Surprise Nr. 415

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Strassenmagazin Nr. 415 15. Dez. 2017 bis 4. Jan. 2018

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Grönland

Eine Zukun Im nördlichsten Kinderheim der Welt machen sich junge Inuit auf die Suche nach ihren Wurzeln und finden dabei eine Zukunft Seite 16


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TITELBILD: SASCHA MONTAG

Editorial

Der Panoramablick Über die Feiertage gönnen wir uns einen Panoramablick. Das heisst, wir schweifen zusammen in die Ferne. Schauen Sie mit uns nach Grönland, ins nördlichste Kinderheim der Welt. Dort lernen die jüngsten Inuit ihre jahrhundertealten Traditionen neu kennen und finden zu sich selbst zurück. Viele von ihnen tragen seelische Wunden mit sich herum. Dazu gehört auch die schwierige Kolonialgeschichte mit Dänemark. Seite 16. Eine verwandte Geschichte erzählt der Film «Sami – Tale from the North»: Das 14-jährige Sami-Mädchen Elle Marja ist sich bewusst, dass sie in der schwedischen Mehrheitsgesellschaft zu den Verlierern gehört. Also verleugnet sie ihre Herkunft. Seite 24. Koch FM heisst ein kleiner Radiosender in Kenia, der sich selbst einen Bildungs-

4 Aufgelesen

auftrag gegeben hat. Im Sommer 2017 versuchte er tatkräftig, zu geordneten Präsidentschaftswahlen beizutragen. Medien sind nicht einfach Unterhaltungsschleudern, sondern haben ihre Funktion: Sie sind Pfeiler der Demokratie. Daran darf man sich in Zeiten von No-Billag-Diskussionen auch in der Schweiz durchaus erinnern. Auch wenn die SRG kein Slum-Radio ist. Seite 8. Und erfahren Sie, wieso eine Veterinärin sagt, in der Gassentierarztpraxis könne sie auch ihren zweiten Beruf als Psychologin ausüben. Seite 22. Seit 2008 schreibt Stephan Pörtner für uns seine Kolumne «Wörter von Pörtner». Nun erscheint sie zum letzten Mal, Seite 27. Aber keine Sorge, Pörtner kommt uns nicht abhanden. Mehr dazu in der DIANA FREI nächsten Ausgabe. Redaktorin

22 Gassentierarzt

Der Mensch wird mitbehandelt

5 Vor Gericht

25 Buch

Der Hype ums Trumpeltier

Urteil fixfertig parat 27 Wörter von Pörtner

Zieht euch warm an!

6 Challenge League

Der Kurde ist nirgends willkommen

28 SurPlus Positive Firmen

7 All Inclusive

Online am Pranger 24 Kino 8 Kenia

Macht des Mikrofons 16 Grönland

Die nicht mit dem Rentier tanzen will

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Dank Surprise bin ich glücklich»

Kinderseelen heilen im Schnee Surprise 415/17

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Aufgelesen

BILDER: SEBASTIAN SELLHORST

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Ein besonderer Rahmen Das Strassenmagazin Bodo hat seine Verkäuferinnen und Verkäufer im Advent auf spezielle Art «ins Bild gesetzt». Auf 24 Fotos gönnen sie sich einen neuen Rahmen – einen goldenen natürlich – und wünschen den Leserinnen und Lesern frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr. Wir schliessen uns gern an.

Behinderte im Film

Ehre für einen Strassenkehrer

In der BBC-Serie «The A Word» spielt Leon Harrop eine Hauptrolle. Der Schauspieler mit Down-Syndrom ist eine Ausnahme im Filmgeschäft: In 95 Prozent aller Fälle werden behinderte Charaktere von nicht behinderten Schauspielern verkörpert. Diese Rollen sind prestigeträchtig: 16 Prozent aller Schauspiel-Oscars gingen an Stars, die Menschen mit einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung darstellten.

Hamburg hat einen Platz an der Binnenalster nach dem langjährigen Strassenkehrer Yüksel Mus benannt. Der Mitarbeiter der Hamburger Stadtreinigung verliess angeblich sogar die Hochzeit seiner Tochter, um für Sauberkeit in seinem Bezirk zu sorgen. Nachdem Mus 2015 im Alter von 50 Jahren plötzlich verstorben war, setzten sich Arbeitskollegen für seine Würdigung ein.

THE BIG ISSUE, UK

HINZ & KUNZT, HAMBURG

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BILD: ZVG

BODO, BOCHUM/DORTMUND


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Kampf den Gaffern Notärzte und Polizisten in der Stadt Osnabrück kritisieren, dass sie von Gaffern und Amateurfilmern zunehmend bei ihrer Arbeit behindert würden. «Bei grösseren Einsätzen müssen wir extra einen Polizisten abstellen, um dieses Problem in den Griff zu bekommen», sagt Dirk Hildebrandt von der Polizei Osnabrück. Er habe unter anderem miterlebt, wie Menschen nach einem tödlichen Fahrradunfall an die Unfallstelle gepilgert seien, um zu fotografieren und zu filmen. «Das ist pietätlos und wird nicht toleriert», sagt Hildebrandt.

Vor Gericht

Am Fliessband der Landesverweise

ABSEITS, OSNABRÜCK

Obdach für Osteuropäer Die Zahl der Übernachtungen in städtischen Notunterkünften in Hannover hat sich in den vergangenen sieben Jahren verdoppelt. Im Moment sind 1152 Menschen in solchen Unterkünften untergebracht. Die steigende Zahl lasse sich zum Teil mit dem Zuzug aus osteuropäischen Ländern wie Rumänien und Bulgarien erklären, sagt Norbert Herschel, Leiter der Zentralen Beratungsstelle des Diakonischen Werks Hannover.

ASPHALT, HANNOVER

Offene Türen in Victoria In Victoria, Hauptstadt der kanadischen Provinz British Columbia, herrscht akuter Wohnungsmangel. Bürgermeisterin Lisa Helps hat die Bürger der Stadt daher dazu aufgerufen, ihre Türen für Fremde zu öffnen, die dringend eine Unterkunft suchen. Sie erntete damit grossen Zuspruch. Sowohl Wohnungssuchende als auch Anbietende haben bereits Vorschläge unterbreitet, wie die Idee der Bürgermeisterin umgesetzt werden könnte.

MEGAPHONE, VANCOUVER

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Es ist 13.27 Uhr, die Tür zur Seite von Gerichtsaal 605 des Arizona District Court in Phoenix geht auf. Zwei US-Marshalls führen den Angeklagten aus einem Käfig in den Saal. Er trägt einen orangen Jumpsuit, an seinen Füssen klimpern die Fesseln. Einzelrichterin Diane Humetewa begrüsst ihn und stellt die Anwesenden vor: Staatsanwalt, Bewährungshelfer, Weibelin, Gerichtsschreiberin und Spanisch-Dolmetscher. Die Richterin weiter: Im Fall USA vs. Hernandez hat sich der Beschuldigte schon im Vorverfahren wegen illegaler Wiedereinreise und Drogenkonsums für schuldig erklärt. Es geht nur noch um die Strafe. Die Border Patrol hatte den 26-Jährigen vor neun Monaten angehalten. Hernandez weigerte sich, seine Papiere zu zeigen – wie sollte er auch, als Papierloser. Es stellte sich heraus, dass er schon mehrfach nach Mexiko ausgeschafft worden war, aber stets wiederkehrte, um zu arbeiten. Nun beteuert er: «Meine Familie wird die USA für immer verlassen.» Sein Anwalt bestätigt, dass auch die Ehefrau in Kürze ausgeschafft wird. Dann bittet die Mutter des Angeklagten schluchzend um die Freilassung ihres Sohnes. Damit die Familie gemeinsam ausreisen könne, Frau und Kinder seien am Packen, «por favor!». Der Anwalt fügt an, die neun Monate, die Hernandez im Gefängnis verbracht habe, würden als Strafe ausreichen. Die Richterin lässt Hernandez unter Aufsicht frei und gibt ihm 72 Stunden für die Ausreise. Es ist 13.44 Uhr, als der Angeklagte Moreno in den Saal geführt wird. Auch er in Orange und Fussfesseln und mit derselben

Anklage: illegale Wiedereinreise und Drogenkonsum. Der Grenzgänger hatte Gras dabei, als man ihn in den Gemüsefeldern im Süden von Arizona vor 112 Tagen fasste, zum dritten Mal. Die Richterin prüft hier ebenfalls, ob die Rechtsstaatlichkeit gewahrt ist: Wurde die Strafvereinbarung in voller Länge übersetzt? Versteht der Angeklagte, dass mit dem Deal sein Rekursrecht erlischt? Yes, Madam. Ob er mit den Diensten des Pflichtverteidigers zufrieden sei? Auch das. Und ja, er sei einverstanden mit allem. Kaum 15 Minuten später ist er unter der Auflage entlassen, sich innert 72 Stunden den Migrationsbehörden zu stellen. Und schon betritt der Angeklagte Gonzalez den Saal. In derselben Kluft, mit fast derselben Anklage. Auch er muss die USA innert 72 Stunden verlassen. Im Grenzstaat Arizona seien diese Fälle schon immer an der Tagesordnung gewesen, sagt die Gerichtsschreiberin, die seit Jahren die Protokolle tippt. Aber nun gehe es oft tagein, tagaus so zu, manchmal wochenlang. Sehr zermürbend, wie sie findet. Und es würden immer noch mehr, weil die Behörden so hart durchgreifen. Klar könne man nicht jeden reinlassen, aber etwas mehr Laissez-faire dürfte es schon sein. Die Gerichtsschreiberin freut sich immer auf den letzten Freitag im Monat: Da werden jeweils Hunderte aufs Mal eingebürgert, da herrsche am Gericht jeweils Feststimmung. Wenn die frischgebackenen US-Bürgerinnen und -Bürger – eigentlich streng verboten – Erinnerungsfotos knipsen, dann schauen sogar die US-Marshalls weg. Wie früher die Border Patrol, wenn sie Illegale bei der Tomatenernte erwischte.

Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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Challenge League

Damit alle zu ihren Rechten kommen

Nun stehen sie selbst unter Beschuss. Offiziell wurde der Angriff auf Kirkuk Mitte Oktober mit dem Referendum für die Unabhängigkeit Kurdistans vom 25. September begründet. Über 90 Prozent stimmten damals für die Unabhängigkeit. Ein Schweizer Freund, der die Entwicklung in Kurdistan interessiert verfolgt, sagte mir: «Es ist euer Recht, frei zu leben, aber es war zu früh für ein Referendum.» Ich selbst hielt es eher für zu spät. Das Referendum hätte mitten im Krieg gegen den IS abgehalten werden sollen. Damals waren die irakische Armee und die schiitischen, pro-iranischen Milizen noch schwach und hätten die Kurden nicht angreifen können. Aber ich habe es kommen sehen und immer gesagt: Nach dem Krieg gegen den IS werden die Schiiten die Kurden angreifen. Ich bin bereits zwei Mal vor dem iranischen Regime geflüchtet: erst aus dem Iran, dann aus dem Nordirak. Nun wird Kurdistan bedroht und damit auch die Demokratie im Nahen Osten. Wir Kurden, oder viele von uns, streben nach Demokratie, Säkularismus und einem prowestlichen System. Die meisten anderen politischen Systeme in der Region sind entweder religiös begründet oder diktatorisch, abgesehen von ein paar Oppositionsgruppen, die kaum eine gesellschaftliche Basis haben und selbst unter Druck stehen. Wir brauchen die Unabhängigkeit. Nur so können wir überleben. Die westlichen Staaten haben weder das Referendum noch die Kurden 6

FOTO: KHUSRAW MOSTAFANEJAD

Anfang 2017 reiste ich für die Dreharbeiten an meinem Film kurzzeitig zurück in den Nordirak, nach Kurdistan. Damals kämpften die kurdischen Peshmerga gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Die Kämpfer, die ich traf, waren stolz darauf, dass sie den Islamischen Staat anfangs blockiert und geschlagen hatten. Als ich eine Front nahe Mosul besuchte, sagte mir ein Peshmerga stolz und lächelnd: «Wir haben die ganze Welt vor diesem Monster, vor dem Islamischen Staat geschützt, die Welt ist uns dankbar.»

Die alte Zitadelle von Erbil im Nordirak.

gegen die religiösen Angreifer unterstützt, obwohl es doch die Kurden waren, die den Islamischen Staat aufgehalten und bekämpft haben. Viele fühlen sich deshalb vom Westen alleingelassen. Ich sehe aber nicht nur eine Gefahr für die Demokratie, sondern auch für die kurdische Identität. Im Nahen Osten wird lieber getötet als in Dialog getreten. Seit dem Beginn der Offensive gegen die Kurden habe ich befürchtet, dass sie probieren würden, die Zusammensetzung der Bevölkerung in den kurdischen Gebieten langfristig zu verändern. Und prompt beschlossen die irakischen Behörden, Arabischstämmige in den kurdischen Gebieten anzusiedeln und die Kurden zu vertreiben. Das verursacht erneut eine grosse Flüchtlingswelle nach Europa. Ich selbst habe keine guten Erfahrungen mit der Flucht. Eigentlich bin ich überall dort zuhause, wo es einen Himmel gibt. Ich fühle mich jedoch im Westen nicht willkommen. Nur ein eigenes Land wäre wohl ein Ort, an dem ich mich richtig zuhause fühlen könnte. Ich war noch nie in meinem Leben so pessimistisch. Alle haben ihr eigenes Land,

aber wenn es um uns Kurden geht, heisst es nur: «Nationalismus ist nicht gut.» Wenn ein eigenes Land zu haben etwas Schlechtes ist, warum haben dann alle eines? Ein eigenes Land für uns Kurden wäre nicht einfach die Erfüllung eines nationalistischen Traumes, sondern würde vor allem Sicherheit vor denjenigen bedeuten, die uns über Jahrhunderte verfolgt und getötet haben. Deshalb bin ich für ein starkes Kurdistan mit vier Regionen – einer syrischen, einer irakischen, einer türkischen und einer iranischen –, föderalistisch regiert, damit alle zu ihren Rechten kommen. Ich habe die Hoffnung, dass ich irgendwann mindestens wieder meine Freunde in Irakisch-Kurdistan treffen kann. Und ich hoffe, das iranische Regime verfolgt mich nicht in der Schweiz.

Der kurdische Journalist KHUSRAW MOSTAFANEJAD floh aus seiner Heimat Iran und lebt seit 2014 in der Schweiz.

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ILLUSTRATION: RAHEL EISENRING

Offenheit zum Verhängnis geworden. Aufgrund mehrerer anonymer Denunziationsschreiben, welche ein richtiggehendes Monitoring der Social-MediaNutzung der IV-Bezügerin enthielten, liess die IV-Stelle ein medizinisches Gutachten erstellen. Der Gutachter übernahm darin fast wörtlich die Anschuldigungen des anonymen Denunzianten und schrieb: «Die Versicherte hat eine sehr gute Fähigkeit, die Social Media zu verfolgen und sich darin in vielfältiger Weise zu äussern.» Auch wenn sich das Gutachten nicht allein auf das Verhalten in den sozialen Medien stützte, schloss sich die IV-Stelle dem empörten Bürger an, der befand: «So jemand kann auch arbeiten!», und halbierte kurzerhand die IV-Rente. Für welchen Fünfzig-ProzentJob es ausreicht, fähig zu sein, einige Tweets pro Tag zu schreiben, liess die IV-Stelle allerdings offen.

All Inclusive

Besorgte Gutachter Die Nutzung der sozialen Medien gehört für viele Menschen heute selbstverständlich zum Alltag. Sei es, um Kontakte zu pflegen, sich zu informieren oder um über alle erdenklichen Themen zu diskutieren. Für Menschen, die aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung nur beschränkt am öffentlichen Leben teilnehmen können, bietet das Internet die Möglichkeit, sich trotz Einschränkungen mit anderen auszutauschen und Erfahrungen zu teilen. Betroffene berichten, wie sie mit ihren Einschränkungen umgehen, über ihren Kampf mit Ämtern oder beschreiben, welchen Einfluss politische Entscheide ganz konkret auf ihr Leben haben. Manche tun dies unter ihrem richtigen Namen, andere möchten sich schützen und äussern sich deshalb unter einem Pseudonym. Viele Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, sei es eine IV-Rente oder Sozialhilfe, haben Angst, sich zur Zielscheibe eines aggressiven Mobs machen. Und andere, die trotz einer schweren Erkrankung arbeiten, möchten zwar darüber schreiben, welche Schwierigkeiten sich dadurch für sie ergeben, aber vermeiden, Surprise 415/17

dass Vorgesetzte oder Arbeitskollegen wissen, dass sie unter Depressionen oder Schizophrenie leiden. Die Sichtbarmachung von sonst verborgenen Lebenswelten in den sozialen Medien ist für gesellschaftliche und politische Prozesse wichtig. Denn es macht einen grossen Unterschied, ob etwas theoretisch diskutiert wird oder ob Betroffene ihre ganz konkreten Erfahrungen in die öffentliche Diskussion und Meinungsbildung mit einbringen können. Tun sie dies allerdings unter dem Schutz der Anonymität, wird ihnen oft von jenen, die selbst kaum Diskriminierung erfahren – speziell älteren Männern in privilegierter beruflicher Position – mitgeteilt, dass sie gefälligst mit echtem Namen und Foto (und am besten wohl mit detailliertem Lebenslauf) «hinzustehen» hätten, ansonsten seien ihre Aussagen schlicht nicht beachtenswert. Einer Frau aus dem Kanton Aargau, die aus ihrer Krankheit sowie ihrer IV-Rente kein Geheimnis machte und mit echtem Namen und Foto im Internet immer wieder pointiert zu sozialpolitischen Themen Stellung bezog, ist nun genau diese

Die Ständerätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit forderte kürzlich in einem Postulat den Bundesrat auf, «zu prüfen, mit welchen Massnahmen die Hindernisse, welche Menschen mit Behinderung die politische Partizipation erschweren, beseitigt werden können. Dabei ist namentlich auf die baulichen, technischen, sprachlichen und kommunikativen Barrieren einzugehen.» Vielleicht prüft der Bundesrat zuerst einmal, was man denn tun könnte, um Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit vor wütenden Mitbürgern zu schützen, sobald sie es wagen, sich zu äussern. Und auch, wie es sich vermeiden liesse, dass sich IV-Stellen von ebendiesen wütenden Bürgern instrumentalisieren lassen. Das wäre doch ein Anfang.

MARIE BAUMANN schreibt unter ivinfo. wordpress.com über die Invalidenversicherung und wundert sich über das Outsourcing der IV-Gutachten.

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Andika Shariff ist ein zurĂźckhaltender Mensch. Als DJ wird er zum Entertainer.

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Ein Slum-Radio kämpft für den Frieden Kenia Medien sind wichtige Pfeiler der Demokratie. In Nairobi zeigt sich,

was das konkret heisst: Eine kleine Radiostation klärt die Bürger im Slum über Hygiene, friedvolle Wahlen und gute Regierungsführung auf. TEXT VALERIE THURNER

FOTOS ANNA MAYUMI KERBER

SÜDSUDAN

ÄTHIOPIEN

SOMALIA

UGANDA KENIA

Nairobi

TANSANIA

«Ich muss jetzt kurz etwas zu diesem Song erzählen und mich verabschieden», sagt Andika Shariff, schiebt den Regler runter und spricht ins dicht ans Gesicht gesetzte Mikrofon. Es ist schwül im fensterlosen Raum. Shariff verliest die Nachrichten und einen letzten SMS-Kommentar der Hörerschaft. Es ist jetzt kurz vor vier Uhr nachmittags, das war die wöchentliche Sendung zu Taarab, einer besonders in der Küstenregion Ostafrikas beliebten Volksmusik. Einer der Momente, in denen Shariff, im Alltag ein eher ruhiger und zurückhaltender Mann, zu DJ Shariff Andika wird. Zum Entertainer. «Mir macht es grossen Spass, etwas für die Gemeinde zu tun», sagt er. Er ist Moderator bei Koch FM, wo er als Journalismusstudent vor zehn Jahren seine ersten Erfahrungen im Medienbereich machte. Seine Reggae-Show, die jeden Samstagnachmittag über den Äther ging, wurde zur populärsten Sendung von Koch FM. «Reggae ist die Musik des Ghettos. Damit identifiziert sich die Jugend», erklärt sich Andika Shariff seinen prominenten Status bei der Jugend von Korogocho. Korogocho heisst der Slum, die Einheimischen sagen aber einfach Koch (sprich: Kotsch). Davon leitet sich auch der Name des Radios ab. Der Weg hierher ins Studio führt am Sportfeld der Primarschule vorbei, dann am einzigen Strassenschild weit und breit, vorbei an bunt bemalten Wellblechfassaden und Bretterverschlägen bis zum Gemeindeplatz von Korogocho. Nach einer Einfahrt stösst man auf zwei aneinandergefügte, rot gestrichene Seefracht-Container, die hinter ein paar geparkten Autos verborgen sind. Auf dem bereits stark abgeblätterten Lack ist ein Schild angebracht: Eine aufgemalte Faust hält ein Mikrofon, in das ein Schriftzug eingeschrieben ist: «Koch FM, Edutainment on FM 99.9». Was so unscheinbar aussieht und sich bescheiden «Edutainment» nennt – gemeint ist die Verbindung von Bildung Surprise 415/17

und Unterhaltung –, ist eine Legende. Hier schlägt das Herz des ersten Slum-Radios in Kenia. Im hinteren Container ist ein kleines Studio eingerichtet, das durch eine Tür vom restlichen Raum schalldicht abgetrennt ist. Innen ist alles mit roten Wandpolstern versehen. Korogocho ist multiethnisch, in den neun «Dörfern» des Slums leben etwa 150 000 Menschen. Sie stammen aus verschiedenen Volksgruppen. Aufgrund zahlreicher somaliastämmiger Einwohner besteht zusätzlich ein Nebeneinander von Katholiken und Muslimen. Die meisten der Slum-Bewohner sind unter 30 und gehören damit zur Hauptzielgruppe von Koch FM. 20 bis 30 Freiwillige arbeiten inzwischen in der dritten RadioGeneration für das Infotainment-Projekt. Die Betriebsleitung besteht aus drei Leuten, die Redaktion und Produktion verantworten. Koch FM ist seit 2006 täglich von 6 Uhr früh bis 22 Uhr auf 99,9 MhZ auf Sendung. In den Anfängen sendete man illegal, also ohne Lizenz der Regierung. Ein Ort namens «Schrott» Ein Motorradtaxi, ein sogenanntes Boda, kommt angerauscht. Vom Rücksitz steigt ein Mann mittleren Alters mit einem etwas schräg aufgesetzten Beret und beladen mit einer Laptop-Umhängetasche. Tom Mboya ist der Geschäftsführer und ein vielbeschäftigter Mensch. Jetzt ist er für die Sitzung mit dem Kernteam hier. «Korogocho klebt wie ein Stigma an dir», sagt Mboya, und ein verlegenes Lächeln huscht über sein furchiges Gesicht. Der Mittvierziger wirkt älter, als er ist. Korogocho ist ein Wort aus der Bantusprache Kikuyu und bedeutet «Schrott» oder «Abfall». Das entspricht dem Bild, das die Medien über Jahre hinweg zeichneten: Was in Slum-Geschichten stets prominent thematisiert wurde, waren die Gewalt, das 9


Wer in Korogocho zuhause ist, wird stigmatisiert.

Geschäftsführer Mboya schaut Amtsträgern auf die Finger.

Das Team: Radioarbeit ist Überzeugungssache.

Drogenelend und die hohen HIV-Raten. Mboya ist selbst im Slum aufgewachsen und seit den frühen Anfängen des Radios dort aktiv. Auf die Geschichte des Senders ist er stolz. Am Anfang standen zehn junge Aktivisten aus Korogocho, die den Sender in Eigeninitiative und ohne jegliche finanzielle Mittel begründeten. Koch FM ergriff das Wort gegen die unhaltbaren Zustände in den Slums der Eastlands, wo Gangs die Bewohner terrorisierten. Gewalt insbesondere gegen Frauen war sehr verbreitet, dazu Alkohol- und Drogenmissbrauch, und es herrschten desaströse hygienische Zustände. Die Radio-Pioniere wollten gegen alltägliche Menschenrechtsverletzungen, Vergewaltigungen, Raubmorde, Zwangsheiraten ankämpfen. Und sie wollten der konstant negativen Berichterstattung und Stigmatisierung der Slum-Bewohner in den Medien etwas entgegenhalten. Das Radio ist in Kenia nach wie vor das am weitesten verbreitete Medium. Gemäss Uno-Schätzungen besitzen dreiviertel aller afrikanischen Haushalte einen Empfänger. Nebst unzähligen kommerziellen Radiostationen existieren immer mehr Spartensender in den verschiedenen Volkssprachen. In Kenia gibt es 43 verschiedene Stämme und 68 gesprochene Sprachen. Die grössten Volksgruppen sind Kikuyu, Kalenjin, Kamba, Luhya und 10

Luo. Als dritte Form nebst kommerziellen und volkssprachlichen Lokalsendern bieten Community-Radios wie Koch FM weit mehr als Unterhaltung. Sie sind eine Art Bürgerforum und dienen als Kommunikationsplattform und Sprachrohr für die sozial und ökonomisch Schwächsten. Friedensbotschaften aus dem Sound-Mobil Ziel von Koch FM ist, nebst der Unterhaltung, der lokalen Bevölkerung Zugang zu relevanten Informationen zu verschaffen und mit ihr in Dialog zu treten. Mboya selbst führte über viele Jahre eine Themensendung über «Good Governance», über gute Regierungsführung. Er lud Amtsträger ins Studio ein, die in aktuelle Debatten mit der Hörerschaft eingebunden wurden. Nebst einem lokalen Newsroom bietet Koch FM ein Bürgerforum, die Leute können sich in Call-in-Shows einbringen. Die täglichen Herausforderungen eines Lebens am unteren Ende der Wohlstandskette stehen dabei im Fokus, die Themen reichen von der Kriminalitätsbekämpfung bis zur Ernährungssicherheit. Dass der kleine Sender gerade auch in politisch heiklen Phasen eine wichtige Rolle spielen kann, zeigt der Blick zurück auf den Sommer 2017: Die Strassen sind drei Wochen vor dem ersten Surprise 415/17


Wahlgang vom 8. August mit Propaganda zugepflastert, auf riesigen Plakatwänden an den Verkehrskreiseln prangen die Gesichter der Präsidentschaftskandidaten. An einem Samstag im Juli 2017, drei Wochen vor dem Urnengang, hat sich Koch FM der Friedenskampagne unter der Schirmherrschaft der örtlichen katholischen Kirche angeschlossen. Die Organisatoren sind mit dem Aufbau des Sound-Mobils beschäftigt, eine halbe Stunde später dröhnt Reggae-Musik über einen Verstärker aus dem Laderaum des Lastwagens. DJ Shariff Andika ruft durch ein Mikrofon den Schaulustigen zu: »Amani, Amani, Amani», das Wort für Frieden auf Kisuaheli. Angeschlossen ans Mischpult ist sein Mobiltelefon mit seiner privaten Playlist, er schaut konzentriert auf den Flyer, während er versucht, auf der wackligen Fahrt das Gleichgewicht zu halten. Studenten einer katholischen Universität sowie Mitglieder einer lokalen Menschenrechtsorganisation bilden eine Gruppe von ein paar Dutzend Menschen. Der Umzug folgt dem Sound-Mobil durch die drei Wahlkreise Mathare, Ruaraka und Embakasi in den Eastlands von Nairobi. Manche Slum-Bewohner verfolgen die Karawane skeptisch. «Die Leute haben Hunger, was nützt ihnen da Frieden!», ruft ein Beobachter. Die Kinder schauen interessiert die Flugblätter mit den Geboten für einen friedlichen Wahlgang an: «Wahlen, die sich an der Stammeszugehörigkeit orientieren, enden in Blutvergiessen und Chaos. Vergesst das nicht!» Andika Shariff verkündet unermüdlich Friedensbotschafen. Das Fussvolk der Karawane hat sich längst in die Begleitbusse gesetzt, als der Lastwagen lange sechs Stunden später bei der Polizeistation von Korogocho vorfährt. Der Posten wurde dort errichtet, wo vor zehn Jahren die Gangs aufeinander losgingen. Shariff kämpft langsam gegen die Müdigkeit, während er weiterhin seine Botschaft unter die Leute bringt. «Es gibt ein berühmtes Sprichwort in Kisuaheli: Wer nicht bereit ist, seine Niederlage anzuerkennen, ist kein Herausforde-

Reggae aus dem Sound-Mobil: Andika Shariff (links).

Die Friedenskarawane zieht mit Radiosound durch die drei Wahlkreise in den Eastlands von Nairobi.

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rer.» Will heissen: Wenn euer Kandidat verloren hat, akzeptiert das Resultat. Während der Monate vor den anstehenden Wahlen gilt es, die Bevölkerung auf den Wahlgang vom August vorzubereiten und auf ein friedliches Nebeneinander zu pochen. Leitmedien, die zur Gewalt aufwiegeln Politik in Kenia verläuft entlang ethnischer Linien. Die tiefsten Gräben verlaufen zwischen den beiden grössten Volksgruppen, den Kikuyu und den Luo, was bis tief in die Kolonialvergangenheit zurückreicht. Die von den damaligen Kolonialmächten bestimmte Landverteilung ist bis heute ungelöst und spiegelt sich auf der politischen Bühne Kenias wider. So entlud sich vor zehn Jahren die Empörung über einen offensichtlichen Wahlbetrug in Unruhen in den ethnisch gemischten Slums. Begünstigt durch grassierende Armut, Jugendarbeitslosigkeit und einer von Korruption durchzogenen Verwaltung und Politik brach der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt zwischen den ethnischen Gruppen in einer unerwarteten Heftigkeit auf den Strassen Nairobis und in anderen Landesteilen auf. Es kam zu Zusammenstössen zwischen Demonstranten, Banden und der Polizei. Hütten wurden angezündet, Menschen totgeschlagen mit Stöcken, Steinen oder Macheten. Die Gewaltausbrüche von 2007 hinterliessen gemäss Schätzungen der Uno weit über 1000 Tote und 650 000 Vertriebene. Die Medien hätten in dieser Situation vollkommen versagt und ihre Verantwortung nicht wahrgenommen. So lautet das Fazit einer vom BBC World Service Trust in Auftrag gegebenen Studie von 2008. Die Berichterstattung der Leitmedien, wie der

Radiosender in lokalen Sprachen, wirkte sich demnach weder im Vorfeld noch während der Wochen danach in positiver Weise auf die Geschehnisse aus. Im Gegenteil, ein Lokalsender musste sich sogar wegen Aufwiegelei zu ethnischer Gewalt vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag verantworten. Die Studie erwähnt eine Ausnahme: die wenigen Community-Radios in den Slums von Nairobi. Eines davon ist Koch FM. Die BBC riet in dieser Aufarbeitung dringend, auch in der Entwicklungszusammenarbeit vermehrt in die kommunalen Medien zu investieren, da sie in der Friedensarbeit und politischen Bildung wichtige Arbeit leisteten. Community-Medien wie Koch FM dürfen gemäss den staatlichen Richtlinien nur in den Amtssprachen Kisuaheli oder Englisch senden und nicht in den ethnischen Sprachen der einzelnen Volksgruppen, wie es viele Lokalradios tun. So wurde Koch FM im Dezember 2007, als alle befürchteten, auch das multiethnische Korogocho würde brennen, zum Ad-hoc-Krisen-Corps. Sie suchten einerseits das persönliche Gespräch an den Fronten oder riefen über den Sender Koch FM zu einem Ende der Gewalt auf. Die Radiomitarbeiter konnten wegen verschiedener ethnischer Zugehörigkeiten und den damit einhergehenden Sprachkenntnissen die Gefahrenzonen eruieren oder von verschiedenen Religionsführern Friedensbotschaften einholen, die sie später mehrmals täglich über den Sender schickten. Der damals knapp 20-jährige Andika Shariff gehörte zu den wenigen, die sich noch an den Schauplätzen der Gewalt bewegen konnten. Er wurde vom Radio-Team regelmässig von seinem

Radio Koch FM war Teil der Friedenskarawane vor den Präsidentschaftswahlen.

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Das Radio ist in Kenia das am weitesten verbreitete Medium.

Zuhause zum Studio eskortiert, um das Wort im Rahmen seiner populären Reggae-Show an die Jugend zu richten. «Ich war damals ziemlich hoch im Kurs in der Community.» Shariff lacht verlegen. «Man rief mich manchmal sogar nachts um eins an, wenn es irgendwo im Slum ein Problem gab.» Politiker versuchen, Sendezeit zu kaufen Dass Community-Radios wie Koch FM fast unverzichtbare Brücken zwischen Organisationen, der Regierung und der Bevölkerung bilden, davon ist auch die Unesco überzeugt, die das kriselnde Radio 2015 in ihr vierjähriges Förderprogramm aufgenommen hat. Neben Workshops für die Radiomacher unterstützt sie die Institution bei der Suche nach einer nachhaltigen Finanzierung. Die einzelnen Programme werden von internationalen wie lokalen NGOs finanziert. Es sind keine grossen Beträge, denn Löhne gibt es bis auf Sondereinsätze an Veranstaltungen keine. Das durchschnittliche Jahresbudget beträgt zwischen 7000 und 11 000 US-Dollar. Davon müssen Betriebskosten wie Lizenz, Strom, Unterhalt sowie spezielle Veranstaltungen gedeckt werden. Doch aktuell ist es nicht gut bestellt um die Finanzen. In den Anfängen konnte die norwegische Kirchenhilfe als Geldgeber für die einfache Infrastruktur gewonnen werden. 2015 liess Norwegen aber seine Entwicklungsprogramme für Kenia auslaufen, und die Beiträge der Kirchenhilfe für Koch FM bleiben seither aus. Die Radiomacher hangeln sich von Projekteingabe zu Projekteingabe, um an Mittel zu kommen. Die Finanzierung des Radios sei ein ständiger Kampf, sagt Geschäftsführer Tom Mboya. Kurzfristig floss vom United Nations Development Programme UNDP, dem Entwicklungsprogramm der Uno, etwas Geld für Bürgeraufklärung. Über Geld spricht Mboya allerdings nicht gerne. Ein heikles Thema in diesem sehr sensiblen Umfeld von extremer Armut, wie er erklärt. Auch Werbemöglichkeiten für Community-Medien wie Koch FM sind gesetzlich limitiert. «Ein Community-Radio ist sehr anfällig für Bestechungen durch Politiker», sagt Mboya. «Mit hohen Geldbeträgen wollen sie sich Sendezeit erkaufen, um das Gegenlager zu diskreditieren.» Und Geld alleine bringt nicht nur Lösungen, im Gegenteil, es kreiert in einer prekären Umgebung von extremer Armut zusätzliche Probleme. Auch das gehört zur Geschichte von Koch FM. Ein Slum-Radio zu betreiben ist ein Balanceakt, der nicht nur Begeisterung hervorruft, sondern auch Missgunst oder falsche Erwartungen.

Die Radio-Pioniere wollten gegen alltägliche Menschenrechtsverletzungen, Vergewaltigungen, Raubmorde ankämpfen.

«Amani» heisst Frieden. Das Wort wird fast wie ein Mantra wiederholt.

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Geld, Gerüchte und ein Mord Vor vier Jahren lancierte Koch FM mit der Unterstützung der Organisation Action Aid Kenya, die Armut und soziale Ungleichheit bekämpft, ein Musikprojekt, das ein Musikstudio in Korogocho aufbauen wollte. Es sollte lokalen Nachwuchsmusikern eine Möglichkeit für professionelle Aufnahmen bieten. Geldgeber war ein bekannter Festivalleiter in Grossbritannien. Ein Mitglied von Koch FM betreute das Projekt, war für den Kauf des Equipments und die Suche nach einem geeigneten Raum zuständig. Der Andrang zur Gelegenheit, im Studio umsonst eigene Stücke einzuspielen, war gross, und über ein Jahr lang lief alles vielversprechend, es gab Wettbewerbe, Workshops und Shows im Rahmen des stadtbekannten «Good Governance Festivals». Dann kam es zu 13


«Vergesst nie»: Gewaltausbrüche will niemand mehr.

Unstimmigkeiten innerhalb des Koch-FM-Teams, erinnert sich der Mitarbeiter von Action Aid, der das Projekt verantwortete. Gerüchte kursierten, persönliche Anschuldigungen und Vorwürfe darüber, dass Gelder falsch verteilt würden. Nach etwa zwei Jahren scheiterte das Projekt an diesem internen Konflikt, das Studio konnte langfristig nicht etabliert werden. Der grösste Schlag, den Koch FM bisher verkraften musste, ist der Tod des ehemaligen Sendeleiters Nyagah wa Kamau, genannt Nyash, der im Februar 2012 kurz nach der Rückkehr von einem NGO-Treffen in seiner eigenen Nachbarschaft ermordet wurde. Es kam nie zu einer Anklage, polizeiliche Untersuchungen verliefen im Sand, nichts Aussergewöhnliches in den Eastlands. Seither ranken sich unbestätigte Gerüchte um Identität ANZEIGE

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und Motiv der Täter. Dieser ungeklärte Mord an einem bewunderten Lokalmatador hat das Klima vergiftet, und seither ist nichts mehr, wie es mal war, bestätigen viele aus dem näheren Umfeld des Radios. Stationsleiter Mboya sagt dazu: «Wir sind sehr vorsichtig geworden.» Informationen über das Budget gingen seither nicht mehr aus dem engsten Kreis der Radioleitung hinaus. Die Abhängigkeit von internationalen Organisationen Ob das langfristig sinnvoll ist, ist allerdings fraglich. So hatte die Sendeleitung die privaten Spendengelder verschwiegen, die auf Initiative der damaligen Programmleiterin der Kirchenhilfe für die spezifischen Aktivitäten im Wahljahr 2017 zusammengekommen waren – immerhin 4000 US-Dollar, was erneut für Unmut im engsten Umfeld der Verantwortlichen sorgte. Der Medienwissenschaftler George Otieno Ogola untersuchte Koch FM 2012 in einem Bericht und steht nicht nur der internationalen Entwicklungshilfe kritisch gegenüber. Er sieht grundsätzliche strukturelle Probleme. So teilt sich Koch FM mit anderen Community-Radios die Frequenz. Ogola ist überzeugt, dass diese Einschränkungen nicht zuletzt eine Form subtiler politischer Kontrolle sind. In den Slums leben weitaus mehr Menschen als in den wohlhabenden Nachbarschaften. Institutionen wie Koch FM Selbstorganisation zu gewähren, könnte die Regierung daher als Bedrohung der politischen Stabilität sehen, glaubt Ogolo. Auch die Abhängigkeit von ausländischen Organisationen sieht der Medienexperte kritisch. «Die Krise von Koch FM ist symptomatisch. Eine Institution kollabiert, sobald NGO-Gelder rückläufig sind – ein Trend, der in den Community-Medien generell zu beobachten ist. Auch fehlt es an nachhaltigen Strukturen, es wird zu sehr auf Einzelpersonen gesetzt. Wenn diese dann den Surprise 415/17


Kirche, Polizei und Radio setzen sich gemeinsam ein.

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Betrieb verlassen, scheitert das gesamte Unternehmen», meint Ogola. «Es wäre dennoch gut, wenn das Community-Radio dank der Unterstützung der Unesco fortbestehen könnte, die Alternativen sind nämlich wenig reizvoll: kommerzielle Radiostationen, die nur Musik spielen. Oder eben ethnisch-sprachige Stationen, die sehr einfach für politische Zwecke missbraucht werden.» Heutzutage hörten nicht mehr so viele das Community-Radio, und die Reggae-Show laufe auch nicht mehr so wie damals, sagt Moderator Andika Shariff. Wohl, weil es inzwischen sehr viele kleine Lokalsender in den Eastlands gebe, die in den jeweiligen Dialekten einzelner Volksgruppen senden. Das Wegbrechen der regelmässigen Spenden sowie des Know-hows von Einzelpersonen hat Lücken hinterlassen, die eine Organisation in dieser Grösse schlecht verkraftet. Die meisten Volontäre geben ihre Sendung auf, sobald sie bezahlte Jobs haben. Ob Koch FM überleben wird? «Solange die Leute an Geldgeber von aussen gewohnt sind, bin ich wenig optimistisch. Man darf nicht vergessen, dass Koch FM praktisch ohne Budget gestartet ist, mit dieser dynamischen Energie. Ich habe gelernt, dass richtige Veränderung, also bleibender Wandel, hier niemals von aussen kommen kann, sondern von innen kommen muss», sagt Shariff bestimmt. Er ist Koch FM bis heute treu geblieben. Die besten Jahre seien längst vorbei, aber er geht für seine Sendung immer noch jeden Freitag zum Container mit dem abgeblätterten Lack. Es erzählt viel über die derzeitige Stimmung, wenn Shariff seine Motivation intuitiv mittels Vergangenheitsform in Worte fasst: «Ich dachte, als Journalist hätte ich Raum, den Menschen zu berichten, was wirklich los ist im Land. Ich spürte den Drang in mir, die schlafende Menschheit aufzuklären.» Es sind Sätze, in denen genauso viel Überzeugung wie Desillusionierung steckt. Surprise 415/17

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Fräulein Anns Gespür für Kinder Inuit Auf der kleinen Insel Uummannaq in Grönland liegt das nördlichste Kinderheim der Welt.

Die Dänin Ann Andreasen will hier Inuit-Kindern zu einem glücklichen Leben verhelfen. TEXT ISABEL STETTIN

FOTOS SASCHA MONTAG

GRÖNLAND

Uumm mm mmannaq

ISLAND

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Knud trägt eine Hose aus Eisbärenfell, wenn er mit den Hunden unterwegs ist.

Büroarbeit: Ann Andreasen, 57, ist die Heimleiterin.

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Es gibt ein Märchen, das jedes Kind in Grönland kennt und das die Menschen seit unzähligen Jahren weitertragen. Es ist die Geschichte von Kaassassuk: Die Dorfbewohner verspotten den kleinen Waisenjungen als Schwächling, quälen und verstossen ihn. Auf sich allein gestellt, schläft er bei den Hunden – bis er in der Wildnis auf einen Zauberer trifft, der ihm übernatürliche Kräfte verleiht. Am Ende ist Kaassassuk ein unbesiegbarer Jäger, der drei Eisbären bezwingt. «In jedem meiner Kinder steckt ein kleiner Kaassassuk», sagt Ann Andreasen. Sie ist die Zauberin, die sie stark machen will: eine kleine Frau, 57 Jahre alt, mit dunklem Lachen und weichem Blick. Mitten in der arktischen Einöde, wo sich die Kälte bei minus 30 Grad durch die Kleidung frisst, leitet sie das nördlichste Kinderheim der Welt. Eine Festung aus Geborgenheit für 35 Mädchen und Jungen im Alter von sechs bis 20 Jahren. Sie gehören zu den Inuit, den Ureinwohnern Grönlands. Kalaallit Nunaat nennen die Ureinwohner ihr Zuhause: «Land der Menschen». Nicht mehr als rund 57 000 leben auf Grönland, von dem nur ein Sechstel eisfrei und bewohnbar ist. Mit zwei Millionen Quadratkilometern ist die Insel die grösste der Erde, fast 50 Mal so gross wie die Schweiz. Unter dem Robbenherz-Berg Uummannaq hingegen ist winzig, nur zwölf Quadratkilometer gross. Im Nordwesten, knapp 600 Kilometer nördlich des Polarkreises, liegt die kleine Insel, wie einem Märchen entsprungen. Weiss glitzernd, felsig und rau. Scharf zeichnen sich die Konturen des Bergs ab, der ihr den Namen verlieh: der Robbenherzförmige. Uummannaq ist kein Ort, an den man leicht gelangt und keiner, an dem es sich leicht lebt. Nur 1500 Menschen wohnen hier, dazu doppelt so viele Schlittenhunde. Sie liegen an Ketten auf dem Packeis, das die Insel im Winter einschliesst. An die schroffen Hänge schmiegen sich bunte Häuschen wie hingewürfelte Legosteine. Dort, wo sich die Strasse vom Herzberg nach unten schlängelt, sausen an einem kalten Nachmittag zwei kreischende Kinder mit ihren Schlitten hinab, vorbei am roten Schulhaus und dem einzigen Supermarkt, hinunter zum Hafen mit der grossen Fischfabrik. In der Dämmerung ziehen Dharma und Amy mit glühenden Wangen und glänzenden Augen ihre Schlitten nach Hause zurück, hoch zu dem holzvertäfelten blauen Haus, wo Robbenhäute, bemalt mit Inuit-Kindern, neben die Tür gespannt sind und hinter den Fenstern Kerzen leuchten. Amy ist eine stille Siebenjährige, mit Hasenzähnchen und glänzendem schwarzen Haar, der gleichaltrige Dharma ein aufgeweckter, oft überdrehter kleiner Junge. Zärtlich nimmt Heimleiterin Ann Andreasen die beiden Jüngsten zur Begrüssung in die Arme. Aus den Zimmern der anderen Kinder dringen Klaviermusik und Gitarrenklänge. Es duftet nach warmen Zimtbrötchen. Hyggelig, nennen das die Dänen, was gemütlich heisst und auch menschliche Wärme mit meint. Kein Wort passt besser zu dem Reich, das Andreasen geschaffen hat. Überall liegen flauschige Teppiche und Felldecken, Walrossschädel und Schnitzfiguren aus Knochen, genannt Tupilaq, stehen auf 17


den Regalen. Die Seelen ihrer Ahnen leben in ihnen, glauben die Inuit. An den bunt gestrichenen Wänden hängen Fotos von den Konzertreisen der Kinder. Darauf sind sie am Strand von Hawaii zu sehen, mit ihren Instrumenten in Venezuela, mit Daisy Duck in Disneyland. Ann Andreasen will ihre Welt grösser machen. Doch vor allem sollen sie lernen, ihr eigenes Land zu lieben. Und damit sich selbst. «Den Kindern zu zeigen, dass sie einer wunderschönen Kultur entstammen, hilft ihnen zu verstehen, wie wertvoll sie selbst sind.» Das Kinderheim von Uummannaq ist das älteste in Grönland. 1929 wurde es gebaut. ANN ANDREASEN Wer die Kinder und das Heim begreifen will, muss sich eingehender mit der Geschichte beschäftigen. Mitte des 18. Jahrhunderts erreichten die ersten dänischen Missionare Grönland, um heiten wie etwa die Aussenpolitik. In Statistiken über Ardie Inuit zum Protestantismus zu bekehren. Bald wurde mut, häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe nimmt Grönland traurige Spitzenpositionen ein. Jedes sechste Grönland zur dänischen Kolonie. Die Ureinwohner litten unter den eingeschleppten Krankheiten, der FremdbeKind ist laut Unicef unterernährt. Jedes dritte Mädchen stimmung und Neuordnung ihres Lebensraumes durch unter 15 Jahren wurde schon einmal sexuell missbraucht. die Kolonialherren. Erst 1979 erreichten sie das Recht auf Zu diesem Berg von Herausforderungen kommt nun Selbstverwaltung. Seit 2009 ist Grönland offiziell ein einoch der Klimawandel, der das Land hart trifft. «Lange genständiges Land. In der Realität bestimmt Dänemarks folgten die Inuit den Spuren ihrer Vorfahren, aber die SpuRegierung jedoch weiterhin über wichtige Angelegenren verschwinden», sagt Ann Andreasen. Sie sitzt in ihrem kleinen Büro auf ihrem Stuhl, bespannt mit grauglänzendem Robbenfell. Um den Hals trägt sie einen Eisbären, geschnitzt aus dem Knochen eines Narwals. Seit jeher sind die Grönländer Jäger, fangen Wale, Rentiere und «FÜR TIERFREUNDE IST DIE DOKU VON BARFUSS ARFUSS EIN MUSS» M MUSS USS»» Robben, angeln Dorsch und Heilbutt. Doch der KlimaWESTFÄLISCHE NACHRICHTEN wandel lässt das Eis immer früher schmelzen, und mit ihm schwinden die Traditionen, die Jagdgründe, die Hundeschlitten – und damit Stolz und Identität.

«Den Kindern zu zeigen, dass sie einer wunderschönen Kultur entstammen, hilft ihnen zu verstehen, wie wertvoll sie selbst sind.»

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Das Eis unter den Füssen stärken Ann Andreasen malt einen Menschen in Fellkleidung auf ein Blatt Papier mit einer Scholle unter den Füssen. «Meine Kinder stehen auf dünnem Eis. Unsere Aufgabe ist es, den Boden unter ihren Füssen dicker zu machen.» Denn der Wandel trifft vor allem die Schwächsten. Das hat Andreasen in ihrer Zeit als Heimleiterin gelernt. Sie selbst wurde auf den Färöer-Inseln geboren, mit zwölf kam sie nach Dänemark, wo sie bei ihrer Tante und dem Onkel aufwuchs. In Kopenhagen studierte sie Soziale Arbeit und arbeitete mit Kindern, die an seltenen Krankheiten leiden. Mit 25 zog sie nach Uummannaq, ins Kinderheim. Es war die Liebe zu einem Grönländer, die sie dorthin brachte. Für sie war es ein logischer Schritt: Zuvor hatte sie mit Überlebenden von Konzentrationslagern gearbeitet und war mit Beduinen durch die Wüste von Sinai gezogen. «Von dort kam ich in die Eiswüste.» 30 Jahre ist das her, seitdem wurde Ann Andreasen vielfach für ihre Arbeit ausgezeichnet. In blauen Ordnern verwahrt Andreasen die Schicksale all der Jungen und Mädchen, die sie in den vergangenen Jahren begleitet hat. Die meisten haben sexuellen Missbrauch und Gewalt erlebt. Ihre Eltern sind Alkoholiker, 18

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Dharma und Amy, die Kleinsten im Heim, spielen Flöte nach dem Abendessen.

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Instrumente wirken wie Medizin: Fast immer wird musiziert.

Sie sind zwar eine Schicksalsgemeinschaft, aber dennoch eine Art Familie.

Schlittenhunde pausieren in der EiswĂźste.

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Jugendliche üben sich im traditionellen Eisfischen.

gungen einer Robbe nach, erheben die unsichtbaren Harpunen. Die Jungen trommeln dazu. Dann sind Amy und Dharma an der Reihe. Mit baumelnden Beinen sitzen sie auf ihren Stühlen, alle Augen sind auf sie gerichtet. Dharma pustet in seine kleine rote Plastikflöte, doch er schafft es nicht, ihr die richtigen Töne zu entlocken. Er schmeisst die Flöte auf den Boden und sieht aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen oder vor Wut schreien. Doch Andreasen nimmt ihn auf den Schoss und flüstert ihm etwas ins Ohr. Dharmas Augen leuchten. Er setzt die Flöte wieder an, nun an seine Nase – und spielt eine Melodie. Ann Andreasen lächelt zufrieden. Unter die Musik mischt sich das leise Jaulen der Hunde aus der Dunkelheit. Am nächsten Morgen steht Knud im Flur und schlüpft in eine Hose aus flauschigem Eisbärenfell. Obwohl der Teenager mit fast 18 zu den ältesten gehört, ermahnt Andreasen ihn immer noch, sich warm anzuziehen. Er grinst nur und hüllt sich in das silbrig-graue Fell einer Ringelrobbe. Auf dem Eis erwarten ihn die Polarhunde. Er macht sich auf den Weg zu Unnartoq, dem Mann, «der das Feuer in sich trägt». Für die Kinder heisst er nur Grossvater. Zwei Hundeschlittenstunden dauert die Fahrt zu ihm. Seit 25 Jahren arbeitet der alte Jäger für das Kinderheim. Er kann sie lesen, die Spuren der Narwale und Moschusochsen. Er hat Knud beigebracht, die Hunde zu zähmen. Gemeinsam haben sie Knuds erste Robbe gefangen und die rohe Leber geteilt. Ann Andreasen glaubt an die alte Weisheit, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind grosszuziehen. Darum hat sie ein Team von rund 50 Menschen um sich geschart. Pädagoginnen, Musikund Tanzlehrer – und Männer wie Unnartoq. Denn nur sie können das Wissen über die Natur weitergeben, das seit Generationen mehr und mehr abhandenkommt. «Die Natur kontrolliert uns, und wir kontrollieren die Natur», sagt Unnartoq. «Das Jagen ist kein Festhalten an der Vergangenheit. Es ist unsere Seele, unser Blut.» Sein altes Handy klingelt. Andreasen ist am Apparat und fragt, ob Knud gut angekommen ist. Der rollt nur betont genervt mit den Augen. «Vielleicht geh ich bald nach Dänemark zum Studieren», sagt der junge Mann. «Oder ich werde Automechaniker. Aber irgendwann werde ich wieder zu meinen Hunden kommen.»

«Jagen ist kein Festhalten an der Vergangenheit. Es ist unsere Seele, unser Blut.» UNNARTOQ , JÄGER

überfordert mit der Erziehung, depressiv. Oder tot. Jedes der Kinder kennt mindestens einen Angehörigen oder Freund, der sich umgebracht hat. «Selbstmord ist in Grönland wie eine Epidemie.» Sie überträgt sich von den Erwachsenen auf ihre Kinder. Jeder fünfte hat mindestens einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Vor allem junge Menschen sind gefährdet. Davon künden die Strangulationsspuren an den Hälsen einiger der Jugendlichen. Andreasen weiss, dass sie nicht alle Kinder retten kann: «Aber zumindest eine Kindheit kann ich ihnen schenken.» Der Kehlkopfgesang, der Sicherheit gibt Im grossen Esszimmer wird das Abendessen aufgetischt: In der Fischsuppe schwimmt gewürfelte, schwarz glänzende Walhaut. Die Kinder halten sich an den Händen, sie beten für ihr tägliches Fleisch. Solche festen Rituale sollen ihnen eine Sicherheit geben, die sie aus ihrem früheren Leben nicht kennen. Kaum sind die Teller abgeräumt, holen sie ihre Instrumente. Musik, davon ist Ann Andreasen überzeug, ist wie Medizin. Viele der zappligen Kinder werden ganz ruhig und andächtig, wenn sie eine Geige in der Hand halten. Im Heim spielen sie nicht nur klassische Musik, sie lernen auch den grönländischen Kehlkopfgesang Katajjaq, der wie ein dunkles Gurren klingt, und die alten Lieder ihrer Vorfahren. Fünf junge Mädchen singen von der Seehundjagd und tanzen lachend dazu: Wie ein Jäger blicken sie in die Ferne, ahmen die TauchbeweSurprise 415/17

Die Heimmutter wacht weiter über ihre Kinder Egal, ob Knud sich für eine Zukunft in Grönland entscheidet oder nicht, Heimmutter Ann Andreasen wird über ihn wachen. Sie verfolgt genau, was aus den Kindern wird. Einige ihrer Schützlinge sind mittlerweile selbst als Sozialarbeiter tätig, sie sind Lehrer- und Fischerinnen, arbeiten am Flughafen und als Verkäufer. Die meisten, erzählt sie, bleiben dem Kinderheim verbunden, auch wenn sie erwachsen sind. So wie in dem Lied, das die Kinder oft gemeinsam singen: Wer einmal in Uummannaq war, der kehrt immer wieder dorthin zurück, weil er irgendwo auf der kleinen Felseninsel sein Herz verloren hat. 21


Daniela wartet mit Kater Billy auf die Untersuchung.

Wenn der Kater sein Frauchen zum Arzt mitbringt Gassentierärztin Igna Wojtyna behandelt einmal im Monat die Haustiere von Randständigen. Die Sorgen der Besitzer sind ihr genauso wichtig wie die Impfprotokolle der Hunde und Katzen. TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS

Daniela* streicht Billy über den Kopf, und der rote Kater schnurrt. Gemeinsam warten sie im Büro der Kirchlichen Gassenarbeit Bern auf Gassentierärztin Igna Wojtyna. Der Kater muss untersucht werden. «Billy ist immer für mich da: Er tröstet mich, wenn ich traurig bin, und er gibt mir Kraft, wenn ich nicht mehr weiter weiss», sagt Daniela. Die 37-Jährige lebt mit ihrem Mann in einer Sozialwohnung am Stadtrand von Bern. Aufgewachsen im Emmental, zog Daniela mit 30 hierher, sie hatte einen tollen Job. Dann kam, wie aus dem Nichts, die Kündigung, das warf sie aus der Bahn. Seit 20 Jahren hatte sie an schweren Essstörungen gelitten, sie konnte ihr Leben trotzdem leben. Nach der Kündigung verfiel sie aber dem Alkohol, es folgten Therapien, 22

schlimme Durchhänger, betreutes Wohnen und betreutes Arbeiten, zuerst in der Küche, dann im Bereich Recycling, meist sechs Stunden am Tag, das gab ihr Struktur. Schneller Entzug aus Liebe zum Hund Auch Billy tut ihr gut, und Daniela erzählt gerne und oft von ihrem Kater. Wie er morgens mit ihr auf die Terrasse geht, wenn sie eine Zigarette rauchen will. Wie er zu ihr hält, wenn sie mal Streit mit ihrem Mann hat. Wie er ihr zuhört, wenn sie ihm von ihren Sorgen berichtet. Und wie sie umgekehrt mit Billy spielt, wenn er mal seine schwierigen fünf Minuten hat, bei Vollmond zum Beispiel. «Ich würde alles für ihn tun. Billy ist ein wenig wie ein Bébé für mich.»

«Viele Obdachlose oder Bedürftige haben ein sehr enges Verhältnis zu ihren Tieren», sagt Gassentierärztin Igna Wojtyna. Das oft geäusserte Vorurteil, sogenannte Randständige würden ihre Tiere verwahrlosen lassen, stimme nicht. Sie erzählt von einem Drogenabhängigen, der unbedingt seinen Entzug beschleunigen wollte, damit er wieder mit seinem Hund, der ins Tierheim musste, zusammenleben durfte. Es sei auch nicht wahr, dass die Tiere häufig alleingelassen würden und darum schlecht sozialisiert seien. «Das Gegenteil ist der Fall», sagt Wojtyna. «Oft sind sie rund um die Uhr mit ihren Besitzern oder anderen Tieren zusammen.» Julia*, die mit ihrem Hund im Wartezimmer der Tierärztin sitzt, bestätigt das. «Rina und ich sind immer Surprise 415/17


Igna Wojtyna ist seit sieben Jahren als Gassentierärztin tätig.

«Für Menschen auf der Gasse sind ihre Tiere oft die einzigen beständigen Begleiter.»

Isa Calvo von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern, wo die Tierärzte einmal im Monat Sprechstunde haben.

ISA CALVO, KIRCHLICHE GASSENARBEIT BERN

zusammen, und ich würde alles für meinen Hund tun.» Das habe sie bereits vom ersten Moment an gewusst, als sie Rina sah. Zehn Jahre ist das her. Die heute 30-Jährige lebt seit Jahren ohne feste Bleibe in einer Wagenburg am Stadtrand von Bern. Zwar sei ihr Leben manchmal hart, speziell im Winter, wenn die Kälte komme. Für ihren Hund aber sei das perfekt, ist Julia überzeugt. «Wir verbringen viel Zeit draussen und Rina kann ohne Leine rumlaufen.» Der Hund ist für Julia zu einer wichtigen Stütze in ihrem Leben geworden. «Es ist bedingungslose Liebe, die ich für Rina habe. Vielleicht so wie die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind.» Entwurmung auf dem Bürotisch Igna Wojtyna wird oft mit heftigen Lebensgeschichten – vor allem von jungen Frauen – konfrontiert. Häufig seien es genau jene Menschen, die zuerst für ihr Tier sorgten und sich erst dann um sich selbst kümmerten, sagt die Gassentierärztin. Auch für Daniela ist klar: «Ich würde keine Kosten scheuen, wenn Billy etwas fehlt. Lieber verzichte ich auf die Mahlzeit oder auf mein Bier.» Manchmal, sagt Wojtyna, könne das für die Betroffenen schlimme gesundheitliche Folgen haben. Dann versucht sie, durch ihren Kontakt über das Tier das Vertrauen der Menschen zu gewinnen und sie dazu zu bringen, auch zu sich selbst zu schauen oder einen Arzt aufzusuchen. Tatsächlich erreicht die Gassentierärztin Surprise 415/17

oft erst über das Tier den Menschen. Die Tierärztin entwurmt und impft nicht bloss Katzen und Hunde, sondern hört sich auch die Sorgen ihrer Besitzer an. Wojtyna, die auch in einer regulären Tierarztpraxis arbeitet, ist schon seit sieben Jahren dabei. «Diese Arbeit ist für mich als ausgebildete Psychologin und Tierärztin die perfekte Kombination.» Gefragt ist viel Flexibilität: Die Arbeitsbedingungen sind mit denen einer gewöhnlichen Tierarztpraxis nicht zu vergleichen. So gibt es im Büro der Kirchlichen Gassenarbeit Bern an der Speichergasse keinen Operationstisch oder Infusionsständer – dafür fehlt schlichtweg das Geld. Die üblichen Behandlungen – Zeckenbisse, Impfungen, Zahnstein, Entwurmungen, Kastrationen – passieren auf dem Bürotisch oder auf dem Fussboden. Dass nicht alle Tierärzte so arbeiten möchten, kann Wojtyna nachvollziehen. Aufgewogen werden die Schwierigkeiten durch die

Projekt Gassentierarzt Das Projekt Gassentierarzt wurde von den Sozialwerken Pfarrer Sieber (SWS) in Zürich initiiert und vor drei Jahren von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern adaptiert. Das nicht kostenlose, aber stark vergünstigte Angebot richtet sich an Obdachlose und andere Bedürftige, die sich einen normalen Tierarzt nicht leisten können. In Zürich haben die Gassentierärzte einmal pro Woche auf Anmeldung Sprechstunde, in Bern einmal im Monat. Infos: www.gassenarbeit-bern.ch

grosse Dankbarkeit und Freude der Menschen, wenn sie sehen, dass es ihren Tieren wieder besser geht. Meist fehlt es ihnen an Geld, um sich einen normalen Tierarzt zu leisten. Wir müssen draussen bleiben Kostenlos sei die Behandlung aber nicht, wie Isa Calvo von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern betont. «Wer sich ein Tier hält, muss Verantwortung übernehmen. Und dazu gehören eben auch die Tierarztkosten. Damit es für die Leute günstiger kommt, verkaufen wir die Medikamente aber zu Einkaufspreisen.» Calvo weiss um die enge Beziehung, die viele ihrer Klienten zu Tieren haben. «Menschen auf der Gasse haben meist den Kontakt zu den Eltern oder früheren Freunden verloren. Für sie sind ihre Tiere dann oft die einzigen beständigen Begleiter.» Allerdings ist das Leben mit Gassentieren nicht immer leicht. Obdachlose oder Bedürftige mit Tieren haben häufig gar keine Möglichkeit, irgendwo unterzukommen, da es Institutionen gibt, die keine Tiere erlauben. Inzwischen wurde Billy von Igna Wojtyna untersucht, alles ist gut, und Daniela ist erleichtert. Sie ist froh um die Gassentierärztin und überhaupt um die Menschen, die hier arbeiten. Für ihre Zukunft wünscht sie sich Gesundheit und eine Arbeit. Und vor allem, dass Billy noch lange lebt. * Name geändert

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FOTO: ZVG

Ihr Weg scheint vorgezeichnet: Rentierjägerin soll Elle Marja werden. Nur stellt sie sich das selbst anders vor.

Selbstverleugnung bis zur Schmerzgrenze Film Schweden in den Dreissigerjahren. Elle Marja gehört der samischen

Minderheit an. Sie wünscht sich aber das Leben einer Schwedin. Das heisst: höhere Bildung statt rassenbiologische Untersuchungen. TEXT MONIKA BETTSCHEN

Vorsichtig nippt Elle Marja (Lene Cecilia Sparrok) an der Kaffeetasse, die ihr ihre Lehrerin anbietet. Sie wurde hereingebeten, nachdem sie dabei ertappt wurde, wie sie die Lehrerin durch das Fenster beobachtete. Über den Porzellanrand hinweg beobachtet das 14-jährige Mädchen, wie die blonde Frau beim Anheben ihrer Tasse den kleinen Finger elegant abspreizt, und tut es ihr nach. Diese kleine Geste lässt uns zu diesem Zeitpunkt bereits schaudern. Denn nach wenigen klar gesetzten Eingangsszenen haben wir begriffen: Der abgespreizte Finger steht für Elle Marjas verzweifelten Kampf gegen ihre Herkunft. Die gleiche Lehrerin (Hanna Alström) züchtigt sie bei einer anderen Gelegenheit mit der Rute. Die Frau, von Elle Marja gleichzeitig gefürchtet und bewundert, repräsentiert ein System, das Menschen wie ihr mit unverhohlener Geringschätzung begegnet. Als Angehörige des rentierzüchtenden Volks der Samen ist Elle Marja in ihrem Alltag offenem Rassismus ausgesetzt, denn im Schweden der Dreissigerjahre zeigt man sich offen der Überzeugung, dass die Samen minderwertig seien und nicht über die gleichen geistigen Kapazitäten verfügten wie die übrigen Schweden. Demütigende rassenbiologische Untersuchungen sollen den wissenschaftlichen Beweis dafür liefern. Auch in Elle 24

Marjas Nomadenschule, in der sie mit anderen samischen Kindern fern ihrer Familien auf niedrigem Niveau unterrichtet wird, findet eine solche Prozedur statt. Köpfe und Körper werden mit kalt glänzenden Instrumenten vermessen und danach fotografiert. Elle Marja zuckt zusammen, als ihr nackter Körper für einen kleinen, heftigen Moment hell erleuchtet wird: Das Knallen des Blitzlichts wird zum Peitschenhieb. Ein paar Jungen stehen draussen und sehen durch das Fenster zu. Es sind die gleichen Jugendlichen, die ihre Schwester Njenna und sie jeweils auf dem Schulweg drangsalieren. In den Weiten der schwedischen Natur Elle Marja ist hin und her gerissen zwischen ihrer kulturellen Identität und ihrem Wunsch nach Bildung und kommt zum Schluss, dass sie in dieser rauen Umgebung nur eine Chance hat: Anpassung an die schwedische Leitkultur, Assimilation bis zur Selbstverleugnung. Nach und nach streift sie die Attribute ihrer Abstammung ab, sehr zum Missfallen ihrer Familie und der anderen samischen Kinder. In der Figur der Elle Marja dürfte sich manch einer wiedererkennen, der in zwei Kulturen aufwächst. Wer einer ethnischen oder religiösen Minderheit angehört, kennt Surprise 415/17


Quoten dank Zoten

beides. Zum einen die Ablehnung von ausserhalb. Zum anderen aber gerade auch diejenige aus dem engsten Familienkreis, wenn es um die eigene Identitätsfindung geht. Elle Marja wäscht sich gründlich in einem See, um den Geruch ihres Volkes loszuwerden, verbrennt heimlich ihre samische Tracht und tauscht sie gegen ein Kleid, das sie von einem Wäscheständer stiehlt. Und als sie an einem Tanzfest einen schwedischen Jungen kennen- und lieben lernt, nennt sie sich kurzerhand Christina. Denn auch das ist der Film «Sami»: Neben der Aufarbeitung dieses dunklen und ausserhalb Skandinaviens wenig bekannten Kapitels der schwedischen Geschichte erzählt der Film von der Suche einer Heranwachsenden nach sich selbst. Die 31-jährige Filmemacherin Amanda Kernell arbeitet den schweren historischen Stoff auf, indem sie mit beeindruckender Leichtigkeit zugleich eine Coming-of-AgeGeschichte erzählt und die Weiten der schwedischen Natur prominent inszeniert. Die innere Zerrissenheit des jungen Mädchens wirkt dadurch unmittelbar, existenziell. «Dieser Film ist eine Liebeserklärung an die Älteren meiner Familie und ihre Generation», lässt sich Kernell in den Presseunterlagen zitieren. Sie selber ist die Tochter einer schwedischen Mutter und eines samischen Vaters. «Einige von ihnen wollen mit den Samen nichts zu tun haben, lehnen sie völlig ab und reden ziemlich schlecht über sie, obwohl sie doch selbst Samen sind», so die junge Regisseurin. Die Tatsache, dass die Wunden von damals in der Gemeinschaft bis heute nicht verheilt sind, motivierte Kernell, sich des sensiblen Stoffs anzunehmen. Das Casting für «Sami» dauerte zwei Jahre, da es nur noch wenige Menschen gibt, die die Sprache fliessend beherrschen, und das Misstrauen und die Angst, missverstanden zu werden, noch heute gross sind. Amanda Kernell baute behutsam ein Vertrauensverhältnis zu den Darstellern auf und schuf damit die Rahmenbedingungen, in denen sie ihre Rollen so authentisch wie möglich spielen konnten. Denn die Hälfte der Darsteller hatte zuvor keinerlei schauspielerische Erfahrung, auch nicht die beiden Mädchen, die sowohl in der Realität wie im Film Schwestern sind. Ob und wie sich Elle Marja am Ende mit ihrer Herkunft versöhnt, verraten wir nicht. Nur so viel: Der hohe Preis, den sie zahlen muss, um scheinbar dazuzugehören, macht den Film in einer von Migration geprägten und spürbarer Feindseligkeit gegenüber Fremdem überschatteten Zeit zu einer wichtigen Stimme.

Buch Matthias Zehnder zeigt in «Die Aufmerksamkeitsfalle», wie selbst kritische Medien zu Steigbügelhaltern für Populisten werden. Dieses mediale Blitzgewitter! Irgendwie hat man sich ja daran gewöhnt. Erst an immer mehr Zeitungen und TVSender. Dann auch an Google, Facebook, Twitter & Co., an den wuchernden Website-Dschungel und die Flut von Mails, SMS, WhatsApps und wer weiss was noch. Schliesslich kann man noch weitgehend selbst entscheiden, ob man ständig on- oder lieber auch mal offline ist. Und doch wird einem immer wieder mulmig zumute. Nicht nur wegen der Informationsflut oder wegen Big Brother, der sich heute Big Data nennt. Sondern wegen der Frage: Warum sind die Populisten in den Medien so präsent? All die, die ihre Messer wetzen, um einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft an die Kehle zu gehen. In seinem Buch «Die Aufmerksamkeitsfalle» hat sich der Publizist und Medienwissenschaftler Matthias Zehnder diesem Phänomen zugewandt. Anschaulich und eindrücklich erzählt er von der tristen Kehrseite der Mediengeschichte. Angefangen hat es ganz klein, etwa mit der ersten Berliner Boulevardzeitung, die zwar noch lokal und als Einzelstimme, aber doch schon lautstark und mit knalligen Titeln um die Gunst der Leser buhlte. Dass diese schrille Strategie die Entwicklung hin zum Mediensupermarkt prägen würde, um ein Vieles noch durch das Internet potenziert, ahnte kaum jemand. Zum inzwischen globalen Medienschlaraffenland, in dem der Kunde der wählerische König ist und das wertvollste Gut seine Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit wurde zum Schlüsselfaktor. Und auffallen um jeden Preis die Devise. Was eignet sich da besser als die Rüpeleien populistischer Politiker? Um in der Überflutung mit Informationen und medialen Reizen gehört zu werden, braucht es immer mehr Emotionen und Sensationen, am besten Skandale. Denn Zoten bringen Klicks und Quoten, und diese die grössten Stücke vom Werbekuchen. So entsteht eine natürliche Symbiose von Medien und RüpelPolitikern, stellt Zehnder fest, ein fatales Zusammenspiel von Boulevardmedien und Boulevardpolitik. Und selbst kritische Medien stolpern immer wieder in diese Aufmerksamkeitsfalle und fördern so den Populismus, allein deshalb, weil sie ihm das wertvollste Gut, die Aufmerksamkeit, frei Haus liefern. So wird selbst ein Trumpeltier gewählt. Die Lektüre dieses knapp gefassten Buches lohnt sich. Denn auch wenn sie das mulmige Gefühl nicht aus der Welt schafft, so schärft sie doch den Blick für die Mechanismen, die so gefährlich alltäglich geworden sind.

Amanda Kernell: «Sami – A Tale from the North», SE / NO / DK 2016, 110 Min., mit Lene Cecilia Sparrok, Hanna Alström, Mia Sparrok u. a. Der Film läuft zurzeit im Kino.

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CHRISTOPHER ZIMMER

FOTO: ZVG

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Elle Marja wäscht sich gründlich in einem See, um den Geruch ihres Volkes loszuwerden.

Matthias Zehnder: Die Aufmerksamkeitsfalle. Wie die Medien zu Populismus führen. Zytglogge 2017. CHF 25.90

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Publireportage

«Mit wenig viel bewirken» Freiwillige begleiten Flüchtlinge im Alltag Beni Keller unterstützt den jungen Misgna aus Eritrea im Alltag. Sie treffen sich wöchentlich oder alle zwei Wochen. Sie üben gemeinsam Deutsch in Alltagssituationen. Herr Keller beantwortet auch Fragen zum Schweizer Alltag. Aktuell hilft er Misgna, eine Vorlehre zu suchen. «Der junge Mann ist so voll Tatendrang, das macht richtig Plausch», so Herr Keller.

© SRK

Betroffenheit über die Flüchtlingsströme veranlasste die Rotkreuzverbände von Baselland und Basel-Stadt die Programme «SALUTE» und «Eins zu Eins» ins Leben zu rufen. Beide stehen für die 1:1-Begleitung von Flüchtlingen im Alltag. Aktuell setzen sich über 240 Freiwillige jeglichen Alters in beiden Kantonen für über 260 Flüchtlinge ein. Menschen, die ihre Heimat unfreiwillig verlassen mussten. Menschen, die bei uns Schutz suchen und sich Kontakt zur Schweizer Bevölkerung wünschen.

chen Vorgespräch findet ein begleitetes Ersttreffen zwischen Flüchtling und Freiwilligen statt. Gezielte Fortbildungen zu praxisbezogenen Themen und Austauschtreffen vermitteln Freiwilligen zudem wichtige Informationen, Tipps und Hilfestellungen. Während der ganzen Einsatzdauer bleibt die Einsatzvermittlerin persönliche Ansprechperson. Auch männliche Freiwillige sind herzlich willkommen!

Weitere Einsatzmöglichkeiten für Freiwillige:

«Austausch und Begegnung sind eine gegenseitige Bereicherung.»

«Mitten unter uns» /«Freizeigotte/-götti»: Freizeitaktivitäten mit fremdsprachigen Kindern oder Müttern mit Kleinkindern Hausaufgabenhilfe und Sprachtreffen für (junge) Migrantin-

Eine wildfremde Person im Alltag zu begleiten kann herausfordernd sein – insbesondere, wenn man nicht die gleiche Sprache spricht. Die Programme richten sich an interessierte Freiwillige, die ein starkes Zeichen in unserer Gesellschaft setzen möchten und als Bezugspersonen Fragen zum Schweizer Alltag beantworten. Am Stärksten beziehen sich die Hilfen auf die Deutschkonversation im Alltag, auf die Wohnungssuche und darauf, den Aufbau sozialer Beziehungen und Kenntnisse von lokalen Angeboten zu fördern. Dies mit dem Ziel, dass die Flüchtlinge selber aktiv bleiben oder dazu befähigt werden. Eine Begleitung dauert mindestens sechs Monate. Die Freiwilligen und die Flüchtlinge treffen sich in der Regel wöchentlich oder 14-täglich. Sie gestalten die gemeinsame Zeit selber. Das Rote Kreuz führt alle Freiwilligen sorgfältig in die Aufgabe ein. Nach einem persönli-

nen und Migranten Mentoring bei beruflicher Integration von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen Weitere Auskünfte zu allen Programmen erhalten Sie bei: Rotes Kreuz Baselland, Corinne Sieber, c.sieber@srk-baselland.ch, 061 905 82 00 oder Rotes Kreuz Basel-Stadt, Imma Mäder, imma.maeder@srk-basel.ch, 061 319 56 66

Melden Sie sich unverbindlich bei uns.


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Wörter von Pörtner

Winterfreuden Der Winter kommt und das freut fast niemanden. Winterzeit ist Jammerzeit. Die Frage nach dem Wohlbefinden wird mit leidendem Seufzer und dem Hinweis auf die Kinder beantwortet: Sie haben halt auch Mühe mit der Kälte. Diese allerdings sind quietschvergnügt, obwohl die Indoktrination schon in Kinderbüchern anfängt. Wenn der Winter kommt, werden alle traurig. Dabei sagen die drei weisen Entenkinder Tick, Trick und Track, wie es ist: «Winter ist eine echt tolle Jahreszeit, erst wenn es knackig kalt ist, kommt man so richtig in Fahrt.» Onkel Donald aber, der Prototyp des Hipster-Erziehungsberechtigten, hasst die Kälte und will den Winter auf einer Tropeninsel verbringen, sehr zum Verdruss der Kleinen. Ich habe den Verdacht, dass es den heutigen, in die Beach Resorts der Seychellen oder Thailands verschleppten Kindern, die den Winter über den Eltern beim Herumliegen und am Handy hantieren zusehen dürfen, nicht viel besser geht. Denn wo es warm ist, hat es auch Insekten, Kreuchgetier, Gutelaunemusik und Grinsköpfe. Während eine Person, die im Skianzug am Strand sitzt und sich über die Hitze beklagt, mit wenig Mitleid rechnen darf, können all diejenigen, die winters in Turnschuhen, T-Shirts und dünnen Jacken unterwegs sich, auf Verständnis zählen. Im Winter braucht es aber warme Schuhe, Jacke, Schal und Mütze. Geschenkt, Sommer und Wärme sind etwas Schönes, doch nichts ist so schön wie die Wärme, in die man aus der Kälte tritt. Bei Minustemparaturen schaltet der Körper in den Überlebensmodus und gibt ungeahnte Energien frei. Gehen Sie an einem kalten Tag nach draussen mit dem festen Vorsatz, zwei Stunden Surprise 415/17

lang keinen geheizten Raum zu betreten. Sie werden das tun, was am gesündesten überhaupt ist: zügig ausschreiten. Wenn Sie sich nicht gerade die Einkaufsmeile am Wochenende dazu aussuchen, werden Sie gut vorankommen, der Körper wird warm, die Gedanken werden klar. Wenn der Hochnebel drückt, setzen Sie sich in den Zug und fahren in die Höhe. Touristen aus aller Welt bezahlen Tausende von Franken, um das zu erleben. Wir haben das Winterwunderland vor der Haustür. Wenn Sie den ganzen Tag am Arbeitsplatz verbringen müssen, gehen Sie zu Fuss nach Hause oder an den Bahnhof, in warmen Schuhen, die eleganten oder modischen lassen sie dort. Kälte ist kein Grund, sich nicht zu bewegen, ganz im Gegenteil. Der Winter ist schön. Leider wird er immer kürzer und wärmer. Soll man überhaupt noch Wintersport betreiben? Gelegenheiten für früher noch bis in die Niederungen ausübbare, wohlfeile Aktivitäten wie Schlittschuhlaufen, Schlitteln oder Langlaufen werden rarer. Normalsterbliche, Unbeferienhauste, die eine Woche Sportferien haben, werden vielleicht einmal in zehn Jahren eine Zeit mit Sonne und Schnee erwischen. Der Klimawandel sorgt dafür, dass wir bald nicht mehr in die Tropen reisen müssen, weil die Tropen zu uns kommen. Geniessen Sie also den Winter, solange es ihn noch gibt.

STEPHAN PÖRTNER Der Zürcher Autor Stephan Pörtner verbringt die Winterferien am liebsten am Nebelmeer, weil es dort keinen Strand gibt.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

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Erwachsenenbildung, Oberrieden

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PHS Public Health Services GmbH, Bern

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Philanthropische Gesellschaft Union Basel

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Toppharm Apotheke Paradeplatz, Zürich

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InhouseControl AG, Ettingen

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Coaching Zürich, Petra Wälti

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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bewegstatt.ch, Janine Holenstein, Frauenfeld

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Naef Landschaftsarchitekten GMBH, Brugg

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Yogazeitraum, Wädenswil

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Echtzeit Verlag, Basel

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Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

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Iten Immobilien AG, Zug

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AnyWeb AG, Zürich

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

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Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

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Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

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Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau, Nidau

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Roger Meier hat in seinem Berufsleben schon den Beton des AKW Mühleberg saniert und am Berner Münsterspitz Gerüste gebaut. Seit einem Unfall kann er nicht mehr voll arbeiten. Der 56-jährige Vater von vier Kindern erlitt nach dem Auseinanderbrechen der Familie einen Nervenzusammenbruch und musste die Fremdplatzierung der Kinder verkraften. Heute lebt er fast vollständig vom Surprise-Verkauf in der Berner Marktgasse. SurPlus ermöglicht Roger ab und zu Ferien vom anstrengenden Alltag. «Als Obdachloser war auch das ÖV-Abo elementar», sagt der Überlebenskünstler: «Wenn es zu kalt wurde, drehte ich zwei Runden im Tram und war wieder aufgewärmt.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise

Ausgabe 412

Sozialer Stadtrundgang

«Anders denken»

«Klagender Ton» Da wir viel unterwegs sind, kaufen wir die Zeitschrift bei unterschiedlichen Verkaufenden. Dabei sind die Surprise-Verkäufer im anonymen Strassenbild durch ihre Freundlichkeit und Ausstrahlung immer ein Grund zur Freude. Grundsätzlich möchten wir unseren Eindruck mitteilen, dass bei vielen Beiträgen ein klagender Ton herrscht, zum Beispiel beim Boxer Ando Hakob, beim Interview mit den Betreibern des Internetcafés Planet 13 in Basel, beim Beitrag über die Flüchtlingswirtschaft usw. Verglichen mit der Lage vieler Armer in Drittweltländern geht es den Menschen in der Schweiz ja noch gut. Wir sprechen aus eigener Erfahrung, sind wir doch finanziell wegen unseres Engagements für neue Energietechnologien auch nicht gut gestellt. Danke jedenfalls für Ihre Arbeit und dass Sie Randständigen durch den Verkauf von Surprise eine Arbeit und damit ein neues Selbstwertgefühl geben.

Wir durften eine eindrückliche, kompetente und sehr lebendige Führung mit Markus Christen erleben. Dank seiner guten Rhetorik wurde so manches gut verständlich. Vonseiten des Publikums gab es viel Lob. Es ist sicher, dass manche der Teilnehmenden beim Thema Armut und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft nun anders denken. A . NICOLODI, Vorstandmitglied AVIVO, Basel

Sozialer Stadtrundgang

«Nachhaltig» Die Tour mit Ruedi Kälin haben wir als äusserst interessant und informativ empfunden. Wir haben persönliche Einblicke in sein Leben erhalten und einen Teil der Stadt mit anderen Augen zu sehen bekommen. Eine nachhaltige Stadtführung, welche uns sehr beeindruckt, aber auch zum Nachdenken angeregt hat. S. PERWEIN UND TEAM,

A . UND I. SCHNEIDER, Aeschlen

St. Josef-Stiftung Bremgarten

Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12

Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Anna Mayumi Kerber, Sascha Montag, Klaus Petrus, Isabel Stettin, Valerie Thurner

Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 surprise@1to1media.ch Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Sara Winter Sayilir (win), Georg Gindely (gg) Reporter: Beat Camenzind (bc), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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FOTO: BODARA

Surprise-Porträt

«Im Januar werde ich Urgrossmutter. Mit 62!» «So richtig glauben kann ich es noch gar nicht, aber im Januar werde ich Urgrossmutter. Mit 62! Stören tut’s mich nicht, im Gegenteil. Ich war schon eine sehr junge Mutter. Als mein Sohn auf die Welt kam, war ich gerade einmal 16 Jahre alt. Das war damals keine Seltenheit in der Vojvodina in Serbien, wo ich herkomme. Mein Mann war meine erste grosse Liebe, und die hat bis zu seinem Tod gehalten. Wir hatten es sehr gut zusammen. Nach unserem Sohn bekamen wir eine Tochter, und ich arbeitete in einer Fabrik, die Medikamente herstellte. Als unser erstes Enkelkind auf die Welt kam, war ich 35 und mein Mann 39 Jahre alt. Drei Jahre später ist er gestorben. Er hatte Krebs, und ich pflegte ihn bis zu seinem Tod. Ich habe viele Menschen gepflegt, schon meine Grossmutter und meine Mutter. Und später meinen zweiten Mann. Das war keine schöne Geschichte. Ich habe ihn geliebt, aber er war nicht nett zu mir. Ich lernte ihn neun Jahre nach dem Tod meines Mannes kennen. Wir heirateten, und er nahm mich mit in die Schweiz. Dort war er plötzlich ganz anders als vorher. Er war eine schlimme Zeit, von der ich nicht viel erzählen möchte. Nicht einmal meine Kinder wissen, wie schlecht er mich behandelt hat. Selbst nachdem er einen Hirnschlag hatte und ich ihn wie ein Kleinkind umsorgen musste, war er herzlos zu mir. Und als er sich erholt hatte, ist er mit einer anderen Frau davon. Ich war 55 Jahre alt. Was sollte ich tun? Ich hatte nichts zum Leben, und niemand wollte mich einstellen. Zurück nach Serbien wollte und konnte ich nicht. Ich hätte dort weder Arbeit noch Pension gehabt, und die medizinische Versorgung ist teuer und nicht immer die beste. Da ich an einer Nierenkrankheit leide, bin ich auf einen guten Arzt angewiesen. Ein Nachbar erzählte mir vom Strassenmagazin Surprise, und ich dachte, das kann ich ja ausprobieren. Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Dank Surprise bin ich wieder glücklich. Meine Hefte verkaufe ich vor der grossen Migros in Uster. Zehn Tage lang arbeite ich, dann mache ich zwei Tage Pause, um daheim in Rüti zu waschen und zu putzen. Ich habe wunderbare Kundinnen und Kunden, sie sind wie eine Familie für mich. Viele nehmen sich Zeit, um mit mir zu plaudern. Kürzlich sagte eine Kundin zu mir: ‹Ich habe heute eigentlich gar keinen guten Tag, aber wenn ich dich sehe, macht mich das glücklich.› Solche Sätze tun mir gut. Einen Verkaufstrick habe ich nicht. Ich stehe einfach ganz ruhig da und sage freundlich ‹Grüezi› oder ‹Guten Morgen›. Das mache ich bei jedem Wetter. Auch als sie die Migros umbauten, 30

Ljiljana Azirovic verkauft das Strassenmagazin Surprise in Uster. Im Januar wird sie aber nicht dort sein, weil sie die Geburt ihres Urenkels in Wien miterleben möchte.

stand ich dort, trotz Lärm und Staub und Durcheinander. Einmal musste ich wegen eines Aneurysmas im Kopf operiert werden. Als ich aus dem Spital zurückkam, blieb ich drei Tage daheim, dann fuhr ich wieder nach Uster. Ich hatte meine Kundinnen und Kunden vermisst. Wenn ich nicht arbeite, habe ich ihnen allen gegenüber immer ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Im Januar werden sie trotzdem auf mich verzichten müssen. Ich reise nach Wien, wo mein Sohn, seine Frau und ihre drei Kinder leben. Meine älteste Enkelin, 27, hat ihren Geburtstermin im Januar, und ich will miterleben, wie mein Urenkel auf die Welt kommt. Vorher werden wir am 6. Januar alle zusammen orthodoxe Weihnachten feiern. Was mein grösster Wunsch ist? Dass bei der Geburt alles gut geht und Mutter und Kind gesund sind.»

Aufgezeichnet von GEORG GINDELY

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Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

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Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

Information

Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden


* In einer repräsentativen Umfrage des Instituts Link im Feb/17 stufen 69% der Befragten das Swisscom Mobilfunknetz als das Beste ein. Details: swisscom.ch/netz

Freude wächst, wenn man sie teilt. Im besten Mobilfunknetz der Schweiz.


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