Mohammed erhielt ein Zug- und ein Flugticket. Am hart, «aber ich gebe nicht auf». Geht alles nach Plan, ist er in acht 20. Januar 2016 bestieg er mit einer Freundin den Zug von Basel Jahren, fünf Monaten und einer Woche zurück in der Schweiz.
«Ich tue alles, damit ich mich gut fühle. Aber die Zukunft in Italien stelle ich mir schwierig vor.»
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FOTO: WOLFGANG PROBST
«Das Kleid» aus dem Stück «Oro y Furo» vermisst in Winterthur Wert und Würde eines Menschen.
Eine Szene voller Überraschungen Tanz Ende November findet die Jubiläumsausgabe des Tanzfestivals Winterthur statt – nicht nur auf der Bühne, sondern auch im öffentlichen Raum. TEXT EVA HEDIGER
Wer am Freitagabend des 17. November durch die Win terthurer Altstadt bummelt, wird auf auffällige Personen stossen: Bei den Archhöfen wird eine Frau im weissen Tüllrock mit rosa Plastikhandschuhen und einem bunten Blumenkranz auf dem Kopf stehen. Keine extravagante Passantin, sondern eine Performerin, die mit vier Kolle ginnen und Kollegen das Stück «Oro y Furo – Bekennt nisse» aufführt. Die Tanzperformance auf dem altehr würdigen Kopfsteinpflaster ist Teil des 25. Tanzfestivals Winterthur, das vom 16. bis 25. November stattfindet. «Wir versuchen, gesellschaftliche Archetypen heraus zuschälen», sagt die Winterthurer Künstlerin Astrid Künz ler vom Kollektiv Danger Foxtrot über die fünf Kunstfigu ren in dem Stück. Sie tragen Namen wie «Das Klebeband» oder «Das Kleid». Letztere setzt sich mit dem Wert und der Würde eines Menschen auseinander. «Der Karton» hingegen ist eine Businessfrau, welche ähnlich wie eine Obdachlose ein Zuhause aus Karton baut. «Sie beschäftigt sich mit dem Thema Arbeit und der vermeintlichen Selbst bestimmung durch sie.» Während der örtlich fliessenden Aufführung sollen sich Performer, Passanten und Publi kum vermischen. «Anders als bei einer Theatervorführung können wir im öffentlichen Raum nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass die Leute an unserer Kunst interes siert sind», so Künzler. «Die Herausforderung ist es, die Menschen positiv zu irritieren.» Obwohl alles durchchoreo 24
grafiert ist, haben die Performer auch die Möglichkeit, spontan auf die jeweiligen Situationen zu reagieren. «Wir wissen schliesslich nie, was genau passieren wird», sagt Künzler. «Deshalb brauchen die Spielerinnen grosse Frei heiten und eine unglaubliche Wachheit.» Auch andere Tanz-Compagnien erobern Plätze, Treppen und Bahnhöfe. «Der zeitgenössische Tanz setzt sich mit der realen Welt auseinander. Choreografen nutzen deshalb auch Aussen räume, um ihre Themen zu unterstreichen», so Nadine Schwarz, Leiterin des Tanzfestivals Winterthur. Das Potenzial der Älteren Die Themen, mit denen sich die Choreografen und En sembles in Winterthur beschäftigen, sind breit gefächert. Die Winterthurerin Jacqueline Pasanisi etwa widmet sich in «The Philosophy of Self-Promotion» dem Social-MediaWahn, und das tschechische Kollektiv Me-Sa zeigt in «Let Me Die in My Footsteps», wie wichtig das Zusammensein nicht nur für Tänzerinnen und Tänzer ist. Wie eine Ase xuelle unsere übersexualisierte Welt wahrnimmt, vermit telt Valérie Reding mit ihrer Performance «Wild Child». Tina Mantel setzt sich mit Altersdiskriminierung ausei nander, die Zürcherin arbeitet für das Stück «Frau Stähli geht vorbei» mit sieben Tänzerinnen zwischen 43 und 60 Jahren. «Körperlich beginnen wir bereits mit 20 abzu bauen», sagt Festivalleiterin Nadine Schwarz. B esonders Surprise 412/17
FOTO: PETER SNADIK
In «Let Me Die in My Footsteps» entsteht Bewegung durch die reine Notwendigkeit des Zusammenseins.
«Der Tanz sucht sich neue Orte» Nachgefragt Theaterwissenschaftlerin Noémie
Delfgou über Trends im zeitgenössischen Tanz und die politische Kraft des Körpers.
Frau Delfgou, gibt es derzeit ein Trendthema, das zeitgenössische Choreografen beschäftigt? Tanz hat Schnittpunkte mit Architektur und bildender Kunst. So ist es ein Trend, dass der Tanz sich immer mehr von der Bühne wegbewegt und sich neue Orte sucht. Man tanzt vermehrt in Ausstellungen und Museen, auf der Strasse oder in privaten Räumen.
klassische Tänzer werden deshalb relativ früh vom Nach wuchs abgelöst. Im zeitgenössischen Tanz hingegen wird das Potenzial der Älteren immer wieder entdeckt. Viele Choreografen spielen mit alten und jungen Körpern. Und es gibt Tanz-Ikonen, die mit über 80 noch auftreten. «Sie sind vielleicht körperlich nicht mehr voll im Saft, überzeugen aber auf der Bühne mit ihrer jahrelangen Erfahrung», so Schwarz. Dass viele Profis früh das Tanzen auf geben, prägt die zeitgenössische Szene. Beim zeitgenössischen Tanz weiss das Publikum nie, was es erwartet. Die Stücke können ASTRID KÜNZLER, KOLLEK TIV sehr tänzerisch sein, aber auch DANGER FOX TROT sehr abstrakt. Letzteres könne die Zuschauer auch frustrieren, ist sich Nadine Schwarz be wusst: «Erwarten sie eine nar rative Geschichte, so sind sie von den Aufführungen ent täuscht.» Denn anders als im klassischen Ballett oder im Theater gibt es oft keine universelle Botschaft, keine ein deutige Story. «Emotionen und Ästhetik stehen meist im Vordergrund. Lässt man sich darauf ein, haben solche Bewegungsstücke eine besondere Wirkung», sagt die Fes tivalleiterin. Wer gleichwohl Starthilfe wünscht: Wie in den ver gangenen Jahren werden Stückeinführungen angeboten, bei denen das Publikum Informationen über Motivation und Arbeitsweisen der Choreografen erhält.
«Die Herausforderung ist es, die Menschen positiv zu irritieren.»
Wie prägen diese Orte den zeitgenössischen Tanz? Einerseits verändert dies die technischen Bedingungen für die Tänzer. Der Tanz tritt aber auch in einen direkten Dialog mit dem Zuschauer, die Beziehung zwischen Tän zerinnen und Publikum verändert sich. So entstehen neue Spielformen. Wie bringt man gesellschaftlich relevante Themen in eine künstlerisch abstrakte Form? Das Mittel ist natürlich der Körper, der heute ohnehin eine sehr grosse politische Kraft hat. Ein aktuelles Beispiel aus dem Alltag sind die Football-Spieler in den USA, die sich mit einem Kniefall gegen Trump und den Rassismus weh ren, den sie in ihm verkörpert sehen. Im zeitgenössischen Tanz wird aber nicht nur die Bewegung, sondern auch viel Text und Multimedia eingesetzt. Durch diese Hilfs mittel können Themen auch sehr konkret angesprochen werden. Wie kann man Leute für zeitgenössischen Tanz begeistern? Compagnien arbeiten viel mit dem Erleben des Körpers und schaffen physische Begegnungen. Der Tanz öffnet aber auch viele Assoziationsräume, die jeder Zuschauer individuell lesen kann. Es gibt kein Richtig oder Falsch, kein Verstehen oder Nicht-Verstehen. Dadurch entsteht eine grosse Freiheit, die den zeitgenössischen Tanz span nend macht. Die Theaterwissenschaftlerin Noémie Delfgou arbeitet bei Reso – Tanznetzwerk Schweiz im Bereich Diffusion und ist zuständig für die Kommunikation.
Tanzfestival Winterthur, verschiedene Orte, 16. bis 25. November 2017. www.tanzfestivalwinterthur.ch
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Randnotiz
Als wäre das Spiel in der Halbzeit vorbei Diesen Sommer sass ich, 43, knapp bekleidet und mit rotem Kopf im hübschen Bern an der Aare und liess die Sonne meine Augen blenden. Es hätte nicht geholfen, wenn ich die Füsse ins erfrischend kühle Wasser getaucht hätte. Mein Körper hatte bereits unaufhaltsam zu welken begonnen. Ich hatte mich sofort gewehrt und angefangen, das gewonnene Übergewicht mit Sport und gesunder Ernährung zu bekämpfen. Mit grau gewordenen Haaren und tiefen Geheimratsecken sass ich also einsam am Flussufer. Meine Freunde waren im fernen Berlin der vielen Möglichkeiten, wo ich bis vor Kurzem gewohnt hatte. Ich war mit meinem Partner umgezogen, kurz bevor die Beziehung die Aare runterging. Mein erster autobiografischer Roman wurde veröffentlicht, was die Familie durcheinanderwirbelte. Gleichzeitig verlor ich zwei Zähne, wegen des Rauchens, wie es hiess. Ich habe keine Wahl, gebe wehmütig die Revolution des Jugendlichen auf und ziehe als frustrierter Ex-Raucher aromatisierten Wasserdampf in die Lunge. Ein Kind ruft mir «Hey, alter Mann» zu, als ich zum Zahnarzt gehe, um mir die zwei künstlichen Zähne in den Kiefer schrauben zu lassen. Der Arzt zieht die Spritze auf, um sie mir tief ins Zahnfleisch zu jagen. Bitte nicht, denke ich. Aber die Zeit lässt sich nicht aufhalten, sie strömt weiter wie die Aare, ihre Hände greifen nach mir, ziehen mich mit, hinunter, wo ich keine Luft kriege und verzweifelt um mich trete – im Kopf Paniknebel. Ich sterbe noch nicht im Fluss meiner Zeit. Aber diese verdammt kräftigen Hände der Midlife-Crisis würgen mich heftig. Die Zeit rast. Die gemütliche Aare wird zur steilen Wasserrutschbahn. Ich finde keinen Halt, alles ist kaputt, all meine Identitäten: die Partnerschaft, die Familie, das Sozialleben. Alles mir Vertraute und Bekannte ist weg. Die kalte Verunsicherung lähmt meine Glieder. Die Kraft verlässt mich, es gelingt mir kaum noch, über Wasser zu bleiben. Bis ich endlich aufhöre, gegen den Strom der Zeit zu schwimmen zu wollen. Ich sollte den Lauf der Dinge zulassen. Und es wie die Herren mit Hut machen, die sich einfach treiben lassen.
FLORIAN BURKHARDT war Sportler, Model und Internetpionier. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert. Soeben ist seine Autobiografie «Das Kind meiner Mutter» im Wörtersee-Verlag erschienen.
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Musikalische Weltreise Konzert Der Surprise Strassenchor
singt in Basel zusammen mit drei anderen Chören Lieder der Roma. «Ich liebe es zu singen, zu tanzen und Lieder aus vielen verschiedenen Ländern kennenzulernen», sagt der in Kambodscha geborene Surprise-Verkäufer Sokha, der in seiner Freizeit im Surprise Strassenchor singt. Auch bei den beiden Chören «Singen ohne Grenzen» der ASK (Austausch in Sport und Kultur Basel und Liestal) stehen die Freude an der Musik sowie eine unkomplizierte Herangehensweise im Vordergrund. ASK-Sängerin Miriam schätzt sehr, dass sich nicht alles nur um Leistung dreht. Nun üben die Chöre für ein Konzert am 18. November in der Voltahalle in Basel zusammen mit dem Jugendchor Vivo der Musikschule Basel ein gemeinsames Programm unter dem Titel «Eine Reise durch die Welt» ein. Genauso vielfältig wie die Chöre wird auch das Programm des Konzertabends sein, dessen Schwerpunkt auf der Musik der Roma liegt. Um die Lieder mit den Chören einzustudieren, waren Igor Colic, Roma aus Zürich, und der aus Mazedonien stammende Igor Andonovski bei den Proben zu Gast. Die rund 50 Chorsängerinnen und -sänger lernten die Lieder ohne Noten, also ab Gehör, und mit einem Textblatt in Romanes, der Sprache der Roma. Igor Colic übersetzte die Liedtexte für die Teilnehmenden ins Schweizerdeutsche. Dass es oft um Liebe geht, um ein schönes Mädchen mit schönem Haar, das es zu bezirzen gilt, erheiterte Sokha und Miriam bei der Chorprobe. Zahlreiche Texte handeln aber auch von Diskriminierung, von Vertreibung, von KZ, von Tod. So auch «Djelem Djelem», die Hymne der Roma, die von der Sehnsucht nach freiem Leben, nach freien Wegen und nach glücklicheren Menschen erzählt. «Wie das Schicksal des Volkes, so ist auch die Musik», sagt Colic. Diese ist melancholisch, einnehmend und zugleich mitreissend. Roma singen ihr Liedgut gewöhnlich an Familientreffen, Geburtstagen, Hochzeiten oder auch Beerdigungen, es wird mündlich von Generation zu Generation überliefert. Diese Lieder nun in einem Konzert zu singen, sei zwar anders als sonst, sagt Colic, doch es mache glücklich, die Freude an der Musik weiterzugeben. Diese Freude soll sich auch auf das Publikum übertragen: Am Ende des Konzerts vom 18. November wird es zusammen mit den Chören ein Lied singen. JOËLLE JOBIN «Eine Reise durch die Welt», Konzert des Surprise Strassenchors, der ASK-Chöre Basel und Liestal sowie des Jugendchors VIVO der Musikschule Basel, Samstag, 18. November, 20 Uhr, Voltahalle, Voltastrasse 27, Basel. Eintritt CHF 20, reduziert CHF 10, Kinder bis 12 Jahre gratis. Die Einnahmen werden für soziale Projekte bei ASK verwendet. Vorverkauf: www.askbasel.ch
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BILD: CHRISTINA GEORGIADOU (1), BILD: ZVG (1), BILD: STÄDEL MUSEUM – U.EDELMANN / ARTOTHEK (1)
Schweiz «Clean City», Theater, Do, 9. November, Kurtheater Baden, Parkstrasse 20; Di, 14. November, Theater Chur, Theaterplatz; Fr, 17. und Sa, 18. November, Kaserne Basel, Klybeckstr. 1b, jeweils 20 Uhr, Griechisch mit deutschen und englischen Untertiteln. www.culturescapes.ch
Ex-SVP-Nationalrat Hans Fehr stand einst im Verdacht, eine Asylbewerberin illegal als Putzfrau beschäftigt zu haben. Ansonsten wetterte er gerne gegen Schwarzarbeit und straffällige Asylsuchende. Auch die griechische Rechtspartei Goldene Morgenröte möchte ihre Heimat von Migrantinnen «säubern» – und meint damit nicht Reinigungsarbeiten. Dabei putzen gerade Migrantinnen auch in Griechenland Wohnungen, Büros und Stras sen. Die Theatermacher Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris sammelten die Lebensgeschichten von fünf Reinigungskräften. Entstanden ist ein Stück über den Traum von Europa und dessen Realität, über Globalisierung, Heimat und Widerstand. «Clean City» läuft im Rahmen von Culturescapes Griechenland 2017. Mit Veranstaltungen zu Kunst, Film, Musik, Literatur, Theater und vielem mehr gibt das Festival einen einmaligen Einblick in die griechische Gegenwart. WIN
Zürich «Vom Zeichenstift zur Designmaschine», Workshop für Familien mit Kindern ab sechs Jahren, Sa, 18. November, 14 bis 16.30 Uhr, Museum für Gestaltung, Toni-Areal, Pfingstweid strasse 96, Zürich. Anmeldeschluss: Freitag vor der Veranstaltung 12 Uhr, Kurzentschlossene willkommen. museum-gestaltung.ch Aus Kindersicht ist das Schwierige an Museen oft, dass man nichts anfassen darf. Gleich mehrere Sinneserfahrungen werden kategorisch ausgeschlossen. Abhilfe schafft der Designworkshop des Museums für Gestaltung in Zürich. Hier können Kinder ab sechs Jahren mit ihren Eltern, Grosseltern oder anderen Begleitpersonen bei einem Rundgang zunächst die aktuellen Ausstellungen sowie die Sammlung entdecken und dann
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und Integration. Versinnbildlicht wird diese ökonomisierte Haltung gegenüber dem Lernen und Wissen durch die jährliche «Lange Nacht der Karriere» an den Schweizer Hochschulen. Dem setzen verschiedene Organisationen «Lange Nächte der Kritik» entgegen. In St. Gallen, Bern und Basel wird über Bildung im Spannungsfeld aktueller ökonomischen Bedingungen diskutiert. Die Fragen dabei lauten: Welche Rolle spielen die Kategorien Geschlecht und Migration in der Bildungsdebatte? Gibt es Alternativen zu einem Bildungsverständnis, das sich ausschliesslich am Nutzen und der Konkurrenz orientiert? Wo formiert sich Widerstand gegen die Sparmassnahmen? Und was ist Kritik überhaupt? AMI
Basel «Weibsbilder – Eros, Macht, Moral und Tod um 1500», 7. Oktober 2017 bis 7. Januar 2018, Kunstmuseum Neubau, Di bis So, 10 bis 18 Uhr, Do, 10 bis 20 Uhr, St. Alban-Graben 8, Basel. www.kunstmuseumbasel.ch
Seit der Neuzeit tauchen sie in der europäischen Kunst wieder öfter auf: Bilder leichtbekleideter oder nackter Frauen. Das Kunstmuseum Basel zeigt Werke bekannter Künstler wie Dürer, Cranach oder Deutsch, in denen sich die Moralvorstellungen und Machtverhältnisse ihrer Zeit widerspiegeln. Ein Blick lohnt sich, will frau verstehen, welche Ängste und Bilder die Diskussion um die Darstellung und Zurschaustellung weiblicher Körper bis heute prägen. Und dass der männlichen Perspektive viel zu selten ein weiblicher Kontrapunkt entgegengestellt wird. Stichwort: her body, her choice. Immerhin: Kuratiert wurde die Ausstellung von einer Frau. WIN
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im Workshop von der Ausstellung oder Sammlung inspiriert bauen, kleben, zeichnen, experimentieren und eigene Ideen umsetzen. Ein Paradies für kreative Köpfe – Kinder eben. WIN
St. Gallen / Bern / Basel «Lange Nacht der Kritik», Do, 16. November, 21 Uhr, St. Gallen, Erfreuliche Universität, Palace, Blumenbergplatz; 16. November, ab 17 Uhr, Bern, Kirchgemeindehaus Paulus (bei Unitobler), Freiestrasse 20; Fr, 24. November, ab 18 Uhr, Basel, verschiedene Orte.
Bildung gilt als höchstes Gut, ist Schlüssel zu Wohlstand, Erfolg
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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01
Kaiser Software GmbH, Bern
02
Zehnder Arbeitssicherheit, Zürich
03
Klinik Sonnenhalde AG, Riehen
04
Thommen ASIC-Design, Zürich
05
bewegstatt.ch, Janine Holenstein, Frauenfeld
06
Naef Landschaftsarchitekten GMBH, Brugg
07
Yogazeitraum, Wädenswil
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Echtzeit Verlag, Basel
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Schweizerisches Tropeninstitut, Basel
10
Iten Immobilien AG, Zug
11
AnyWeb AG, Zürich
12
Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
13
Madlen Blösch, GELD & SO, Basel
14
Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern
15
Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel
16
Gemeinnütziger Frauenverein Nidau, Nidau
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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen
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Hervorragend AG, Bern
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Lisa Stettler Körpertherapie, Bäch
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Coop Genossenschaft, Basel
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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar
22
Maya-Recordings, Oberstammheim
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Scherrer & Partner, Basel
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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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ChemOil Logistics AG, Basel
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo
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Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?
Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.
eine von vielen geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.
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Wir alle sind Surprise
Ausgabe 410
Leserbrief
Gratulation zur tollen und spannenden Ausgabe zu Pfarrer Sieber. Wird ihm sehr gerecht. Überhaupt die neue Auf machung und das Papier gefallen mir gut. Mein Lieblings verkäufer ist Herr Hans-Peter Meier am Bellevue in Zürich. Ein gescheiter, freundlicher und spannender Gesprächs partner.
Ich wollte mich auf diesem Weg bei Surprise-Verkäuferin Shireen Aeby bedanken, die vor dem Kaufhaus Pfauen in Basel das Heft anbietet: Danke von Herzen für Ihre spontanen und wunderbar fröhlichen Gesangs einlagen, mit denen Sie nicht nur mir, sondern auch vielen weiteren Passanten ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben. Leider war ich nur mit der Kreditkarte des Geschäftes unterwegs und hatte deshalb nicht die Möglichkeit, Ihnen ein Magazin abzukaufen. Ein grosses Merci und Hut ab für Ihren Einsatz, Ihre aufmunternde Art hat mich sehr aufgeheitert und zuversichtlich gestimmt für den stressigen Nachmittag, den ich vor mir hatte.
«Gescheit»
«Aufgeheitert»
P.M. SCHÖNENBERGER, Zürich
Ausgabe 409
Artikel «Das Leben in der Filterblase» Erneut ein gut gestaltetes Heft mit lesenswerten Beiträgen. Wie oft werden nicht täglich die beiden Begriffe «Freiheit» und «Rechtsstaat» beschworen, von Leuten, die genau gegenteilige Ansichten vertreten. Die Berufung auf diese hehren Begriffe ist dem die Umstände nicht kennenden Leser nicht hilfreich. Wo und wer setzt die Grenzen des Zumutbaren? Ist der Abfall gerechtfertigt, wenn er an einer der zu vielen berüchtigten Paraden liegen gelassen wird? Hat der die Füsse auf das gegenüberliegende Polster setzende Fahrgast das Recht dazu, wenn nein, wer ist berechtigt, ihn zu mahnen? Ist Krawall an Fussballmatches zu dulden, aber nicht, wenn Einzelne randalieren? Mir scheint nicht der Schutz vor Andersartigkeit das Problem zu sein, sondern der Anspruch, sich ungehindert anders verhalten zu dürfen.
M. VON AR X, Epalinges
R. DÄHLER, Zürich
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FOTO: RUBEN HOLLINGER
Surprise-Porträt
«Ich war meine eigene Chefin» «Ich habe während mehr als zehn Jahren, wenn immer möglich von Montag bis Samstag, von sieben bis zehn Uhr morgens am Bahnhof Olten Surprise verkauft. Jetzt ist leider Schluss. Ich habe mich von der Herz operation vor drei Jahren und der Operation am Magen diesen Frühling einfach nicht mehr richtig erholt. Was mich früher bei der Arbeit so aufgestellt hat, näm lich das Treffen und Reden mit den unterschied lichsten Leuten, ist mir jetzt zu anstrengend. Der Entscheid fiel mir nicht leicht. Ich habe sehr gerne Surprise verkauft, unter anderem weil ich meine eigene Chefin war. Ich konnte die Arbeit selbst eintei len, meine Pausen alleine bestimmen und mit Men schen aus aller Welt plaudern. Und zwar so lange, wie ich Lust hatte. Spannend war auch, dass ich mit Leuten aus den verschiedensten Schichten in Kontakt kam, mit Direktoren und Ärzten genauso wie mit Randständigen. Einen Drogensüchtigen werde ich nie vergessen: Dem habe ich einmal zwanzig Franken gegeben, weil er pleite war. Jahre später kam er auf mich zu, streckte mir eine Zwanzigernote entgegen und sagte, die sei von seinem ersten Lohn, er habe sich ge fangen und mache jetzt eine Lehre. Ein anderer jun ger Mann wollte ein Heft kaufen, hatte aber kaum Geld. Er ist daraufhin ein Jahr lang immer wieder b ei mir vorbeigekommen und hat mir meistens so fünfzehn oder zwanzig Rappen gegeben, bis er die sechs Franken für das Heft schliesslich abgestottert hatte! Ich habe viel Schönes und Bleibendes erlebt in den Jahren als Verkäuferin, dafür bin ich sehr dankbar – an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an all meine Kundinnen und Kunden. Auch der Organisation Surprise sage ich Merci. Als ich damals als über 55-Jährige längere Zeit erfolglos auf Stellensuche war, konnte ich unbürokratisch und von einem Tag auf den andern mit dem Heftverkauf beginnen. Und später wurde ich in das Surprise-Spezialprogramm SurPlus aufge nommen, das langjährigen Verkaufenden ein Taggeld bei Krankheit und bezahlte Ferien in der Höhe der durchschnittlichen Einnahmen garantiert. Das hat mir sehr geholfen, denn vorher musste ich die finanziel len Schwankungen bei Krankheit oder Freitagen immer selbst auffangen. Für die kommenden Monate habe ich mir vor allem vorgenommen, mich zu erholen und richtig zu Kräften zu kommen. Was ich aber schon jetzt regelmässig unternehme, ist einmal im Monat der Ausflug ins Fribourgische, nach Zumholz, wo ich mich mit meiner 30
Marlis Dietiker, 67, verkaufte über zehn Jahre lang das Surprise Strassenmagazin in Olten. Jetzt muss sie sich von ihren Kunden verabschieden.
Cousine und einer Freundin treffe. Im Nachbardorf Brünisried bin ich aufgewachsen. Wenn ich bis im Frühling wieder auf dem Damm bin, möchte ich eine Freundin in Graz besuchen, wahrscheinlich zusam men mit meinem Sohn und meinem Enkel. Früher, als junge Frau, habe ich weitere Sprünge gewagt, neben Ländern in Europa habe ich zweimal Südafrika bereist. Beim zweiten Mal habe ich einen 76-jährigen Nachbarn von mir begleitet, der seinen Sohn in Südafrika besuchen wollte. Mit ihm zusammen habe ich den berühmten und unvergesslichen Kruger- Nationalpark besucht. Da ich erst jetzt wieder ange fangen habe, meinen Haushalt selbst zu erledigen, wäre eine Reise dorthin für mich im Moment undenk bar, aber reizen täte es mich schon zu sehen, wie Südafrika heute ist. Ich habe das Land noch zur Zeit der Apartheid erlebt – unglaublich. Für mich ist das Zusammenleben verschiedener Kultu ren seit meiner Kindheit eine Selbstverständlichkeit, denn ich spielte damals oft mit den Kindern der Jeni schen und ging in deren Wohnwagen ein und aus, manchmal kamen sie auch zu uns. Später in meiner Tä tigkeit als Krankenpflegerin hatte ich ebenfalls mit den verschiedensten Menschen zu tun. Von daher war die Arbeit bei Surprise wie auf mich zugeschnitten.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN
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Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BERATUNG
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN Information
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel
SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
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