Surprise Nr. 418

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Strassenmagazin Nr. 418 2. bis 15. Februar 2018

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Medien

Sendeschluss Weshalb ein Ja zur No-Billag-Initiative die Schweizer Demokratie gefährdet Seite 8 Surprise 418/18

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GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN

Porträts der Surprise Verkaufenden in Buchform

Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung.

156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO Surprise 418/18

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TITELBILD: BODARA

Editorial

Fernsehen verbindet Vor Kurzem sass die ganze Familie im Wohnzimmer und schaute Skirennen. Als Beat Feuz mit Bestzeit ins Ziel fuhr, jubelten alle, von der Grossmutter bis zum sechsjährigen Buben. Doch dann schnappte Thomas Dressen dem Emmentaler Feuz den Sieg weg. Kollektives Seufzen. Fernsehen verbindet. Nicht nur Familien, sondern auch dieses Land mit seinen unterschiedlichen Regionen und vier verschiedenen Landessprachen. Dass die Schweiz zusammenhält, ist nicht selbstverständlich – nicht umsonst nennt man sie eine Willensnation. Bei der Abstimmung über die No-Billag-Initiative am 4. März wird sich ein Stück weit zeigen, ob wir Schweizerinnen und Schweizer eigentlich noch zusammengehören wollen. Denn ein Ja zur Abschaffung der Rundfunkgebühren hätte weitreichende Auswirkungen – vor allem auf unser wichtigstes Gut, die Demokratie. Denn diese ist ohne kritische und unabhängige Medien gefährdet, wie

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Roger Blum ab Seite 8 beschreibt. Der emeritierte Professor für Medienwissenschaft kennt die Kritik an der SRG wie kein anderer: Er ist Ombudsmann. An ihn wendet man sich, wenn man etwas an einer Sendung zu beanstanden hat. Übrigens: Dass so intensiv über die Initiative diskutiert wird, zeigt, wie lebendig die Demokratie heute bei uns noch ist. Ich wünsche mir, dass es auch nach der Abstimmung so bleibt. Mit einer Geschichte über den obdachlosen Architekten Jerzy Sulek (Seite 16) verabschiedet sich unser Reporter Beat Camenzind aus der Redaktion. Wir bedanken uns herzlich für die Zusammenarbeit und wünschen ihm alles Gute für die Zukunft.

GEORG GINDELY Redaktor

12 Technologie

26 Veranstaltungen

Pilz ist Baustoff der Zukunft

27 Fortsetzungsroman

Des Landes verwiesen 28 SurPlus Positive Firmen

6 Moumouni …

... stutzt den Rhododendron 16 Obdachlosigkeit 7 Die Sozialzahl

Ausländische Wohnbevölkerung

Jerzy Sulek hat sein Haus im Kopf

30 Surprise-Porträt 24 Film

8 No Billag

Eine Abstimmung über die Demokratie

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Die grösste Bibliothek von New York

«Ich bin jetzt auch eine Art Infostelle»

25 Randnotiz

Lonesome Cowboy

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Aufgelesen

FOTO: METTE KRAMER KRISTENSEN

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Klangreise Allan verkauft das dänische Strassenmagazin Hus Forbi im Kopenhagener Stadtteil Vesterbro. Im Dezember und Januar bekommen die Menschen dort höchstens sieben Stunden Tageslicht zu Gesicht. Allan sieht dies gelassen: «Es stört mich nicht, dass die Dunkelheit um 16 Uhr einbricht. Je kälter und dunkler es ist, desto mehr Magazine verkaufe ich», sagt er. Wer Allans Welt bei Nacht erleben möchte, kann bei Spotify reinhören: App öffnen, Suchfunktion einschalten, Kamera-Icon klicken und nebenstehenden Code scannen. HUS FORBI, KOPENHAGEN

Erweiterte Realität Lernsoftware, die den Spieltrieb berücksichtigt, erzielt bei schulisch weniger erfolgreichen Kindern bessere Ergebnisse. Auch erhöht sie den Austausch und die Kooperation unter den Schülern. Darauf lassen Testläufe an verschiedenen griechischen Schulen schliessen, bei denen sogenannte Augmented-Reality4

FOTO: ZVG

Systeme eingesetzt wurden. Diese «erweiterte Realität», bekannt aus Spielen wie Pokémon Go, ermöglicht es den Schülerinnen, sich Lerninhalte mithilfe mobiler Computergeräte zu erschliessen.

SHEDIA, ATHEN/THESSALONIKI

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Geldbussen

Frankfurt am Main bestraft das «Lagern im öffentlichen Raum», wie das Liegen auf Parkbänken oder in der Fussgängerzone in der deutschen Bankenstadt genannt wird. Laut der Gefahrenabwehrverordnung der Stadt gilt dies als Ordnungswidrigkeit und kann gebüsst werden. Offizielle Zahlen, wie viele Menschen seither eine Strafe kassierten, gibt es keine. Recherchen der Grünen ergaben jedoch, dass seit Juni 2017 rund 2500 Obdachlose und Bettler in Frankfurt durch die Polizei kontrolliert wurden. In 1000 Fällen wurden Bussen verhängt oder Platzverweise erteilt.

DER STRASSENFEGER, BERLIN

Alleingelassen

In Österreich leben knapp 180 000 Ein-Eltern-Familien. Jede zweite davon ist armutsgefährdet. Das hat auch damit zu tun, dass 18 Prozent der Betroffenen keine Alimente erhalten, weil es in Österreich bis heute keine Unterhaltsgarantie für Alleinerziehende gibt. Das hätte sich eigentlich ändern sollen, doch nun bekämpfen die neuen Regierungsparteien ÖVP und FPÖ die bereits vor den Wahlen begonnene Gesetzesreform. Begründung: Man wolle Familien mit zwei Elternteilen gegenüber Alleinerziehenden nicht benachteiligen.

AUGUSTIN, WIEN

Trauriger Rekord

Mehr als 231 Obdachlose verstarben letztes Jahr auf den Strassen der US-Stadt Denver, 35 Prozent mehr als 2016. So viele waren es noch nie. Als Hauptursache gilt der massiv angestiegene Missbrauch von Opioiden wie Fentanyl oder Oxycodon.

DENVER VOICE, DENVER

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Vor Gericht

Leben als Geisterbahn Zur Tat sagt der Angeklagte: Er wisse nicht, warum er ausgerastet sei – oder ob überhaupt – als er dem Geschädigten nach einer langen Nacht gegen acht Uhr morgens eine leere Wodkaflasche an den Kopf warf und ihn mit dem Tod bedrohte. Der 24-Jährige kann sich nicht erinnern. Der über 20 Jahre ältere Geschädigte hatte angegeben, er habe den jungen Mann in jener Nacht auf der Strasse aufgelesen und mit nach Hause genommen. Beim Streit sei es um Sex gegangen. Einen festen Wohnsitz hatte der Mann zur Tatzeit nicht, schlief mal bei Kollegen, mal in der Notschlafstelle. Gearbeitet habe er nicht, nur gebettelt. Auf die Fragen des Gerichts zu seiner Person macht er kaum Angaben. Nein, an all seine Jobs könne er sich nicht erinnern. Auf dem Bau habe er mal gearbeitet. Wann? Keine Ahnung. Als das Gericht wissen will, ob er derzeit eine Freundin habe, meint er nur: «Hmmmm.» Warum er bei der Antwort zögere? Er sei erkältet. Wann er gestern ins Bett sei? Er erinnert sich nicht. Wie steht es mit Zukunftsplänen? Sterne-Koch will er werden. Oder Automechaniker. Vielleicht auch Maler. Und man fragt sich: Ist der Mann überhaupt anwesend in seinem Leben? Oder verloren in seiner noch kurzen Existenz, die in den Bürgerkriegswirren auf dem Balkan begann? Sein Name verweist auf kosovarische Wurzeln. Doch er spricht nur serbisch und sein Pass ist schwedisch – dort lebte er mit seiner Familie seit dem achten Lebensjahr. Mit 15 zog er mit seinem Vater in die Schweiz. Ob er noch Staats-

bürger Serbiens ist, weiss er nicht. Ob der zunehmend pampigen Äusserungen des Angeklagten reisst der Gerichtspräsidentin der Geduldsfaden: Ob ihm eigentlich bewusst sei, dass hier ein Landesverweis im Raum stehe? Bitte nicht, sagt da der junge Mann. Er habe Freunde hier. «Mit Gefühlen und alles.» Der Staatsanwalt verlangt Härte. Denn: Der Angeklagte hat zwei Vorstrafen. 2014 bedrohte er eine Gassenarbeiterin. Ein Jahr später schlug und trat er beim Betteln zwei Frauen. Er scheine weder Gewaltneigung noch Alkoholkonsum in den Griff zu bekommen. Das Volk, so der Staatsanwalt, habe unmissverständlich klargemacht, dass kriminelle Ausländer hier nichts verloren hätten. Einer Ausweisung nach Schweden stehe nichts im Wege. Der Verteidiger hält entgegen, die zweimonatige U-Haft sei einschneidend gewesen und der Mann arbeite jetzt. Seine Taten seien ja auch nicht gerade die Verbrechen des Jahrhunderts. Eine hinreichende Gefahr für die öffentliche Sicherheit sei nicht gegeben. Ihn jetzt auszuweisen würde dem Sozialisierungsgedanken des Strafrechts widersprechen. Vergeblich: Das Gericht spricht einen Landesverweis von drei Jahren aus. Der Angeklagte, so die Gerichtspräsidentin, befinde sich in einem Steigerungslauf. Seine Taten würden drastischer, und es gehe ja nicht um Diebstahl, sondern um Delikte gegen Leib und Leben. Hier müsse das Gericht dem Willen des Gesetzgebers folgen: Die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger und die öffentliche Ordnung seien klar bedroht. Und so geht die Geisterbahnfahrt, die das Leben des jungen Mannes ist, in Schweden weiter. Es ist zu befürchten, dass er wohl bald selbst ganz zum Geist werden wird. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

ihr pakistanischer Liebhaber eigenhändig gewoben habe. Obwohl sie ihn geschenkt bekommen habe, wisse sie, dass der Teppich sehr teuer gewesen sei, jeder wüsste das. Und dann ist da noch das Tuch, mit dem sie die Uhr putze: reinstes Kaschmir mit Fäden aus Gold, bei denen man aufpassen müsse, dass sie die Uhr nicht zerkratzten. Sie hat eine schöne Stimme und plappert mit ausschweifender Gestik, ihre Lügen illustrierend, vor sich hin. Wenn sie nicht ständig so einen Schmarrn erzählen würde und ich nicht das Gefühl hätte, dass sie mich für doof genug hält, ihr zu glauben, würde ich es wohl geniessen, ihren verrückten Anekdoten zu lauschen. Wortlos die Felgen polierend, nicke ich, und sie geht nach oben in ihre Wohnung.

Moumouni …

… stutzt den Rhododendron Letzten Sonntag hätte meine Nachbarin mich fast in den Wahnsinn getrieben. Ich war gerade dabei, in der Einfahrt mein Auto zu putzen, als sie vorbeikam und befand, sie müsse mir Gesellschaft leisten. Sie erzählt immer die absurdesten Lügengeschichten. Es wäre vielleicht ganz amüsant, würden die Geschichten nicht die Abgründe ihrer Weltanschauung darlegen. Das ist vielleicht ein wenig übertrieben, denn es ist nicht so, dass sie etwa den Ku-Klux-Klan unterstützt oder gern Grosswild in der Savanne schiesst. Nein, nein. Sie erzählt mir einfach zum Spass Geschichten, die mir imponieren sollen, was jedoch nicht gelingt, weil ich am anderen Pol des Werteatlas sitze. All den prahlerischen Überfluss, den sie immer heraufbeschwört, finde ich eher unnötig bis verwerflich. Während 6

sie sich letzte Woche noch für all die Rosenblätter im Treppenhaus entschuldigte, mit denen ihr Verehrer einen Pfad in ihre Wohnung gelegt habe, um ihr endlich einen Antrag zu machen (weder Verehrer noch Rosenblätter waren je gesichtet worden), erzählt sie mir dieses Mal, sie habe sich nun endlich selbständig gemacht und es laufe so gut, dass sie sich eine Rolex gekauft habe. Als ich von meiner emsigen Tätigkeit aufschaue, um einen Blick auf ihr Handgelenk zu erhaschen, erzählt sie mir, die Rolex trage sie jedoch ausschliesslich bei der Arbeit und bei Geschäftsessen, das sei gut fürs Geschäft. Die Kunden und Kundinnen, alles Männer und Frauen mit Wertschätzung für das Gute und Schöne, würden ihr so zu Füssen liegen und dabei noch ihren edlen und teuren Perserteppich bewundern, den ihr

Als ich gerade fast fertig bin und nur noch in eifrigem Perfektionismus die letzten, ausscherenden Rhododendronblätter des Busches stutze und die Blüten mit Büffelmozzarella betupfe, höre ich, wie sie lauthals der Nachbarin ihres Nebenbalkons erzählt, die Trüffelschweine, in die sie investiert habe, hätten den grössten Trüffel der Region gefunden, und vom Preisgeld, das sie dafür an der Olma-Messe gewonnen habe, habe sie sich eine Rolex gekauft, die sie nun, da die Nachbarin sie sehen und bewundern möchte, gerade nicht zeigen könne. Sie sei in der Reinigung: «D’Olma isch wiedr mol ä uhuäre Chäferfäscht gsy, waisch!» Ich bin fertig und packe zum Schluss die Plane wieder über den Teich, damit die Koifische nicht frieren, es ist schliesslich noch Winter. Ich finde die Uhr in meinem mit Elfenbein umfassten Handschuhfach und rufe nach oben: «Reinigung?! Was erzählst du denn für Lügengeschichten – ich habe sie in meinem Auto gefunden, wie einen Trüffel, die Uhr!»

FATIMA MOUMOUNI Die Zürcher Slampoetin Fatima Moumouni schreibt gern über Autos, Trüffel und Koifische.

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Die Sozialzahl

Ständige ausländische Wohnbevölkerung Die Schweiz ist ein Einwanderungsland für Menschen aus Europa. 1969 stieg die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer, die ständig in der Schweiz leben, erstmals auf über eine Million. Im Jahr 2015 wurde die Grenze von zwei Millionen Personen übertroffen, die zur sogenannten ständigen ausländischen Wohnbevölkerung gerechnet werden. Zu dieser gehören alle ausländischen Staatsangehörigen mit einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung für mindestens zwölf Monate (Ausweis B oder C oder EDA-Ausweis für internationale Funktionäre, Diplomaten und deren Familienangehörige). Weiter dazu zählen ausländische Staatsangehörige mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung (Ausweis L) für eine kumulierte Aufenthaltsdauer von mindestens zwölf Monaten sowie Personen im Asylprozess (Ausweis F oder N) mit einer Gesamtaufenthaltsdauer von mindestens zwölf Monaten. Die überwiegende Mehrheit, nämlich rund 84 Prozent, stammt aus Europa. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Italien (317 000 Personen), Deutschland (304 000 Personen), Portugal (269 000 Personen) und Frankreich (127 000 Personen), allesamt Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Der Kosovo mit rund 109 000 Personen steht an fünfter Stelle und ist das erste europäische Land auf dieser Liste, das nicht zur EU gehört. Diese Position ist mit den Fluchtbewegungen in den Balkankriegen der Neunzigerjahre zu erklären.

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK, NEUCHÂTEL

Der Rest der Welt spielt in der Statistik der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung nur eine untergeordnete Rolle. Aus ganz Afrika stammen rund 103 000 Personen, aus Nordamerika 26 000, aus Lateinamerika und der Karibik 53 000 und aus Asien und Ozeanien 158 000 Personen.

Der überwiegende Teil der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz ist über die Arbeitsmigration und den Familiennachzug hierher gekommen. Anerkannte Geflüchtete und vorläufig Aufgenommene machen nur einen geringfügigen Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung aus. Die Zusammensetzung der ausländischen Wohnbevölkerung ist von verschiedenen Verschiebungen gekennzeichnet. So hat zum Beispiel das Herkunftsland Spanien deutlich an Bedeutung verloren, während Portugal zu einem der wichtigsten Zuwandererländer geworden ist. Wichtiger als diese geografischen Verschiebungen sind die Veränderungen in der Ausbildung und beruflichen Qualifikation der zugewanderten Personen. In der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre brachten 60 Prozent der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten, wenn überhaupt, nur einen obligatorischen Schulabschluss mit. Gerade mal 17 Prozent verfügten über einen Abschluss auf Tertiärstufe. Das änderte sich in den Neunzigerjahren innert kurzer Zeit, als sich die schweizerische Wirtschaft strukturell massiv veränderte und zu einer forschungsstarken und dienstleistungsorientierten Unternehmenslandschaft wandelte. Der Anteil der Zuwandernden mit einem geringfügigen Ausbildungsstand ging in der Folge deutlich zurück. Heute liegt er bei rund 20 Prozent. Dafür hat inzwischen jede zweite ausländische Person, die in der Schweiz einen Arbeitsplatz findet, ein Studium an einer Universität oder Fachhochschule absolviert. Damit kann die Wirtschaft den chronischen Mangel an qualifizierten Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt auffangen. Die anhaltend gute wirtschaftliche Entwicklung ist darum ohne die ausländischen Arbeitskräfte schlicht nicht denkbar.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Ständige ausländische Wohnbevölkerung, Herkunftsregionen, 2016 Total: 2 101 146 Personen

Staatenlos/nicht zuteilbar/ ohne Angaben: 2235

Asien und Ozeanien: 158 231 Lateinamerika/Karibik: 53 035 Nordamerika: 25 723 Afrika: 102 988

Europa: 1 758 934

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Wenn nicht mehr alle mitfiebern können: Sportberichterstattung verschwände ohne Gebührenfinanzierung ins Pay-TV.

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Was sind uns die Medien wert? SRG Die No-Billag-Initiative will die Schweizer Medienordnung

zertrümmern. Das ist verantwortungslos, denn ohne qualitativ hochstehenden Journalismus ist die Demokratie gefährdet. TEXT ROGER BLUM

Was gehört eigentlich zu einer funktionierenden Demokratie? Erstens eine Verfassung, die dem Volk zusichert, dass es wählen und abstimmen kann. Zweitens eine politische Kultur, die garantiert, dass die Bevölkerung Konflikte nicht mit der Waffe, sondern mit dem Stimmzettel austrägt. Und drittens Medien, die die Stimmberechtigten darüber aufklären, was jeweils auf dem Spiel steht. Es gibt Staaten mit Medien, aber ohne Demokratie. Aber es gibt keine Staaten mit einer funktionierenden Demokratie ohne Medien. Thomas Jefferson, der zweite amerikanische Präsident, schrieb einmal in einem Brief, wenn er wählen müsste zwischen einer Regierung ohne Presse und einer Presse ohne Regierung, würde er sich ohne Zögern für das Zweite entscheiden. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, wie unentbehrlich die Medien für die Demokratie sind. Das gilt heute noch genauso: Medien sind unverzichtbar. Man stelle sich vor, es gäbe keine Medien – und die Regierung will die Steuern erhöhen und darüber abstimmen lassen, aber niemand weiss davon. Befürworter und Gegner wollen ihre Argumente vortragen, aber sie verfügen über keinerlei Kanäle, um an die Leute zu gelangen. Nicht einmal Versammlungen könnten sie einberufen, denn auch um diese bekanntzumachen, sind Medien nötig. Die Medien sind «unverzichtbare Bestandesträger der Demokratie», formulierte der verstorbene Zürcher Publizistikwissenschaftler Ulrich Saxer. Doch es geht nicht allein um das Vorhandensein von Presse, Radio, Fernsehen, Film, Videos, Internet und Social Media. Es geht auch um die Frage, wer für die politischen Inhalte verantwortlich ist. An dieser Stelle kommt der politische Journalismus ins Spiel. Wenn nämlich der Staat in Eigenregie die Inhalte gestaltet, dann ist das Propaganda. Es braucht in der Demokratie eine unabhängige Gruppe, die die Informationen kenntnisreich und kritisch beleuchtet und weitervermittelt, und diese Aufgabe über-

Es gibt Staaten mit Medien, aber ohne Demokratie. Aber es gibt keine Staaten mit einer funktionierenden Demokratie ohne Medien.

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nimmt der politische Journalismus. Politische Journalistinnen und Journalisten haben den Auftrag, dafür zu sorgen, dass nur veröffentlicht wird, was auf gesicherten Quellen basiert (Wahrheitspflicht), dass Vertuschungen, Skandale und Affären ans Tageslicht kommen (investigativer Journalismus), und dass die Informationen erläutert, vertieft und kommentiert werden. Sie verrichten einen schwierigen Job, gerade in der heutigen Zeit, in der die Schlagworte «Lügenpresse» und «Fake News» so populär sind und in der oft diejenigen, die diese Schlagworte inflationär gebrauchen, die grössten Lügner sind. Eine gut funktionierende Demokratie braucht erstklassigen, verantwortungsvollen politischen Journalismus. Im permanenten Abstimmungskampf Just die Schweiz ist darauf angewiesen, weil sie sich als direkte Demokratie fast permanent im Abstimmungskampf befindet: Da in der Regel jährlich vier Volksabstimmungen stattfinden und die Abstimmungskämpfe jeweils etwa während zwei Monaten laufen, sind die politischen Journalistinnen und Journalisten (wie auch die Behörden, Parteien und Lobbygruppen) während acht Monaten eines Jahres damit beschäftigt, den Stimmberechtigten Abstimmungsfragen zu erläutern. Das ist nicht unbedingt ein lukratives Geschäft, es handelt sich dabei um einen Service public. In der Schweiz (wie auch in Grossbritannien, Irland, Frankreich, Deutschland, Österreich, in den skandinavischen Ländern, in Estland oder in den Niederlanden und Belgien) leisten diesen Service public nicht nur gebührenfinanzierte Rundfunkanstalten wie die SRG, sondern auch Print- und Onlinemedien: Auch die NZZ, der Tages-Anzeiger, Le Temps, der Corriere del Ticino und viele andere Medien erfüllen diese Aufgabe aus Verpflichtung gegenüber der Demokratie. Und das ist gut so. Dabei ist die Realisierung dieser teils gesetzlichen, teils moralischen Verpflichtung in der Schweiz besonders knifflig, weil die Märkte so klein sind und weil Medienhäuser teure Dienstleistungen für teilweise sehr kleine Zielgruppen erbringen müssen. Denn die Schweiz ist einerseits in vier Sprachregionen aufgefächert mit wenig mehr als 300 000 Einwohnern in der italienischen Schweiz und nicht einmal 50 000 in der rätoromanischen Schweiz. Und sie ist anderseits Teil der grossen gleichsprachigen Märkte Frankreichs, Italiens sowie Deutschlands und Österreichs. Das bedeutet, dass sich beispielsweise Le Temps oder die SRG nicht nur mit teuer produzierten Angeboten im Westschweizer Markt mit lediglich 1,5 Millionen 9


Ohne SRG blieben nur noch wenige Print- und Onlinemedien übrig, um sich umfassend politisch zu informieren.

Radiosendungen sind teuer in der Produktion und keine Massenware.

Einwohnern behaupten müssen, sondern dass dort auch noch Konkurrenz besteht durch TF 1, France 2, Le Monde, Le Figaro oder Le Point. Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist es erst recht erstaunlich, was der politische Journalismus in allen Sprachregionen der Schweiz leistet. Journalismus braucht Distanz Doch politischer Journalismus ist nicht möglich ohne Verständnis für Land und Leute, ohne Einblick in das Funktionieren der Institutionen, ohne Zugang zu den politischen Akteuren. Politischer Journalismus braucht Leidenschaft, Erkenntnisinteresse, Dossierkenntnis, analytische Fähigkeit und den Willen zur Recherche. Und vor allem: kritische Distanz und Unabhängigkeit. Über diese ANZEIGEN

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kritische Distanz zu den politischen Akteurinnen verfügen gerade auch die politischen Journalisten der SRG. Es ist ein Irrtum, wenn immer wieder behauptet wird, die SRG sei ein «Staatsmedium». Staatsmedien sind Lautsprecher der jeweiligen Regierungen und Machtzentren. Solche Medien gibt es in China, auf Kuba, in Syrien, in Iran, in der Türkei, in Nordkorea, Ägypten oder Russland. In der Schweiz aber nicht. Zwar legen Verfassung und Gesetz die Rahmenbedingungen für die Rundfunkmedien fest, und die konzessionierten Radio- und Fernsehsender haben einen Leistungsauftrag zu erfüllen, den ihnen der Staat gibt. Sie werden zudem teilweise durch die vom Staat festgelegten Gebühren finanziert. Aber dieser Leistungsauftrag bezieht sich nicht auf die publizistischen Inhalte. Journalistisch sind die Rundfunkmedien, genauso wie die Printmedien, völlig frei. So sagt das Radio- und Fernsehgesetz in Artikel 3a: «Radio und Fernsehen sind vom Staat unabhängig.» Bundesrat, Parlament und Verwaltung können nicht in die Programme dreinreden, weil Medienfreiheit herrscht. Neben dem Staatsmodell, wo der Staat die Medien dirigiert und finanziert, und dem Mischmodell, wie es die Schweiz realisiert hat, existiert das Marktmodell. In ihm müssen sich die Medien ausschliesslich im Markt behaupten. Wer sich nicht durch Verkaufspreise und Werbung finanzieren kann, scheidet aus. Dieses Modell existiert beispielsweise in den USA und in Brasilien – und dieses Modell möchte die No-Billag-Initiative auch für die Schweiz einführen. Die Initiative will damit die austarierte und bewährte Schweizer Medienordnung zertrümmern. Gerade die Surprise 418/18


Allein mit Werbe- und Abogebühren könnten die meisten Schweizer Informationssendungen nicht überleben.

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bote für die rätoromanische Schweiz gäbe es nicht mehr. Sendungen für Minderheiten und für Kulturinteressierte würden künftig fehlen. Kritische politische Sendungen wie «Arena», «Rundschau» oder «DOK» würden verschwinden. Die privaten Fernsehsender, die bisher Gebühren erhielten (wie Telebasel, Tele M 1, Telebärn, Tele Ostschweiz usw.), müssten ebenfalls schliessen. Es gäbe zudem keine Minimalstandards mehr für Radio und Fernsehen (wie Sachgerechtigkeitsgebot, Vielfaltsgebot, Trennung von Information und Kommentar, Beachtung der Grundrechte), weil dieser Teil des Verfassungsartikels wegfiele. Weiter gäbe es kein Beschwerdeverfahren mehr, mit dem man sich gegen manipulative Sendungen wehren kann. Am 4. März 2018, wenn über die No-Billag-Initiative abgestimmt wird, müssen die Stimmberechtigten daher letztlich die Frage beantworten, was ihnen die Medien wert sind. Wollen sie eine Medienordnung, die qualitativ hochstehenden Journalismus erlaubt und den Bedürfnissen der direkten Demokratie gerecht wird? Oder wollen sie eine Medienordnung, die alles dem Markt, dem Zufall und internationalen Grosskonzernen überlässt? Wollen sie einen kritischen Journalismus, der sich auch investigative Recherchen, aufwendige Reportagen und kluge Analysen leisten kann? Oder wollen sie einen Billig-Journalismus, der sich von PR nicht unterscheidet? Der Schweizer Souverän muss sich sehr genau überlegen, ob er das Wertvolle, das er hat, einfach auf den Abfallhaufen werfen will.

FOTOS: SRF, MARCUS GUYER (1), HOLGER SALACH (2), SRF, MATTHIAS WILLI (3), SRF, OSCAR ALESSIO (4)

Produktion von Fernsehprogrammen ist besonders teuer. In einem kleinen Land wie der Schweiz kann deshalb niemand aus dem Markt allein ein Fernsehprogramm finanzieren, das eigene Informationssendungen ausstrahlt und nicht nur anderswo produzierte Unterhaltungssendungen erneut abspult. Rundfunkmedien sind hierzulande auf Nutzergebühren angewiesen. Es ist darum eine in hohem Masse destruktive und verantwortungslose Politik, wenn man die Radio- und Fernsehgebühren abschaffen will. Mit der gleichen Logik könnte man verlangen, dass Kantone keine Steuereinnahmen mehr erhalten, aber dass man erwartet, dass sie gleichwohl die Kantonsspitäler, die Schulen und alle anderen Dienstleistungen weiter betreiben. Absurd. Was würde denn geschehen, wenn Volk und Stände der No-Billag-Initiative zustimmen? Die SRG würde schrumpfen und kaum mehr Werbung erhalten, weil ihre Reichweite zu gering wäre. Die Werbung würde zu ausländischen Werbefenstern und zu internationalen Giganten (wie Google, Facebook, Amazon) abwandern. Die SRG müsste folglich den Laden dichtmachen. Rundfunkange-

In einem kleinen Land wie der Schweiz kann niemand ein Fernsehprogramm allein aus dem Markt finanzieren.

Roger Blum ist emeritierter Professor für Medienwissenschaft an der Universität Bern und aktuell Ombudsmann der SRG Deutschschweiz.

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Der neue Baustoff wächst im Dunkeln Forschung Künstler und Forscher Phil Ross möchte, dass Leder,

Zement und Plastik in Zukunft durch Pilz ersetzt werden. Ein Besuch in seinem Atelier und Firmensitz in San Francisco. TEXT ROMANO PAGANINI

Phil Ross, Künstler und Firmenchef.

Phil Ross scheint gar nicht zu existieren – jedenfalls nicht an der Gran View Avenue in San Francisco, wo der Künstler sein Studio hat. Weder gibt es eine Klingel, die den Besucher zu seiner Firma Mycoworks führt, noch kennen ihn die Nachbarn. Das heruntergekommene Wohnhaus mit Stahlgittern am Eingang und die leicht lädierten Briefkästen erinnern eher an die Vorstädte von Detroit als an einen Ort, von dem aus Ingenieure inspiriert werden könnten – egal, ob aus der Auto- und Bauindustrie, der Kleider- und Accessoire-Produktion oder aus der Telekommunikation. Pilze, so die Vision von Phil Ross, sollen künftig unseren Alltag prägen und umweltschädigende Industriematerialien aus vergangenen Jahrhunderten ersetzen. Plastik zum Beispiel. Dann steht Phil Ross plötzlich da, als ob er die Verspätung geplant hätte. Er trägt Crocs, eine schwarze Lederjacke, sagt «sorry» und öffnet schliesslich die Tür. Der Weg in sein Atelier ist steil und die abgewetzte Teppichtreppe des Wohnhauses will und will nicht aufhören. Doch dann stehen wir im Reich der Pilze – also dem Ort, wo Phil Ross und sein zwölfköpfiges Team am Material der Zukunft tüfteln. Links ist eine Werkstatt, wie man sie von Hobbymechanikern kennt, etwas versteckt eine kleine Wohnküche mit Herd, weiter vorne steht ein Tischchen mit Laptop und schliesslich ein Regal mit Prototypen aus Pilzen: ein Hut, ein Schuh, eine Feldflasche, ein Mini-Backziegel und diverse Muster, die an Leder erinnern. Ross 12

begrüsst eine Mitarbeiterin und fragt, ob sie vom Meeting nächste Woche erfahren habe. Noch eine Firma, die auf Pilze umstellen möchte. Mycoworks erhält jede Woche Dutzende von Anfragen aus der ganzen Welt. «Im Moment ist vieles noch geheim», sagt Phil Ross und kniet auf einen der Sessel beim Fenster, von wo aus man bis nach Oakland am anderen Ufer der Bucht sieht. Der 52-Jährige wirkt eher wie ein Student als wie der Co-Geschäftsführer eines Unternehmens, das kurz davor steht, die Zusammenarbeit mit internationalen Firmen öffentlich zu machen. Auch in der Schweiz ist man darauf aufmerksam geworden, dass man Pilze nicht nur essen kann. An der ETH Zürich arbeiten Architekten seit eineinhalb Jahren an der Erforschung von Pilzen als Baumaterial (siehe Seite 15). Was also kann ein Pilz? «Das kommt darauf an, was du möchtest», antwortet Ross. Unsichtbares Netzwerk unter unseren Füssen Um dem Pilz auf die Spur zu kommen, geht man am besten in den Wald. Denn dort sind die Bedingungen für sein Wachstum ideal. Das tut auch Phil Ross, als er in den Achtzigerjahren während seiner Studentenzeit in einer veganen Restaurantküche in New York jobbt und 3000 Mahlzeiten pro Tag zubereitet. Der Küchenchef zeigt ihm, welche Pilze essbar sind und wie man sie erntet. Manchmal bleibt Phil alleine zwischen den Bäumen stehen Surprise 418/18


Ein Ziegelstein aus Mycelium kann sogar Metall zerquetschen. Im Gegensatz zu Zement zerbricht das Material weniger schnell und ist sogar schwimmfähig. End- und Ausgangsstoff: Phil Ross zeigt Pilz-Ziegelstein und Pilz.

und betrachtet den Fungus: Er berührt, riecht, schneidet ihn auf, probiert und kehrt nach ein paar Wochen zurück, um zu sehen, was sich verändert hat. Er registriert, wie sich Pilze von Bäumen ernähren und dabei ein dichtes Netz von Fasern bilden. Getrieben von der Neugier, der Spezies auf die Schliche zu kommen, beginnt er ein paar Jahre später an seinem neuen Wohnort San Francisco, die Wachstumsbedingungen von Pilzen exakt zu dokumentieren. Ihn interessiert vor allem das Mycelium (oder Myzel), also der Verdauungskörper des Pilzes. Zur gleichen Zeit ist ein paar hundert Kilometer weiter nördlich im Bundesstaat Oregon auch der 62-jährige Paul Stamets damit beschäftigt, das Potenzial von Pilzen zu erforschen. In seinem Buch «Mycelium Running – How Mushrooms Can Help Save the World», auf Deutsch «Wie Pilze helfen können, die Welt zu retten», schreibt er 2005: «Der Pilz ist der Verbindungsorganismus zwischen Leben und Tod. Er ist die Schlüsselspezies, die dafür sorgt, dass sich die Erdschichten eindicken und dadurch künftige Generationen von Pflanzen und Tieren nähren helfen. Ohne Fungus würde unser ganzes Ökosystem zusammenbrechen.» Mit anderen Worten: Der Pilz ist genauso wichtig für das Leben auf der Erde wie Luft oder Wasser. Gemäss Stamets befindet sich das Mycelium in konstanter Bewegung und kann täglich mehrere Zentimeter weit reisen. Unter unseren Füssen befindet sich quasi ein unsichtbares Netzwerk von Pilzen. Surprise 418/18

Im Labor spriesst der Baustoff der Zukunft.

Die Pilzkulturen benötigen Pflege und sterile Bedingungen.

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Phil Ross hatte sich inzwischen an der Gran View Avenue eingerichtet, ohne zu wissen, ob das, was er machte, irgendwann Früchte trägt. «Es braucht schon eine spezielle Persönlichkeit, um das alles so durchzuziehen», sagt eine seiner Mitarbeiterinnen. Denn Ross verbringt ganze Nächte im Internet, vergleicht seine Ergebnisse mit jenen von anderen Forschern und sucht nach allen möglichen Nahrungsmitteln, um seine Pilze zu füttern: Zucker, Stroh, Hobelspäne, Energydrinks und selbst Katzenfutter stehen auf dem Menuplan. Entscheidend ist eine ausgewogene Ernährung mit genügend Kalzium, Proteinen und Vitaminen. Für Ross sollte sich bestätigen, was er vor 30 Jahren in den Wäldern an der Ostküste festgestellt hatte: Mycelium webt ein resistentes Netz und ist – das war neu für ihn – härter als Zement. Ein Backziegel aus Mycelium kann sogar Metall zerquetschen. Und im Gegensatz zu Zement zerbricht das Pilzmaterial weniger schnell und ist sogar schwimmfähig. Pilze kommen in den Ofen Sein spezielles Labor betritt Ross nur mit Mundschutz, Overall und Crocs, die er vorher desinfiziert, um das Wachstum nicht zu beeinträchtigen. «Hier könnte man problemlos eine Operation am offenen Herzen durchführen», sagt er und deutet auf den Raum hinter dem Plastikvorhang. Ventilatoren und eine Heizung sorgen beständig für das gewünschte Klima. Gerne würde man sich das Labor aus der Nähe ansehen, doch Ross möchte nicht. «Wir befinden uns in einer Übergangsphase», erklärt er, ohne genauer darauf einzugehen. Was der Erfinder dagegen preisgibt, sind die Pilzsorten, die er für seine Forschung verwendet, allen voran den Glänzenden Lackporling. Geeignet seien aber auch der Austernpilz oder der Zitronenseitling: Mycelium produzieren sie alle. Um dem Produkt die gewünschte Form zu geben, füllt er die Pilzsporen in einen entsprechenden Behälter – zum Beispiel in eine Backziegelform – und lässt das Mycelium dann drei bis sieben Tage lang fressen. Für die einwöchige Trocknung wird das Material aus der Form geklopft und dann zum Backen in den Ofen geschoben. Dadurch werden die Sporen abgetötet und ein weiteres Wachstum des Pilzes unterbunden. Ganz ohne zusätzliche Energie kommt also auch der Baustoff Pilz nicht aus. Autohersteller Ford will Plastik ersetzen Ross baut in den Nullerjahren Stühle, Sessel, Schiffsbojen und Kinderbauklötze aus Mycelium und präsentiert an der Messe Eat Art 2009 in Düsseldorf ein rund anderthalb Meter hohes Konstrukt aus Mycelium-Backziegeln. Am Ende der Ausstellung wird der Pilz aufgekocht und den Besuchern als Tee serviert. In Europa schmunzelt man damals über den Gag aus Übersee. Ähnlich ergeht es Ross auch mit seinen Ingenieurskollegen an der Stanford University, wo er einen Gastlehrstuhl in Biotechnologie innehat. Sie lachen über die Prognosen des Fungus-Freaks, dass Pilze das Industriematerial der Zukunft sein könnten. Ross lässt sich nicht beirren, patentiert seine Idee 2012 – und kommt heute, sechs Jahre später, kaum dazu, alle Bewerbungen bei Mycoworks zu beantworten. «Wir sagen das Gleiche wie vor ein paar Jahren», stellt Ross fest. «Nur mit dem Unterschied, dass man uns heute zuhört.» Während Phil Ross und Paul Stamets bereits vor Jahrzehnten auf den Pilz gekommen sind, dringt der Fungus langsam auch ins Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten. In den USA schreiben Studenten ihre Abschlussarbeiten über Pilze als Baumaterial, 14

«Viele bringen Pilze mit etwas Gruseligem in Verbindung, das sie sich nicht als Möbel oder Hauswand vorstellen können.» PHIL ROSS

auf den Strassenmärkten boomt der Verkauf aller möglicher Pilzsorten, und in New York hat sich mit Ecovative eine Firma etabliert, die kompostierbares Verpackungsmaterial produziert – aus Pilzen, versteht sich. Sie hat mittlerweile nicht nur Möbel, Lampen, Wanddekorationen und Surfboards aus Mycelium entwickelt, sondern arbeitet auch an Schuhsohlen und Yogamatten. Ausserdem prüft Autohersteller Ford Motors die Möglichkeit, Plastik, Styropor und Leder in seinen Fahrzeugen künftig durch Pilze zu ersetzen. Mycelium ist noch nicht konkurrenzfähig Das Team um Phil Ross wird seine Untergrundstation an der Gran View Avenue bald verlassen und Richtung Zentrum ziehen. Ross rechnet damit, dass sich in den nächsten fünf Jahren die Zahl seiner Mitarbeiter jährlich verdoppeln wird. Und selbst dann, sagt er, wird Mycoworks nicht fähig sein, die grosse Nachfrage zu bewältigen. Im Vergleich zu anderen Industriematerialien ist Mycelium allerdings noch nicht konkurrenzfähig. «Viele bringen Pilze mit etwas Gruseligem in Verbindung, das sie sich nicht als Möbel oder Hauswand vorstellen können», sagt Ross. Und solange Erdöl und damit die Produktion von Plastik derart billig sei, könne der Pilz auch finanziell nicht mithalten. Allerdings sei Mycelium im Gegensatz zu Erdöl, dessen Entstehung Hunderttausende von Jahren dauerte, wesentlich nachhaltiger. Es brauche nur ein paar Wochen Wachstum, könne fast überall auf der Welt hergestellt werden und benötige deshalb kaum Transport, erklärt Ross. «Ausserdem ernährt sich der Pilz von Agrarabfällen und integriert sich damit perfekt in den Kreislauf der Natur.» Ähnliches gilt für den Vergleich mit der Lederproduktion, also jenem Industriezweig, der bisher das grösste Interesse am neuen Material gezeigt hat. Bis Tierleder zur Verarbeitung bereit ist, braucht es nicht nur Zeit (mindestens zwei Jahre), sondern auch Ressourcen wie Wasser und Tierfutter. Hinzu kommen die giftigen Chemikalien zur Gerbung des Leders – alles Dinge, die beim «Mycelium-Leder» entfallen. Als eine der ersten Firmen in Europa hat die italienische Grado Zero Espace Schuhe, Armbänder und Handtaschen aus Pilzen auf den Markt gebracht. Und selbst wenn es noch Jahre dauert, bis die Spezies Pilz und ihr Potenzial genauer erforscht ist und ihr Nutzen tatsächlich akzeptiert wird: Der Nachfolger von Erdöl existiert. Genauso wie Phil Ross und sein Team. «Wir folgen einfach weiterhin dem, was uns der Pilz vorschlägt», sagt Ross. «Denn letztlich war er es, der mir den Weg gewiesen hat.» Surprise 418/18


Auch die ETH baut mit Pilzen

FOTOS: JJ CASAS/845A.COM (1–2), CARLINA TETERIS(3–6)

Bauteile aus Pilz und Bambus für den Pilz-Baum.

Der Myco-Tree, die erste lasttragende Pilz-Konstruktion der Welt.

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Bakterien, Bambus oder Pilze: Auch Forscher des Karlsruher Institute of Technology (KIT) arbeiten zusammen mit der ETH Zürich daran, nachwachsende Materialien auf ihre Baufähigkeit zu untersuchen. «Wir können im 21. Jahrhundert nicht so weiterbauen, wie wir es bis anhin getan haben», sagt Architekt Felix Heisel von der Forschungsgruppe. «Es braucht einen Paradigmenwechsel in der Bauindustrie.» Schliesslich seien herkömmliche Baumaterialien wie Metall oder Sand immer weniger verfügbar. Doch nicht nur das: Der Abbau von Mineralien wie Kupfer, Silber oder Zinn sowie die Zementproduktion schleudern Unmengen von CO2 in die Atmosphäre. Anders der Energieaufwand bei Pilzen: Sie ernähren sich vom Abfall der Holz- und Agrarindustrie, und dies komplett ohne Lärmemissionen. «Pilze sind eine Alternative, um von der Wegwerf- hin zur Kreislaufgesellschaft zu kommen», sagt Heisel. Nebst Architekten arbeiten im Team um die Architekturprofessoren Dirk E. Hebel und Philippe Block auch Bau- und Bioingenieure, Material- und Energiewissenschaftlerinnen sowie Holztechniker. Der Pilz-Baum von Seoul Diese haben während mehrerer Monate die erste lasttragende Pilz-Konstruktion gebaut, den sogenannten Myco-Tree. Der Pilz-Baum, der letztes Jahr an der Architektur-Biennale im südkoreanischen Seoul ausgestellt wurde, besteht aus Dutzenden von Pilz-Elementen, die via Bambusplatten miteinander gekoppelt sind. «Pilze sind ein leichtes Baumaterial», erklärt Heisel. «Und da die Zug- und Biegefähigkeit reduziert ist, spielt die geometrische Form eine entscheidende Rolle.» Diese wurde von der Block Research Group (BRG) der ETH mittels dreidimensionaler grafischer Statik entworfen: ein Novum in der Architektur. 15


Der Mann mit dem Haus im Kopf Obdachlosigkeit Jahrelang dokumentierte die Schweizer Fotografin Gaby Steiner das Leben des

Architekten Jerzy Sulek. Mitten in New York lebte er auf einem GrundstĂźck ohne Haus. TEXT BEAT CAMENZIND

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FOTOS GABY STEINER

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Gab seinen Traum vom eigenen Haus nie auf: Der Architekt und Wohnungslose Jerzy Sulek.

Gaby Steiner, wie haben Sie Jerzy Sulek kennengelernt? Ich wohnte in Brooklyn. Mit dem Fotoapparat machte ich Streifzüge durch die Quartiere. In Greenpoint fiel mir Suleks Grundstück auf. Es war mit Möbeln und Hausrat übersät. Ich fotografierte vom Trottoir aus durch den Maschendrahtzaun. Auf einmal stürzte Sulek wütend aus dem Schrottauto, das dort stand. Ich hatte ihn übersehen und entschuldigte mich. Mein Interesse war geweckt, und ich besuchte ihn öfters. Später gab er mir die Erlaubnis zu fotografieren. Er fand das nun interessant, und ich durfte auch Bilder von ihm machen. Als Entschädigung lud ich ihn zum Essen ein. Polnisch. In Greenpoint leben viele polnische Einwanderer.

Der Architekt Jerzy Sulek war in den Siebzigerjahren von Warschau nach New York gezogen. Dort machte er Karriere. Doch dann verlor er den Job, und ihm blieb nur sein Haus an der Franklin Street 59 in Brooklyn. Geld für Reparaturarbeiten hatte er keines mehr. Das Haus wurde so baufällig, dass die Stadt New York es vor 16 Jahren abreissen liess. Sulek aber blieb. Fortan lebte er im Auto auf seinem Grundstück, einsehbar für jedermann. Nur nachts hatte er etwas Privatsphäre und im SomSurprise 418/18

mer, wenn die Büsche sprossen. Freunde hatte er kaum. Er war öffentlich ausgestellt und sozial isoliert. Inzwischen hat der über 70-Jährige ein Zimmer in einem Obdachlosenheim in Manhattan. Dort schläft er, die Tage aber verbringt er weiterhin auf seinem Grundstück. Die Schweizer Künstlerin Gaby Steiner hat von 2009 bis 2014 Suleks Leben fotografisch dokumentiert. 2015 erschien ihr Buch «Public Home» im Kerber-Verlag. Surprise hat mit ihr gesprochen.

Wie sah Suleks Alltag aus? Er hatte einen geregelten Tagesablauf mit vielen Freiheiten. Das Frühstück erhielt er von einer polnischen oder einer afroamerikanischen Nachbarin. Wenn es nicht regnete oder schneite, ass er draussen. Zweimal pro Woche ging er ins öffentliche Hallenbad schwimmen und duschen. Am Mittag ass er in der Obdachlosenküche und schaute fern. Politisch war er immer bestens informiert. Sulek las, schrieb und zeichnete viel. Was las er? Literatur, Zeitungen, was ihm in die Finger kam. 17


Was schrieb er? Er zeichnete auf, was in seinen Tagen geschah. Er schrieb auf Blätter, die er gefunden hatte und die schon bedruckt waren. Was sich auf dem Trottoir abspielte, wer vorbeischaute. Auch über mich. Nicht mit Namen, nur: «She came at two o’clock, sie kam um zwei Uhr.» Er schrieb auf, wann die Sonne aufging, wann sie unterging, wie viele Stunden sie schien. Ein Protokoll des Tages. Und was zeichnete er? Architekturpläne von einem Haus auf seinem Grundstück. Sulek wuchs in einer wohlhabenden Gegend in Warschau auf, studierte an der Technischen Universität Architektur und kam nach New York. Hier schaffte er es vom Tellerwäscher zum Architekten und Dozenten. Nach dem Verlust des Jobs arbeitete er als Gebrauchtwarenhändler. Seine langjährige Freundin verliess ihn. Und die Stadt befahl den Abriss seines Hauses. Ihm blieb nur sein Traum: ein neues Haus nach seinen eigenen Plänen zu erstellen. Daran zeichnete er. Er sagte mir: «Mein Leben ist abstrakt, nicht real. Ich baue mein Haus in meiner Fantasie und auf den Plänen.»

Sulek lebte in seinem Auto? Er schlief darin. Wenn es regnete, las, schrieb, ass oder zeichnete er im Auto.

nig Geld und konnte die Grundstücksteuer bezahlen. Das Laub brachte er auf sein Grundstück, um den Boden zu isolieren.

Auch im Winter? Ja, mit Decken und mehreren Schlafsäcken. Für mich ist es ein Rätsel, wie er bei dieser Kälte schlafen konnte. Im Winter trug er immer mehrere Schichten. Unter den Jeans noch Trainerhosen. Und in den Schuhen Plastiksäcke zur Isolation. Er war selten krank. Aber er sah und hörte nicht mehr gut. Sein Körper war abgehärtet und athletisch. Früher lief er mit seiner damaligen Freundin Marathon. Später schwamm er, machte Kraftübungen, fuhr Velo. Und das mit über 70 Jahren. Sein genaues Alter hat er mir nie verraten.

Hat Sulek den Zaun um sein Grundstück gestellt? Den hat die Stadt montiert. Es wirkte wie ein Tierkäfig.

Wie sah es mit der Infrastruktur auf seinem Grundstück aus, hatte er Strom oder Wasser? Er hatte keinen Gas-, Wasser- oder Stromanschluss. Er konnte einen Wasserkocher im Hauseingang der Nachbarn benutzen. Wasser lagerte er in Kanistern. Für einige Nachbarn wischte er im Herbst Laub und entsorgte Müll. Damit verdiente er ein we-

Haben Sie Jerzy Sulek als gut organisiert erlebt? Er hatte seine eigene Ordnung auf dem Grundstück. Er schleppte viele Sachen an, die er fand. Vieles bekam er auch geschenkt. Da lagen Bilder, Nordic-Walking-Stöcke, Skischuhe herum. Manchmal dachte ich, er sei ein Messie. Aber er hat immer wieder ausgemistet. Er kämpfte gegen die Feuch-

1 Dient auch als Sichtschutz: Jerzy Suleks Wäsche trocknet am Zaun. 2 Im Sommer bieten die Pflanzen ein wenig Privatsphäre. 3 «Er hatte auch immer viele Turnschuhe», so Fotografin Gaby Steiner.

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Gab es nie Eindringlinge? Nein, Sulek hatte ein Schloss an den Zaun gemacht. Den Schlüssel trug er immer um den Hals. Wenn er wegging, schloss er ab. Auch keine Tiere, Ratten etwa? Höchstens lästige Mücken im Sommer. Ratten gab es keine, Sulek hatte einige Katzen.

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tigkeit. Die vielen Kleider, die er geschenkt bekam, lagerte er in einem Truck. Er hatte auch immer viele Turnschuhe. Und mehrere Velos. Er wirkte gut organisiert. Gleichzeitig gab es Dinge auf dem Grundstück, die von Pflanzen überwuchert waren. Was unterschied Jerzy Sulek von anderen Wohnungslosen? Er ist sicher kein klassischer Obdachloser. Er rauchte nicht, trank wenig. Ich habe ein Film-Porträt über zwei New Yorker Obdachlose gedreht. Wenn ich denen etwas mitbringen wollte, verlangten sie nach Billigbier und Zigaretten. Jerzy hingegen wollte in Restaurants essen gehen. In solchen, in

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«Sulek hatte seine eigene Ordnung auf dem Grundstück.»

Kampf mit den Nachbarn «Ich versuche, sie zu stoppen. Ohne Erfolg», kommentiert Jerzy Sulek die Pläne einiger Ansässiger, das Nachbargrundstück an der Franklin Street 61 in einen Gemeinschaftsgarten zu verwandeln. «Es nervt mich, dass ich Steuern bezahlen muss für mein Land und andere dasselbe gratis erhalten. Es gibt genug öffentliche Plätze.» «Wir suchen das Gespräch mit ihm», sagt Ryan Watson, der ein Treffen zum Garten veranstaltete. «Er ist über unsere Pläne gar nicht erfreut. Das Grundstück war über Jahre verwaist. Aber wir lassen uns nicht aufhalten von ihm.» Watson will dort Gräser, Kräuter, Blumen und Gemüse anpflanzen. Immerhin erreichte Sulek im Gespräch mit den Initianten und Vertretern der Behörden, dass die Neu-Gärtner keine Tiere auf das Grundstück bringen dürfen. Sulek sorgt sich um seine Katzen. Er findet, jegliche öffentliche Nutzung des Grundstücks würde seine Eigentumsrechte beschneiden. Auszug aus der New Yorker Newswebsite dnainfo.com vom 7. März 2013

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«Er sass da und jeder, der vorbeiging, sah ihn. Das wäre den meisten unangenehm.»

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denen man den Wein mitbringen kann. Ich sollte auf keinen Fall die Restaurantpreise für Wein bezahlen. Und er wollte nie draussen sitzen. Er bestand auch darauf, mich an meinem Geburtstag einzuladen. Er hat sich nie komplett gehen lassen. Er hatte einen Anzug, den er zu speziellen Anlässen trug.

Hat Sulek Geschwister? Der jüngere Bruder lebt in Warschau, die jüngere Schwester in Kanada. Sie besuchte ihn einmal in New York und schenkte ihm eine Telefonkarte, damit er sie anrufen könne. Er sagte mir: «Was soll ich ihr erzählen? Dass ich immer noch im Auto wohne?»

Wie war sein Verhältnis zu den Nachbarn? Manche halfen ihm, anderen war er ein Dorn im Auge. Besonders einer Frau, die in einem Nachbarhaus lebt. Die redete kein Wort mit ihm. Im Winter montierte sie grelle Weihnachtsbeleuchtung. Nachts sah man den Gegensatz zweier Lebensstile. Bei ihr die kitschige Festbeleuchtung, bei ihm ein schwarzes Loch.

Worüber sprachen Sie mit ihm? Darüber, was er gerade gelesen oder im Fernsehen mitbekommen hatte. Manchmal redete er sich in Rage: über die Geschichte Polens, über Obama, Trump oder über Literatur.

Bekam er viel Besuch? Kaum. Manche Leute redeten mit ihm am Zaun. Vermutlich litt er auch darunter, dass er kaum soziale Kontakte hatte. Auch die beiden Frauen, die ihm Essen an den Zaun brachten, blieben jeweils nicht lange. Eine kurze Zeit lang erhielt er von einer jungen Frau Besuch.

Was hat er zu Ihrem Buch gesagt? Er hat sich riesig gefreut. Er wollte, dass ich ihn weiterhin fotografiere. Er hatte auch Freude, mit Pedro Gadanho zu sprechen. Der frühere Kurator der Architekturabteilung des Museum of Modern Art MoMA hat einen Begleittext für das Buch geschrieben. Hat Sulek je erzählt, wie es so weit kam? Keine Details. Irgendwann muss etwas vorgefallen sein, es gingen Klagen ein. Sein

Leben fiel langsam auseinander. Irgendwann verschwand die Freundin. Und er fand keine Stelle mehr. Wann und warum wurde das Haus abgerissen? 1981 hatte er das Haus gekauft und wollte es renovieren. 1998 wurde es abgerissen, es war schief. 16 Jahre lang lebte er ohne Haus. In dieser Zeit sind die Preise für Grundstücke gestiegen. Sulek wollte nie verkaufen. Hatte er sich mit seinem Schicksal arrangiert? Ja. Er sass da und jeder, der vorbeiging, sah ihn. Das wäre den meisten unangenehm. Er war völlig ausgestellt. Das braucht Kraft. Er hätte Sichtblenden an den Zaun hängen können. Das tat er nicht. Vielleicht hatte er über die Jahre eine andere Wahrnehmung entwickelt. Ist das auch eine Form von Protest? Am Anfang sicher. Mit der Zeit wurde Gewohnheit daraus. Man kann Suleks Leben

Gaby Steiner

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4 Ausgestellt auch bei der Arbeit: Der Architekt mit seinen Plänen. 5 So könnte es einmal aussehen: Ein mit Notizen übersäter Bauplan vom Haus. 6 Laub nutzt Sulek zur Bodenisolation. Der Katze gefällt’s.

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Gaby Steiner (49) wuchs in Kriens auf, absolvierte in Zürich die Ausbildung zur Übersetzerin und lebte von 2005 bis 2015 in New York. Dort machte sie den Master in Neuen Medien an der New School. Steiner ist fasziniert von Menschen, die sich entscheiden, ausserhalb der gängigen Regeln zu leben. Sie sucht in ihren Arbeiten die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Cutterin und VideoEditorin für das Schweizer Fernsehen und andere Filmproduktionsfirmen. Derzeit wohnt sie in Berlin. Ihr Buch «Public Home», aus dem alle Fotos in diesem Artikel stammen, ist im Kerber Verlag, Bielefeld, erschienen. Es hat 104 Seiten und kostet rund 37 Franken. ISBN 978-3-7356-0074-5

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auch als neue Sicht auf die wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Aspekte einer Stadt sehen. Er widerstand den Bräuchen der Stadt. Was ist Greenpoint für ein Quartier? Es wohnten damals noch viele Polen da. Aber das Quartier kam in Mode. Das Grundstück nebenan war auch unbebaut. Der Eigentümer war verstorben und hatte keine Nachkommen, das Haus wurde abgerissen. Dort entstand dann der Gemeinschaftsgarten. Leute aus dem Quartier pflanzten ihr Gemüse an. Alles war ordentlich, die Pflanzen waren beschriftet. Doch die Leute hatten immer ein wenig Angst vor Sulek. Wie geht es Sulek heute? Seit einem Jahr wohnt er in einem Heim für Obdachlose. Das befindet sich im ehe-

maligen Prince-George-Hotel in Manhattan. Die Lobby ist pompös, jeder wird kontrolliert. Sulek bezieht seit Kurzem Sozialhilfe. Eine städtische Angestellte für Soziales schätzt, dass die Stadt 2000 Dollar im Monat für das Zimmer bezahlt. Es ist eng und hat eine Einbauküche. Ich verstehe nicht, wie man Obdachlose im reichen Manhattan unterbringen kann. Dort können sie sich nichts leisten. Haben Sie noch Kontakt zu ihm? Ich bin nach Berlin gezogen. Von da aus ist der Kontakt zu Sulek schwierig. Post und Telefon existieren für ihn nicht. In seinem Zimmer hätte er zwar ein Telefon, doch das nimmt er nie ab. Kontakt über seine Sozialarbeiterin ist nicht möglich. Sie schottet ihn ab. Er wollte, dass ich weiter Bilder von ihm mache. Im Obdachlosenheim durfte ich das aber nicht. Sie hat auch den Kontakt

zu Jakub Szczesny versanden lassen. Der polnische Architekt und Künstler wollte auf Suleks Grundstück ein Kunstwerk anfertigen. Er war in New York und wollte mit Sulek sprechen. Und Sulek war interessiert. Doch die beiden trafen sich nie. Die Sozialarbeiterin blockte ab. Sulek habe jetzt endlich ein warmes Bett und ein Zuhause. Das Projekt sei von null Interesse. Wie war Ihr letzter Besuch? Sulek hatte grosse Freude, als wir uns vor mehr als einem Jahr noch einmal wiedertrafen. Ich sollte ihn in Greenpoint besuchen kommen. Er fuhr immer noch fast jeden Tag mit dem Velo eine Stunde von Manhattan zu seinem Grundstück. In seinem Zimmer im Obdachlosenheim war alles provisorisch. Das Bett war nicht bezogen, das Plastik immer noch um die Matratze. Er lebte wie auf Durchreise.

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Kanister fürs Trinkwasser: Fliessend Wasser hat Sulek nicht. Das Auto dient als Lager und Rückzugsort. Fitness ist Sulek ein Anliegen. Früher lief er Marathon. Sulek hat ein Schloss am Zaun montiert: Wenn er geht, schliesst er ab.

Still waiting for Godot TEXT PEDRO GADANHO

[...] Jerzy hatte kein Geld, um ein neues Haus zu bauen. Also lebte er fortan auf seinem Grundstück ohne Haus. Er bezahlte die Grundstücksteuern. Und träumte vom Bau eines neuen Hauses. Das Grundstück zu verkaufen, kam für ihn nicht infrage. Sein Leben dort könnte man als Überlebenskunst anschauen. Da er in der Öffentlichkeit lebte, hatte das etwas von einer Performance. Er sah das ganz anders. Jerzy hatte seinen Traum. Er ist besorgt um sein Projekt und hinterfragt seine Arbeit als Architekt. Er selber hatte bemerkt, dass er sein Projekt mit seiner Sturheit begraben hatte. Potenzielle Investoren hatte er vergrault. Sein Traum stand quer zum amerikanischen Traum. Doch Jerzy ist nicht obdachlos. Für sein Hab und Gut hat er einen Masterplan, wie er es schützt. Ein alter Truck dient als Schrank. Ein Auto dient als Schlafplatz. Jerzy wohnt in zwei Gebäuden. Eines ist öffentlich einsehbar. Das andere steckt in seinem Kopf und wartet darauf, gebaut zu werden. [...] Auszug aus einem Text des renommierten Kurators und Architekten Pedro Gadanho in «Public Home».

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FOTOS: ZVG

Wo das Wissen zuhause ist Bibliotheksfilm Die New York Public Library wird in Frederick Wisemans

neustem Dokumentarfilm zu einer Ikone der Demokratie. TEXT MONIKA BETTSCHEN

Wissen ist Macht. Nur wer Zugang hat, kann daran teilhaben und sich eine Meinung bilden. Und von dieser Macht sollen in der New York Public Library, einer der grössten Bibliotheken der Welt, möglichst viele profitieren können. Auch sehbehinderte Menschen. So sehen wir in Frederick Wisemans «Ex Libris – The New York Public Library», wie im bibliothekseigenen Tonstudio gerade eine Hörbuchaufnahme läuft. Ein Sprecher liest eine Geschichte von Nabokov, ab und zu unterbricht ihn eine Mitarbeiterin mit der Bitte, eine Stelle zu wiederholen. In der renommierten New Yorker Bibliothek nimmt man sämtliche im Wandel begriffenen Ansprüche an eine solche Institution sehr ernst. Die Bibliothek wächst und verändert sich mit den Menschen, denen sie dient, und ist damit ein Spiegel der Gesellschaft. Neben der klassischen Bücherausleihe stehen viele Werke auch online zur Verfügung. Wer zuhause keinen Internetzugang hat, kann sich für einen begrenzten Zeitraum ein Modem ausleihen. Darüber hinaus gibt es Kurse vom Grenzschutz oder von der Feuerwehr und Weiterbildungsmöglichkeiten für Kinder und Erwachsene. Über die Telefon-Hotline erklären geduldige Mitarbeiter, dass die Gutenberg-Bibel gerade nicht verfügbar oder dass ein Einhorn kein reales Wesen sei. Der Dokumentarfilm «Ex Libris – The New York Public Library» des amerikanischen Filmemachers Frederick Wiseman erfasst während einer Laufzeit von gut drei Stunden die Bibliothek mit ihren Zweigstellen als einen gewaltigen Organismus, in dem neu erworbenes Wissen laufend angewendet wird und alles und jeder seinen Platz und seine Funktion hat. Über ein Jahr lang hat der 24

88-jährige Altmeister gedreht. Er nimmt den Zuschauer mit an Sitzungen des Vorstands, an öffentliche Vorträge, Lesungen und Konzerte und zeigt, dass moderne Bibliotheken lebendige Orte sind, wo die unterschiedlichsten Menschen jeden Alters und jeder Herkunft zusammenkommen können. Ohne Interviews oder Kommentare richtet er die Kamera auf in Laptops oder Bücher versunkene Besucherinnen und konzentrierte Mitarbeiter, wobei bald ein ruhiger Rhythmus fühlbar wird, dem man sich bis zur letzten Minute nicht mehr entziehen kann. «Wir müssen immer beweisen, dass wir relevant sind», sagt ein Mann während einer Besprechung. Indem Wiseman solchen Aussagen Raum gibt und die enorme Vielfalt an Menschen friedlich vereint an diesem Hort des Wissens zeigt, offenbart er, dass Bibliotheken wichtige Stützen der Demokratie und der Meinungsfreiheit sind. Der Pionier des Direct Cinema, der über 40 Filme – vorwiegend Porträts von Institutionen – gedreht hat und 2016 den Ehren-Oscar erhielt, trifft mit «Ex Libris – The New York Public Library» in den politisch turbulenten Zeiten seiner Heimat und darüber hinaus einen ganz unaufgeregten, aber lebenswichtigen Nerv der Zeit.

Frederick Wiseman: «Ex Libris – The New York Public Library», USA 2017, 197 Min. Der Film läuft ab 15. Februar im Kino.

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Kacke, Kippe und Kadaver Zeitschrift Zalp, die Zeitschrift der Älplerinnen

und Älpler, widmet sich den kontroversen Endprodukten Mist und Müll.

FOTO: ZVG

Was unterscheidet Mensch und Tier? Diese Frage ist so alt, wie die Liste der möglichen Antworten lang ist. Auch die aktuelle Zalp Nr. 28 fragt danach – und bringt es so knapp wie einleuchtend auf den Punkt: «Das Tier produziert nur Mist, niemals Müll. Wir Menschen aber produzieren beides.» Ein Gegensatz, der kaum grösser – und aktueller – sein könnte. Denn Müll, so Zalp, verbraucht Energie, Mist dagegen liefert sie. Müll ist meist nur Abfall und führt in eine Sackgasse, während Mist, richtig verwendet, Teil eines natürlichen Kreislaufs wird. Dies ist eine Problematik, die weit über die Alp hinausgeht. Aber die Alp als nur scheinbare Idylle, in der die Moderne längst Spuren hinterlässt, eignet sich als Welt im Kleinen, in der das Thema exemplarisch vor Augen geführt werden kann. Und so rückt Zalp, die Zeitschrift der Älplerinnen und Älpler, es unter dem Titel «Güsel und Gagel» (Müll und Mist) in den Fokus und spannt den Bogen von Kacke über Kippe bis Kadaver – wobei auch der eine oder andere Sündenfall auf der Alp selbst nicht unter die Wiese (Pardon: Matte!) gekehrt wird. Sachliches und Informatives findet sich in fachspezifischen Artikeln zu Düngung und Nährstoffkreislauf der Alpweiden oder zu Euterhygiene und zum schwierigen Wohin mit Milch, die mit Antibiotika belastet ist. Letztere ist eine geradezu kafkaeske Story vom Irrweg durch

die Ämter, deren Ratschläge vor allem von Hilflosigkeit zeugen. Nicht zu kurz kommen auch die Schattenseiten der Alp, wenn (Ex-)Älplerinnen und Älpler erzählen, wie viel Mist sie dort erlebt haben. Und eine kleine Auswahl zur Bestimmung von Tierkot lädt dazu ein, auf Wanderungen nicht achtlos am Formenreichtum der dunklen Köttel vorbeizustiefeln. Auch wenn sich manche der Artikel eher an Eingeweihte richten, besonders das eigentliche Info-Magazin für Älpler, das einen Hauptteil von Zalp ausmacht, vermittelt das Heft doch einen spannenden Blick hinter die Postkartenidylle Alp, der die Lektüre lohnend macht. Dazu tragen auch die eingestreuten literarischen Texte bei, die sich etwa kabarettistisch der Beseitigung von Zigarettenkippen und Metallteilen (Kühe mit Magneten statt Glocken um dem Hals!) oder poetisch der Entsorgung von Kadavern widmen. Und das doppelseitige Bild in der Heftmitte – eine grazile, aus Kuhfladen gestaltete Schar selbstbewusster Kühe – ist schlicht der Hammer! Wen nun die Neugier gepackt hat, dem sei zu guter Letzt noch die Website www.zalp.ch empfohlen. Dort kann man nicht nur in den Heften der einmal jährlich erscheinenden Zeitschrift blättern, sondern den Horizont rings um die Alp noch zusätzlich erweitern.

Innere Obdachlosigkeit Die Wahrsagerin greift nach meiner rechten Hand. Ich sitze im Wohnzimmer einer vietnamesischen Familie. Im Norden Vietnams, woher sie stammt, sind Wahrsager jene professionellen Organe, die einem in schwierigen Lebenssituationen helfen, ähnlich wie bei uns die Psychiater. Die Frau hebt den Blick, ihr Lächeln löst sich auf und sie beginnt in der mir unverständlichen Sprache zu reden. Der Übersetzer sagt: «Du bist Einzelgänger, arbeitest alleine, lebst alleine. Du hast kaum Menschen um dich herum, kaum familiäre und freundschaftliche Unterstützung.» Ich bin wirklich kein geselliges Wesen, ziehe gerne mein Ding alleine durch. Bin stets auf der Reise, innerlich obdachlos – als gäbe es in meiner Vorstellung kein Zuhause, keine Sesshaftigkeit. Wie ein wildes Tier, das nicht gezähmt werden will, ängstlich, eingefangen zu werden, weshalb es nie zur Ruhe kommt; das stets wachsam ist und aggressiv reagiert, wenn jemand oder etwas nach ihm greifen will. Wahrscheinlich resultiert das Bedürfnis, unfassbar zu sein, aus meiner Jugend, aus einer Gefangenschaft, bis ich 21 war – ein Aufwachsen bei Eltern, die mich vor lauter Überbehütung nicht aus dem Haus liessen, weil ihnen in der Welt da draussen alles zu gefährlich schien. Verständlich, dass ich so etwas wie eine gemeinschaftliche Sesshaftigkeit nicht mehr aufbauen will, um nicht wieder fassbar und vereinnahmt zu werden. So bin ich auf der Flucht vor dem, was nicht mehr passieren darf: Zuneigung, Liebe und Verknüpfung, die mich abhängig macht und die Gefahr einer Gefangenschaft in sich trägt. Ich bin gekommen, um zu gehen – jeweils um eine Erfahrung reicher –, ein gesellschaftliches Leben wie in Hotels führend, an deren Rezeptionen mich täglich unverbindlich ein Fremder willkommen heisst. Während diese reflektierenden Gedanken durch meinen Kopf wirbeln, schaut mich die vietnamesische Wahrsagerin an. Sie redet weiter und ich höre der fremden Sprache zu, bis von Neuem übersetzt wird. Sie bittet mich, im kommenden Monat besonders auf den Verkehr zu achten. Als Letztes geht es um Geld; es tue ihr leid, mir das sagen zu müssen: Ich werde nie viel davon haben. Ich bedanke mich und gehe, um wieder die nötige Distanz zwischen mich und die Welt zu bringen, die der lonesome Cowboy so dringend braucht.

CHRISTOPHER ZIMMER

«Zalp 28/2017: Güsel und Gagel – Zeitschrift der Älplerinnen und Älpler», Zalpverlag 2017, CHF 9.–, alle Ausgaben auch online les- und bestellbar unter www.zalp.ch

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Randnotiz

FLORIAN BURKHARDT war Sportler, Model und Internetpionier. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert. Soeben ist sein zweiter autobiografischer Roman «Das Gewicht der Freiheit» im Wörterseh-Verlag erschienen.

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FOTO (1): OLIVER OETTLI, FOTO (2): HERBERT HOFFMANN/GALERIE GEBR. LEHMANN, DRESDEN, FOTO (3): PER KRISTIANSEN, FOTO (4): VITTORIO MOOH

Veranstaltungen Bern ensemble proton bern: protonwerk no. 7, Konzert, 12. Februar, 19.30 Uhr, Turbinensaal, Dampfzentrale Bern, Marzilistrasse 47. www.dampfzentrale.ch «Langes Rohr mit dicker Nase» nannte mal jemand das Lupophon, eine Bassoboe, entwickelt von den deutschen Instrumentenbauern Guntram Wolf und Benedikt Eppelsheim. Eingesetzt wird das seltene Stück in der zeitgenössischen Musik, beispielsweise gemeinsam mit dem vom selben Tüftlerduo entwickelten Kontraforte, einem extratiefen Blasinstrument der Sorte Fagott. Zu hören sind die beiden in einer Reihe von Uraufführungen des Protonwerks, einer Plattform für junge Komponisten und zeitgenössische Musik. WIN

Zürich «Das Wort», 8. Februar bis 27. Mai, Mi bis Fr 12 bis 18 Uhr, Do bis 24 Uhr, Sa und So 11 bis 17 Uhr, Strauhof, Augustinergasse 9, Zürich. www.strauhof.ch «Im Anfang war das Wort» wird oft und gern zitiert, aber ohne Inhalt bleibt das Bibelwort Plattitüde. Deshalb macht sich der Strauhof Zürich nun auf die Suche danach, was alles drinsteckt, im Wort. Beim

ANZEIGEN

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Reformator Zwingli fangen wir an, gehen von der Bibel weiter zur Dichtung und zur feinen Grenze zwischen Buch und Digitalität, zwischen Predigt und Performance. Und dann wäre da noch die Frage, wie sehr das Wort als Tat heute noch wirkt. DIF

Thun Jeppe Hein. Einatmen – innehalten – ausatmen, Ausstellung, 3. März bis 29. Juli, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Mi 10 bis 19 Uhr, Kunstmuseum Thun, Thunerhof. www.kunstmuseumthun.ch

St. Gallen Herbert Hoffmann – «Es juckt schon wieder unter dem Fell», Ausstellung bis 25. März, Di bis Fr 12 bis 18 Uhr, Sa und So 11 bis 17 Uhr, Kunst Halle Sankt Gallen, Davidstrasse 40. www.kunsthallesanktgallen.ch Herbert Hoffmann, 1919 im pommerschen Freienwalde geboren, war eine Kultfigur der TattooSzene und nicht nur in der Ostschweiz, sondern international angesehen. In den Sechzigerjahren führte er sein eigenes Tätowiergeschäft auf dem Hamburger Kiez. 1980 kam er nach Heiden/AR, wo er mit seinem Partner lebte. Als Fotokünstler hinterliess er wunderbare Porträts von Menschen, die er im Laufe der Jahre tätowiert hatte. Die Ausstellung in St. Gallen zeigt, wie konzeptuell er beim FoDIF tografieren vorging.

«Bleiben Sie bei mir», schrie die Hebamme jedes Mal, wenn die Gebärende inmitten der Wehen durch Hyperventilation in Ohnmacht zu fallen drohte. Dabei dachte diese, tief durchatmen helfe, den Schmerzen entgegenzuwirken. Hätte die Arme einen Geburtsvorbereitungskurs besucht, wäre sie wohl eines Besseren belehrt worden. Dazu hatte es das Kind aber zu eilig. Vielleicht hätte ihr aber auch der dänische Künstler Jeppe Hein weitergeholfen: Wer Thuner WIN Luft atmet, weiss dazu mehr.

Basel und Genf «Crossroads – Internationale Perspektiven auf Kultur, Kunst und Gesellschaft», 8. bis 10. Februar, jeweils 17 Uhr, Kaserne Basel, Junges Theater Basel, Jazzcampus Basel, 4057 Basel, und Festival Antigel, Carouge. www.kaserne-basel.ch www.prohelvetia.ch/de/ dossier/crossroads Welche Rolle in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen spielen Kunst und Kultur? Pro Helvetia und die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA zeigen mit «Crossroads» eine Plattform für diese Kernfrage – mit Konferenz und Kulturprogramm. Dieses bringt in Basel und Genf Kulturschaffende aus der Schweiz, aus Indien, dem arabischen Raum und dem südlichen Afrika zusammen und bietet während drei Tagen ein multidisziplinäres Programm. «Crossroads» wirft dabei einen Blick hinter die Kulissen der länderspezifischen Kulturproduktion und stellt die Frage nach weiteren möglichen Austauschformaten in der Kultur. DIF

Baden One of a Million, Musikfestival, 2. bis 10. Februar, über 50 Konzerte an verschiedenen Spielorten. www.ooam.ch

Was 2011 als zweitägiges MiniFestival begann, hat sich in den letzten Jahren zum achttägigen Anlass entwickelt, der immer mehr Musikbegeisterte mit Entdeckerlust nach Baden lockt. In einem intimen Rahmen können am «One of a Million»-Festival aufstrebende Künstler aus der ganzen Welt entdeckt werden. Und zwar an speziellen Orten und Spielstätten, zum Beispiel im ehemaligen Kino Royal, im historischen Hotel Blume in den Bädern oder im Veloladen Bike Zone. GG

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 3

Falsche Krokodile Was bisher geschah: Kriminalpolizistin Vera Brandstetter, 35, wird zu einer Wasserleiche gerufen, wo sie neben einer wortkargen Rechtsmedizinerin auf einen Dorfpolizisten trifft, der besser in eine Stripshow als an einen Tatort gepasst hätte. Vera Brandstetter hätte die Hand des Dorfpolizisten beinahe weggeschlagen. Er hielt sein Mobiltelefon in die Höhe. «Ich glaube, wir wissen, wer der Tote ist. Eine Frau hat ihren Mann als vermisst gemeldet, er ist gestern Abend nicht vom Joggen heimgekehrt. Sie wohnt drüben in Heitersberg.» «Das hat sie erst jetzt gemeldet?» «Nein, sie hat eben nochmal nachgefragt. Der erste Anruf kam gestern gegen halb elf Uhr nachts, er ist anscheinend untergegangen.» Oder ignoriert worden, dachte Brandstetter. «Der wird wohl in der Beiz sein oder bei der Geliebten. Kein Grund, ein Büro aufzumachen», werden sich die Kollegen in der Zentrale gedacht haben. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Der Polizei wurden ständig die Mittel zusammengestrichen, sie konnten nicht jedem Ehemann nachrennen, der den Heimweg nicht fand. Der Mann, der nicht heimgekommen war, hiess Reto Schwander, die Beschreibung der Kleider passte. Brandstetter liess sich die Adresse geben. «Das ist in der grossen Blocksiedlung, soll ich Sie hinfahren?», bot Fischer an. Sie schüttelte den Kopf. Glaubte er, dass sie zu Fuss unterwegs war? «Danke, ich habe ein Navi.» Sie verabschiedete sich und kehrte zu ihrem Auto zurück. Einen Moment überlegte sie, nach Hause zu fahren, um wenigstens trockene Schuhe anzuziehen, doch ihre Wohnung lag in der entgegengesetzten Richtung. Auf einen Kaffee wollte sie hingegen nicht verzichten, bevor sie der Ehefrau die schlechte Nachricht überbrachte. Sie hielt bei dem kleinen Einkaufszentrum: ein Grossverteiler mit Selbstbedienungsrestaurant, ein Schuhgeschäft, ein Coiffeur, eine Apotheke. Beim Schuhgeschäft gab es CrocsKopien für 9.90. Sie hatte sich eigentlich geschworen, niemals diese hässlichen Latschen zu tragen, aber besser als nasse Füsse waren sie allemal. Sie kaufte ein Paar, dazu weisse Sportsocken für 3.50. Sie ging in das Café und bestellte einen Cappuccino zum Mitnehmen. Beim Gehen steckte sie eine Gratiszeitung ein, mit Surprise 418/18

der sie im Auto die Turnschuhe ausstopfte. Sie zog die Socken und die Latschen an und fuhr zu der angegebenen Adresse. Der Kaffee schmeckte so trostlos wie das Einkaufszentrum, aus dem er stammte. Die Siedlung bestand aus vier Hochhäusern und acht dreistöckigen Blöcken, die Gebäude waren vor ein paar Jahren saniert und in Eigentumswohnungen umgewandelt worden. Sie parkte den Wagen und ging zu Fuss weiter, inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Sie fand das Namensschild «Schwander» und schellte. Der Summer ertönte, sie betrat das Haus und stieg durch das Treppenhaus in den sechsten Stock hinauf. Sie fuhr nicht gern Lift, und Treppensteigen war ein gutes Training. In der Stadt war sie zu Fuss in vier Minuten im Fitnesscenter gewesen und mehrmals die Woche hingegangen. Hier draussen war das nächste fünfzehn Autominuten entfernt. Die Atmosphäre hatte ihr nicht gepasst, sodass sie nach dem Probemonat nicht beigetreten war. Sie hatte es mit Joggen versucht, doch die Landschaft machte sie depressiv. Die Goretex-Turnschuhe stammten von diesem gescheiterten Versuch. Seit dem Umzug in die Agglo hatte ihre Form gelitten, sie würde bald wieder etwas Regelmässiges finden müssen, die körperliche Anstrengung fehlte ihr. Vor der Wohnungstür wartete eine grosse, perfekt geschminkte Frau mit blauen Augen und langen blonden Haaren. Sie trug eine weisse Seidenbluse, enge Jeans mit Löchern an den Knien, nicht weil sie hingefallen, sondern weil es Mode war. Lange Fingernägel, eine goldene Kette um den Hals, eine goldene Männeruhr, grosse, runde Ohrringe, an den Füssen Sandalen mit Glitzersteinen. Misstrauisch musterte sie Brandstetter, die gerade in ihrem Regenmantel, den Latschen und den mit Dreck verspritzten Jeans heftig atmend und leicht schwitzend aus der Tür vom Treppenhaus trat und ihr einen Polizeiausweis vors Gesicht hielt. «Frau Schwander, Sie haben angerufen, wegen Ihrem Mann?» «Haben Sie ihn gefunden?» Die Frau hatte einen osteuropäischen Akzent. «Vielleicht gehen wir besser hinein», schlug Brandstetter vor.

STEPHAN PÖRTNER schreibt neben Kriminalromanen auch Theaterstücke. Sein neustes Werk «Die Bank-Räuber», eine Zusammenarbeit mit Beat Schlatter, wird bis 25. Februar im Zürcher Theater am Hechtplatz gezeigt und geht anschliessend auf Schweizer Tournee. Bereits erschienene Folgen von «Agglo-Blues» kann man online nachlesen oder nachhören: Stephan Pörtner liest sie selbst vor. www.surprise.ngo/krimi

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Holzpunkt AG, Wila

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Praxis Colibri, Murten

03

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

04

SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich

05

AnyWeb AG, Zürich

06

Hervorragend AG, Bern

07

Probst Schliesstechnik AG, Bern

08

Hofstetter Holding AG, Bern

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Balcart AG, Therwil

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Echtzeit Verlag, Basel

11

Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

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Yoga Für Alle, Turgi

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Hedi Hauswirth, Psychiatrie-Spitex, Oetwil

14

Barth Real, Zürich

15

Claude Keller & Partner AG, Zürich

16

Netzpilot, Basel

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Apps with love AG, Bern

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FN Informatik GmbH, Steinhausen

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Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

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Erwachsenenbildung, Oberrieden

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PHS Public Health Services GmbH, Bern

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Philanthropische Gesellschaft Union Basel

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Toppharm Apotheke Paradeplatz, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor sieben Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise FOTO: TOBIAS SUTTER

Ausgabe 415

«Verantwortung übernehmen» Der Artikel «Besorgte Gutachter» ist hervorragend. Was mir fehlt: Welche IV-Stelle im Kanton Aargau betrifft diese Geschichte? Wer leitet diese IV-Stelle? Wie heisst der Gutachter? Wer hat den Rentenbescheid verfasst? Wer hat ihn unterschrieben? Nur wenn die Täter ein Gesicht kriegen, können sie sich nicht in der Anonymität verstecken und müssen die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Wenn nicht, bleibt der Artikel gut gemeint und folgenlos. K. BURRI, Basel

Werde gesund, lieber Urs! Aufgrund einer akuten schweren Erkrankung liegt unser dienstältester Verkäufer Urs Saurer derzeit in Basel im Spital. Das ganze Team von Surprise wünscht ihm auf diesem Wege alles Gute und eine schnelle Genesung. Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel

Ständige Mitarbeit

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo

Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel,

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02

«Lese ich gerne»

«Den Preis wert»

Das Magazin wird immer besser! Früher habe ich es eher gekauft zur Unterstützung der Verkäufer, doch jetzt lese ich es gerne, denn die Beiträge sind sehr interessant.

Mich beeindruckt die redaktionelle Leistung: Themenvielfalt, Lebensnähe, eigenständige Illustrationen, keine Tränendrüsen-Storys – aber unter die Haut gehend. Alleweil den Preis wert. Ich freue mich auf die nächsten Ausgaben.

S. GANTENBEIN, Zürich

J. BROGLI, Hendschiken

Ich möchte Surprise abonnieren

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad,

25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen

Fatima Moumouni, Stephan Pörtner,

Gönner-Abo für CHF 260.–

Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Geschenkabonnement für: Vorname, Name

Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Roger Blum, Ruben Hollinger, Isabel Mosimann,

Strasse

Romano Paganini, Gaby Steiner PLZ, Ort

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte

Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo

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FOTO: RUBEN HOLLINGER

Surprise-Porträt

«Den Platz will ich» «Ich habe im November bereits zum zweiten Mal mit dem Verkauf von Surprise angefangen. Das erste Mal begann ich vor mehr als drei Jahren, im Oktober 2014. Ich hatte meinen Standort vor dem Sälipark in Olten. Der Kontakt mit den Leuten und der geregelte Tagesablauf gefielen mir sehr, doch nach zwei Jahren gab es einen neuen Sälipark-Chef, und der hat mich wegjagt. Da war Schluss für mich. Mir hat es abgelöscht. Aber als mir Marlis, die langjährige Surprise-Verkäuferin im Bahnhof Olten, letzten Herbst sagte, dass sie aus gesundheitlichen Gründen aufhören würde, wusste ich: Den Platz will ich! Ich fuhr nach Bern und fragte, ob ich ihn übernehmen dürfe. Fredi vom Surprise-Vertriebsbüro sagte: ‹Dieter, wir haben gehofft, dass du dich zurückmeldest und Marlis' Platz übernimmst.› Das hat mich sehr gefreut. Nun verkaufe ich wieder täglich Surprise, Montag bis und mit Samstag, von 7 bis 9 Uhr. Mir gefällt dabei wiederum der Kontakt zu den Menschen, auch wenn es in der Bahnhofsunterführung anders ist als im Sälipark. Dort hatte es weniger Leute, dafür hatten sie mehr Zeit für ein Gespräch. Neu ist für mich auch, dass ich jetzt eine Art Informationsstelle bin. Oft werde ich nach dem Weg oder dem richtigen Gleis gefragt. Wenn ich es weiss, helfe ich gern weiter, sonst verweise ich einfach auf die Anzeigetafeln. Nach dem Verkauf mache ich mich meistens auf den Weg nach Oensingen und esse im ‹Mittelpunkt›, einem Treffpunkt für psychisch beeinträchtigte Menschen, zu Mittag. Manchmal, je nach Situation im Portemonnaie, bleibe ich aber in Olten und verkaufe über die Mittagszeit auch noch ein bis zwei Stunden Surprise. Danach gehe ich heim nach Winznau, wo ‹Bubeli› auf mich wartet. Den rot-weissen Kater habe ich letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen und würde ihn ehrlich gesagt nie mehr hergeben. Am Nachmittag begleite ich regelmässig meinen Nachbarn und seinen Hund auf Spaziergängen der Aare entlang. Es ist interessant: Wenn ich nicht da30

Dieter Plüss (51) verkauft nach einer längeren Pause wieder Surprise in Olten. Sein neuer Platz ist der vor kurzem freigewordene Standort im Bahnhof.

heim bin, begleitet der Kater den Nachbarn und den Hund meistens ein Stück weit, wenn ich dabei bin, bleibt er hingegen im Haus. In Winznau lebe ich jetzt schon seit 18 Jahren – so lange habe ich noch nie an einem Ort gelebt. Ich bin in Däniken zur Welt gekommen und im Appenzellerland und in St. Gallen aufgewachsen. Ich hatte keine einfache Kindheit. Mein Vater hat die Familie verlassen, als ich fünf war, neun Jahre später starb meine Mutter, und meine Geschwister und ich kamen ins Kinderheim. Als Erwachsener habe ich an zig Orten im Kanton Thurgau, in Zürich und Graubünden gelebt und auch gearbeitet – ich bin gelernter Automechaniker und Obstbauer. Seit einem Unfall habe ich Metallschienen und Schrauben im Bein und kann deshalb auf keinem dieser Berufe mehr arbeiten. Im überschaubaren Winznau, wo man sich auf der Strasse noch Grüezi sagt und wo ich so einen guten und freundschaftlichen Kontakt zu meinem Nachbarn habe, fühle ich mich daheim. Weg von zu Hause zieht es mich nur noch ferienhalber. Letztes Jahr war ich einmal in Italien, das war sehr schön. Meine Traumdestination ist und bleibt aber die Insel Bora Bora im Südpazifik, daraufhin spare ich.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden Surprise 418/18

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insp.ngo

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Celebrating

9000 vendors selling street papers, in 34 countries

#VendorWeek 5-11 February 2018

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