Surprise 416

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Strassenmagazin Nr. 416 5. bis 18. Januar 2018

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Zeitzeugen

Wider das Vergessen

Erna de Vries hat den Holocaust überlebt. Nun sorgt sie dafür, dass ihre Geschichte auch in Zukunft noch gehört wird. Seite 8

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Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Die Zukunft beginnt mit guten Vorsätzen. Jetzt umsteigen auf klimafreundliche Energie.

Erlebnis


TITELBILD: DANIEL SADROWSKI

Editorial

Es war mal einfacher Die Welt ist schwer zu ertragen. Unsere Mitmenschen nerven – vor allem die, denen es besser geht als uns selbst. Die am ­Drücker sitzen. Die anderen, denen es schlech­ter geht, wollen immer mehr Hilfe und ­Solidarität – und das, obwohl wir doch schon so viel geben. Und zahlen. Steuern zum Beispiel. Und Billag-Gebüh­ ren. Wir haben sogar gespendet, war ja Weihnachten. Frei sagen, was wir denken, können wir heutzutage auch nicht mehr. Ständig werden wir daran gemessen, welche Wörter wir benutzen und ob diese wohl von irgendwem als verletzend oder diskriminierend empfunden werden. Oder wie wir uns Frauen gegenüber verhalten. Nicht mal mehr ein Klaps auf den Hintern ist erlaubt. Früher mussten wir uns auch nicht von ­jemandem mit einem fremd klingenden Namen erzählen lassen, wohin er schon ­gereist ist, obwohl derjenige als Flüchtling gar kein Geld für solche Eskapaden haben ­sollte. Das zahlen doch wohl wir. Früher durfte man auch ungeniert Witze machen über Nasen, Geld und solcherlei Zusammenhänge.

4 Aufgelesen

12 Obdachlosigkeit

5 Vor Gericht

Zwei Betroffene ­berichten

Der Baustellendieb

7 Die Sozialzahl

SAR A WINTER SAYILIR Redaktorin

20 Antisemitismus

Ein alltägliches Phänomen

25 Randnotiz

Mehr Bezüger

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Mit den besten Wünschen für 2018,

Schule der Philosophen

… bleibt vielleicht

Das Gedenken am Leben erhalten

Fallen Sie nicht auf Klischees rein, liebe Leser­innen und Leser. Schauen Sie lieber genau hin. Mit uns, im neuen Jahr. Denn um die Komplexität unserer Welt zu erfassen und eine klare Haltung zu entwickeln, braucht es Informationen. Sowie die Geduld, sich und andere immer wieder zu hinter­ fragen und auch mal den Widerspruch zu wagen.

24 Solothurner Filmtage

6 Moumouni

8 Holocaust

Und dann die Medien. Wie Surprise, das Käseblatt. Zum x-ten Mal werden wir dort daran erinnert, wie wichtig das Gedenken an den Holocaust ist, Seite 8. Dabei ist das doch so lange her. Sie behaupten sogar, wir in der Schweiz hätten ein Antisemitismus-­ Problem, Seite 20. Ein Märchen wie jenes von der Obdachlosigkeit, die angeblich ­jeden treffen könne, Seite 12.

Diagnose Depression 18 Rückkehrhilfe

Wie die Reintegration gelingt

26 Fortsetzungsroman

Ein Krimi in vielen Folgen

27 Agglo-Blues

Die Wasserleiche 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Nirgendwo wirklich willkommen»

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

FOTO: PAUL FLORENT

Indigene Menschen, die in Québec und Montréal leben, werden sieben bis achtmal wahrscheinlicher obdachlos als Menschen anderer Bevölkerungsgruppen. Das stellte das kanadische Institut National de la Recherche Scientifique in einer grossen Erhebung fest. Die oft schwierige Situation in den Heimatgemeinden von Inuit und anderen Ureinwohnern führe zur Abwanderung in die grossen kanadischen Städte. Dort seien die Neuzuzüger mit einer komplett neuen Situation konfrontiert, die viele von ihnen überfordere. Die Studie zeigte auch klar auf, dass es zu wenige Hilfsdienste für indigene Obdachlose gibt.

L’ITINÉRAIRE, QUÉBEC

15,7 Prozent der deutschen Bundesbürger gelten als arm, wie der Armutsbericht 2017 zeigt. Auf Risikogruppen aufgeschlüsselt ergibt sich folgendes Bild, wobei Doppelungen möglich sind: 59 Prozent der Armutsbetroffenen sind erwerbslos, 43,8 Prozent alleinerziehend, 33,7 Prozent haben keine deutsche Staatsangehörigkeit, 25,2 Prozent sind Mitglieder kinderreicher Familien, 19,7 Prozent sind Kinder, 15,9 Prozent Rentnerinnen und Rentner.

ASPHALT, HANNOVER

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Stylische Jacke für Stockholmer Verkaufende Um seine Verkäufer in den belebten Strassen Stockholms besser sichtbar zu machen, hat das schwedische Strassenmagazin Situation Sthlm zusammen mit Studenten der örtlichen Beckham-­Hochschule für Design eine auffällige und praktische neue Jacke entwickelt. Die warme, wasserfeste schwarze Jacke hat eine auffällige Weste, die mit dem Logo des Strassenmagazins sowie der Silhouette von Stockholm bedruckt ist. Wenn die Verkaufenden mit ihrer Arbeit fertig sind, können sie die Weste abnehmen, zusammenfalten und einstecken.

FOTO: DAVID HAMP

Armut in Zahlen

SITUATION STHLM, STOCKHOLM

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Leerstand statt Sozialhotel Die Münchner Strassenzeitung BISS plante, in einem ehemaligen Frauengefängnis das «Hotel BISS» einzurichten. Das Sozialprojekt, das 40 Ausbildungsplätze für Jugendliche sowie Alterswohnungen vorsah, wurde von Politikern sowie Prominenten wie Uli Hoeness und Uschi Glas unterstützt. Der Freistaat Bayern, dem das Gefängnis gehörte, verkaufte es 2011 jedoch an den Meistbietenden. Bis heute steht das Gebäude leer und hat bereits drei Mal den Besitzer gewechselt. Die jetzige Eigentümerin baut nun Kleinwohnungen ein. Diese versprechen maximale Rendite.

BISS, MÜNCHEN

Illegaler Einwanderer

Um Menschen für die Situation von Kindern auf der Flucht zu sensibi­ lisieren, hat die Unicef den Kinder­ buchstar Paddington zu ihrem Botschafter ernannt. Schliesslich ist der Bär, der aus Peru stammt, der beliebteste Migrant Englands. Paddington, der mittlerweile auch als Filmstar Erfolge feiert, hätte heutzutage aber keine Chance, in Grossbritannien Asyl zu erhalten. Da er in seinem Heimatland nicht verfolgt wird, würde sein Asyl­ antrag mit Sicherheit abgewiesen.

THE BIG ISSUE, UK

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Vor Gericht

Klau am Bau Xhemail A.* ist angeklagt, von Baustellen zwei Grabenstampfer geklaut zu haben, einen Presslufthammer, sechs Schildfüsse, kistenweise Werkzeug, zahllose Zubehörund Ersatzteile, eine mobile Toilettenkabine und sogar einen Anhänger zum Abtransport des Diebesguts. Nicht ohne Stolz vernimmt er den Neuwert seiner stattlichen Trophäensammlung: 350 000 Franken. «Aber ganz neu war die Ware ja nicht mehr», bedauert der Kenner vor Gericht. Xhemail ist 31, trägt eine Leguanfrisur, seitlich rasiert und oben zu einem blondierten Kamm gestylt, die Jeans ist industriell zerfetzt. Er lebt noch zuhause. Mama kocht und wäscht für ihn. «Das ist bei uns normal», rechtfertigt er sich. «Maurer sind Sie von Beruf?», fragt der Richter. «Genau.» Allerdings greife er schon seit einiger Zeit nicht mehr zur Kelle, «wegen der Rückenschmerzen». «Sie waren länger mit einer Frau zusammen», weiss der Richter und vermerkt, dass die Körperverletzung, die im Strafregister eingetragen ist, nichts mit der Arbeit auf dem Bau zu tun hat, sondern mit der Trennung. Abschliessend will er wissen, ob es eine neue Frau gibt in Xhemails Leben. Der winkt ab: «Kein Bedarf.» Was also wollte er mit all dem Baumaterial? Xhemail räuspert sich. «Meine Cousins haben ein Bauunternehmen gegründet.» – «Und da wollten Sie ihnen eben mal kurz helfen?», fragt der Richter. Nein, die Cousins im Kosovo hätten quasi «Poschtizettel» bei ihm aufgegeben, und weil er in ihrer Schuld stand – konkret 100 000 Franken für ein Geschäftsdarlehen, das er wegen fehlender Einnahmen noch nicht zurückzahlen konnte –, habe

er dem Druck nachgegeben. So schwer, wie es aussehe, sei der Auftrag aber nicht gewesen, bekennt Xhemail unbekümmert. Auf kleineren Baustellen passe ja niemand auf. Da stehe nachts alles so rum. Für Menschen wie den Angeklagten offenbar eine Einladung zur Selbstbedienung. Sein Pflichtverteidiger stellt ihn als Opfer seines Familienclans dar. «Da gibt es kein Entrinnen.» Die Idee, sich als «Baustellenmarder» zu betätigen, sei nicht von seinem Mandanten ausgegangen, sagt der Anwalt und beantragt eine bedingte Haftstrafe von 24 Monaten. Das Gericht lässt sich von diesem Votum jedoch nicht beeindrucken und verknurrt Xhemail wegen gewerbsmässigen Diebstahls, mehrfacher Hehlerei und Sachbeschädigung zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 30 Monaten. «Im Nachhinein ist man immer klüger», findet schliesslich auch Xhemail. «Aber im Vorhinein hätte ich das nicht gedacht.» Ein schlüssiger Satz, er fasst das ganze Elend des Dilettantentums im Ressort Vermögenskriminalität zusammen. Der Richter, der sich täglich damit rumplagen muss, sieht sich veranlasst, ein bisschen über das Denken im Vorhinein und im Nachhinein zu referieren, insbesondere wenn man bereits einen Tolggen im Reinheft hat, wie Xhemail. «Wenn Sie wieder mal so eine gute Idee haben, sieben Mal nachdenken! Im Vorhinein! Nicht erst, wenn’s zu spät ist!» * persönliche Angaben geändert

ISABELL A SEEMANN  ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Sozialhilfe beanspruchen zu müssen, so habe ich mir vorgenommen, genau das zu tun: Lieber drei weitere Jahre nicht wählen können und Ausländerinnenunterschriften geben, als auf dumme Ideen zu kommen, um Geld zu sparen. Schwarzfahren zum Beispiel. Denn wenn ich das zu oft täte, hätte ich irgend­wann einen Eintrag im Strafregister und mir die Chance auf einen Schweizerpass für mindestens zehn Jahre verspielt! Die anderen Bedingungen erfülle ich wohl, sie machen mir aber trotzdem Sorgen. Das «Respektieren der Werte der Bundesverfassung» zum Beispiel – das ist auch neu. Ich weiss nicht genau, wie man das überprüfen will, denn in der Bundesverfassung stehen weder Werte noch ein Leitfaden darüber, was es heisst, sie zu respektieren. Integriert muss ich auch sein. Aber nicht nur das: Ich muss nachweisen, dass ich zur Förderung der Integration meiner Familienmitglieder beitrage. Wenn die Behörden be­ finden, dass mein Ausländer­ehemann zu schlecht Deutsch spricht, darf ich weiterhin nicht wählen und bleibe eine Ausländerin. Mitgehangen, mitgefangen! Ich hüte mich also davor, einen Aus­ ländermann zu heiraten, der mir allenfalls noch die Einbürgerung versaut!

Moumouni

… bleibt vielleicht Da ich auch im neuen Jahr ein wenig um mein Bleiberecht in der Schweiz bangen muss, dachte ich mir, ich schaue mir mal das neue Einbürgerungsgesetz an. Bis ich mich für den Schweizerpass bewerben kann, dauert es wohl noch ein wenig: Man muss zwar nur noch zehn Jahre in der Schweiz überlebt haben, dafür darf man neu erst mit einem C-Ausweis eine Einbürgerung beantragen. Ich habe einen Ausländerausweis B, für den ich jedes Jahr aufs Neue beim Amt bittstellen muss. Dabei muss ich einen Wisch unterschreiben, und zwar in einem Feld mit der Aufschrift: «Unterschrift des Ausländers». Jedes Mal, wenn ich das lese, finde ich es ein bisschen absurd, einfach wegen der Kon­ notation, die man sonst so mit dem Wort 6

Ausländer verbindet. Aber gut, von B zu C ist es nur noch ein Schritt, und während ich zur immer besseren Ausländerin aufsteige, kann ich ja Aufenthaltsjahre sammeln. Ein Glück, habe ich keine F-Bewilligung! F steht für «v(!)orläufig aufgenommen» – und die Jahre, die Ausländerinnen und Ausländer mit ei­nem F-Ausweis in der Schweiz verbracht haben, zählen ab 2018 bei späteren Einbürgerungsgesuchen nur noch zur Hälfte, warum auch immer. Weiter neu ist, dass man in den letzten drei Jahren keine Sozialhilfe in Anspruch genommen haben darf. Habe ich nicht vor. Aber wenn ich nach zehn Jahren hartem Büezerinnen-Dasein und treuem Steuerzahlen in der Situation sein sollte,

Apropos heiraten. Man könnte meinen, das neue Einbürgerungsgesetz solle abschrecken. Aber das stimmt nicht. Ich habe es durchschaut. Sie wollen uns eigentlich alle hier haben – so fest, dass wir sie heiraten sollen! Wenn ich einen Schweizer eheliche oder mich mit einer Schweizerin in eine eingetragene Partnerschaft begebe, dann ist nämlich alles leichter: Dann muss ich nur die letzten fünf Jahre in der Schweiz gewohnt haben. Alles, was sich die Schweizer Politik wünscht, ist die Integration der Eidgenossen, jeder soll einen sexy Ausländer oder eine sexy Ausländerin heiraten, und als Dankeschön bekommen die dann die Bürgerrechte. Was für ein toller Deal!

FATIMA MOUMOUNI hat jetzt schon Alpträume, dass ihr Einbürgerunggesuch abgelehnt wird, weil man sie fragt, wie sie zu Cervelats steht und sie sagt, dass sie kein Schwein isst.

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Die Sozialzahl

scheinlichkeit eines Sozialhilfebezugs. Erstaunlicherweise findet die Studie aber kaum Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen den Revisionen der Arbeitslosenversicherung und der Invalidenversicherung und der Häufigkeit eines Sozialhilfe­ bezugs. Einzig die verschärfte Praxis bei der Prüfung von Renten­ anträgen in der IV führt zu einem Anstieg der Sozialhilfezahlen.

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: SCHWEIZERISCHE EIDGENOSSENSCHAFT (2017): KOSTENENTWICKLUNG IN DER SOZIALHILFE. BERICHT DES BUNDESRATES. BERN.

Armutsrisiko Sozialhilfe In den zehn Jahren zwischen 2005 und 2015 sind die Ausgaben für die wirtschaftlichen Sozialhilfeleistungen von 1,7 auf 2,6 Milliarden Franken angestiegen. Zuerst zwei Relativierun­ gen: Die Ausgaben für die Sozialhilfe entsprechen auch in dieser Höhe weniger als zwei Prozent der gesamten Aufwen­ dungen für die Sozialversicherungen. Zudem lag die Sozial­ hilfequote, also die Relation zwischen Bevölkerung und Sozial­ hilfebeziehenden, praktisch über den ganzen Zeitraum konstant bei rund drei Prozent. Trotzdem stellt sich die Frage, was dieses Ausgabenwachstum antreibt. Eine Studie des Bundes liefert erste Hinweise auf die wichtigsten Faktoren dieser Entwicklung. Zum einen ist die jährliche Zahl der Bezügerinnen und Bezüger gestiegen, zum anderen sind die Ausgaben pro unterstützte Person markant gewachsen. Die Zahl der unterstützten Personen in der Sozialhilfe wird durch demografische, wirtschaftliche und institutionelle Varia­ blen beeinflusst. So spiegelt sich die Zunahme von Scheidun­ gen und Trennungen in der wachsenden Zahl von Einpersonen­ haushalten und Alleinerziehenden in der Sozialhilfe. Der Strukturwandel in der Wirtschaft führt dazu, dass immer mehr wenig qualifizierte Arbeitskräfte materielle Hilfe benötigen. Insbesondere ältere Erwerbstätige sind vom Risiko der Lang­ zeitarbeitslosigkeit bedroht. Ihr Anteil an allen Sozialhilfe­ bezügerinnen und -bezügern nimmt darum stetig zu.

Auch die steigenden Pro-Kopf-Ausgaben lassen sich ansatz­ weise erklären. Zunächst hat diese Entwicklung ebenfalls mit der Zunahme der Einpersonenhaushalte zu tun, welche im Vergleich zu Mehrpersonenhaushalten höhere Kosten in der Sozialhilfe verursachen. Dann spielen die fixen Ausgaben für Wohnen und Gesundheit eine zentrale Rolle. Der Einfluss steigender Mietkosten für armutsbetroffene Haushalte kann belegt werden. Vermutet wird auch ein Einfluss der wach­ senden Ausgaben für die Krankenversicherungen der Klientel, doch lassen die vorhandenen Daten keinen Nachweis zu. Schliesslich finden sich auch Hinweise auf eine grösser wer­ dende Armutslücke bei Working-Poor-Haushalten. Bei ten­ denziell sinkenden Erwerbseinkommen steigt für diese soziale Gruppe der materielle Unterstützungsbedarf. Lässt man all diese Faktoren, welche auf die Höhe der Aus­ gaben in der Sozialhilfe einwirken, nochmals Revue passieren, fällt eines auf: Die Sozialhilfe hat so gut wie keinen Einfluss auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen. Wo die Politik trotz­ dem den Spardruck auf die Sozialhilfe erhöht, bleibt am Ende nur eines: die Kürzung des Grundbedarfs! Genau das wird im Kanton Bern geplant. Die armutsbetroffenen Haushalte sol­ len dort acht Prozent weniger Geld für den täglichen Bedarf ­bekommen. Armutsbetroffene in der Sozialhilfe werden so noch ärmer gemacht.

Ein weiterer wichtiger Faktor sind die der Sozialhilfe vorgelager­ ten Bedarfsleistungen, beispielsweise die Prämienverbilligung zur Krankenversicherung, die Stipendien oder die Alimenten­ bevorschussung. Diese unterscheiden sich von Kanton zu Kanton. Wo solche Leistungen gekürzt werden, steigt die Wahr­

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Ausgaben für die Sozialhilfe (in Mio. Franken)

3000 2500 2000 1500 1000 500

0

2005

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2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

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Die Z(w)eitzeugen Gedenken Erna de Vries hat die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück überlebt.

Katharina Spirawski sorgt dafür, dass ihre Geschichte auch in Zukunft noch gehört wird. TEXT  FELIX HUESMANN FOTO  DANIEL SADROWSKI

Sie siezen sich zwar noch, sind aber längst Freundinnen geworden: Katharina Spirawski (links) und Erna de Vries. 8

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«Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.» Eli Wiesel, Schriftsteller, Friedensnobelpreisträger und Holocaust-Überlebender.

Mit ihren 94 Jahren ist Erna de Vries noch immer eine vielbeschäftigte Frau. Aber wenn sich eine Lücke in ihrem Terminkalender finden lässt, lädt sie gerne zum Gespräch. Zu erzählen hat die adrett gekleidete Dame wahrlich viel. Als junge Frau überlebte sie den Holocaust, im Vernichtungslager Auschwitz verlor sie ihre Mutter. Davon berichtet Erna de Vries heute jedem, der sie danach fragt. Und so bittet sie, neben ihr Platz zu nehmen, auf dem braunen Ledersofa in der guten Stube ihres Hauses. Von hier kann sie hinaus in den Garten schauen, es ist ihr Lieblingsplatz. Um de Vries herum stapeln sich Briefe und Zeitschriften. Obenauf liegt ein jüdisches Gemeindemagazin. «Ich bin nicht mehr so gut zu Fuss, da habe ich gerne alles direkt bei mir», erklärt sie wie zur Entschuldigung. Ansonsten ist hier alles ordentlich. Geradezu piekfein. Nachdem die Haushaltshilfe ein Glas Wasser gebracht hat, erzählt de Vries mit gefasster Stimme die Geschichte ihres Überlebens. Sie beginnt mit einer glücklichen Kindheit in Kaiserslautern. Ihre Mutter ist Jüdin, JEANE T TE KORN, MUT TER VON ihr Vater Christ, der Familie gehören Anteile an einem Speditionsbetrieb. Als der Vater ERNA DE VRIES, BEIM ABSCHIED kurz vor der Machtübernahme durch die NaIM K Z AUSCHWIT Z-BIRKENAU tionalsozialisten stirbt, führt die Mutter, Jeanette Korn, das Unternehmen weiter. Was dann geschieht, füllt die Geschichtsbücher: Unter den Nazis wird Juden in Deutschland eine Teilnahme am öffentlichen Leben erst massiv erschwert, dann gänzlich unmöglich gemacht. Die Anteile am Unternehmen muss Erna de Vries’ Mutter abgeben, Erna selbst hat von der christlichen Privatschule in eine jüdische Sonderklasse zu wechseln. Am Morgen nach der Reichspogromnacht im Jahr 1938 wird die Wohnung der Familie von einem antisemitischen Mob verwüstet.

«Du wirst überleben und erzählen, was man mit uns gemacht hat.»

Die letzten Worte der Mutter Fünf Jahre später wird Jeanette Korn deportiert. Tochter Erna gilt den Nationalsozialisten wegen des christlichen Vaters als «Halbjüdin» und soll deshalb zunächst verschont bleiben. Doch weil sie die Mutter nicht alleinlassen will, geht sie mit — bis nach Auschwitz-Birkenau. Dort wird die junge Frau einige Zeit später von ihrer Mutter getrennt und in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Jeanette Korn wird kurz darauf ermordet. So gefasst Erna de Vries bei ihrem Vortrag auch wirkt, wenn sie vom Verlust ihrer Mutter berichtet, ist sie bis heute den Tränen nah. Noch immer begleiten sie die letzten Worte, die ihre Mutter an sie richten konnte: «Du wirst überleben und wirst erzählen, was man mit uns gemacht hat.» Erna de Vries überlebt tatsächlich. Im April 1945 wird das Lager Ravensbrück geräumt, die Häftlinge werden auf einen Todesmarsch geschickt. Nach mehreren Tagen befreien alliierte Surprise 416/18

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Lebenslang gezeichnet: Im Konzentrationslager Auschwitz wurde Erna de Vries die sogenannte Registrierungsnummer eintätowiert.

Soldaten die Frauen. Mehr als fünf Jahrzehnte später ist der Auftrag der Mutter Erna de Vries zur Lebensaufgabe geworden: berichten, was damals passiert ist, und damit das kollektive Erinnern an die Schrecken der Nazizeit aufrechterhalten. Zunächst jedoch musste Erna de Vries sich selbst ein neues Leben aufbauen. Zwei Jahre nach Kriegsende lernt sie in Köln, wo sie bei Verwandten unterkommt, Josef de Vries kennen. Sie heiraten und ziehen in seinen Heimatort Lathen, nahe der niederländischen Grenze, wo sie bis heute lebt. Auch Josef ist ein Holocaust-Überlebender, er hat seine Eltern, seine erste Frau und seinen jungen Sohn verloren. Bis zu Josefs Tod 1981 führt das Paar eine glückliche Ehe und bekommt drei Kinder. 1998 spricht Erna de Vries zum ersten Mal öffentlich über die grausamen Erlebnisse in ihrer Jugend. «Ich hätte gerne schon vorher darüber gesprochen, aber niemand hat mich danach gefragt», erklärt sie. Und sie wollte sich nicht aufdrängen. «Das war mir zu dumm.» Ihr erster Vortrag in einer Volkshochschule in Kaiserslautern tritt eine Lawine los. Sofort wird sie erneut gebeten, ihre Geschichte zu erzählen. Und dann wieder. Und wieder. Auch fast 20 Jahre später füllen Vortragseinladungen ihren Kalender. Es vergeht kaum eine Woche, in der Erna de Vries nicht in mindestens einer Schule spricht, in einem Rathaus oder einer Kirche referiert. «Ich mache das, solange ich noch kann», sagt sie. «Als Warnung und damit nicht vergessen wird, was geschehen ist. Und damit die Menschen nicht vergessen werden, die Hunger, Prügel und Tod erleiden mussten.» Wenn Erna de Vries läuft, stützt sie sich auf einen Rollator, auch Augen und Ohren sind in den letzten Jahren schwach ge10

worden. Was passiert mit ihrer Geschichte, wenn sie selbst sie nicht mehr erzählen kann? Die Zahl der noch lebenden Zeitzeugen wird mit jedem Monat kleiner. Katharina Spirawski gehört zu einer Gruppe junger Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Geschichten wie die von Erna de Vries zu bewahren. Während die Überlebende erzählt, hört ihr die 29-Jährige, die neben ihr auf dem Sofa sitzt, gebannt zu. Auch wenn sie den Vortrag längst mitsprechen kann, so oft hat sie ihn schon gehört. Vor allem hat sie die Geschichte bereits unzählige Male selbst erzählt. Wie Erna de Vries besucht auch Spirawski regelmässig Schulen. Nicht als Zeit-, sondern als sogenannte Zweitzeugin. «Ich habe Erna 2011 zum ersten Mal erlebt, damals sprach sie mit einer Grundschulklasse», erzählt die Doktorandin der Religionspädagogik. «Ein Junge fragte sie, wie denn die Gasduschen funktioniert hätten. Alle Erwachsenen im Raum schämten sich. Bis auf Erna, die hat das einfach erklärt.» Die Frau, die trotz all der erlebten Grausamkeit so stark war, faszinierte Katharina Spirawski. Die Heimatsucher Etwa zeitgleich beschäftigte sie sich in ihrer Universitätsstadt Osnabrück in einem anderen Zusammenhang mit demselben Thema: Zwei befreundete Fotografie- und Designstudentinnen hatten Holocaust-Überlebende in Israel fotografiert und deren Geschichten aufgeschrieben. Katharina Spirawski organisierte mit ihnen zusammen eine Ausstellung. «Wir wollten auch Schulen einladen», erklärt sie, die zu dem Zeitpunkt noch für das Primarschullehramt studierte. Aus einer Ausstellung für SchulklasSurprise 416/18


«Ich mache das, solange ich noch kann. Damit nicht vergessen wird, was geschehen ist.» ERNA DE VRIES, ZEIT ZEUGIN

Vor knapp zwei Jahren benannte Lathen den Platz vor dem Rathaus nach seiner Ehrenbürgerin Erna de Vries.

sen wurde die Idee, selbst die Geschichten der Überlebenden in die Schulen hineinzutragen. Bald folgten die ersten Projekttage in Klassenzimmern. Und die Überlegung: Warum sprechen wir nicht zusätzlich noch mit Holocaust-Überlebenden in Deutschland? Daraufhin kontaktierte Spirawski Erna de Vries. Diese lud die engagierten jungen Frauen zu sich ein. «Wir haben Erna besucht, ihr zugehört und sie interviewt», erzählt Spirawski. Was die Überlebende ihnen berichtete, geben sie und ihre Kolleginnen nun an de Vries’ Stelle an Schülerinnen und Schüler weiter, an Viertklässler wie an Abiturienten. «Ich erzähle immer auch davon, wie es ist, Erna zu treffen und was für ein Mensch sie ist», sagt Zweitzeugin Spirawski. Das bringt die Geschichte näher, als ein Film oder ein Schulbuch es kann. Zwischen ihr und Erna de Vries ist seitdem längst eine Freundschaft entstanden. «Wir siezen uns zwar immer noch, aber vor allem, weil sie eine super feine Dame ist. Das ist so ein Oma-Ding», sagt Spirawski und lacht. Sie besucht Erna regelmässig. Manchmal bringt sie ihr Briefe von Schülern mit, manchmal einfach nur Blumen. Und dann erzählen sie sich gegenseitig aus ihrem Leben. Vor vier Jahren dann gründeten Katharina Spirawski und andere Zweitzeugen einen Verein: die «Heimatsucher». Die Porträtierten hätten durch den Holocaust ihre Heimat verloren, erklärt Spirawski. Als Überlebende hätten sie sich dann auf die Suche nach einer neuen gemacht. Zum Repertoire des Vereins gehören mittlerweile mehr als ein Dutzend Geschichten von Überlebenden. «Wir erzählen in den Schulklassen immer eine Geschichte sehr ausführlich. Das ist unsere Aufgabe als Zweitzeugen», sagt Spirawski. Anschliessend erarbeiten die Schülerinnen und Schüler anhand des mitgebrachten Materials noch weitere Überlebensgeschichten und stellen diese dem Rest der Klasse vor. «Danach sprechen wir darüber, warum diese Geschichten auch 80 Jahre später noch wichtig sind.» Vor allem Kinder, die zum Beispiel als Migranten selbst schon Ausgrenzung und Rassismus erlebten, sagt die Zweitzeugin, könnten sich häufig gut mit den Geschichten der Überlebenden identifizieren. «Die sagen oft: Boah, die haben so Krasses erlebt und trotzdem so viel geschafft.» Der Kalender ist immer noch voller Termine Ein Ersatz für einen guten Geschichtsunterricht ist das nicht. Ebenso wie die Arbeit der Zweitzeugen das direkte Zeugnis der Überlebenden nicht ersetzen kann. «Wir können es ergänzen», sagt Spirawski. «Aber es entsteht definitiv irgendwann eine Lücke.» So gut sie kann, will sie die füllen und dafür sorgen, dass Geschichten wie die von Erna de Vries in Erinnerung bleiben. Ihre vor allem ehrenamtlich geleistete Arbeit bekommt viel Zuspruch. 2016 erhielt der Verein im Rahmen des sozialen Gründerpreises «startsocial» eine Sonderauszeichnung von Bundeskanzlerin Angela Merkel überreicht. Viel wichtiger ist Katharina Spirawski aber, dass Erna de Vries und die anderen Zeitzeugen mit ihrer Arbeit zufrieden sind. Sie sieht das als einen Auftrag der Überlebenden. «Mir bedeutet das sehr viel. Ich bin froh, dass es junge Menschen gibt, die sich dieser Sache annehmen», sagt Erna de Vries. Die Arbeit der Zweitzeugen bedeutet für sie vor allem Sicherheit: Auch wenn sie einmal nicht mehr da ist, wird es Menschen geben, die sich ihrer Lebensaufgabe verpflichtet fühlen. Noch aber sorgt auch Erna de Vries selbst dafür, dass Geschichten wie die ihrer Mutter und der Millionen anderen Ermordeten nicht vergessen werden. Noch ist ihr Kalender voller Termine und sie selbst voller Motivation.

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Lieber als in der Notschlafstelle suchte Daniel S. in den sogenannten Gammelhäusern Unterschlupf. Heute sind die Wohnblocks nahe der Zürcher Langstrasse geräumt.


Gestern Mittelstand, heute mittellos Obdachlosigkeit Immer mehr Menschen in der Schweiz leben ohne ein

Dach über dem Kopf. Wer aber seine Wohnung einmal verloren hat, findet so schnell keine neue. Eine Begegnung mit zwei Betroffenen. TEXT  AMIR ALI FOTOS  ROLAND SCHMID

Das Café Kranich ist ein in die Jahre gekommener Raum mit Glasfronten und einem dunklen Steinboden. Die kleine Caféteria der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel UPK ist an diesem verregneten Novembermorgen gut besucht. Daniel S. macht das nichts aus. Er hat seine Geschichte schon dutzendfach erzählt – in Einzel- und Gruppentherapien. Er hat davon erzählt, wie er, der Sohn aus gutem Hause, gelernter Zimmermann und Dachdecker, Fitnesscoach und ausgebildeter Sozialpädagoge, obdachlos wurde. Er hat vom Kokain erzählt, von den Zuhältern und Drogendealern, von der Notschlafstelle und von den Wochen in den Gammelhäusern im Zürcher Langstrassenquartier. Vom Tod der Mutter und der Plastiktüte, die er sich im Sommer vor einem Jahr über den Kopf stülpte, damit das alles ein Ende haben würde. Daniels Gesicht ist kantig, harmonisch, das Haar sauber geschnitten und mit Gel frisiert. Die olivgrüne Jacke hat er über den Stuhl gehängt. Aufrecht sitzt er da, der Stoff seines schwarzen Polohemdes spannt über der Brust, am Bizeps und dort, wo die Schultern in den Nacken überlaufen. Auf den Unterarmen und am Hals trägt er Tätowierungen. Seine graublauen Augen blicken etwas traurig, aber fokussiert, kon­ trolliert. Wie ein Seiltänzer, der sich sagt: Schau nicht nach unten. Schau den Punkt an, zu dem du hinwillst. Angefangen habe alles, sagt Daniel, als seine Mutter mit Krebs im Endstadium im Spital lag. Er schaut regelmässig nach ihr: Tagsüber arbeitet er auf dem Bau, abends geht er im Spital vorbei – und bevor er in seine Wohnung im Aargau fährt, macht er immer häufiger einen Umweg über die Zürcher Langstrasse. Surprise 416/18

Kokain war für Daniel schon früher ein Thema: «Ich habe ein diagnostiziertes ADHS. Kokain hilft mir runterzukommen.» Jetzt aber werden die Aufenthalte im Zürcher Milieu immer länger. Bald verliert Daniel seinen Job. «Ich merkte, dass ich abrutschte.» Im Januar 2016 meldet er sich in der Klinik Königsfelden zum Entzug an, zwölf Monate sollte er dauern. Daniel entschliesst sich, seine Wohnung aufzugeben. «Die kostete 1800 Franken im Monat.» Doch der Entzug läuft nicht gut: Auch zwischen Daniels Entzugsstation und dem Spitalbett der Mutter liegt die Langstrasse. Als Daniel nach einem mehrtägigen Absturz in die Klinik zurückkehrt, wartet dort die Nachricht vom Tod der Mutter auf ihn. Ganz unten Besser wird der Sommer 2016 für Daniel nicht: Zwei Wochen später, den Entzug hat er mittlerweile abgebrochen, bringt sich der WG-Partner von Daniels Freundin um – vor seinen Augen, mit der Schrotflinte. Kurz darauf versucht Daniels Partnerin, sich das Leben zu nehmen. Er hält sie davon ab, von der Brücke zu springen. Seit die WG der Freundin keine Option mehr ist, lebt Daniel auf der Gasse. Sein Leben dreht sich um das Kokain. Er arbeitet als Türsteher, Drogenkurier, Vermittler, chauffiert Prostituierte herum. «Einmal traf ich an der Langstrasse drei Banker. Die nahm ich mit in ein Etablissement, dort liessen sie 10 000 Stutz liegen. Macht einen Tausender Provision für mich.» Wenn das Geld reicht, schläft Daniel im Hotel. Ansonsten bei Prostituierten oder in der Notschlafstelle. «Aber die Notschlafstelle ist wirklich die letzte Möglichkeit», sagt er. «Da gehst du erst hin, wenn’s gar nicht mehr anders geht.»

Lieber kommt er in den sogenannten Gammelhäusern unter, vier mittlerweile geräumten Wohnblocks im Langstrassenquartier, deren Besitzer direkt an das Sozialamt vermietete. «Dort habe ich mich tagelang aufgehalten», erzählt Daniel. Auch dort schlug er sich mit dem Organisieren von Kokain für andere durch. Daniel ist im freien Fall. Er bricht mehrere Entzüge ab, die Familie bietet ihm keinen Halt, im Gegenteil. «Mein Vater und meine Geschwister gaben mir die Schuld an der Krebserkrankung meiner Mutter», sagt er. Am 21. Oktober 2016 ist er ganz unten angekommen: «Ich hatte einen Suizidversuch», sagt Daniel mit der Distanz von mehreren Monaten Therapie. Im letzten Moment habe ihn ein Sicherheitsdienstler gefunden, mit viel Kokain im Blut und einer Plastiktüte über dem Kopf. Auch die nächste Suchttherapie bricht Daniel ab. Dafür lernt er in der Klinik seine heutige Partnerin kennen. Die beiden ziehen zusammen nach Basel, wo sie herkommt. Sie haben eine Wohnung, Daniel bekommt dank seiner Sozialpädagogen-­ Ausbildung eine temporäre Stelle bei einem Jugendzentrum. Als er wieder anfängt zu konsumieren, stellt ihn die Freundin auf die Strasse, schickt ihn in die UPK. Er solle sich Hilfe holen und zurückkommen, wenn er sauber sei. Heute, nach bald sechs Monaten Therapie, ist Daniel fast so weit. «Ich habe gelernt, Gefühle auszuhalten, nicht immer gleich davonzulaufen», sagt er über seine Zeit in der Psychiatrie. Mit der Freundin ist er noch zusammen. In ihr habe er seine grosse Liebe gefunden, sagt Daniel. «Sie hat mir gezeigt, was Leben heisst.» Daniel sucht jetzt nach einem Platz in einem betreuten Wohnen – ganz ohne ­professionelle 13


Unterstützung traut er sich die Welt da draussen noch nicht zu. Es wäre sein erster fester Wohnsitz seit fast zwei Jahren. Ein Land, 800 Schlafplätze Was Daniel S. erlebt hat, widerfährt vielen Menschen in der Schweiz. Die Zahl der Obdachlosen steigt – zumindest gibt es dafür Anzeichen, wie die «Tagesschau» kürzlich berichtete. Zwar weiss niemand genau, wie viele Menschen in der Schweiz ohne eigenes Dach über dem Kopf leben. Offizielle oder andere zuverlässige Statistiken gibt es nicht. Die Freiburger Notschlafstelle La Tuile führt eine – sicher nicht abschlies­ ­sende – Liste von Einrichtungen in der ganzen Schweiz, die insgesamt rund 800 Schlafplätze anbieten. Zumindest im Winter sind diese Einrichtungen in der Regel voll. Noch ist das Angebot ausreichend. Auch unter Gassenarbeitern ist man sich einig: Wer unbedingt an der Wärme schlafen möchte, der findet einen Platz. «In der Schweiz gibt es nur wenige Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind», schreibt etwa die Caritas. Allerdings steige die Zahl von Personen, «die ihre Wohnung verlieren und danach ohne festen Wohnsitz leben müssen». Auch zum Ausmass der Wohnungs­ losigkeit in der Schweiz gibt es keine belastbaren Zahlen. Als Indikator für die Entwicklung wird oft die steigende Zahl der Leute herangezogen, die beim Basler Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter eine Meldeadresse haben. Denn gerade wer keinen festen Wohnsitz hat, muss für die Behörden erreichbar sein. Wer sich nicht anmelden kann, hat keinen Zugang zum Sozialamt, zum RAV oder zur IV. Über den Verein Schwarzer Peter kann sich anmelden, wer bereits vorher den Wohnsitz oder Lebensmittelpunkt in Basel-Stadt hatte. Im Jahr 2016 waren insgesamt 847 Personen beim Schwarzen Peter gemeldet, durch­ schnittlich während gut sieben Monaten.

Wohnen – ein Menschenrecht? Die Menschenrechte beinhalten ein Recht auf eine angemessene Wohnung. In der Schweizer Bundesverfassung ist das Wohnen aber kein Grundrecht. Im Gegensatz zu Grundrechten wie etwa der Meinungsfreiheit ist das Recht auf eine Wohnung vor Gericht nicht einklagbar. In Basel-Stadt kommt 2018 die Volksinitiative «Recht auf Wohnen» zur Abstimmung. Damit wollen die Initianten das Recht auf Wohnen in der Verfassung verankern.

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Nachdem die Zahl in den vergangenen Jahren stetig gestiegen ist, dürfte sie sich für 2017 in einem ähnlichen Rahmen bewegen, sagt Michel Steiner, Gassenarbeiter beim Schwarzen Peter. Hochrechnungen von der Zahl aus B ­ asel auf die ganze Schweiz sind nicht möglich. Denn das Angebot des Schwarzen Peter ist schweizweit einzigartig. Stefan Haun, Leiter des Brot-Egge bei den Sozialwerken Pfarrer Sieber in Zürich, sagt: «Es ist ein grosses Problem, dass den Leuten oft eine Meldeadresse fehlt.» Es ist aber nicht leicht, eine solche Meldeadresse zu erhalten. Steiner vom Verein Schwarzer Peter sagt, eigentlich sei jede Gemeinde verpflichtet, Leuten ohne festen Wohnsitz eine Meldeadresse zur Verfügung zu stellen. Viele befürchteten aber, mit dem Angebot Randständige anzuziehen. In Einzelfällen klap­ ­pe es auch in anderen Gemeinden. Allerdings oft erst, nachdem Basel-Stadt die Leute an ihre Gemeinden zurückweist und Druck macht. In der Abwärtsspirale Wer sind diese Menschen, die ihren Wohnsitz verlieren und im Schnitt über ein halbes Jahr über eine Einrichtung für aufsuchende Gassenarbeit gemeldet sind? Michel Steiner beobachtet seit einigen Jahren Beunruhigendes: Immer mehr Menschen aus dem Mittelstand sind betroffen. Der Basler Gassenarbeiter mag keine vereinfachenden Schubladisierungen, aber der Einfachheit halber sagt er doch: «Wir haben einen kleinen Sockel an sogenannt klassischen Obdachlosen – und der Rest sind normale Leute, die aus dem System fallen.» Das deckt sich mit den Erfahrungen von Stefan Haun in Zürich: «Leute aus dem Mittelstand gehören zum Beratungsalltag», sagt er. Eine Trennung, ein Unfall, ein Todesfall in der Familie – es brauche nur wenig, weniger als auch schon, sagt Steiner, um die Abwärtsspirale zum Drehen zu bringen. Und vor allem: Der Wohnungsmarkt ist unerbittlich. Wer einmal seine Bleibe verloren hat, bekommt so schnell nichts Neues. Schon gar nicht ohne festes Einkommen. Schon gar nicht als Sozialhilfebezügerin oder IV-Rentner. Wie schnell ein geordnetes Leben aus der Bahn geraten kann, zeigt auch die Geschichte von Nicole. Der letzte Ort, an dem Nicole sich zuhause fühlte, war eine Oase in der marokkanischen Wüste. Dort hatte sie begonnen, für den Besitzer eine Surprise 416/18


«In die Notschlafstelle gehst du erst, wenn es gar nicht mehr anders geht.» DANIEL S.

Im Winter sind die Einrichtungen in der Regel voll: Eingang zur Basler Notschlafstelle. Surprise 416/18

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«Vor normalen Menschen habe ich Angst. Die sind für mich wie Wölfe.» NICOLE

Zwischen Wartesaalromantik und Aufbewahrungsort. 16

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Touristenunterkunft einzurichten, Gemü­se- und Kräutergärten anzulegen, den Pool auf Vordermann zu bringen. Die Nächte verbrachte sie im Freien, über sich den Sternenhimmel und das Gezirpe der Insekten, neben sich Jimmy, das Schaf, das ihr Gesellschaft leistete. Es war nicht das Paradies, aber immerhin ein Ort, der ihr Schutz bot vor der Welt, den Problemen, vor ihrem eigenen Leben. Doch ihre Zeit in der Oase nahm diesen Herbst ein jähes Ende. Ihre Geschichte sei lang, warnt Nicole gleich zu Beginn. Sie hat das Migros-Res­ taurant am Basler Claraplatz für das Treffen vorgeschlagen. Es ist einer der wenigen warmen Orte, an denen man nicht auffällt, wenn man nichts konsumiert. Seit sie in der Notschlafstelle übernachtet, ist sie fast jeden Tag hier. Die Notschlafstelle ist von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends geschlossen. «Was soll ich denn bei dieser Kälte draussen rumhängen», sagt Nicole. Sie hat sich mehrere Schichten Kleider übergezogen, zuoberst einen rauen, blauen Kapuzenpulli, dazu Jeans und schwarze Turnschuhe mit Blumenmuster. Ihr Haarschnitt ist gepflegt, der blonde Pony ordentlich, die Augen stark mit Kajal geschminkt. Um den Hals trägt sie einen glitzernden Anhänger, ein fliegendes Herz.

Wer unbedingt an der Wärme schlafen will, findet einen Platz.

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Sturz ins Bodenlose Die lange Geschichte beginnt, als Nicole vor acht Jahren beim Skifahren schwer stürzt. Die Diagnose: Halswirbelsäulen-Distortion, auch bekannt als Schleudertrauma. Nicole hat konstant Schmerzen, ihren Job als Modeverkäuferin gibt sie auf. Sechs Monate nach dem Sturz schickt die Unfallversicherung sie zu einem Gutachter nach Bern. Der glaubt, ihre Schmerzen seien psychosomatischen Ursprungs: «Als ich da rauskam, hatte ich das Gefühl, ich sei ein Psycho», erinnert sie sich. Ein anderer Gutachter habe sie als «hollywood­ reife Schauspielerin» bezeichnet. «Was da abgeht, ist Verleumdung pur», sagt sie. Auch bei der IV blitzt Nicole ab. Das passiert vielen Menschen mit Schleudertrauma, weil die zum Teil sehr starken Schmerzen mit den gängigen Methoden der Medizin nicht «objektiviert» werden könnten, wie es in einem Beitrag auf der Informationsplattform humanrights.ch heisst. Für die IV ist Nicole zu 100 Prozent arbeitsfähig. «Das hat mich getroffen», sagt sie. «Ich bin Schweizerin, und ich bin

krank. Ich werde in meinem eigenen Land nicht unterstützt.» Sie müsse heute dafür büssen, dass es andere früher viel leichter hatten bei der IV. Sie meint damit auch Ausländer: «Schau dich doch mal um, wer hier Audi fährt!» Blaulicht im Paradies Erst vier Jahre nach dem Unfall habe ihr zum ersten Mal ein Arzt wirklich zugehört, sagt Nicole. Sie lässt sich einen Neurostimulator implantieren, ein kleines Gerät, das ihre Schmerzen mit einem Nervensig­ nal stört. Von da an geht es ihr körperlich zwar besser, doch der Kampf gegen die Windmühlen der Versicherungen belastet sie seelisch: Die langjährige Beziehung geht in die Brüche, arbeiten kann Nicole nicht, sie hat Angstzustände und eine soziale Phobie. Sie lebt vom Sozialamt, alleine in einer Wohnung im Baselbiet. «Man lässt mich nicht leben», fasst sie das Gefühl zusammen, das sie immer mehr beschleicht. Schliesslich entscheidet sich Nicole zur Flucht: Sie fliegt ein erstes Mal nach ­Marokko, verbringt nach Ablauf ihres Visums einige Zeit in Deutschland, kehrt dann zurück nach Marokko. In der Zwischenzeit jedoch wird ihre Wohnung im Baselbiet zwangsgeräumt, weil sie nicht auffindbar ist. In Marokko erkrankt Nicole derweil an einem Pankreasleiden. «Die Ambulanz holte mich aus der Oase raus, als ich schon ganz gelb war.» Nicole wird im Herbst 2017 in die Schweiz zurückgeholt. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus steht sie auf der Strasse. Erst kommt sie noch bei einer Bekannten unter, seit Mitte November aber schläft sie in der Notschlafstelle. Die Tage verbringt sie auch gleich mit den drei Frauen aus ihrem Zimmer. «Vor normalen Menschen habe ich Angst. Die sind für mich wie Wölfe, denen ich ausgeliefert bin», sagt sie. Von der Politik erwartet sie nichts: «Der Mittelstand soll dezimiert werden, das ist das Ziel.» Nicole sucht eine Wohnung, geht auch jede Woche an Besichtigungen. Aber wer vom Sozialamt kommt, hat kaum Chancen. «Es geht nicht vorwärts», sagt Nicole immer wieder, und ihr kommen die Tränen. «Das ist nicht mein Leben.» Zuerst erschienen am 10. Dezember 2017 bei www.srf.ch/kultur Nachtrag d. Red.: Nicole lebt mittlerweile im Frauenhaus der Heilsarmee in Basel.

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Seit 20 Jahren berät Joëlle Hediger rückkehrwillige Asylsuchende.

«Geld allein reicht nicht aus» Rückkehrhilfe Joëlle Hediger berät Geflüchtete, die in ihr Herkunftsland zurückkehren wollen.

Damit die Reintegration glückt, arbeitet sie mit ihnen zusammen Businesspläne aus. INTERVIEW  SAMANTA SIEGFRIED FOTO  KARIN SCHEIDEGGER

Auf die lange und lebensgefährliche Flucht vieler Menschen folgt in der Schweiz nicht selten Ernüchterung. Sei es, weil ihr Asylantrag abgelehnt wird oder weil sie sich das Leben hier anders vorgestellt hatten. Für diese Fälle bietet der Bund seit 1997 die sogenannte freiwillige, individuelle Rückkehrhilfe an. Rund 90 000 Personen sind seither mit dem Programm in ihre Heimat zurückgekehrt. Kernstück ist die Rückkehrberatung, die die ­Wiedereingliederung im Herkunftsland erleichtern soll. Joëlle ­Hediger, 58, von der Kirchlichen Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen in Bern, ist seit Anfang an dabei. Frau Hediger, seit 20 Jahren betreuen Sie die Rückkehr von Asylsuchenden in ihre Heimat. Wie viele Menschen haben Sie bereits begleitet? Gezählt habe ich nicht, und ich bin kein Freund von Zahlen. Aber wenn wir von einem ungefähren Durchschnitt von 100 Beratungen pro Jahr ausgehen, dann kommen wir auf 2000. 18

Können Sie sich an Ihren ersten Fall erinnern? Es waren gleich mehrere. Die Rückkehrberatung wurde nach dem Bosnienkrieg als Pilotprojekt ins Leben gerufen. Anfangs waren es deshalb viele bosnische Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückkehren wollten. In den ersten Monaten empfing ich sie ohne Unterlagen in einem quasi leeren Raum und wusste kaum, was ich ihnen sagen sollte. Wir hatten ja noch gar keine Erfahrungswerte. Wie sah die Rückkehrberatung damals aus? Die Menschen bekamen Bargeld und ein Flugticket in die Hand gedrückt. Es gab keine Beratungen im Sinne eines Case Management, wie wir die Wiedereingliederung heute nennen. Wer gut mit Geld umgehen konnte, baute sich vielleicht etwas auf. Andere hingegen brauchten alles in wenigen Monaten auf und standen mit nichts da. Mit der Zeit merkte man, dass Geld allein für eine gute Integration nicht ausreicht. Surprise 416/18


Wie kann man sich eine Beratung heute vorstellen? Sie fördert nicht mehr nur die Ausreise, sondern nimmt sich auch der Reintegration der Person im Herkunftsland an. In einer Beratung evaluiere ich als Erstes die Situation der Person: Hat sie Verwandte oder ein anderes soziales Netz in der Heimat? Hat sie Kinder, eine Ausbildung, einen Beruf? Als Nächstes frage ich nach ihren Plänen in der Heimat und beurteile aufgrund unseres Erfahrungsschatzes, ob und wie diese umsetzbar sind. Die meisten Personen haben eine sehr klare Vorstellung davon, wie sie die Rückkehr gestalten wollen. Einige von ihnen ziehen ihren Entscheid zurück, wenn sie merken, dass wir ihre Erwartungen nicht erfüllen können. Wir überreden niemanden, die Rückkehr muss freiwillig sein. Kann man bei Menschen mit negativem Asylentscheid wirklich von Freiwilligkeit sprechen? Ist es nicht vielmehr ihre einzige Option, einer Zwangsausweisung zu entgehen? Es stimmt natürlich, dass auf abgewiesenen Menschen ein enormer Druck lastet. Aber wenn eine betroffene Person zu mir ins Büro kommt, mit mir ein Projekt ausarbeitet, in ein Flugzeug steigt und in die Heimat fliegt, betrachte ich das als freiwilligen Akt. Wer nicht zurückkehren will, kommt nicht in unsere Beratung, sondern taucht vielleicht unter. Wer sind die Menschen, die zu Ihnen kommen? Können Sie einen typischen Fall schildern? Jeder Fall ist individuell. Anfangs kamen vor allem Menschen aus dem Balkan zu uns, dann Menschen aus Nigeria, heute führen Afghanistan und Irak die Liste an. Das Einzige, das auf alle zutrifft, ist, dass ihr Aufenthaltsrecht dem Asylgesetz der Schweiz unterliegt. Das können Personen mit einem negativen Entscheid sein oder vorläufig Aufgenommene. Es kann sich auch um anerkannte Flüchtlinge handeln, die sich das Leben in der Schweiz anders vorgestellt haben oder ihre Heimat zu stark vermissen. Was bieten Sie den Rückkehrern konkret an? Das kommt auf ihre Bedürfnisse an. Neben der finanziellen Starthilfe gibt es das sogenannte Case Management, das heisst, wir suchen zusammen eine berufliche Perspektive. Meist ist das die Eröffnung eines eigenen Geschäfts, zum Beispiel eines Kopieroder Friseurladens, oder die Wiederaufnahme eines landwirtschaftlichen Betriebs. Dafür erstellen wir mit den Personen einen Businessplan, der vom Staatssekretariat für Migration abgesegnet werden muss. Psychisch und physisch angeschlagene Personen bekommen medizinische Unterstützung, anderen helfen wir in Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration, eine geeignete Wohnmöglichkeit zu finden. Und was erwarten die Rückkehrer von Ihnen? Die Erwartungen sind enorm. Viele von ihnen hoffen auf eine all­ umfassende Lösung, wünschen sich ein sicheres Einkommen und ein stabiles Lebensumfeld – was durchaus nachvollziehbar ist. Ich zeige ihnen dann unsere Möglichkeiten auf, aber auch, wo unsere Grenzen liegen. Alle ihre Sorgen können wir nicht lösen. Wie gehen Sie mit den Ängsten und Unsicherheiten der Rückkehrer um? Surprise 416/18

Generell gilt: Wer grosse Angst vor der Zukunft im Heimatland hat, kann nicht zurückkehren. Daher ist es meine Aufgabe, mit diesen Menschen gemeinsam eine Perspektive zu entwickeln. Mein Büro soll ein Raum für diese Ängste sein, für die Enttäuschungen über unerfüllte Erwartungen, für die Unsicherheit in der Zeit der Neuorientierung, für existenzielle, aber auch ganz praktische Sorgen. Durch unsere Erfahrung können wir die Personen möglichst konkret beraten und auf offene Fragen antworten. Trotzdem: Eine Rückkehr führt die Menschen in Länder, die sich in schwierigen Situationen befinden. Die Rückkehrhilfe ist eine Starthilfe. Aber wir können den Rückkehrenden das Leben in ihrer Heimat von hier aus selten schöner gestalten, als es davor war. Wie ergeht es den Rückkehrern in ihrer Heimat? Das ist ganz unterschiedlich. Einige haben sich gut eingelebt, und das Geschäft läuft. Andere sind weniger zufrieden und spielen mit dem Gedanken, erneut wegzugehen. Das ist mehr als verständlich. Ich fände es seltsam, wenn jeder Zurückgekehrte vor Freude jubeln würde. Manchmal bekomme ich Anrufe von Menschen, die sagen: «Madame Joëlle, ich will wieder in die Schweiz kommen. Was muss ich tun?» Dann erkläre ich das Vorgehen. Dass sie wieder einen Antrag stellen müssen, der – sollte sich ihre Situation nicht drastisch geändert haben – höchstwahrscheinlich abgelehnt werden wird. Und dass sie dann vor der gleichen Situation stehen werden wie vor der Rückkehr, und ausserdem die erhaltene Rückkehrhilfe zurückzahlen müssen. Das ist hart, aber die Realität des Systems. Der Bund will ab 2019 die Asylverfahren noch mehr beschleunigen: Je früher sich jemand für die Rückkehr entscheidet, desto mehr Geld gibt es. In Zürich wurde bereits ein Pilotversuch durchgeführt. Was halten Sie davon? Da dieses System noch in der Pilotphase steckt, möchte ich mich dazu nicht äussern. Aber unabhängig davon ist für mich bei einem Asylverfahren das Wichtigste, dass die Menschenrechte respektiert werden. Dazu gehören das Recht auf eine angemessene Anhörung und der Zugang zur Rechtsprechung. Ist das gewährleistet, bin ich nicht gegen schnellere Asylentscheide. Eine Person, die aller Voraussicht nach keine Chance auf Asyl in der Schweiz hat, soll das besser so bald wie möglich erfahren, anstatt viele Jahre in Ungewissheit zu verbringen. Denn letzteres finde ich menschlich und ethisch nicht vertretbar.

Zahlen und Fakten zur Rückkehrhilfe Seit dem Ende des Bosnienkrieges vor zwanzig Jahren leistet der Bund systematisch Rückkehrhilfe für Asylsuchende. Er arbeitet dabei eng mit der Internationalen Organisation für Migration zusammen, welche die kanto­­nalen Beraterinnen der Kirchlichen Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen unter­stützt. Aus finanzieller Sicht bedeutet dies: Wer sich länger als drei Monate in der Schweiz aufgehalten hat, erhält bei der Rückkehr in sein Herkunftsland 1000 Franken (Erwachsene) respektive 500 Franken (Minderjährige). Zu­dem besteht die Möglichkeit, eine finanzielle Zusatzhilfe von bis zu 3000 Franken für ein Eingliederungsprojekt im Herkunftsland zu erhalten. Bei medizinischen Problemen wird ergänzend medizinische Rückkehrhilfe angeboten. Bei Menschen, die weniger als drei Monate in der Schweiz waren, beschränkt sich die finanzielle Rückkehrhilfe für Erwachsene auf 500 Franken, Minderjährige erhalten 250 Franken.

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Einst hatten die Eltern ihnen Dinge über ‹die Juden› erzählt, so wie es vermutlich schon ihre eigenen Eltern mit ihnen gemacht hatten.

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«Jene sumpfige Region des menschlichen Geistes» Antisemitismus hat viele Gesichter. Der Zürcher Schriftsteller Thomas Meyer über ein Phänomen, das ihn seit Kindsbeinen begleitet. TEXT  THOMAS MEYER

Lassen Sie uns ein kleines Spiel machen. Ich verrate Ihnen etwas über mich, und Sie überlegen sich, was das über mich aussagt. Sind Sie bereit? Also, hier kommt es: Ich bin Jude. Falls das auch auf Sie zutrifft, fühlen Sie sich mir nun auf jene eigenartige Weise verbunden, die zwischen allen Juden besteht – zumindest so lange, bis sich gegebenenfalls zeigt, dass unsere Ansichten zu Religion und Politik zu weit auseinanderklaffen. Sind Sie hingegen nicht ­jüdisch, werden Sie vermutlich von meiner Eigenschaft «Jude» spontan auf andere Eigenschaften geschlossen haben. «Geschäftstüchtig», zum Beispiel. Oder gar «geldgierig». Oder «intelligent». Oder «guter Humor». Und nun bekommen wir, liebe Nichtjüdin, lieber Nichtjude, leider Streit miteinander, und der geht so: Ich weise Sie darauf hin, dass Sie, wenn Sie glauben, es gebe «typisch jüdische» Eigenschaften, eine antisemitische Haltung haben. Darauf entgegnen Sie: «Was soll antisemitisch sein daran, jemanden für seinen Humor zu loben?» Und ich antworte: «Anti­semitismus entscheidet sich nicht daran, ob er sich feindselig oder anerkennend äussert, sondern an seiner Logik, die besagt, dass jeder Jude zwingend bestimmte Merkmale habe.» Ich nehme an, Sie wollen kein Antisemit sein. Die wenigsten wollen das. Also rufen Sie empört: «Aber ich bin nicht antisemitisch!» Und ich sage: «Diese Behauptung schützt Sie aber nicht davor, antisemitische Vorurteile bereitwillig aufzunehmen und weiterzuverbreiten.» So geht das noch ein wenig hin und her, und weil es Ihnen wirklich wichtig ist, nicht antisemitisch zu sein, lassen Sie aus genau diesem Grund keines meiner Argumente Surprise 416/18

gelten, mit denen ich zu beweisen versuche, dass auch ein freundlicher, gebildeter Mensch zu Aussagen imstande ist, die in ihrem Wesen judenfeindlich sind – vor allem dann nämlich, wenn er überzeugt ist, damit die Wahrheit zu erzählen. «Aber es ist doch so!», sagen die Antisemiten gern, die behaupten, keine zu sein. Und dass der Jude ein solches Problem damit hat, als schlau und lustig betrachtet zu werden, können sie erst recht nicht verstehen. Am Ende unseres Gesprächs dann sagen Sie etwas in der Art, dass die Juden «zu empfindlich» seien, vielleicht dadurch sogar «mitschuldig am Antisemitismus», und ich werde entgegnen: «Sehen Sie, genau das meine ich», und wir werden uns mit unguten Gefühlen trennen. Ich, weil ich Antisemitismus zum Kotzen finde; Sie, weil es Sie kränkt, dass man Ihnen eine niedere Gesinnung unterstellt.

Wenn Sie glauben, es gebe «typisch jüdische» Eigenschaften, haben Sie eine antisemitische Haltung. 21


Es spielt keine Rolle, was für ein Weltbild man hat: Es passt immer mehr als genug rein, um es zu bestätigen, und der Rest wird ignoriert.

So habe ich das unzählige Male erlebt, und zwar eben mit klugen, belesenen, friedliebenden Menschen, die sich überdies meist im linken politischen Spektrum verorten, mit Kollegen auf der Arbeit, mit Bekannten in der Bar, mit Freunden bei mir zuhause, aus denen urplötzlich Nazi-­ Propaganda herausbrach und die dann nichts davon hören wollten, dass das ziemlich unangenehm für mich ist, sondern ihre Klischees mit gespenstischem Starrsinn und bizarrer Logik verteidigten. Doch, doch, «die Juden» könnten gut mit Geld umgehen, und das liege daran, dass ihnen im Mittelalter nur das Kreditgeschäft erlaubt gewesen sei. Als würde die Tätigkeit der Vorfahren den Charakter sämtlicher Nachfahren bestimmen. Oft habe ich auch zu hören bekommen, man habe sich schon gedacht, dass ich Jude sei – nämlich wegen meiner Nase. Jedes Mal habe ich geduldig erklärt, das Judentum sei eine Religion, keine Ethnie, weswegen es so etwas wie eine jüdische Nase nicht geben könne. Doch die Leute haben nur weiter schamlos auf meine Nase gestarrt, die im Übrigen Normalmass hat, um sie schliesslich als Ausnahme gelten zu lassen, mit Verweis auf die vielen Regelfälle, die ihnen schon begegnet seien. Wenn Sie ebenfalls jüdisch sind, wissen Sie, wie sich sowas anfühlt. Man ist wütend. Nicht zuletzt, weil man schon wieder so einen Schmock in seine Nähe gelassen hat. Und man ist verzweifelt. Weil man mit Vernunft nichts erreicht. Kein Argument bohrt tief genug, um in jene sumpfige Region des menschlichen Geistes vorzudringen, wo entschieden wird, dass jeder Jude fanatisch nach Geld giert und dass man darüber jeden Witz reissen darf, der einem in den Sinn kommt, im besten Vertrauen auf den guten jüdischen Humor. Kein einziges Mal ist es mir gelungen, jemanden von seinen antisemitischen Vorurteilen abzubringen. Zu kränkend ist es offenbar für den Intellekt, einem idiotischen Klischee aufgesessen zu sein, und so wird dieses eben zur Wahrheit erklärt und jener, der sie anzweifelt, zum Lügner. Immer wieder habe ich mich mit Menschen gestritten, die mir bis dahin nahegestanden hatten und denen es am 22

Ende lieber gewesen war, diese Nähe preiszugeben als ihre rassistische Überzeugung, die halt leider auch dann rassistisch ist, wenn sie nicht als solche erkannt wird. Antisemit kann auch sein, wer’s nicht weiss. Zugegeben, es ist schwierig, jemandem eine Geisteshaltung zu beweisen. Erst recht, wenn er sie leugnet. Es existiert keine DNA des Rassismus, die an Aussagen haftet und die im Labor sichtbar gemacht werden kann. Aber Antisemitismus wird eben nicht nur mit Sprengstoffgürteln, Fäusten, Spucke und hasserfüllten Onlinekommentaren ausgetragen. Und bloss weil man sich von solchen Tätigkeiten fernhält, darf man nicht für sich in Anspruch nehmen, einen reinen Geist zu haben. Denn es gibt auch den kultivierten, lächelnden Antisemitismus fernab jeder Gewalt, den man sogar im Feld der respektvollen Anerkennung ansiedeln kann. Dieser Antisemitismus ist überzeugt, mit nichts anderem als der Wahrheit zu handeln, und wundert sich ehrlich, wenn dann einer behauptet, man halte da leider eine Fälschung in den Händen. Dann wird der freundliche Antisemit ziemlich schnell unfreundlich; wie jeder, der merkt, dass er über den Tisch gezogen worden ist. Vor allem, wenn er es selbst getan hat, mit seiner ureigenen Naivität. Vor einiger Zeit habe ich mit einer älteren Dame über diesen ganz normalen, beinahe harmlosen Antisemitismus gesprochen, dem keine Juden zum Opfer fallen, nur das ungezwungene, offenherzige Verhältnis zu ihnen. Ich habe ihr erzählt, dass viele meiner Bekannten und Freunde ziemlich finstere Ideen in ihren Köpfen herumtragen und beispielsweise allen Ernstes glauben, «die Juden» seien geschäftstüchtiger als andere Menschen. «Aber es ist doch so?», meinte sie, und wieder versammelten sich haufenweise schlechte Gefühle in meinem Bauch. Ich fragte die Frau, woher sie das wisse. «Es ist doch so», wiederholte sie. Das machen die Menschen gern, wenn sie keine Argumente haben: Sie wiederholen ihre Behauptungen. Oder sagen, wie auch die Dame als Nächstes: «Das weiss man halt.» Ich fragte weiter nach der mysteriösen Quelle, und irgendwann, nach einem langen und absurden, aber ­leider Surprise 416/18


Antisemit kann auch sein, wer es nicht weiss.

auch sehr beliebten Umweg über die Ostküste der Vereinigten Staaten landeten wir schliesslich am Esstisch ihrer Eltern. Die hatten ihr einst Dinge über «die Juden» erzählt, hatten Klischees in ihr argloses kleines Gehirn hineingelegt, so wie es vermutlich schon ihre eigenen Eltern mit ihnen gemacht hatten, und seither läuft dieser Mensch mit problematischen Glaubenssätzen durch sein Leben und sieht überall Beweise dafür, wie das eben so ist mit dem Weltbild: Es spielt keine Rolle, was für eines man hat, es passt immer mehr als genug hinein, um es zu bestätigen, und der Rest wird eben ignoriert. Und zum Weltbild der Antisemiten gehört nicht nur, dass «die Juden» riesige Nasen haben und stets auf ihren Profit bedacht sind, sondern auch, dass sie, die Antisemiten, keine Antisemiten sind. Auch dafür finden sie alle möglichen Beweise, wobei es offenbar bereits genügt, das regelmässig zu verlaut­ baren. Oder einfach seine Sätze so zu beginnen: «Ich bin kein Rassist, aber …» Danach darf man alles sagen. Es ist erwiesenermassen nicht rassistisch. Antisemitismus ist ein schweres Charakterdefizit, und ihn gegen alle Fakten und alle Vernunft zu leugnen, ist gleich noch mal eins. Antisemitismus ist pure Willkür; er schreibt einer Gruppe von Menschen eine Reihe von unangenehmen Eigenschaften zu und verurteilt sie dafür – wohlgemerkt ungeachtet ihres tatsächlichen Verhaltens und Wesens. Ein Jude hat geschäftstüchtig zu sein, basta, und wenn er es nicht ist, hat er bloss noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Und Sie, Herr Meyer, haben eine typisch jüdische Nase, und dass Sie es in Abrede stellen, ist nur ein Zeichen dafür, dass es Ihnen peinlich ist, einen derartigen Zinken in der Welt herumzutragen. Wieso lachen Sie jetzt nicht? Ihr habt doch so einen tollen Humor? Aber vielleicht sind Sie ja gar kein Antisemit. Vielleicht sind Sie einer der wenigen Menschen, die eine überaus simple, aber entscheidende Tatsache verinnerlicht haben: Jedes Individuum hat das Recht auf eine eigene Identität. Vielleicht bringen Sie es darum fertig, keine Habgier zu erwarten, wenn Sie einen Juden antreffen, und auch keine dunklen Machenschaften, aber auch keine humorvollen und klugen Äusserungen. Vielleicht vollbringen Sie das intellektuelle und moralische Kunststück, gar nichts zu erwarten. Und sollte dieser Jude sich tatsächlich als geschäftstüchtig erweisen, werden Sie das nicht seinem ­Judentum zuschreiben, sondern, nun ja: seiner Geschäftstüchtigkeit. Vielleicht sind Sie einer der wenigen Men­ schen, denen bewusst ist, dass die Eigenschaften «jüdisch» und «geschäftstüchtig» sich in ein und demselben Menschen vereinen können, aber nicht müssen. Und es ist zu hoffen, dass Sie das allen klarmachen, denen es nicht bewusst ist. Denn Antisemitismus ist nicht zuletzt auch die Folge des Schweigens jener, die es besser wissen. Sie stehen alle in der Pflicht, ihre Stimme zu erheben, ­jedes einzelne Mal. Thomas Meyer, 43, lebt in Zürich. Sein neustes Buch «Trennt Euch» ist ein Essay über die Beendung inkompatibler Beziehungen. Die Verfilmung seines Erfolgsromans «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse», zu der er auch das Drehbuch schrieb, kommt im Herbst 2018 in die Kinos.

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FOTOS: FERNAND MELGAR (2), YVAN GENEVA (1)

Sie haben einen aussergewöhnlichen Hunger auf Leben: die Kinder der «Schule der Philosophen».

«Ich möchte die Ränder der Gesellschaft ausleuchten, da ich denke, dass diese uns definieren.» Fernand Melgar

Ein Postkartengruss als Meilenstein Sonderschule Fernand Melgar beobachtet im Dokumentarfilm «À l’école des Philosophes»

das Leben von behinderten Kindern. Und überprüft damit die Präambel der Bundesverfassung: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen». TEXT  MONIKA BETTSCHEN

Alles begann, als der zweijährige Louis den heissen Ofen anfasste und dabei schwere Verbrennungen an der Hand erlitt. In den Monaten nach dem Unfall verlor der Bub zunehmend das Interesse an seiner Umgebung und reagierte panisch auf neue Eindrücke. Erst dachte man, es handle sich um einen emotionalen Schock, der durch den Unfall ausgelöst wurde, aber dann kam die Diagnose: Autismus. Möglicherweise hatte es bereits vor diesem Ereignis Anzeichen gegeben, aber erst die Verbrennung brachte die Störung zum Vorschein. Louis, der vor dem Unfall der Welt mit kindlicher Neugier begegnet war, verschloss sich und äusserte sein Unwohlsein durch anhaltendes Schreien. Ein Medikament brachte Linderung, der Bub begann wieder zu spielen und seine Eltern sogar wieder anzulächeln, aber sein Verhalten blieb unberechenbar. Es war klar, dass er einmal eine Sonderschule würde besuchen müssen. Nun sitzen die Eltern des mittlerweile fünfjährigen Louis dem Schulleiter einer Stiftung in Yverdon-les-Bains gegenüber, wo Kinder mit verschiedenen Behinderungen unterrichtet werden. «Was erwarten Sie von der Schule?», fragt der Schulleiter, nachdem ihm die Eltern den fordernden Alltag mit ihrem Sohn beschrieben haben. «Alles», entfährt es der Mutter. Mit respektvol24

lem Abstand fängt die Kamera die heftigen Emotionen ein, die sich in diesem kleinen Wort konzentrieren. «Alles» steht für die Sehnsucht nach etwas Normalität und Entlastung, aber auch für Hoffnung nach Jahren der Selbstaufgabe und der Überforderung im Umgang mit dem Sohn, den die Eltern lieben. Die Offenheit, mit der die Eltern Einblick in ihr Leben und ihre Sorgen geben, berührt. «Da ich mir ein Jahr Zeit nehmen konnte, um diesen Film zu drehen, konnte ich den Leuten zuhören, und so entstand das Vertrauen zwischen mir und den Eltern, Kindern und Thera­ peuten», sagt der Regisseur Fernand Melgar. Louis ist eines von fünf Kindern, das er während ihres ersten Schuljahrs in der «école de la rue des Philosophes» begleitet hat. Die Schule, die einfach nach dem Strassennamen benannt ist, wird landläufig «école des Philosophes» genannt: Schule der Philosophen. Hauptschauplätze sind die Schule selbst und das Zuhause der Kinder. Der Dokumentarfilm erzählt von Hingabe, Geduld und Toleranz, zeigt Momente der Verzweiflung, aber auch viele Erfolgserlebnisse. Erfolg heisst zum Beispiel, dass Albiana, die eine Chromosomenanomalie hat, verstehen lernt, wie man eine Treppe hinuntersteigt, ohne zu stürzen. Oder dass die fünf sehr Surprise 416/18


unterschiedlichen Buben und Mädchen dank der intensiven Unterstützung der Therapeutinnen und Pädagoginnen langsam zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen. Die Kinder sind Teil des Stadtlebens Im Direct-Cinema-Stil, also ohne Kommentare oder Interviews, stellt Fernand Melgar die reine Beobachtung in den Mittelpunkt, was es dem Zuschauer erlaubt, den Alltag mit einem behinderten Kind nachzuempfinden. Menschen, die von der Norm abweichen, fordern dazu heraus, eigene Ansichten zu überdenken. Der Umgang der Gesellschaft mit ihnen lässt für Melgar Rückschlüsse zu. «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen. Das ist eine der ersten Zeilen der Schweizer Bundesverfassung, und es ist einer der Schlüssel unseres sozialen und ökonomischen Erfolges», sagt Fernand Melgar. «Unglück­licherweise ist es heute oft genau andersrum: Die Stärke unserer Gemeinschaft misst sich am Profit der Reichsten und Stärksten. Die Ungleichheit zwischen den Menschen wird immer grösser, und ich finde, dass wir uns direkt auf eine Mauer zubewegen.» Nach preisgekrönten Filmen wie «Exit, le droit de mourir» über Sterbewillige oder «Vol spécial» über abgewiesene Asylsuchende richtet der Westschweizer Regisseur den Fokus erneut auf eine marginalisierte Gruppe. «Ich möchte die Ränder der Gesellschaft ausleuchten, da ich denke, dass diese uns definieren. Wir empfinden Unterschiede als störend, dabei ermöglicht uns der Austausch mit dem Anderen Öffnung, Kennenlernen und Entwicklung.» Oft befinden sich Einrichtungen für behinderte Menschen am Rand von Ortschaften, dort, wo man sie nicht sieht. Nicht so die «école des Philosophes». Im Herzen von Yverdon sind die Schülerinnen und Schüler sichtbarer Teil des Stadtlebens. Etwa wenn ein Ausflug in den Supermarkt auf dem Programm steht, um die Zutaten für Nussschnecken zu kaufen. Louis, der sich an belebten Orten häufig überfordert fühlt, bleibt ruhig und legt eine Zitrone in den Einkaufskorb. «Die Kinder, die diese Schule besuchen, haben einen aussergewöhnlichen Hunger auf das Leben», sagt Fernand Melgar. «Da sie keinen Filter oder Verhaltenskodex haben, kommen sie im Umgang mit anderen Menschen gleich zum Wesentlichen, was sehr gut tut.» Im Film begleitet man die kleine Gruppe auf einen Ausflug in ein Thermalbad. Kaum eines der Kinder war davor je über Nacht von seinen Eltern getrennt. Entsprechend gross ist die Nervosität bei den Müttern und Vätern im Vorfeld der Reise. Ein Postkartengruss nach Hause erhält einen besonders hohen Stellenwert, weil er zeigt, dass ihre Söhne und Töchter in der Lage sind, eigene Erfahrungen zu machen. Die intensive individuelle Betreuung jedes einzelnen Kindes während Wochen und Monaten bereitete diesen Meilenstein vor. Fernand Melgar ist Vater von drei gesunden Kindern und steht dem auf Norm und Ehrgeiz ausgerichteten Unterricht in den normalen Schulen mit gemischten Gefühlen gegenüber. «In einer Sonderschule wie der ‹école des Philosophes› passen sich die Pädagogen den Bedürfnissen des Kindes an und ermöglichen ihm dadurch ungeahnten Fortschritt. Ich denke, dass man von dieser Art des Unterrichtens viel lernen kann. Das ist auch ein wenig die Botschaft meines Films.» Fernand Melgar: «À l’école des Philosophes», Dokumentarfilm, CH 2018, 97 Min. Der Film eröffnet die 53. Solothurner Filmtage, 21. Januar bis 2. Februar, Solothurn, verschiedene Spielstätten. www.solothurnerfilmtage.ch

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Randnotiz

Wieso bin ich nicht glücklich? Eigentlich will ich vom Psychiater an meinem neuen Wohnort Bern nur eines: Er soll mir die Rezepte für die Psychopharmaka ausstellen, die mir bis vor Kurzem noch ein Neurologe in Berlin verschrieben hat. Ich gebe dem Arzt die Dokumente, die meine Diagnosen Angststörung und Soziale Phobie bestätigen. Er beachtet sie kaum und will, wie seine Kollegen vor ihm, lieber direkt von mir wissen, wie es mir geht. Soweit alles wie gehabt, doch dieses Mal erschreckt mich die Rückmeldung. «Ich vermute, dass Sie eine Depression haben.» Von sechs Psychiatern seit meinem Zusammenbruch ist er der erste, der alle bisherigen Diagnosen infrage stellt, und das nach nur 20 Minuten Gespräch. Wir gehen zusammen die Symptome einer Depression durch und tatsächlich, hinter jeden einzelnen Punkt können wir ein Häkchen setzen. Gedrückte Stimmung, negative Gedankenschleifen, gehemmter Antrieb. Alles spricht für seine Vermutung, doch um sicher zu sein, lasse ich mich zusätzlich von einer Psychologin testen. An einem Computer beantworte ich bei ihr Hunderte von Fragen. Dann zeigt sie mir das Resultat: eine Skala, an deren rechtem Rand ein Kreuz für meinen Zustand steht. «Eine schwere Depression», bestätigt die Psychologin mit ernster Miene. Ich trete auf die Strasse hinaus, direkt in die spätherbstliche Sonne. Mir scheint, als würden alle um mich herum lachen, als sei jeder fröhlich – nur ich nicht. Wieso kann ich mich nicht über den herrlichen Tag freuen? Wieso fühle ich immer eine Last auf mir, bin gereizt und springe beim kleinsten Anlass an die Decke? Jetzt weiss ist es. Zwei Fachpersonen haben es bestätigt: Ich bin eine jener sonderbaren dunklen Gestalten – ich bin depressiv. Dem Schock folgen Erwartungen, haben wir doch jetzt eine weitere Antwort auf die Frage, wieso ich so seltsam bin. Man verspricht mir eine Lösung in Form von neuen Medikamenten, die – wie der Psychiater sagt – besser gegen eine Depression wirken sollen als die alten. Er stellt mir wie gewünscht ein neues Rezept aus. Nun sollen die starken Mächte der Chemie den Schleier von mir heben und auch mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Mit dieser Hoffnung bin ich jetzt auf dem Weg zur Apotheke.

FLORIAN BURKHARDT war Sportler, Model und Internetpionier. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert. Vor Kurzem ist seine Autobiografie «Das Kind meiner Mutter» im Wörtersee-Verlag erschienen.

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Fortsetzung folgt Beginn Stephan Pörtner belebt mit dem Krimi «Agglo-Blues» ein ausgestorben geglaubtes

Genre wieder: den Fortsetzungsroman. Die Hauptrollen spielen eine Kommissarin, eine Leiche und die Agglomeration. Worauf lassen wir uns da ein? Ein kurzer Überblick in Lexikonform. TEXT  GEORG GINDELY

Autor Schriftsteller Stephan Pörtner ist Surprise-Leserinnen

Illustrationen Sarah Weishaupt bebildert die einzelnen Folgen

und -Lesern bestens bekannt: Er verfasste jahrelang die Kolumne «Wörter von Pörtner». Der 52-Jährige hat zudem grosse Erfahrung im Krimi- und im Fortsetzungsroman-Genre. Er schrieb fünf Bände rund um Privatermittler Köbi Robert, und für das «Tagblatt der Stadt Zürich» verfasste er drei Fortsetzungskrimis.

von «Agglo-Blues» in der Tradition des Film Noir: schwarz-weiss und im Cinemascope-Format. Die Baslerin zeichnet schon seit Jahren regelmässig für Surprise, gern auch in Zusammenarbeit mit Stephan Pörtner: Sie illustrierte bereits seine Kolumne «Wörter von Pörtner».

Cliffhanger Der Begriff – wörtlich übersetzt Klippenhänger –

Kommissarin Vera Brandstetter, 35, ist im gleichen Alter wie

stammt aus dem 1873 veröffentlichten Fortsetzungsroman «A Pair of Blue Eyes» von Thomas Hardy, in dem sich der Held in einer Szene nur noch an einem Büschel Gras oberhalb einer Klippe festhalten kann. Ob er überleben würde, erfuhr man erst in der nächsten Folge. Die meisten Fortsetzungsromane verwenden das Stilmittel des Cliffhangers und lassen die Handlung im spannendsten Moment abbrechen, um sie später fortzusetzen.

Kommissarin Rosa Wilder in der gleichnamigen SRF-Serie. Das ist Zufall: Pörtner begann mit der Konzeption des Romans schon lange vor Ausstrahlung der Serie. Er fand es an der Zeit für eine Frau als Ermittlerin.

Fortsetzungsromane Ihre Blüte erlebten sie im 19. Jahrhundert,

als die meisten Romane in Frankreich, Deutschland, England und Russland zuerst in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden. Darunter auch die Werke von literarischen Grössen wie Charles Dickens oder Fjodor Dostojewski. Sehr populär war Alexandre Dumas mit seinen Fortsetzungsromanen «Die drei Musketiere» und «Der Graf von Monte Christo». Auch die Geschichten über Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle wurden in Fortsetzungen publiziert. Durch erfolgreiche Fortsetzungsromane konnten Zeitschriften und Zeitungen damals ihre Auflage signifikant steigern. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verlor der Fortsetzungsroman zunehmend an Bedeutung, unter anderem wegen des Aufkommens der Taschenbücher. Zeitschriften und Zeitungen publizierten nun oft bereits bestehende Romane in Folgen. Heute ist der Fortsetzungsroman praktisch ausgestorben – höchste Zeit für eine Wiederbelebung also.

Hören Stephan Pörtner wird «Agglo-Blues» auch vorlesen und

die Folgen als Podcasts veröffentlichen. Geplant ist, dass auch Prominente wie Pörtners Schauspielkollegen Beat Schlatter oder Andrea Zogg hin und wieder eine Folge einsprechen. Reinhören lohnt sich auf alle Fälle: www.surprise.org/krimi 26

Nachlesen Die Laufzeit des Fortsetzungsromans beträgt etwa eineinhalb Jahre, geplant sind rund 35 Folgen. Der Neu- und Wiedereinstieg in «Agglo-Blues» ist jederzeit möglich. Ein kurzer Text schildert ab der nächsten Ausgabe jeweils kurz, was bisher geschah, und wer verpasste Folgen nachlesen will, kann das online tun: www.surprise.org/krimi

Ränder Die Ränder der Stadt und der Gesellschaft haben es

Stephan Pörtner angetan: «Dort geschehen die spannendsten gesellschaftlichen Entwicklungen.» Zudem verlagern sich die Stadtränder ständig. Als Pörtner vor 20 Jahren mit dem Schreiben seiner Köbi-Bücher begann, war der Zürcher Kreis 4 mit der Langstrasse, wo Köbi Robert ermittelte, noch ein Aussenquartier. Beim Start der Fortsetzungsromane für das «Tagblatt der Stadt Zürich» im Jahr 2005 hatten sich die Ränder bereits nach Albisrieden, Altstetten und Zürich-Nord verschoben, wo die Krimis rund um Kommissar Kummer spielten. Nun verlegt Pörtner die Handlung in die Agglomeration: «Das ist im Moment die Region, wo am meisten passiert, weil dort die städtische und die ländliche Schweiz aufeinandertreffen.»

Viel Vergnügen Das wünschen wir Ihnen beim Lesen.

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 1

Die Wasserleiche Vera Brandstetter fluchte. Beinahe wäre sie auf dem schlammigen Boden ausgerutscht. Sie spürte, wie das Wasser über den Rand ihrer Turnschuhe drang. Es waren Goretex-Turnschuhe, wasserdicht zwar, aber entwickelt für das Joggen im Regen, nicht für das Stehen in tiefen Pfützen. Das Malheur hätte sich vermeiden lassen, wenn sie geschaut hätte, wo sie hintrat, doch es war früh am Morgen und sie noch nicht lange wach. An das Klingeln des Handys konnte sie sich nicht mehr erinnern, nur an die Stimme des Disponenten der Kriminalpolizei. Wasserleiche, Schnabelweiher, Einsatz waren die Elemente, aus denen sie sich schlaftrunken die Nachricht zusammenreimte, dass sie sofort aufstehen und los musste. Weil sie in der Nähe des Schnabelweihers wohnte, war ihr der Fall zugeteilt worden. Einmal mehr bereute sie, aus der Stadt weggezogen zu sein – unfreiwillig. Renato, ihr Ex-Freund, war nach der Trennung einfach nicht ausgezogen. Ihre gemeinsame Wohnung lag mitten in der Stadt. Und weil er keine Anstalten machte zu gehen und sie keine Lust hatte, länger mit ihrem Ex inmitten seines dreckigen Geschirrs, seiner ungewaschenen Kleider und der einundzwanzig Paar Turnschuhe – die er, im Gegensatz zu allem anderen, liebevoll pflegte – auf vierundsechzig Quadratmetern zusammenzuleben, suchte sie sich eine neue Wohnung. In der Stadt aber, in der sie 35 Jahre – ihr ganzes Leben lang – gewohnt hatte, fand sie nichts Bezahlbares. Stattdessen fand sie Thorsten, der eine Wohnung in Zürich hatte, wenn auch nur anderthalb Zimmer, so dass sie nicht zu ihm ziehen konnte. Dafür war es ohnehin zu früh. Sie hatte sich eigentlich vorgenommen, eine Zeit lang Single zu bleiben. Möglich, dass es auch an der Wohnung gelegen hatte, dass Thorsten ihr neuer Freund wurde. Sie liebte es, in der Stadt aufzuwachen und zu Fuss zur Arbeit zu gehen. Meist aber wachte sie in ihrer Wohnung in der Agglomeration auf. Irgendwann hatte sie den Beteuerungen von Freundinnen und Kollegen geglaubt, dass es dort super sei. Mit der S-Bahn nur 25 Minuten in die Stadt! Sie hatten vergessen zu erwähnen, dass Surprise 416/18

diese 25 Minuten stehend verbracht werden mussten, zwischen Kantonsschülern, aus deren Ohrstöpseln die hohen Töne ihrer Quatschmusik rieselten, die je ein unterschiedlich duftendes Haargel, Deo und Parfum oder Aftershave verwendeten, Handwerkern, die ihr Frühstückssandwich mit Red Bull hinunterspülten, Bürolisten, die es nicht erwarten konnten, mit der Arbeit zu beginnen und deshalb mit spitzen Ellbogen eifrig in ihre Laptops tippten oder lautstark Telefongespräche führten. Die Alternative war, morgens 45 Minuten im Stau zu stehen. Das war ihr lieber, wenigstens war sie dann allein mit ihrer Musik und ihren Gerüchen. Sogar rauchen war erlaubt, es war ihr Privatauto. Wenn sie es zu Dienstzwecken benutzte, bekam sie eine Entschädigung. Die für den Umstand, um diese Zeit in eine Pfütze zu treten und sich nasse Füsse zu holen, lächerlich tief war. Während sie den schmalen Weg vom Parkplatz zum Weiher entlangging, fragte sie sich, ob es sich um einen TWB handelte. Tod wegen blöd. Das kam immer öfter vor, gerade bei jungen Männern, die irgendwelche halsbrecherischen Nummern riskierten, weil sie meinten, ihnen passiere ja sowieso nichts. Das Filmchen einer solchen Heldentat steigerte das Ansehen während Wochen, sogar richtig berühmt werden konnte man. Oder sterben. Wasser war besonders beliebt. Mit dem Velo hineinfräsen, von hoch oben reinspringen, mit sauglatten, aber untauglichen Gefährten darauf herumfahren. Bis es schiefging. Dann herrschte grosse Betroffenheit, und dieselben Leute, die eben noch fanden, dass Verbote grundsätzlich falsch seien und für sie ohnehin nicht gälten, bejammerten fehlende Sicherheitsmassnahmen und mangelnde Aufsicht: So etwas durfte doch nicht passieren. Doch, es durfte, weil Blödsein nicht verboten war, nur lebensgefährlich. Allerdings passten weder Tages- noch Jahreszeit zu einem TWB. Diese Fälle ereigneten sich im Sommer, an Wochenenden. Jetzt, Mitte Januar, war es eigentlich zu kalt für solchen Unfug, dachte sie, während sie sich unter dem rotweissen Absperrband durchduckte. Spurensicherung und Rechtsmedizin waren schon an der Arbeit. Es war also kein TWB. Sondern ein Mord.

STEPHAN PÖRTNER schreibt nicht nur Kriminalromane, sondern auch Theaterstücke. Sein neustes Werk «Die Bank-Räuber», eine Zusammenarbeit mit Beat Schlatter, feiert am 11. Januar im Zürcher Theater am Hechtplatz Premiere und wird bis 25. Februar gezeigt.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Claude Keller & Partner AG, Zürich

02

Netzpilot, Basel

03

Apps with love AG, Bern

04

FN Informatik GmbH, Steinhausen

05

Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

06

Erwachsenenbildung, Oberrieden

07

PHS Public Health Services GmbH, Bern

08

Scherrer & Partner GmbH, Basel

09

Maya-Recordings, Oberstammheim

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Philanthropische Gesellschaft Union Basel

11

Toppharm Apotheke Paradeplatz, Zürich

12

InhouseControl AG, Ettingen

13

Coaching Zürich, Petra Wälti

14

Kaiser Software GmbH, Bern

15

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

16

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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bewegstatt.ch, Janine Holenstein, Frauenfeld

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Naef Landschaftsarchitekten GMBH, Brugg

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Yogazeitraum, Wädenswil

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Echtzeit Verlag, Basel

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Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

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Iten Immobilien AG, Zug

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AnyWeb AG, Zürich

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

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Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

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Wir alle sind Surprise

Ausgabe 414

Ausgabe 412

«Hoffe auf Unterstützung»

«Joseph freut sich» Danke für die tolle Weihnachtsausgabe. Besonders gut hat mir das Bild gefallen, auf dem Joseph das Kind trägt. Ich habe mich lange daran gestossen, dass das Jesuskind immer an Maria angewachsen oder angeklebt war und Joseph nur stumm da­neben­stand – bis ich mir selber ein paar Figuren machte, wo das Kind in der Hängematte lag und Joseph sich tanzend über das Kind freute. Danke aber ganz besonders für den Beitrag über die Sufis. Jetzt weiss ich auch, was unser Surprise-­ Verkäufer in Affoltern auf meinen (arabischen) Morgengruss antwortet: «Alhamdulillah», obwohl er wie ich Christ ist.

Kompliment an Herrn Ditzler und seine Kollegin vom Internetcafé Planet 13. Viele wollen nicht wahrhaben, dass sich (fast) jeder in so einer Situation befinden könnte. Vor vielen Jahren war die Schweiz extrem arm und man musste auswandern, um der Armut zu entgehen. Vielleicht wird sich das Blatt irgendwann einmal wieder wenden. Ich hoffe, dass die Betreibenden des Planet 13 von der Stadt Basel Unterstützung erhalten werden und bald mit einem anständigen Lohn rechnen dürfen. S. GESER, Biel

Ausgabe 413

H.W. HUPPENBAUER, Affoltern am Albis

«Reale Taten» Ausgabe 414

Eine kritische Auseinandersetzung mit Religion hätte auch nicht geschadet.

In dem, was Stephan Pörtner in seiner Kolumne «Zuversicht» schreibt, gebe ich ihm recht. Dennoch ist die Bedrohung unserer Welt real. Was muss geschehen, um der Zuversicht reale Taten folgen zu lassen?

B. GNOS, Allschwil

A . ORT, Zürich

«Kritisch»

Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99
 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 surprise@1to1media.ch Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Georg Gindely (gg) Reporter: Beat Camenzind (bc), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 416/18

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Amir Ali, Monika Bettschen, Felix Huesmann, Thomas Meyer, Daniel Sadrowski, Karin Scheidegger, Roland Schmid, Samanta Siegfried

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse

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FOTO: TOBIAS SUTTER

Surprise-Porträt

«Manchmal weine und lache ich gleichzeitig» «Ich bin als Flüchtling geboren, und ich werde für immer Flüchtling bleiben. Das habe ich gedacht, als ich kurz vor Weihnachten den Wegweisungsentscheid erhielt. Seit zwölf Jahren lebe ich in der Schweiz. Ich beziehe keine Sozialhilfe, ich habe zwei Arbeitsstellen und viele Freunde. Meine Familie lebt hier, und meine Verlobte ist eben in meine Nähe gezogen. Aber ich muss weg, sagen die Behörden. Weshalb? Ich kann den Entscheid nicht nachvollziehen. Ich spreche gut Deutsch, ich bin gut integriert, und die Schweiz ist meine Heimat geworden. Geboren bin ich im Iran als Kind von geflüchteten Afghanen. Als Afghane ist man im Iran Bürger zweiter Klasse. Es ist uns nicht erlaubt, ein eigenes Geschäft zu eröffnen, es ist uns nicht erlaubt, Auto zu fahren, und ich durfte nicht in die weiterführende Schule gehen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und zog nach Afghanistan. Ich fühlte mich zum ersten Mal wie ein Mensch. Aber es herrschte Krieg, und Anschläge waren an der Tagesordnung. Ich musste in den Iran zurückkehren. Später flüchtete ich in die Schweiz. Nun soll ich zurück. Aber was soll ich dort? Im Iran bin ich nicht willkommen, in Afghanistan herrscht Krieg, und meine Mutter, mein Stiefvater, meine Brüder, meine Schwester und viele andere Verwandte leben hier in der Schweiz. Auch sie mussten flüchten. Weil sie die Sprache noch nicht so gut können, sind sie auf mich angewiesen. Wegen der Wegweisung droht mir, dass ich meine Bewilligung verliere und damit auch meine Jobs. Seit Dezember 2013 bin ich beim Verein Surprise tätig, wo ich in einem 50-Prozent-Pensum im Vertriebsbüro Basel arbeite: Ich gebe Hefte heraus, küm­ mere mich um die Verkaufenden, die Verkaufsausweise und die Verkaufsplätze. Die Arbeit gefällt mir sehr gut. Sie ist abwechslungsreich, und ich komme mit Menschen aus den verschieden­ sten Kulturen in Kontakt. Zu Surprise gekommen bin ich über den Fussball. 2008 war ich als Zuschauer an einer Runde der Surprise Strassenfussball Liga dabei. Die Atmosphäre gefiel mir, und ich fragte, ob ich auch mitspielen darf. Lange war ich Captain und später auch Trainer des Basler Teams. Lavinia Besuchet, die Leiterin des Strassenfussballs, sagt oft zu mir: Du bist unser Türöffner. Ich habe viele Freunde angeworben, die nun auch dabei sind. Seit diesem Oktober arbeite ich zudem als Verkäufer beim Coop am Basler Claraplatz. Auch dieser Job macht mir grosse Freude und ich wurde von allen herzlich aufgenommen. Meine Chefin und mein Chef sagten mir nach dem Bewerbungs­ gespräch, ich sei ihnen sehr sympathisch. Aufgrund meines 30

Sayed Tareq Islami, 35, lebt seit zwölf Jahren in der Schweiz und arbeitet im Surprise-Vertriebsbüro und im Coop in Basel. Kurz vor Weihnachten hat er den Wegweisungsentscheid erhalten.

Namens hätten sie jemanden ganz anderes erwartet. Mein Nachname Islami weckt bei vielen Schweizern Ängste. Ich würde ihn gerne ändern, ich bin überhaupt nicht religiös. Das Schlimmste an meiner Situation ist die Unsicherheit. Ich hatte in meinem Leben noch nie festen Boden unter den Füssen, nirgendwo war ich wirklich willkommen. Hier in der Schweiz habe ich mir etwas aufgebaut, nun könnte ich alles verlieren. Das ist ein schreckliches Gefühl. Wenn ich es fast nicht aushalte, schaue ich lustige Filme. Das bringt mich auf andere Gedanken. Manchmal weine und lache ich vor dem Fernseher gleichzeitig. Wie es nun weitergeht? Ich werde Rekurs einlegen. Ich war sehr niedergeschlagen nach dem Wegweisungsentscheid, aber die Hoffnung habe ich nicht verloren. Dafür ist das Netz an Menschen, das mich hier trägt, viel zu gross. Es ist unglaublich, wie viel Zuspruch ich in den letzten Tagen erhalten habe. Ich spüre, dass mich die Menschen hier gernhaben, dass ich dazu gehöre. Das gibt mir den Mut und die Kraft, weiterzukämpfen, damit ich irgendwann einmal kein Flüchtling mehr bin.» Aufgezeichnet von GEORG GINDELY

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Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden


GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN

Porträts der Surprise Verkaufenden in Buchform

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156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO


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