Strassenmagazin Nr. 420 2. bis 15. März 2018
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Unsozial SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg will die Sozialhilfe im Kanton Bern drastisch kürzen. Was bedeutet das für die Betroffenen? Seiten 8 und 14
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Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BERATUNG
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN Information
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Erlebnis
Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel
SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.
Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden 2
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TITELBILD: DANIELLE LINIGER
Editorial
Das ist Armenbekämpfung Nennen Sie mir einen vernünftigen Grund, der es rechtfertigen könnte, dass man bei den Ärmsten und Verletzlichsten spart. Ausser vielleicht den, dass diese sich am wenigsten wehren können. Aber das wäre ja zynisch. Es gibt keinen. Armut spornt nicht an – im Gegenteil. Es ist so schwer, sich daraus zu befreien, dass sie von einer Generation zur nächsten weitervererbt wird. Obwohl wir in einem der reichsten Länder der Welt leben, ist jeder Fünfte hierzulande nicht fähig, eine unerwartete Rechnung von 2500 Franken zu bezahlen. Jede elfte Person in der Schweiz kann sich keine einzige Woche Tapetenwechsel im Jahr leisten. Knapp 7 Prozent der Bevölkerung gelten als dauerhaft armutsgefährdet, 3,2 Prozent beziehen Sozialhilfe. Es sollte doch in diesem Land mit dem ungeheuren Wohlstand, von dem immer alle reden, möglich sein, allen ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Eines ohne Angst
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vor dem Absturz wegen einer Arztrechnung. Doch davon sind wir nicht nur meilenweit entfernt, wir bewegen uns sogar in die entgegengesetzte Richtung. Wir nehmen denen, die schon fast nichts haben, noch etwas weg. Das ist Armenbekämpfung. Denn Armutsbekämpfung, die versucht, etwas zum Positiven zu verändern, sieht anders aus. Ein Musterbeispiel für Armenbekämpfung liefert derzeit der Kanton Bern. Hier setzt die Regierung den Rotstift ausgerechnet bei der Sozialhilfe an. Und das, obwohl die derzeit ausgezahlten Leistungen schon jetzt die Richtlinien der SKOS unterlaufen, ab Seite 8. Pierre Alain Schnegg, Berner Sozialund Gesundheitsvorsteher, macht vor, wie man solche Massnahmen rational begründet und ihnen den Anschein des Unausweichlichen gibt. Im Interview ab Seite 14.
SAR A WINTER SAYILIR Redaktorin
18 Flucht
27 Fortsetzungsroman
Der PR-Profi
Der Arbeitsplatz
5 Vor Gericht
Koks in der Küche
28 SurPlus Positive Firmen
6 Moumouni …
... auf dem Rückflug
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
7 Die Sozialzahl
Bildung für alle 30 Surprise-Porträt 8 Sparmassnahmen
Weniger Sozialhilfe in Bern 14 Interview
Pierre Alain Schnegg
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«Singen macht mich glücklicher»
23 Film
Markus Imhoof und sein Eldorado 25 Randnotiz
Kontrollsüchtig
26 Veranstaltungen
LGBTQI in Südafrika
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Aufgelesen
FOTO: STUART SEMPLE
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Ungemütlich Der Stadtrat von Bournemouth wollte Obdachlose daran hindern, sich auf Bänke zu legen. Aus diesem Grund montierte er Metallstäbe auf diverse Sitzgelegenheiten in der südenglischen Küstenstadt. Das Vorgehen sorgte für Proteste in der Bevölkerung: 27 000 Menschen unterschrieben eine Petition gegen die Aktion des Stadtrats. Daraufhin liess dieser die Stäbe Anfang Februar entfernen.
THE BIG ISSUE, LONDON
Geliehen
Durchnässt
Die meisten Leiharbeiter in Deutschland gibt es in Bremen. Rund 18 000 Menschen oder 4,7 Prozent der Beschäftigten arbeiten auf diese Weise in dem nördlichen Stadtstaat. Förderlich ist diese unsichere Art der Anstellung nicht: Laut Gesundheitsreport der Barmer Krankenkasse sind Leiharbeiter um 30 Prozent häufiger aus psychischen Gründen krankgeschrieben und um 60 Prozent länger wegen psychischer Störungen im Spital als die Kollegen der Stammbelegschaft. Befristet Angestellten werden zudem um 20 Prozent häufiger Psychopharmaka verschrieben als dem Durchschnitt.
Aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise Brasiliens hat die Zahl der Obdachlosen in Rio de Janeiro extreme Höhen erreicht. Rund 14 000 Betroffene zählte die Verwaltung 2016, drei Jahre vorher waren es noch 5 500 gewesen. Weil die wohlhabenderen Stadtteile die Menschen ungern in ihren Vorgärten liegen sehen, werden an vielen Stellen automatische Bewässerungsanlagen installiert. Wer davon einmal nachts wachgeduscht wird, begibt sich vielleicht woanders zur Ruhe, so die Idee dahinter. Samuel Rodrigues Silva wurde einmal vom Wasserstrahl einer solchen Sprinkleranlage geweckt. «Ich war so wütend. Wir sind Menschen, keine Hunde», sagt Silva, 24. «Wir sind nicht freiwillig in dieser Situation.»
ASPHALT, HANNOVER
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DENVER VOICE, DENVER
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Unsicherer Strassenstrich
In Wien gibt es heute nur noch zwei Gebiete in Gewerbezonen, wo Sexarbeiterinnen auf dem Strassenstrich arbeiten dürfen. An beiden Orten existieren weder Toiletten noch Möglichkeiten, sich zurückzuziehen. Das bedeutet, dass die Frauen zu den Freiern ins Auto steigen und an einen abgelegenen Ort fahren müssen, was die Sicherheit der Sexarbeiterinnen gefährdet. Sie fordern nun Verrichtungsboxen wie in Zürich oder in Köln. Die Stadtregierung lehnt das ab: Mit Steuergeldern könne man nicht die Infrastruktur des Strassenstrichs finanzieren, so das Argument.
Vor Gericht
Koks in der Küche
AUGUSTIN, WIEN
Überdosis-Epidemie Die Opioid-Krise in Nordamerika hat auch British Columbia fest im Griff. In der kanadischen Provinz forderte die «Überdosis-Epidemie» letztes Jahr das Leben von gegen 1500 Menschen. 2007 waren in British Columbia noch 202 Drogentote gezählt worden. Die Krise bringt auch die Helfenden an den Anschlag. Bei einer Umfrage unter 21 Non-Profit-Organisationen in Vancouver berichteten alle von stark angestiegener Belastung und Burnouts unter den Mitarbeitenden.
MEGAPHONE, VANCOUVER
Container als Rettung
Ein Jahr lang lebte Rolf H. nach dem Tod seiner Frau auf der Strasse, weil er seine Miete nicht mehr bezahlen konnte. Nun wurde neben der Kirche im Hamburger Stadtteil Lokstedt ein Wohncontainer für den 67-Jährigen aufgestellt. Finanziert hat die temporäre Unterkunft eine private Initiative um den ehemaligen Obdachlosen Max Bryan.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
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«Da haben wir einmal», sagt der Richter, mehr an die Berufsschüler auf den Zuschauerrängen gewendet als zum Angeklagten, «einen intelligenten Menschen vor uns. Können Sie uns sagen, weshalb Sie harte Drogen konsumiert haben?» Das ist rasch erklärt. Seine ehemalige Freundin, die er nur «meine Ex» nennt, habe es ihm angeboten. Beim ersten Mal war es gut. Beim zweiten Mal war es noch besser. «Da war ich drin.» Kokain, Heroin und Pillen. «Ständig kam sie mit dem Zeug an», sagt er. Der Verteidiger lässt später noch seines Mandanten Vorgeschichte Revue passieren. Eine Aneinanderreihung von Pech und verpassten Chancen. Herr Luigi* habe seine Eltern nicht gekannt, er sei in Pflegefamilien aufgewachsen, als Achtjähriger aus Norditalien zum Onkel in die Schweiz gekommen, dessen Erwartungen er aber nicht erfüllte, worauf er wie ein Stafettenstab von Heim zu Heim weitergereicht wurde. Seinen Intelligenzquotienten bezeichneten Psychologen als «Hochschulniveau», es blieb dann bei der Lehre zum Koch, die er mit exzellenten Noten beendete. Er arbeitete in Zürcher Szene-Lokalen und internationalen Hotels, wo die Schickeria verkehrt und der Griff zu Drogen durchaus nicht aussergewöhnlich ist. Koks in der Küche – das ging so lange gut, bis er mehr Geld für den Konsum brauchte. Dieses beschaffte er sich durch Einbrüche. Dabei ging er besonders raffiniert vor, wie die Anklage festhält: Er brach nicht nur in die Nachbarswohnungen ein, sondern zertrümmerte
auch die eigene Balkontüre von aussen, um den Verdacht von sich abzulenken. Die Ex riet jedoch: Raub ist einfacher, schneller und risikoloser als Einbruch. Man braucht nur mit einem Küchenmesser rumzufuchteln, und schon rückt die Kioskverkäuferin das Geld raus. So geschah es auch im Sommer 2016. Dass Raub jede Strafe drastisch verschärft, daran dachte das Junkie-Pärchen nicht. Jetzt steht Luigi, 27, wie ein Bankangestellter im perfekt sitzenden Anzug vor dem Richter. Der fragt ihn nach seinem gegenwärtigen Drogenkonsum. Luigi sagt, er habe einen Vertrag mit sich selbst abgeschlossen: «No more drugs.» Von einer Therapie will er nichts wissen. «Ich mag es nicht, wenn wildfremde Leute in meiner Seele nach Sachen grübeln, die sie nichts angehen.» Er habe sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen. Sein Verteidiger kämpft für eine bedingte Strafe und stellt seinem Mandanten eine prächtige Sozialprognose. «Die beste Therapie wäre, wenn er sofort wieder in den Arbeitsprozess integriert würde, statt im Gefängnis unter Schwerkriminellen rumzuhängen.» Aber so pragmatisch sind die Richter nicht: Sie verurteilen Luigi zu 20 Monaten Freiheitsstrafe, nur die Hälfte davon bedingt. Besonders übel nehmen sie ihm, dass er den Raub unmittelbar nach seiner letzten Verurteilung wegen Diebstahls und Zuwiderhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz unternommen hatte. Der damalige Bedingte habe ihn in keiner Weise beeindruckt. «Möchten Sie noch etwas sagen?», fragt der Richter den jungen Mann. «Nein», sagt dieser, «ich wüsste nicht, was.» * persönliche Angaben geändert ISABELL A SEEMANN ist Gerichtsreporterin in Zürich.
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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
noch mehr schöne weisse Urlaubsorte anbieten könne. Er verweist auf den Strand in Mombasa. Ich denke an Sipo, den ich im Hotel kennengelernt habe. Er ist schwarz und kommt aus Johannesburg. Wir haben oft über das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weissen in Südafrika gesprochen. Am letzten Abend war er ein wenig aufgewühlt. Im Hotel hatte eine südafrikanische weisse Frau ihn gefragt, wo aus den USA er denn herkäme. Dass die Frau seinen südafrikanischen Akzent nicht erkannt hatte, läge daran, so Sipo, dass Weisse nichts über ihre schwarzen Mitbürger wüssten. So wenig, dass sie diese nicht einmal als Landsleute erkennen würden. Weisse wüssten nichts über die Kultur, die Sprachen und Lebensumstände der «Anderen». Die Anpassung, das Interesse und die Annäherung seien immer einseitig. Sipo hatte mir auch erzählt, dass es täglich frühmorgens in Kapstadt Stau gibt, wenn die Schwarzen aus den Townships in die Innenstadt fahren, um dort für die Weissen zu arbeiten. Das sei die einzige Bewegung zwischen Schwarz und Weiss, wenn man von den Township-Touren weisser Touris absehe.
Moumouni ...
… auf dem Rückflug «Afrika ist einfach magisch. Ja! Afrika ist einfach ein Kontinent mit Seele. Wissen Sie, was ich meine?» Ich sitze im Rückflug von Kapstadt nach Zürich, und neben mir sprüht eine ältere weisse Dame vor Begeisterung. Ich weiss nicht so genau, was sie meint. Und auch nicht, ob ich es erfahren möchte. Ich ertrage das Gespräch nicht so gut. Ich habe Kapstadt nicht als magisch, eher als unheimlich empfunden. Ich bin noch ein wenig schockiert darüber, wie sehr der Geist der Apartheid noch durch die Strassen spukt. Und angewidert davon, wie sich, jetzt, da in der Stadt Wasserknappheit herrscht, die Hierarchie zwischen Schwarz und Weiss noch deutlicher abzeichnet. Und von den Touristen, den vielen Touristen, die sich von all dem nicht behelligen lassen. Es gibt Hotels, die auf ihren Websites die kritische Wassersituation 6
leugnen und ihren Gästen versprechen, ihr Aufenthalt werde nicht von der Dürre beeinträchtigt. In manchen Townships dagegen wurde das Wasser schon abgedreht. Als meine Sitznachbarin unaufgefordert weitererzählt, stellt sich heraus, dass ihr magisches Afrika aus Safaris besteht. Kapstadt findet sie auch ganz toll. Das Afrika für Weisse also. Das in Katalogen immer mit «the true African experience» beworben wird. Wo man unglaublich viel Deutsch und Schweizerdeutsch hört. Ich denke an einen Laden in einer TouriStrasse, der laut Schaufensteranschrift «Custom Designed African Culture», also massgeschneiderte afrikanische Kultur verkauft. Ich weiss nicht genau, was es dort alles zu kaufen gibt. Ich stelle mir vor, wie meine Sitznachbarin hineingeht und den Verkäufer fragt, ob er ihr nicht
Meine Sitznachbarin reisst mich aus den Gedanken. Sie erzählt mir von einem Freund, der eine Farm im Landesinneren Südafrikas besitzt. Das könne sie sich auch gut vorstellen. «Das wäre richtig romantisch. Aber es ist ja inzwischen so unsicher geworden!» Ich frage nach, was sie meint, und sie erzählt mir, wie viele Zäune und wie viele Hunde ihr Freund hat. Jeweils zwei. Die Stewardess schiebt den Essenswagen vorbei. Den Rest des Fluges sprechen wir übers Essen, über Filme oder fliegen schweigend, halbschlafend nebeneinander her. Zurück. Nachdem wir Afrika gesehen haben. Und die Dürre. Und den Tafelberg. Und den grossen Botanischen Garten Kirstenbosch. Magisch.
FATIMA MOUMOUNI war im Januar in Kapstadt. Der Tafelberg ist wirklich magisch. Touristin will sie dort trotzdem nie mehr sein.
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Die Sozialzahl
Bildung für alle
INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2018): LÄNGSSCHNITTANALYSEN IM BILDUNGSBEREICH. NEUCHÂTEL.
Das zentrale bildungspolitische Ziel für die Schweiz lautet: 95 Prozent aller 25-Jährigen verfügen über einen Abschluss auf der Sekundarstufe II. Das heisst, sie haben eine Berufslehre, ein Gymnasium oder eine Fachmittelschule abgeschlossen. Das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung, die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren sowie die Organisationen der Arbeitswelt legten sich bereits 2006 auf dieses Ziel fest, das sie 2011 und 2015 nochmals bestätigten. Wer über einen Abschluss auf Sekundarstufe II verfügt, hat Zugang zu den Ausbildungen auf der Tertiärstufe (Studiengänge an Hochschulen oder Universitäten) und gleichzeitig zum Arbeitsmarkt. Alle anderen ohne einen solchen Abschluss werden sehr viel häufiger in prekären Arbeitsverhältnissen angestellt, tragen ein überdurchschnittlich hohes Arbeitslosenrisiko und sind nur allzu oft auf Sozialhilfe angewiesen. Hat die Schweiz inzwischen das postulierte bildungspolitische Ziel erreicht? Für das Jahr 2015 liegt die Quote der Erstabschlüsse auf der Sekundarstufe II bis zum 25. Altersjahr bei 90,9 Prozent, was rund 77 000 zertifizierten Personen entspricht. 65,2 Prozent der jungen Erwachsenen verfügen über eine berufliche Grundausbildung. Die anderen 25,7 Prozent haben einen weiterführenden allgemeinbildenden Abschluss gemacht, die meisten von ihnen (20,5 Prozent) eine gymnasiale Maturität. Die Schweizer Bildungspolitik hat ihr zentrales Ziel also noch nicht erreicht. Zudem sind deutliche Unterschiede nach Geschlecht, Nationalität und Wohnkanton erkennbar. Die Quote der jungen Frauen beträgt 92,9 Prozent, jene der Männer liegt bei 88,9 Prozent. Ins Auge sticht, dass junge Frauen deutlich häufiger über einen allgemeinbildenden Abschluss verfügen als ihre gleichaltrigen Kollegen. Die Differenz beträgt rund 12 Prozentpunkte.
Nach Nationalität können drei Gruppen unterschieden werden. Die in der Schweiz geborenen Schweizerinnen und Schweizer erreichen eine Quote von 94,0 Prozent und liegen damit sehr nahe am vorgegebenen Ziel. Die in der Schweiz geborenen Ausländerinnen und Ausländer weisen eine Quote von 86,2 Prozent aus. Die meisten von ihnen absolvieren eine berufliche Grundausbildung. Für im Ausland geborene Ausländerinnen und Ausländer beträgt der Anteil jener mit einer Ausbildung auf Sekundarstufe II hingegen nur 72,5 Prozent. Schaut man auf die Kantone, bewegt sich die Quote der Erstabschlüsse auf der Sekundarstufe II zwischen 83,1 Prozent (GE) und 98,6 Prozent (AI). Sechs Kantone weisen Werte auf, die über der bildungspolitischen Vorgabe liegen (AI, UR, NW, GL, SH, SZ), sechs Kantone liegen zum Teil deutlich unter 90 Prozent (GE, VD, BS, NE, TI, VS). Grosse Differenzen sind auch bei den Anteilen für die berufliche Grundbildung und die Allgemeinbildung zu beobachten. Die Gründe lassen sich kaum festmachen. Die Quote wird wesentlich durch die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung, durch die unterschiedliche Ausformung der kantonalen Bildungssysteme und die vorhandene Wirtschaftsstruktur geprägt. Die bildungspolitische Herausforderung wird mit diesen Zahlen deutlich. Der Fokus muss in erster Priorität auf die jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund gerichtet werden. In zweiter Priorität gilt es, das Augenmerk den geschlechtsspezifischen Differenzen zu schenken. Beide Forderungen sind keine News für die Bildungspolitik. Die neuen Zahlen des Bundesamtes für Statistik unterstreichen aber in aller Deutlichkeit deren Dringlichkeit.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Quote der Erstabschlüsse auf der Sekundarstufe II bis zum 25. Altersjahr, 2015, nach Wohnkanton (Auswahl) 100
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Allgemeinbildung
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Kürzen bei den Schwächsten Sparmassnahmen Der Kanton Bern will die Sozialhilfe kürzen. Und treibt
damit tausende Betroffene weiter an den Rand. Die Gegner drohen mit einem Referendum und rechtlichen Schritten. TEXT SIMON JÄGGI
ILLUSTRATIONEN PHILIP BÜRLI
Ein altes Bauernhaus am Stadtrand von Bern. Am Tisch in der kleinen Küche sitzt Fabian D. und dreht eine Zigarette. 28 Jahre alt, schulterlange Haare, Künstler, Sozialhilfebezüger. Die Dreizimmerwohnung und die kleine Küche teilt er mit einer Gymnasiallehrerin. Es ist sein erster fester Wohnsitz seit drei Jahren. Fabian D. ist seit Langem vertraut mit dem Leben an der Armutsgrenze. Aufgewachsen im Wallis, musste seine alleinerziehende Mutter während seiner Kindheit Alimentenbevorschussung beziehen. Das Geld war immer knapp. Dennoch entschloss er sich nach einer gescheiterten Lehre als Schlosser für ein Studium an der Kunsthochschule Luzern. «Damals dachte ich noch, dass auch mir alle Möglichkeiten offenstehen. Schliesslich wird einem in der Schweiz suggeriert, dass es jeder schaffen könne. Aber ich merkte bald nach Studienbeginn, dass ich mich geirrt hatte.» Umgeben von Studierenden, die von ihren Eltern unterstützt wurden, musste er seine Ausgaben mit einem knappen Stipendium finanzieren. Zusätzlich verdiente er etwas Geld bei einem Zügelunternehmen. Zum Leben blieben ihm dennoch selten mehr als ein paar hundert Franken. Immer öfter konnte er Rechnungen nicht bezahlen. Auf Mahnungen folgten die ersten Betreibungen. Schulden, die er bis heute abbezahlt: Krankenkassenprämien, Steuern und Ausbildungsdarlehen. Im Sommer 2016 schloss er sein Studium ab. Vier Monate später, sein Konto war leer und er noch immer ohne Arbeit, meldete er sich bei der Sozialhilfe. Der Grundbedarf für allein lebende Personen beträgt in Bern 977 Franken. Weil Fabian D. in einer Wohngemeinschaft lebt, sind es nur 747 Franken. Und bald könnten es 60 Franken weniger sein. Der Kanton Bern soll sparen. Das verlangt die bürgerliche Mehrheit im Berner Regierungsrat und im Kantonsparlament. Um 160 Millionen wollen die Politikerinnen Surprise 420/18
und Politiker die Ausgaben kürzen. Das sogenannte Entlastungspaket gleicht einem Kahlschlag quer durch den Sozialbereich. Einsparungen sind unter anderem bei der Spitex, der Bildung, der Familienberatung und der Drogenabgabestelle geplant. Am stärksten trifft es die Sozialhilfe. Künftig sollen Sozialhilfebezüger, die älter sind als 25 Jahre, acht Prozent weniger Sozialhilfe erhalten, also 900 statt 977 Franken im Monat. Für vorläufig Aufgenommene, Bezüger ohne Kenntnisse einer der beiden Amtssprachen sowie junge Erwachsene bis 25 Jahre soll der Grundbedarf sogar um 15 Prozent gekürzt werden. So wenig Sozialhilfe wie kein anderer Kanton Die drastische Massnahme ist so etwas wie eine Kompromisslösung. Die Kantonsregierung hatte ursprünglich den Grundbedarf um zehn Prozent kürzen wollen. Die BDP schlug schliesslich die Kürzung um acht Prozent vor. Während einer ersten Lesung im Dezember hat das Kantonsparlament den Sparmassnahmen in der leicht modifizierten Form deutlich zugestimmt. Die Schlussabstimmung findet Mitte März statt. Tritt das angepasste Sozialhilfegesetz in Kraft, würde Bern die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), die vor 20 Jahren eingeführt wurden, deutlich unterschreiten. Und so wenig Sozialhilfe ausbezahlen wie kein anderer Schweizer Kanton. Betroffen wären jährlich mehr als 40 000 Personen, ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. Die Empörung über die Sparpläne in Bern ist gross. Bei vier Kundgebungen protestierten im vergangenen halben Jahr jeweils mehr als tausend Menschen gegen die Kürzungen. «Schnegg muss weg», riefen die Demonstranten auf Berns Strassen und meinten damit den SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg, der 2016 den Sitz des zurückgetretenen SP-Sozialdirektors Philippe Perrenoud 9
«Die Bürgerlichen im Kanton Bern setzen einen neoliberalen Coup durch. Auf Kosten der Schwächsten.» ANNA BOUWMEESTER SOZIAL ARBEITERIN, MITGLIED VERKEHRT.CH
erobert und den Kürzungen der Sozialhilfe – eine alte Forderung der SVP – massgeblich zum Durchbruch verholfen hatte. Schnegg machte sich in kürzester Zeit zu einem Feindbild in links-grünen Kreisen der Gesellschaft. Grossräte von SP und Grünen bezeichneten die Forderungen als «Provokation» und «Schande». «Ein Mann ist dabei, das Leben von gut einer Viertelmillion Menschen zum Schlechten zu verändern», schrieb die Wochenzeitung. Dabei stellen die Gegner nicht nur die Massnahmen infrage, sondern den Sparentscheid ganz grundsätzlich. Denn über die vergangenen Jahre betrachtet, geht es dem Kanton Bern wirtschaftlich gut. Mit Ausnahme des Jahres 2012 weist der bernische Finanzhaushalt seit 1998 immer Überschüsse aus. Das zentrale Argument der Befürworter der Sparmassnahmen sind die geplanten Steuersenkungen für Unternehmen. Ebenfalls ein Projekt aus bürgerlichen Reihen, das grosse Unternehmen anlocken und dafür die Gewinnsteuern senken soll. Von heute 21,6 auf 18,2 Prozent in den nächsten acht Jahren. Die dadurch verursachten Einnahmeausfälle werden auf 45 Millionen Franken für 2019 und auf 103 Millionen Franken ab 2020 beziffert. Steuergeschenke für die Firmen, Einsparungen bei den Armen: Es erstaunt nicht, dass die Emotionen im Kanton zurzeit hochgehen. Dabei könnte Bern nur der Anfang sein, befürchten die Gegner. Ob in Baselland, Aargau oder Schwyz: In zahlreichen weiteren Kantonen verlangt die SVP ebenfalls Kürzungen in der Sozialhilfe. Ganz in Übereinstimmung mit einem Positionspapier aus dem Jahr 2015, in dem die Partei eine schweizweite Senkung der Sozialhilfe auf 600 Franken fordert. Soziale Teilhabe stark eingeschränkt Fabian D. möchte arbeiten, wieder Anschluss finden an die Gesellschaft und einen Beitrag leisten, wie er sagt. Er bewirbt sich im Kunstbereich, bei Museen und Verlagen, dort, wo er am liebsten arbeiten möchte. Aber auch im Verkauf, in der Gastronomie oder als Bürokraft. Bis zu 20 Bewerbungen schreibe er pro Monat. «Doch egal, wo ich mich bewerbe, ich erhalte überall nur Absagen, und niemand kann mir sagen, woran es liegt.» Vielleicht, vermutet er, liegt es auch an seinem arabischen Familiennamen. Von seinen 747 Franken Sozialhilfe bezahlt er Lebensmittel, Telefonkosten, Schulden, Tabak. Einmal im Monat besucht er mit dem Zug seine Mutter und seinen Bruder im Wallis. Wenn das Geld reicht, kauft er sich ein Buch oder besucht eine Ausstellung. Für vieles fehlen ihm die Mittel: eine Mitgliedschaft im Berufsverband der Kunstschaffenden, ein Atelier, in dem er auch grossflächige Bilder malen könnte, neue Saiten für seine alte Bassgitarre. «Am meisten eingeschränkt fühle ich mich aber bei der sozialen Teilhabe. Freunde in Luzern treffen, eine
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Ausstellung oder ein Konzert besuchen, all das ist mit Kosten verbunden. Dabei wäre dies nicht nur für mein Wohlbefinden wichtig, sondern auch im Hinblick auf meine beruflichen Möglichkeiten.» Aus der Empörung über die geplanten Kürzungen ist in der Stadt Bern eine soziale Bewegung entstanden. Zu den zentralen Personen des Widerstandes gehört Anna Bouwmeester, eine Frau mit kurzen blonden Haaren, Tätowierungen auf den Fingerknochen und entschlossenem Blick. Für ein Treffen schlägt sie die Genossenschaftsbeiz Brasserie Lorraine vor. Die 31-jährige Sozialarbeiterin hat im vergangenen Sommer die erste Kundgebung gegen die Sparmassnahmen mitorganisiert und das Kollektiv «Kampagne Verkehrt» mitbegründet, das sich gemeinsam mit Avenir Social, dem Berufsverband der sozialen Arbeit, gegen die Kürzungen zur Wehr setzt. Sie sei während der Grossratsdiskussion im Dezember auf der Tribüne gesessen. «Was da zum Teil für Voten gehalten wurden, das war kaum auszuhalten. Haben diese Politiker eigentlich ein Bewusstsein dafür, was acht Prozent weniger Geld für manche Menschen bedeuten?» Die Entwicklung im Kanton Bern zeige exemplarisch, wie die Ungleichheit in der Gesellschaft zunehme, sagt Anna Bouwmeester. Unternehmen würden beschenkt, Armutsbetroffene beschnitten. «Die Bürgerlichen setzen einen neoliberalen Coup durch. Auf Kosten der Schwächsten.» Eine halbe Stunde später trifft sich im ersten Stock der Genossenschaftsbeiz die Gruppe «Kahlschlag Stoppen» zu einer offenen Sitzung. Ihr Ziel: die geplanten Surprise 420/18
Sparmassnahmen bekämpfen. Um den grossen Tisch sitzen ein gutes Dutzend Menschen. Lehrer, eine Sängerin, Sozialarbeiterinnen in Ausbildung, Armutsbetroffene, ein Grossrat der Grünen, auch Anna Bouwmeester ist Teil der Runde. Quer über den Holztisch werden die nächsten Aktionen diskutiert. Vor der zweiten Lesung des Grossen Rates im März wollen sie eine grosse Kundgebung organisieren. Schwerer Stand gegen die bürgerliche Übermacht «Wir müssen vor dem Rathaus stehen, wenn diese Damen und Herren über das Leben von anderen Menschen befinden», sagt der Lehrer. «Wir müssen den Menschen klarmachen, dass eines Tages auch sie von den Sparmassnahmen betroffen sein können», sagt die Sängerin. Alle sind sich einig: Der Protest konzentriert sich zu stark auf die Stadt Bern, das muss sich ändern. In einer Woche will eine Gruppe das Raclette-Essen eines Eishockeyvereins im Berner Mittelland besuchen und die Anwesenden über die Problematik der Sparmassnahmen informieren. Daran, dass sich am Ausgang der Abstimmung im Parlament noch etwas ändern lässt, glaubt allerdings kaum jemand. Doch aufgeben ist für die Anwesenden keine Option. Nicht nur die Aktivisten und Aktivistinnen, auch die linken Parteien haben einen schweren Stand gegenüber der bürgerlichen Übermacht im Parlament und in der Regierung. «Ich kann die Motive der Befürworter nicht verstehen», sagt Ursula Marti, Kantonspräsidentin der SP Bern, Frustration klingt in ihrer Stimme mit. Sie vermute, 11
es habe viel zu tun mit der Persönlichkeit der Drahtziehenden, allen voran Pierre Alain Schnegg. «Er und seine Mitstreiter können sich nicht vorstellen, dass es Lebenssituationen gibt, die man beim besten Willen nicht alleine bewältigen kann und in denen man auf Unterstützung angewiesen ist.» Aufgeben wollen auch die linken Parteien nicht. Alles deutet darauf hin, dass sie nach der Abstimmung vom März im Grossen Rat das Referendum gegen die Kürzungen ergreifen werden. Das Referendum ist eine von zwei Möglichkeiten, wie die Gegner die Kürzungen verhindern können. Die andere Möglichkeit ist eine juristische Beschwerde. Hinter verschlossenen Türen diskutieren die linken Parteien bereits über die Möglichkeit eines Rekurses. Unterstützung erhalten die Gegner dabei aus Zürich von Pierre Heusser, einem renommierten Anwalt für Sozialhilferecht. Er beobachtet die geplanten Kürzungen in Bern mit Sorge. «Die Richtlinien der SKOS liegen bereits heute unterhalb des sozialen Existenzminimums», sagt Heusser. Für ihn ist klar: «Die geplanten Kürzungen im Kanton Bern verstossen gegen das geltende Verfassungsrecht.» Der Kanton setzte die Sozialhilfeansätze willkürlich fest und je nach Personengruppe nach sachfremden Kriterien. «Oder welchen sachlichen Grund gibt es, im Kanton Bern einem Italienisch sprechenden Tessiner weniger Sozialhilfe auszurichten als einem Französisch sprechenden Westschweizer? Was für einen Sachgrund gibt es, einem 25-Jährigen einen Fünftel weniger Sozialhilfe zu gewähren als 12
«Die Befürworter können sich nicht vorstellen, dass es Situationen gibt, die man nicht alleine bewältigen kann.» URSUL A MARTI PR ÄSIDENTIN SP BERN
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einem 26-Jährigen?» Wer die Sozialhilfeansätze viel tiefer als das soziale Existenzminimum und je nach Personengruppe nach willkürlichen und sachfremden Kriterien festsetze, der verletze nicht nur das Willkür- und Diskriminierungsverbot sowie das Gleichbehandlungsgebot, sondern darüber hinaus das Recht auf Existenzsicherung und im Endeffekt die Menschenwürde der betroffenen Personen, so Rechtsanwalt Pierre Heusser. Sollten sich die Kürzungen durch ein Referendum nicht verhindern lassen, will der Anwalt die Gegner bei einer Beschwerde unterstützen. Es drohen Ohnmacht, Lethargie, Aggression Vor den Fenstern des Bauernhauses am Stadtrand von Bern ist es Abend geworden. Die Mitbewohnerin von Fabian betritt die Küche. Die Gymnasiallehrerin ist etwas älter als er. Sie hängt ihre Jacke über einen Stuhl und räumt Gemüse aus ihrer Tasche in den Kühlschrank. «Wenn ich alleine wohnen würde, wäre der Kühlschrank jetzt leer», sagt Fabian. Es ist Ende Monat und sein Geld so gut wie aufgebraucht. Was wird er tun, wenn der Kanton seine Sozialhilfe um 60 Franken kürzt? Er werde keine Darlehen mehr zurückzahlen und noch weniger am Sozialleben teilhaben können. Er werde bei den Arbeitsmaterialien für die Malerei sparen müssen, wieder vermehrt Essen aus den Abfallcontainern der Grossverteiler fischen. Er könne sich vielleicht kein Halbtax mehr leisten oder seine Familie noch seltener besuchen. «Und dabei spreche ich nur von mir, eine Familie mit Kindern ist nochmal in ganz anderen Dimensionen betroffen.» Seine Mitbewohnerin setzt sich dazu, indirekt ist sie ebenfalls von den Sparmassnahmen betroffen. Eines ihrer Studienfächer hat der Kanton bereits weggekürzt. «Die Politik hat einfach völlig die Relationen aus den Augen verloren», sagt sie. Die beiden sprechen von den Milliarden zur Rettung der UBS, von der Ostmilliarde, mit der die Schweiz die Entwicklung in Osteuropa unterstützt. Und von Bundesrat Johann Schneider-Ammann, der mit seinem im Kanton Bern domizilierten Unternehmen über Jahrzehnte 250 Millionen Franken in Offshore-Paradiese transferierte, um Steuern zu sparen. «Ich fühle mich ausgeliefert», sagt Fabian D. am Ende des Gesprächs. «Gegenüber einem willkürlichen System, das schalten und walten kann, wie es will.» Die Richtlinien der Sozialhilfekonferenz schrieben vor, wie viel ein Mensch für ein menschenwürdiges Leben benötige. «Mit den Kürzungen wird den Betroffenen nur noch ein bedingt menschenwürdiges Leben zugesprochen.» Es drohten Ohnmacht, Lethargie, Aggression. Denn acht Prozent weniger, das ist viel Geld. Besonders, wenn jemand am Existenzminimum lebt. Surprise 420/18
«Die geplanten Kürzungen im Kanton Bern verstossen gegen das geltende Verfassungsrecht.» PIERRE HEUSSER RECHTSANWALT
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«Finden Sie das korrekt?» Sparpolitiker Hinter der Berner Sozialhilfereform steht
SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg. Das Niveau der Soziahilfebeiträge sei heute einfach zu hoch, sagt er. INTERVIEW GEORG GINDELY UND SIMON JÄGGI FOTOS DANIELLE LINIGER
Pierre Alain Schnegg an seinem Pult im Berner Rathaus.
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Herr Schnegg, Sie wollen den monatlichen Sozialhilfebeitrag im Kanton Bern um acht Prozent kürzen. Sozialhilfebezüger werden in Zukunft maximal 900 Franken im Monat erhalten. Würden Sie persönlich mit diesem Betrag auskommen? Mit wie viel Geld man im Monat auskommt, ist nicht abhängig vom Betrag, den man zur Verfügung hat, sondern vom Betrag, den man ausgibt. Ich kenne Menschen mit bescheidenen Mitteln, die am Ende des Monats noch Geld auf der Seite haben, und ich kenne solche mit einem hohen Lohn, die nur mit Mühe über die Runden kommen. Können Sie es sich vorstellen, mit 900 Franken pro Monat zu leben? Während des Studiums und nach der Heirat haben meine Frau und ich mit ganz bescheidenen Mitteln gelebt. Das war für uns überhaupt keine traurige Zeit.
«Es ist nicht Pflicht des Staates, dafür zu sorgen, dass ein Sozialhilfebezüger einmal im Jahr einen Ausflug machen kann.»
Sie lebten damals mit 900 Franken im Monat? Sozialhilfebezüger haben nicht nur 900 Franken zur Verfügung. Der sogenannte Grundbedarf macht rund ein Drittel des Gesamtbetrags aus, den sie erhalten. Zusammen mit den Beiträgen an die Miete, die Krankenkasse und anderen Leistungen kann ein Sozialhilfebezüger auf eine staatliche Unterstützung von bis zu 2700 Franken im PIERRE AL AIN SCHNEGG Monat kommen. Diesen Betrag hatten meine Frau und ich damals nicht zur Verfügung, und ich kenne auch jetzt Menschen, die mit weniger Geld auskommen müssen, aber absolut glücklich sind. Der Berner Ansatz für die wirtschaftliche Hilfe liegt heute schon unter dem Grundbedarf, den die Sozialdirektorenkonferenz vorgibt, und nach der Kürzung wird er deutlich darunter liegen. Der Grundbedarf soll Betroffenen ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Ist dies mit 900 Franken möglich? Ja. Was verstehen Sie unter einem menschenwürdigen Dasein, wie es die Bundesverfassung garantiert? Bei den SKOS-Richtlinien gibt es noch Spielraum. Da werden zum Beispiel Grundkosten für die Telekommunikation aufgeführt, die zu hoch sind: Es gibt heute Abos für
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Handy und Internet, die viel günstiger sind. Weiter ist ein Betrag enthalten für Alkohol und Zigaretten. Ist es wirklich Auftrag des Staates, fürs Rauchen und Trinken zu bezahlen? Sie sehen: Es gibt Sparmöglichkeiten. Nimmt man sie wahr, kann man mit dem tieferen Betrag leben. Sie weichen der Frage aus: Was gehört zu einem menschenwürdigen Leben? Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, die zufrieden sind, wenn sie ein Dach über dem Kopf und genug zu essen haben, und es gibt Menschen, die zehn Mal in die Ferien fahren und immer noch nicht genug haben. Es gibt keine Grenze, die man künstlich ziehen kann. Wenn jemand vom Staat unterstützt wird, ist es normal, dass er auf gewisse Sachen verzichten muss. Mit dem tieferen Betrag werden Sozialhilfebezüger kaum mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, weil sie es nicht vermögen, mit Freunden einen Kaffee trinken zu gehen oder auch einmal einen Ausflug zu machen. Da ist es zynisch, wenn Sie behaupten, Sozialhilfebezüger würden zehn Mal in die Ferien fahren. Ich habe nicht gesagt, dass Sozialhilfebezüger zehn Mal im Jahr Ferien machen. Ich wollte nur ausdrücken: Was ein menschenwürdiges Leben ist, hat nicht nur mit dem Betrag zu tun, den jemand zur Verfügung hat, sondern vor allem auch mit der Einstellung eines Menschen. Ich bin der Meinung, dass der Staat dafür sorgen muss, dass ein Mensch wohnen und sich pflegen kann, dass er genug zu essen hat, sich bewegen, einkaufen, zum Arzt gehen, seine Angehörigen besuchen und, im besten Fall, zur Arbeit gehen kann. Aber es ist nicht Pflicht des Staates, dafür zu sorgen, dass dieser Mensch einmal im Jahr einen Ausflug machen kann. Ursprünglich wollten Sie die Sozialhilfe pauschal um zehn Prozent kürzen. Sie bestimmten dies ohne vorherige Vernehmlassung, Kritiker sprechen von einer willkürlich festgelegten Zahl. An welchen Kriterien orientierten Sie sich? Das Parlament überwies dem Regierungsrat vor fünf Jahren einen Vorstoss mit dem klaren Auftrag, die Sozialhilfe um zehn Prozent zu kürzen. Was passierte? Man diskutierte ewig und behauptete dann, der Vorstoss sei erledigt. Das war nicht der Fall, und ich erfülle nun den demokratischen Auftrag, den der Regierungsrat hat. Wie bereits gesagt: Bei den von der SKOS festgesetzten Beträgen gibt es meiner Ansicht nach Sparmöglichkeiten im Umfang von mindestens zehn Prozent. Ich orientierte mich auch am Einkommen von Menschen aus dem Niedriglohnsektor. Es darf nicht sein, dass Sozialhilfebezüger bessergestellt sind als Menschen, die arbeiten und keine staatliche Unterstützung erhalten. Das kommt heute im Kanton Bern vor. Finden Sie das korrekt? 15
Können Sie uns das an einem Beispiel erläutern? Eine Familie mit zwei Kindern erhält von der Sozialhilfe den Grundbedarf für vier Personen gedeckt. Dazu bekommt sie Wohnzulagen, Prämienverbilligungen, Beiträge an die Gesundheitskosten und weitere Leistungen. Am Ende hat diese Familie zwischen 300 bis 600 Franken mehr zur Verfügung als eine Familie, die mit einem einzigen Lohn von 4500 Franken und ohne Sozialhilfe auskommen muss. Ein anderes Beispiel: Kürzlich besuchte ich einen befreundeten Unternehmer. Er erzählte mir, dass am Vortag ein Lehrling zu ihm gekommen sei und gesagt habe, er höre auf, weil ein Freund von ihm in der Sozialhilfe mehr Geld bekomme als er mit seinem Lehrlingslohn. Das dürfen wir nicht mehr akzeptieren. Müssten Sie nicht dafür sorgen, dass Lehrlinge und Familien mit tiefen Einkommen bessere Löhne erhalten, als bei den Ärmsten zu sparen? Wir müssen aufhören zu denken, dass das Geld einfach so aus dem Bancomaten kommt! Ich habe als Unternehmer Arbeitsplätze geschaffen. Das können Sie nicht aus dem Nichts heraus tun, und es ist in bestimmten Branchen nicht leicht, einen Lohn von 4500 Franken auszuzahlen. Ist es gerechtfertigt, wenn Sie, ausgehend von Einzelfällen, massive Kürzungen beschliessen, die 40 000 Menschen betreffen? Es gibt viele solcher Fälle. Und nochmals: Wir wollten zehn Prozent von einem Drittel der gesamten Sozialhilfeleistungen kürzen, die jemandem zustehen. Das sind rund drei Prozent vom Gesamtbetrag. Der Grosse Rat stimmte einem Kompromissvorschlag zu, den Beitrag um acht Prozent zu kürzen. Damit kann ich leben. Gewisse Beiträge werden auch erhöht. Menschen, die etwas unternehmen, um ihre Situation zu verändern, erhalten mit dem neuen Gesetz mehr Geld als heute. Wir wollen die Beiträge für Arbeitsintegrationsbemühungen auf bis zu maximal 300 Franken pro Monat und Person erhöhen. Wer wird davon profitieren? Eine alleinerziehende Mutter mit einem Kleinkind wird eine Integrationszulage erhalten genauso wie jemand, der ein Studium oder einen Weiterbildungskurs macht oder sich freiwillig engagiert. Abschliessend definieren
Pierre Alain Schnegg Pierre Alain Schnegg, 56, ist Gesundheits- und Fürsorgedirektor des Kantons Bern. Politisch aktiv ist er seit 2013, als er der SVP beitrat. 2014 wurde er in den Grossen Rat gewählt, 2016 eroberte er den bernjurassischen Regierungsratssitz, den er bei den Erneuerungswahlen Ende März verteidigen will. Vor seiner politischen Laufbahn leitete Schnegg ein von ihm selbst mitgegründetes Informatikunternehmen. Er lebt in Champoz, ist verheiratet, hat vier Kinder und ist Mitglied einer evangelischen Freikirche.
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will ich die Fälle nicht, weil ich den Sozialen Diensten Spielraum geben möchte. Wenn sie merken, dass sich eine Person wirklich engagiert, indem sie zum Beispiel ihre Eltern pflegt oder die Kinder ihrer Geschwister hütet, müssen sie das honorieren können. Wir müssen die Menschen in Zukunft vor allem stärker dabei unterstützen, sich wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sie sagten 2016, dass es schwierig sei, für 1000 Sozialhilfebezüger Stellen zu finden. Nun wollen Sie 40 000 auf einmal integrieren. Ist das nicht realitätsfremd? Ich erwarte nicht, dass in den nächsten zwei Jahren 40 000 Menschen einen Job finden. Aber jede Person, die Arbeit findet, ist ein grosser Erfolg. Für die betroffene Person selbst, aber auch für den Staat und die Gesellschaft. Kürzlich wurden neue Zahlen zur Sozialhilfe veröffentlicht, die zeigen, dass immer mehr Alleinerziehende, schlecht qualifizierte Arbeiter und ältere Langzeitarbeitslose auf Sozialhilfe angewiesen sind. Diese Menschen sind heute schlicht nicht gefragt auf dem Arbeitsmarkt. Was können Sie daran ändern? Ich kann die Firmen nicht zwingen, Sozialhilfebezüger einzustellen, aber ich will sie motivieren, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Wir als Staat müssen aber auch die Rahmenbedingungen schaffen, damit das möglich ist. Aber die Wirtschaft geht in eine ganz andere Richtung: Jobs für Niedrigqualifizierte verschwinden hierzulande mehr und mehr. Wie viele Leute holen wir jedes Jahr im Ausland? Das sind vorwiegend gut qualifizierte Menschen. Glauben Sie wirklich, dass wir pro Jahr 50 000 bis 80 000 Ingenieure und Hochqualifizierte im Ausland holen? Viele Menschen, die in die Schweiz kommen, sind nicht gut ausgebildet. All die Leute, die als Hilfskräfte in der Landwirtschaft tätig sind, sind keine Doktoranden. Warum arbeiten dort nicht die Menschen, die bereits in der Schweiz leben? Sie waren selbst Unternehmer. Wie viele Sozialhilfebezüger stellten Sie damals ein? Wir hatten einen guten Kontakt zum RAV, und wenn wir eine passende Stelle besetzen mussten, fragten wir zuerst dort nach möglichen Kandidatinnen und Kandidaten. Wer aufs RAV geht, bezieht keine Sozialhilfe. Ich weiss nicht, ob wir auch Sozialhilfebezüger eingestellt haben. Aber: Wie viel Kontakt hatten wir mit den Sozialen Diensten? Wie oft sind sie auf uns zugekommen? Die Antwort ist: Nie. Ist das die Aufgabe der Sozialen Dienste? Ja, unbedingt. In letzter Zeit habe ich verschiedene Soziale Dienste besucht und wollte wissen, wie viele Menschen sie wieder in den Arbeitsmarkt integrieren konnten. Ein Sozialer Dienst hatte auffällig gute Resultate. Und weshalb? Er besuchte jeden Betrieb in der Region und nahm Surprise 420/18
«Das staatliche Netz darf nicht dazu führen, dass Menschen es sich darin bequem machen»: Pierre Alain Schnegg in seinem Büro.
an jeder Gewerbeausstellung teil. Damit schuf er sich ein hervorragendes Netzwerk. Andere Sozialdienste tun dies nicht. Da müssen wir uns bewegen. Nichtstaatliche soziale Institutionen im Kanton Bern, vor allem kirchliche, befürchten, dass sie in Zukunft für den Staat in die Bresche springen müssen, wenn Sie Ihre Kürzungspläne umsetzen. Lagern Sie einen Teil der Sozialhilfe an Dritte aus? Ich finde es sehr gut, wenn sich Organisationen und Menschen freiwillig für Schwächere engagieren. Ich nahm selbst an mehreren Hilfsgütertransporten in osteuropäische Länder teil, und es gibt Menschen in meinem Umfeld, die zum Beispiel Sprachkurse geben. Es ist sehr wichtig, dass solche Initiativen existieren. Aber sie müssen den Staat nicht ersetzen, sondern ergänzen. Der Staat muss seine Aufgaben selbst erledigen und darf sie nicht auslagern. Das wird mit dem neuen Gesetz auch nicht geschehen. Sie wollen in Zukunft einen Unterschied machen zwischen Menschen, die Deutsch und Französisch können, und solchen, die diese Sprachen nicht beherrschen. Letzteren soll die Sozialhilfe zusätzlich gekürzt werden. Verletzen Sie damit nicht das Gleichheitsgebot? Wenn jemand staatliche Unterstützung wünscht, dann ist es das Minimum, dass er die Sprache vor Ort lernt. Das Niveau, das wir verlangen, ist sehr tief: Wir haben es auf Surprise 420/18
A1 gesetzt. Die Betroffenen haben sechs Monate Zeit, es zu erreichen, erst dann werden die Leistungen gekürzt. Wenn ich höre, dass Menschen aus dem Asylbereich nach sieben Jahren noch kein A1-Niveau haben, dann sind das für mich Menschen, die dieses Ziel gar nicht erreichen wollen. Ich bin der Ansicht, dass der Staat ein Netz zur Verfügung stellen muss, das Menschen auffängt. Aber dieses Netz darf nicht dazu führen, dass Menschen es sich darin bequem machen. Glauben Sie, dass die Betroffenen es geniessen, Sozialhilfe zu beziehen? Nehmen Sie die zwei Fälle aus der Region Biel, die vor Kurzem an die Öffentlichkeit kamen. Da lebten Familien von Generation zu Generation in der Sozialhilfe, und niemand lernte unsere Sprache. Ist das akzeptabel? Nein, aber das sind Einzelfälle. Sie werfen alle anderen Sozialhilfebezüger in diesen Topf und sagen: Die sind auch so. Nein, das ist nicht wahr. So sehe ich das nicht. Aber Sie bestrafen alle wegen zwei Fällen. Nein, ich bestrafe niemanden. Der Kanton Bern muss sparen, und da müssen alle ihren Beitrag leisten. Wir senken die Sozialhilfebeiträge zwar, aber so, dass den Betroffenen genug zum Leben bleibt. Heute ist das Niveau der Beiträge einfach zu hoch. 17
Plötzlich Medienprofi Flucht Auf dem Weg nach Europa lebte Abdul Saboor ein Jahr lang in Belgrad.
Von einem Journalisten wird sein Kontakt weitergereicht. Unerwartet wird der junge Afghane zur Anlaufstelle für die Medien. TEXT BENJAMIN VON WYL
FOTOS EVAN RUETSCH
Arbeitsplatz Smartphone: Abdul Saboor.
Die Geschichte von Abduls Zeit in Serbien riecht nach in Teer getränkten Gleisverstrebungen, nach Urin, im besten Fall nach Börek. Sie hallt aber vor allem im geruchlosen virtuellen Raum nach. Google-Suchfeld: Abdul Saboor Serbia. Die Ergebnisse der ersten zwei Seiten: New York Times, ABC News, Vice Alps, einige Blogs, dann das öffentlich-rechtliche schwedische Radio, eine Online-Plattform aus Malaysia, die grösste Zeitung Finnlands, USA Today, dazwischen einige Ergebnisse zu einem berühmten Arzt sowie einem Bombenbauer mit demselben Namen. Der Abdul Saboor, um den es hier geht, wurde unter diversen Aliasnamen bekannt. Einer davon ist seine Facebook-Identität «John Refugee», 1600 Likes. Saboor ist 26 und war in Afghanistan Truckfahrer für das amerikanische Militär. «Als ich das erste Mal im Bristol-Park in Belgrad war, lernte ich einen britischen Journalisten, einen mexikanischen Fotografen und einen Italiener von Ärzte ohne 18
Grenzen kennen. Für den Briten hatte ich übersetzt und der Italiener bat mich um ein Interview. Wieso nicht? Wir trafen uns ein paar Mal. And then I got busy, very fast very busy. Und dann war ich sehr schnell sehr beschäftigt.» 2015 waren zehntausende Flüchtende in Serbien auf der Durchreise. Die einen erreichten Europa über die griechischen Inseln, andere kamen auf dem Landweg via Türkei und Bulgarien. In Serbien waren die meisten von ihnen nur für wenige Tage. Mit der schrittweisen Schliessung der Balkanroute änderte sich das: Ungarn stellte bis zu 10 000 Mann zur Grenzsicherung bereit, baute einen mit NATO-Stacheldraht verstärkten Grenzzaun und später noch einen zweiten. Auch die kroatische Polizei ging mit Gewalt gegen die Flüchtenden vor. Ab Frühling 2016 strandeten daher immer mehr Menschen im völlig überforderten Serbien. Das Land stellte nicht genügend Unterkünfte zur Verfügung; die vorhandenen hatten einen schlechten Ruf. Viele schliefen lieber Surprise 420/18
unter freiem Himmel in den öffentlichen Parks rund um den Belgrader Bahnhof. Nach deren Räumung durch die Stadtregierung zogen sie in leerstehende Baracken hinter dem Bahnhof. Dort lebten zwischenzeitlich 2500 Menschen im giftigen Rauch der Gleisverstrebungen, die als Feuerholz dienten. Knapp ein Jahr sass Abdul hier fest. Er weiss dies sehr genau, weil er Mitte September während des islamischen Opferfestes 2016 in Belgrad ankam; Anfang September, zum Opferfest 2017, erreichte er dann Westeuropa. An andere Zeitabfolgen erinnert er sich hingegen nicht mehr so genau. «I met all the people, but I don’t remember when and how. Ich habe so viele Leute getroffen, aber ich weiss nicht mehr wann und wie. Ich mag Menschen und mag es, mit Menschen zu sprechen. Nach etwa einem Monat im Belgrad fragte mich eine Supermarkt-Verkäuferin, wo ich lebe. Ich zeigte ihr ein Foto. ‹Ich kann nicht glauben, dass Leute so leben müssen›, antwortete sie. Niemand wusste von uns. Also schoss ich Fotos und verschickte sie per Facebook. An Serben, Leute in Westeuropa, Menschen in Afghanistan. Fotos von den verrauchten Baracken und den verletzten Kids, aber auch von Flüchtenden, die sich waschen oder rasieren. Ich verbrachte Tage auf Facebook und Google, um an neue Kontakte zu kommen. Bald hatte ich eher zu viele. Ich wurde handysüchtig. ‹Wähl jetzt einfach einen Namen›, sagte ein Kollege zu mir. Mein echter Name sollte nicht im Titel meiner neuen Fotoseite auf Facebook sein. Wenn mein richtiger Name drin gewesen wäre, hätte ich von Anfang an Probleme mit dem Kommissariat gehabt. Freunde haben mir immer gesagt, ich solle vorsichtig sein. Das Kommissariat könnte mir Probleme bereiten.» Das Kommissariat für Flüchtlingsfragen gehört zum serbischen Arbeitsministerium. Die Mitarbeiter des Kommissariats haben zwar keine polizeilichen Kompetenzen, verhalten sich aber manchmal wie patrouillierende Wachleute und beeinflussen auch die Zuteilung von Flüchtenden auf die Camps. Sie entscheiden, wer in die abgelegenen Camps muss oder gar in geschlossene Lager, eher Gefängnisse. So eines ist auch Preševo im Süden. Von dort wurden laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR Flüchtende in den letzten zwei Jahren immer wieder illegal nach Mazedonien abgeschoben. Irgendwann stellte sich Abdul erstmals die Frage, ob ihm die Öffentlichkeit eher nütze oder schade. Bis heute kann er dies nicht abschliessend beantworten. Überzeugt ist er davon, dass ihm sein Engagement psychisch gutgetan hat. Zwangsweiser Kontrollverlust gehört zur Situation – Abdul wurde aktivistisch: «Als ich das Bild eines übel zugerichteten Jungen auf Facebook gepostet hatte, schrieb jemand von Save The Children per Messenger: ‹Bring ihn zu uns!› Nachdem ich ihn zu ihrer lokalen Anlaufstelle gebracht hatte, wussten bald so ziemlich alle, dass ich hinter John Refugee stecke.» Um den Jahreswechsel 2016/17 herum starben eine Somalierin und zwei Iraker in den bulgarischen Wäldern unterwegs nach Serbien. Die Temperaturen schwankten zwischen -7 und -16 Grad Celsius. Surprise 420/18
«Plötzlich waren die Medien da. Ich habe mit allen zusammengearbeitet. Teilweise fragten sie mich schon über die Facebook-Seite John Refugee an, bevor sie in Belgrad waren. Ich gab Interviews, übersetzte und führte sie durch die Baracken. Freunde warnten mich davor, all die Interviews könnten mir Probleme bereiten. Meine Aussagen zeigten auf, dass die serbische Polizei und das Kommissariat lügen. Sie erzählten, was für ein gutes Leben die Flüchtenden in Serbien führten. Einmal war ich mit CNN auf der Suche nach Leuten, die gut Englisch sprechen. Mich wollten sie nicht interviewen, weil sie mich bezahlt hatten. Aber die Flüchtenden sagten zu mir: ‹Du bist verrückt. Darüber sprechen wir nicht.› Come on! Wer nichts sagt, sorgt dafür, dass sich nichts ändert. Ich erzählte den Medienleuten, dass mir die bulgarische Polizei den Arm gebrochen hatte, wie mich Polizisten in Kroatien verprügelt hatten, aber auch von Freunden und ihren brutalen Erfahrungen mit der ungarischen Polizei. Dauernd sprach ich über dasselbe, denn die Situation blieb ja unverändert. Irgendwie war das auch langweilig: Repeat! Wiederhol das nochmal! Repeat! Ob ich schlechte Erfahrungen mit Journalisten gemacht habe? Ich weiss nicht. Ich habe sie rumgeführt und am Ende gesagt: ‹I hope you are doing this thing in a good way. Ich hoffe, ihr bringt das auf eine anständige Art.› Hinterher schaute ich aber nie, was dabei rausgekommen war. I was very, very busy, ich hatte so viel zu tun. Zwischen den Terminen bin ich gerannt. Ich wurde auch süchtig nach dem Gerenne.» Nach den Medien kamen viele Freiwillige nach Serbien – allein und in Gruppen. Sie gaben sich und ihren Projekten Namen wie Pomberos de Navarra, SolidariTEA, NoName Kitchen. Auch etablierte NGOs zeigten Präsenz. Duschen wurden aufgestellt, Toitoi-Klos, Abendessen für bis zu 1000 Leute ausgegeben. Andere Angebote sorgten für sauberes Feuerholz, das die Flüchtenden anstelle der teergetränkten Gleisverstrebungen nutzen konnten. Immer am Sonntagabend trafen sich Krankenpflegerinnen, Schreiner, Studentinnen und alle anderen in einer Bar zur «General Assembly of The Barracks», einer Art Generalversammlung der Helfenden. Mitte März kamen etwa 60 Leute. Die Diskussionen waren hitzig, manche waren aus politischem Antrieb hier, andere interessierten sich nicht für Politik. Manche arbeiteten 16 Stunden täglich, andere feierten viel. Manche mit den Flüchtenden, manche blieben unter sich. Ein Angebot bot zehn Flüchtenden pro Tag sogar die Möglichkeit, das Hallenbad zu besuchen. «Alle Freiwilligen wollten Gutes tun, aber manche wussten nicht, wie. Aus Wissensmangel oder weil sie nicht damit umgehen konnten: Einer Frau aus den USA habe ich zwei Tage lang die Lage gezeigt. Sie hatte grosse Pläne, sprach von einem Waisenhaus. Einer Gruppe kleiner Jungen wollte sie Hosen kaufen. Die meinten aber, Zelte seien wichtiger. Sonst werde ihnen alles geklaut, wenn sie die Baracke verlassen. Die Amerikanerin war einverstanden damit. Dann reiste sie ab und die Kids fragten mich: ‹Wo sind die Zelte? Wo sind die Zelte?› Das war eine Menge Stress für mich. Die Leute glaubten, ich hätte Kleider, Schuhe, Decken – alles. Und sie glaubten, ich könne alle 19
zum Schwimmbad bringen. Zehn durfte ich täglich mitnehmen. 50 andere sagten mir, ich sei ein schlechter Mensch.» In einem 40-minütigen Dokufilm von Vice Serbia mit dem Titel «Stadt in der Stadt: Die Geschichte von Abdul» sagt Saboor offen, dass er vor den Taliban geflohen sei. Damit wurde er zur Symbolfigur für die Situation in den Belgrader Baracken. Heute, viele westlich von Belgrad, sieht er selbst den Film zum ersten Mal: «Ich mag es nicht, dass die Leute mich im Video sehen, aber wenn es anderen hilft? Ich wusste viel. Aber wenn meine Familie in Afghanistan diese Bilder sähe, würden sie mir sagen, ich sei verrückt. Da ich offen die Taliban kritisiere, wird mir das Probleme bereiten, falls ich aus Europa abgeschoben werde.»
Im Frühsommer trug Abdul oft ein Shirt mit dem Aufdruck «Wings of Freedom». Seit der Räumung war er nicht mehr so beschäftigt. Erst deprimierte ihn das, dann erwachte sein Antrieb, selbst irgendwo das Aufenthaltsrecht zu erlangen. Für ihn war das nicht einfacher als für andere. Zwar verfügte er nun über exzellente Kontakte zu NGOs, aber das half ihm nichts. Das serbische Asylwesen ist rekordverdächtig langsam; weniger als 100 Anträge werden jährlich angenommen. Mit dem Kommissariat lag er seit der Räumung noch mehr im Clinch als zuvor schon. Zudem kamen neue Gefahren auf der Route nach Westeuropa hinzu: «Die Schmuggler! Sie behaupteten, ich fotografiere sie für die Polizei, Interpol und UNHCR. Ich fragte jedes Mal nach Beweisen. Einer antwortete, er habe einen Freund
Mitte Mai 2017 wurden die Baracken in Belgrad geräumt. Abdul filmte, wie Polizei und Kommissariat die Zelte der Flüchtenden zerstörten. Zwei Tage später veröffentlichte er ein Video auf Facebook, das die sanitären Anlagen in Krnjaca, einem Camp am Stadtrand von Belgrad, zeigte: 12 Pissoirs, bis zum Rand gefüllt mit Urin. Am Tag der Räumung feierte auch Abduls Fotoausstellung in der Galerie Ostavinska, einem Szenetreffpunkt, Vernissage. Eine NGO postete auf Facebook: «Glückwünsche an unseren lieben Freund Abdul Saboor für die heutige Ausstellung! Info Park team is sending all our love and support, das Team vom Info Park wünscht alles Liebe und steht hinter dir!» In der Ankündigung stand einmal mehr, dass Abdul für die US-Armee gearbeitet habe und von den Taliban verwundet worden sei. Sie ist online weiterhin abrufbar. «Die Ausstellungen waren etwas Gutes. Beim Fotografieren war mein Antrieb, den Leuten unsere Lebensbedingungen zu zeigen. Mit den Ausstellungen erreichte ich neue Leute. Während ich in Serbien war, gab es Ausstellungen in Polen, Spanien, England, Serbien, Griechenland und Island. Ich habe keine Ahnung, wo Island liegt.»
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bei der Polizei. Der habe gesagt, jemand beliefere sie mit Fotos. Ich sagte, er solle besser seinen Freund fragen, wer das tue, ich jedenfalls nicht. Ich hatte Angst, denn Schmuggler haben Macht. Vielleicht würden sie mich töten oder einen verzweifelten Flüchtling dafür bezahlen, dies zu tun?» Inzwischen hat Abdul es gesund und ohne Schmuggler bis nach Frankreich geschafft. Jetzt ist er den starren Mechanismen des französischen Asylsystems ausgesetzt. Dabei helfen ihm weder die Facebook-Öffentlichkeit noch seine Fähigkeiten als Netzwerker. Das Verfahren hat kein Gesicht: Die Situation generiert nicht dieselbe Empörung. Abdul wirkt nervöser als in Belgrad, weil er nichts zu tun hat. Manchmal postet er Fotos aus Paris. Sie erinnern an die Baracken in Belgrad.
«Wer nichts sagt, sorgt dafür, dass sich nichts verändert.» ABDUL SABOOR
In der Hoffnung auf eine gute Perspektive macht Abdul Saboor unermüdlich weiter.
Fenster in eine andere Welt: Für den Aktivisten Abdul Saboor bietet Facebook mehr als nur sozialen Austausch.
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«Was ist unser Bienenstock?» Film Mit «Das Boot ist voll» hat Markus Imhoof Filmgeschichte geschrieben.
Nun zeigt der Regisseur mit «Eldorado»: Das Boot ist immer noch voll, es sitzen einfach andere Flüchtlinge drin. INTERVIEW DIANA FREI
Wacher Blick auf das Wesentliche: Regisseur Markus Imhoof.
Herr Imhoof, als ich davon hörte, dass Sie einen Dokumentarfilm über die Situation von Flüchtlingen drehen, dachte ich als Erstes: Bis der Film herauskommt, hat sich die Lage bereits wieder verändert, oder das Thema interessiert bis dahin vielleicht gar niemanden mehr. Erklären Sie mir, warum meine Überlegung falsch war? Das Thema ist schon mehrere tausend Jahre alt. Kommt hinzu: Man spricht jetzt zwar von der Flüchtlingskrise, aber das Thema beginnt im Grunde erst, zentral zu werden. Und ich wollte nicht einfach eine lange «Tagesschau» machen, sondern das Thema in seinen Grundsätzen behandeln. Deshalb bin ich nicht abhängig von Aktualitäten. Woran denken Sie, wenn Sie sagen, die Flüchtlingskrise beginne erst? Die nächste Phase der Migration wird in Zusammenhang mit dem Klimawandel passieren. Da stellt sich sehr deutlich die Frage: Wer ist dafür verantwortlich? Wir sind mit unserem Glück verantwortlich dafür, dass sich das Klima an einem anderen Ort der Welt verändert. Dabei merken wir es selbst nicht einmal sehr stark. Wir heizen trotzdem weiter und schalten die Air Condition ein. Aber dort, wo das veränderte Klima den Leuten die Lebensgrundlage entzieht, wird es enorme Auswirkungen haben. Nicht nur, weil die Menschen mit ihren Ressourcen nicht mehr überleben, sondern weil es auch zu weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen führen wird. Mich interessiert, inwiefern scheinbare Kleinigkeiten grosse Auswirkungen haben. Mich interessieren die Zusammenhänge. Deshalb 22
ist es interessant, dass nach «More Than Honey» nun gerade «Eldorado» mein nächster Film geworden ist. Dort ging es also darum, dass ein ganzes Bienenvolk funktionieren muss und auf die Einflüsse von aussen reagiert, nun frage ich: Was ist unser Bienenstock? Meine Familie, die Schweiz, Europa oder die ganze Welt? Weil die Welt der Bienenstock ist, spüren wir auch zuhause, wenn irgendwo etwas falsch läuft, wir können uns der Welt nicht entziehen. Sie gehen in «Eldorado» von Giovanna aus, einem italienischen Flüchtlingsmädchen, das Ihre Familie aufnahm, als Sie noch ein Kind waren. «Das Boot ist voll» von 1981 war zwar eine Buchverfilmung, aber auch durch persönliche Erlebnisse angeregt. Ist Giovanna der Grund für beide Filme – für «Das Boot ist voll» genauso wie für «Eldorado»? 1978 bin ich nach Italien ausgewandert. Ich ging nach Mailand, in die Stadt, aus der Giovanna stammte. Dort schrieb ich das Drehbuch von «Das Boot ist voll». Schon im Buch zum Film war in der Widmung ihr Foto zu sehen. Die Begegnung mit ihr ist mein subjektives Schlüsselerlebnis zum Flüchtlingsthema. Es ist das Moment von der Fremden, die in mein Haus kommt und mit der man teilt. Und mit der man sich identifiziert. Dass ich mich in dem Moment, in dem ich selbst den umgekehrten Weg machte und die Schweiz verliess, damit beschäftigte, war für mich ein wichtiger Schritt. Es ging um die Frage der Zugehörigkeit. Und um die Zufälligkeit der Zugehörigkeit. Surprise 420/18
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1 «Eldorado» erzählt auch Imhoofs persönliche Geschichte: Zeichnung aus seinen Kindertagen. 2 — 5 Szenen auf dem italienischen Rettungsschiff im Mittelmeer mit Flüchtlingen. 6 Innige Beziehung: Die Italienerin Giovanna, die bei der Familie Imhoof zu Gast war, und Markus Imhoof als Kind. BILDER: MASSIMO SESTINI, KINDERZEICHNUNG UND PORTRÄT: MARKUS IMHOOF
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Mit Giovannas Geschichte schaffen Sie eine Parallele zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den Afrikanern auf dem Mittelmeer heute. Bei der Empfangsszene von Giovanna am Güterbahnhof erzählen Sie aber ausgerechnet vom Misstrauen gegenüber den Flüchtlingen, vom Neid und auch von der Krätze, die Giovanna hatte. Wieso? Es ist wichtig, dass man nicht aus der Erinnerung heraus zuckersüss und rosarot erzählt, es hat alles immer zwei Seiten. Giovanna war am Anfang auch ein Mensch, den man nicht anfassen durfte, weil sie Krätze hatte. Man sieht auch die Ebola-Anzüge, die wir auf dem Schiff tragen. Das zeigt deutlich, dass wir davon ausgehen, dass alle krank sind. Die Flüchtlinge sind sozusagen in der Rolle der Ausserirdischen, die zu uns kommen. Gleichzeitig sehen wir selbst aus wie Aliens. In diesem Bild steckt auch das Staunen über das Andersartige, das ich als Kind hatte. Mir hätte einer besonders gut gefallen, den ich gerne als grossen Bruder mit nach Hause genommen hätte. Dann haben wir halt dieses Mädchen zugeteilt bekommen. Das hat mit Schicksal und der Frage nach dem freien Willen zu tun. Man bekommt einfach jemanden zugeteilt. Aber daraus muss man das Beste machen. Für mich wurde daraus ein Geschenk.
«Ich hatte vom Krieg nur indirekt gehört. Nun sah ich Giovannas Angst, und sie weinte nachts.»
Giovanna ist sehr stark mit persönlichen Gefühlen verbunden. Welches war und ist das wichtigste für Sie? Es war die Faszination, dass jemand tatsächlich aus dieser Welt kommt, die man nicht kennt. Ich hatte vom Krieg nur indirekt gehört. Nun sah ich ihre Angst, und sie weinte nachts. Gleichzeitig war da auch die Faszination für das Andere. Je länger, desto mehr wurde sie zu einer lustigen Person, sie hatte Temperament. Mir wurde bewusst, dass ich dank ihr relativ schnell eine andere Sprache lernen konnte. Und dass einem damit eine andere Welt aufgeht, die man geschenkt bekommt. Sie reden in «Eldorado» mit der Leiterin einer Asylunterkunft, sind bei einer Anhörung des Staatssekretariats für Migration SEM dabei und zeigen die Schwarzarbeit bei der Tomatenernte in Italien. Was hat Sie zu diesen Schauplätzen und Gesprächspartnern geführt? Wir haben den ganzen Weg vom Meer durch Italien, durch die Lager, durch das Mafia-Ghetto, dann über die Grenze in die Schweiz gemacht. Den ganzen Stafettenlauf, der vorgezeichnet ist. Und wenn man diesen Stationen folgt, ist da ja immer ein Protagonist. Unser Blick richtete sich nach der Frage: Wie werden die Flüchtlinge behandelt? 24
Wenn man durch die ganze Maschinerie hindurchgeht, steht an jedem Tor ein Verantwortlicher. Sie wurden zu meinen Interviewpartnern. Es fällt auf, dass die Europäer keineswegs schlecht wegkommen. Es ist ein grosser Wille da zu helfen. Was ist Ihre Antwort auf die Frage, wie Flüchtlinge behandelt werden? Ich glaube, sie werden falsch und schlecht behandelt. Aber nicht, weil diese Mitarbeiter und Verantwortlichen schlechte Menschen wären, sondern weil das System so gebaut ist. Die Verantwortung ist so aufgeteilt, dass jeder nur ein Stückchen trägt und sich ihr letzten Endes wieder entziehen kann. Es ist kein Horrorfilm über böse Menschen. Aber das Ergebnis ist trotzdem negativ, was eigentlich noch schlimmer ist. Das ganze System ist auf Abwehr gebaut. Auch der Befrager beim SEM ist kein böser Mensch. Seine Aufgabe ist es, in der Fluchtgeschichte einen wunden Punkt zu finden. Aber auf die Frage, wer verantwortlich für das Unrecht sei, das den Flüchtlingen auf ihrer Flucht angetan wird, sagt er: «Gute Frage. Ich weiss es nicht.» Er kann nur so weit denken, wie er agieren kann. Auch die Leiterin im Bunker will ja eigentlich das Beste für die Leute. Sie überlegt sich, wie es einem geht, der vielleicht lange im Gefängnis war und hier in den Bunker hinuntermuss. Aber sie sagt: «Wir haben, was wir haben. Mehr haben wir nicht.» Da denkt man sich: Wir sind aber die Schweiz. Damit sind wir wieder bei «Das Boot ist voll»: Auch hier ist der Wille Einzelner da, den Juden zu helfen. Und trotzdem sorgen die Gesetze dafür, dass die Flüchtlinge in den Tod zurückgeschickt werden. Da liegt gleichzeitig aber auch die Chance, dass man die Situation verändern kann. Ich gehe nicht davon aus, dass alle schlechte Menschen sind, die Böses wollen. Sie kritisieren das EU-Freihandelsabkommen mit afrikanischen Ländern und das Dublin-Abkommen, das die Flüchtlinge in Italien hängenbleiben lässt, und machen die mafiösen Arbeitsstrukturen im italienischen Flüchtlingslager deutlich. Sie zeigen anhand der Tomatenernte in Italien, dass das europäische Wirtschaftssystem nicht zuletzt dank Ausbeutung funktioniert. Was sollte Europa anders machen? In den deutschen Koalitionsverhandlungen war beispielsweise die Altenpflege ein grosses Thema. Tausende von Plätzen fehlen, die Ausbildung findet nicht statt, Pflegende verdienen schlecht. Aber alle wissen, dass sie selbst auch einmal alt werden. Es ist unverständlich, dass man seine eigene Zukunft derart schlecht plant. Man müsste den Leuten, die diese Arbeit machen, Selbstbewusstsein und Stolz ermöglichen und ihnen Arbeitsbedingungen schaffen, von denen wir letzten Endes ja sogar selbst profitieren. Die Frau im Rollstuhl in «Eldorado» hat die klarere Sicht auf die Flüchtlinge als mancher Politiker. Sie freut sich über die Hilfe dieser Rahel, die sie pflegt. Aber Rahels Asylantrag wurde abgewiesen, also darf sie nicht mehr arbeiten, sie wird beim Deutschlernen nicht mehr Surprise 420/18
unterstützt. Sie bekommt acht Franken am Tag und eine Matratze, kann aber nicht zurückgeschafft werden. Wenn dem nicht so wäre, könnte sie weiter ausgebildet werden, und sie würde zu einem wertvollen Bestandteil unserer Gesellschaft. Sie könnte sich ihr Selbstbewusstsein bewahren, und uns würde sie finanziell nichts kosten, weil sie selber verdienen könnte. Es wäre allen gedient. Zwei Ihrer allerersten Filme sind verboten worden. Heute scheint mir, dass Kritik oft einfach abprallt. Geht es Ihnen ähnlich? Ich möchte dazu beitragen, dass die ganze Flüchtlingsdiskussion nochmals auf einem anderen Niveau angeheizt wird. Es war nicht einfach, überall Zugang zu bekommen, weil bei staatlichen Stellen offensichtlich viel Angst da ist. Bei der Mafia in Italien konnten wir nur mit versteckter Kamera filmen. Bei «Das Boot ist voll» bekam ich das Geld vom Bund nicht, um den Film zu machen. Als der Film herauskam, gab es Bombendrohungen gegen Kinos, und man malte Hakenkreuze vors Haus meines Vaters. In Zusammenhang mit «More Than Honey» bekomme ich immer noch jede Woche mehrere Mails zum Thema Bienen. Im März sollte ich zu einer Vorstellung nach Australien (den Flug darf ich der Umwelt nicht antun), im Mai bin ich in Rom, in Münster habe ich letzte Woche von der Landwirtschaftskammer, den Bieneninstituten und den Imkern den 34. Preis für «More Than Honey» bekommen. Ich war mit dem Film in Zusammenhang mit den Glyphosat-Verboten zweimal in europäischen Parlamenten. Ich glaube, dass man auch das Dublin-System, das einfach ein absoluter Schwachsinn ist, der ein paar wenigen Ländern die ganze Last aufbürdet, auf einer anderen Ebene diskutieren und damit vielleicht etwas verändern kann.
BILD: ZVG
«Eldorado» Markus Imhoof wählt für seine Filme oft einen persönlichen Zugang, erzählt aber politische Geschichten. Dabei verhandelt er seine Themen weniger auf einer rein anwaltschaftlichen oder informativen Ebene, sondern lässt grosse Fragen nach Schicksal und Zufall anklingen. So bringt «Eldorado» auch jene zum Nachdenken, denen die Faktenlage bekannt ist. Imhoof legt den Finger auf globale Zusammenhänge und auf das System von Regeln, Gesetzen und Abkommen, das den gesunden Menschenverstand als Handlungsgrundlage auch da aushebelt, wo er durchaus zu Lösungen führen könnte. Konventionelle Interviewpassagen wechseln sich mit persönlichen Erinnerungen an das Flüchtlingsmädchen Giovanna ab, zu der Imhoof als Kind eine enge Beziehung hatte. Ihre zwei Stimmen tragen im Briefwechsel den Film, und es ist der Kinderblick, der den Status quo letzten Endes so konsequent infrage stellt. Markus Imhoof, 1941 in Winterthur geboren, lebt heute in Berlin. «Eldorado», CH / D 2018, 92 Min., läuft ab 8. März im Kino.
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Randnotiz
Kontrollsüchtig Sobald das Flugzeug auf der Startbahn Gas gibt, gibt es kein Zurück mehr. Mein Körper verkrampft sich. Abzuheben bedeutet für mich den totalen Kontrollverlust. Kontrolle abzugeben, gehört nicht zu meinen Stärken; ob an andere Menschen oder an die vermeintlich sichere Technik. Dass immer genug Zigaretten da sind, die Wohnungstüre wirklich abgeschlossen ist und ich genug Geld auf dem Konto habe, um im Frühling die Steuern bezahlen zu können, liegt in meiner Hand. Auch, dass ich als Erster im Café bin, um auf das einzige Sofa zu sitzen. Aber ob mich der Taxifahrer sicher zum Bahnhof fährt und es noch ein freies Abteil im Zug zum Flughafen gibt, kann ich nicht selbst bestimmen. Da bin ich den Umständen der Situation und Dinge ausgesetzt. Es drückt mich gnadenlos in den Sessel, als das Flugzeug abhebt. Der feste Boden entfernt sich, ich bin gefangen und ausgeliefert in einer Röhre mit Flügeln, die gefährlich wackeln, als wir die Wolken durchstossen – um darüber die Sonne zu finden, die ich unten im Grau so vermisst habe. Wäre ich entspannter, könnte ich den Ausblick geniessen, doch das ist mir versagt, zu tödlich ist die mögliche Fallhöhe unter mir. Mein Partner hält meine Hand. Hat er hinter meinem Rücken eine Affäre? Schafft es mein zweites Buch auch in die Bestsellerliste? Kommen morgen genug Leute an meine Lesung in Berlin? Alles nicht unter meiner Kontrolle, wie so oft bin ich dem Willen anderer ausgeliefert und fühle mich dabei schrecklich fremdbestimmt. Vielleicht könnte man mich als kontrollsüchtig bezeichnen, vielleicht ist das sogar eine Krankheit, die einfach noch nie jemand bei mir diagnostiziert hat. Ohne wäre mein Leben bestimmt schöner, denn das Gegenteil von Kontrolle dünkt mich Vertrauen und die Zuversicht, dass alles funktioniert, alles gut kommt. Anstatt entspannt bewege ich mich über den Wolken steif und abhängig von Menschen und Technik vorwärts. Die Zeit scheint stehengeblieben, eine innere Ohnmacht macht sich bemerkbar. Da hilft auch nicht Wahrscheinlichkeitsrechnung und der daraus resultierende Beweis, dass das Flugzeug das sicherste Fortbewegungsmittel ist. Jemandem, der immer die absolute Kontrolle braucht, fällt es schwer zu verstehen, dass er auch in Sicherheit sein kann, wenn er sie mal abgibt.
FLORIAN BURKHARDT war Sportler, Model und Internetpionier. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert. Soeben ist sein zweiter autobiografischer Roman «Das Gewicht der Freiheit» im Wörterseh-Verlag erschienen.
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Zürich «Zanele Muholi», bis So, 13. Mai, Di bis Fr 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa und So 10 bis 17 Uhr, freier Eintritt, LUMA Westbau, Löwenbräukunst, Limmatstrasse 270, Zürich. www.westbau.com
Zanele Muholi ist eine südafrikanische Künstlerin, die seit über zehn Jahren das Leben von schwarzen Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Intersexuellen und Transgender-Personen in südafrikanischen Townships dokumentiert. Sie versteht ihr Werk als visuellen Aktivismus, der auf gesellschaftliche Veränderung abzielt, und wirkte unter anderem an der Gründung des Forum of Empowerment of Women FEW mit. Muholi initiierte auch die Multimedia-Internetplattform inkanyiso.org, um eine visuelle Geschichte der LGBTQI (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Questioning und Intersex)-Communitys zu begründen. In der Ausstellung sind auch die Dokumentarfilme «We Live in Fear» und DIF «Ayanda and Nhlanhla’s Wedding» zu sehen.
Basel «Unerhörtes. Ein Abend mit unerhörten Geschichten von Menschen in Basel», Fr, 9. März, 19.30 Uhr, Jukebox Basel, im Hinterhaus Hüningerstrasse 2, Basel. Kollekte mit Apéro und Buchverkauf. Die junge Baslerin Rea Hoppler hat 27 ungewöhnliche Geschichten von Menschen aus ihrer Heimatstadt zusammengetragen und sie als Buch herausgegeben. Die jüngste Erzählerin ist 15, die älteste 100 Jahre alt. Hoppler will dem «Unerhörten» in der Gesellschaft eine Stimme geben und gleichzeitig einen Impuls setzen, sich Zeit fürs Zuhören zu nehmen. Eine Ge-
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schichte von Lilian Senn, der ersten Surprise-Stadtführerin, ist auch dabei. Nach einem unglaublich arbeitsintensiven Leben verblüfft sie nun auf ihrer Tour durch Basel so manchen, der ein klischeebeladenes Bild vom Leben auf der Strasse hatte. Dass sie etwas zu erzählen hat, wissen wir also definitiv. DIF
Biel «In Bewegung. Die Kinosammlung Piasio», bis So, 15. April, Di bis So 11 bis 17 Uhr, Neues Museum Biel, Seevorstadt 52, Biel/Bienne. www.nmbiel.ch Phenakistikope, Stereoskope, Zauberlaternen: Wem jetzt das Herz
höher schlägt, der wird sich dafür interessieren, wie ab dem 18. Jahrhundert aus Einzelbildern nach und nach die Illusion von Bewegung entstand. Die schweizweit einmalige Kinosammlung William Piasio in Biel zählt über 2000 Objekte. Eine Schaudepot-Ausstellung schickt uns auf einen chronologischen Parcours mit jeder Menge optischer Gegenstände, die Vorläufer des heutigen Kinos waren. DIF
Kriens Phil Hayes / First Cut Productions: «Work», Mi und Do, 28. und 29. März, jeweils 20 Uhr, Südpol, Arsenalstrasse 28, Kriens (und 27. bis 29. April im Théâtre de Vidy, Lausanne). www.sudpol.ch «Work» ist eine Performance über moderne Arbeitsformen. Das Thema gibt was her: Wir sehen ein durchchoreografiertes Büro mit sechs Performerinnen und Performern und haufenweise Telefonen. Die Kernfrage ist eine, die wir uns im Büro auch immer mal wieder stellen: Wenn die allermeiste Arbeit darin besteht, die Arbeit unserer Mitmenschen zu organisieren, wann und von wem wird dann wohl letzten Endes die eigentliche Arbeit gemacht? DIF
Leben gefüllt. Ein Geograf und eine Aktivistin erklären, wie man als Backpacker nicht zum Globetrottel wird. Das heisst: was die lokale Bevölkerung davon hat, wenn man fair unterwegs ist. Eine Umweltpsychologin sucht nach den Gründen, wieso wir Zugfahren theoretisch super finden und dann doch Flüge buchen. In einer Art Speeddating trifft man sich mit einem Fremden, um über seine Lebensansichten zu diskutieren. Und wir stellen fest, dass der Vortrag «Nachhaltig schön» an der ZHAW von einer «Dozentin für Kosmetik und Toxikologie» gehalten wird. Allein diese Kombination bringt uns bereits etwas ins Grübeln. DIF
Zug «Anders. Wo. Zuger Ausund Einwanderungsgeschichten», bis So, 8. Juli, Di bis Sa 14 bis 17 Uhr, So 10 bis 17 Uhr, Museum Burg Zug, Kirchenstrasse 11, Zug. www.burgzug.ch «Ich bin Zugerin, weil ich hier geboren wurde», sagt eine Frau, die 60 Jahre in New York lebte. «Ich bin Zugerin, weil ich mich hier zuhause fühle», meint eine andere, die vor 25 Jahren nach Zug gekommen ist.» Das Museum Burg hat die Zuger gebeten, ihre eigene Migrationsgeschichte oder die ihrer Vorfahren zu erzählen, die aus Zug ausgewandert sind. Es kamen historische Zeugnisse zusammen, die einen Blick auf die weltweiten Wanderungsbewegungen am Beispiel des Kantons Zug ermöglichen. Von den Tausenden, die Zug in den letzten 200 Jahren verlassen haben oder hierher eingewandert sind, erzählen rund 100 ihre Geschichten. Und im «Büro für Migrationsgeschichten» dürfen Besucher eigene Wanderungsgeschichte erzählen. DIF
Zürich «Nachhaltigkeitswoche», Mo, 5. bis Sa, 10. März, Zürcher Hochschulen, verschiedene Veranstaltungsorte. www.nachhaltigkeitswoche.ch Der Begriff «Nachhaltigkeit» hört sich sehr papieren an, aber er wird an fünf Zürcher Hochschulen – der ETH, der ZHdK, der ZHAW, der Pädagogischen Hochschule PHZH und der Uni Zürich – mit prallem
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BILD(1):ZANELE MUHOLI, COURTESY STEVENSON, CAPE TOWN/JOHANNESBURG & YANCEY RICHARDSON, NEW YORK BILD(2): NMB NOUVEAU MUSEE BIENNE BILD (3):ZVG
Veranstaltungen
ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT
Agglo-Blues
Folge 5
Der Arbeitsplatz Was bisher geschah: Die Kriminalpolizistin Vera Brandstetter wird mit dem Fall eines im Dorfweiher ertränkten Joggers betraut. Sie besucht die Frau, die einen Mann, auf den die Beschreibung passt, vermisst gemeldet hat. Ohne die Personalien der Frau aufgenommen zu haben, verliess Vera Brandstetter die Wohnung und fragte sich, wie die Gewalt, der Reto Schwander zum Opfer gefallen war, in diese heile Welt eingedrungen war. Zufall, eine Verwechslung – oder hatte sie schon immer in diesen blitzblanken Räumen, diesem ehelichen Idyll gewohnt? Brandstetter hatte vor langer Zeit aufgehört, voreilige Schlüsse zu ziehen. Angst und Schrecken hatte sie in Bruchbuden und prächtigen Villen angetroffen, hatte bei Frauen, denen sie die Nachricht vom Tod des Ehemannes überbrachte, Erleichterung gesehen. Ungläubigkeit, dass der Terror endlich vorbei war. Frau Schwander hingegen schien ehrlich erschüttert gewesen zu sein. Brandstetter fuhr nach Hause, duschte und zog sich um. Ob zum Ausgleich für ihren schäbigen Look am Morgen oder unbewusst beschämt von der sorgfältig zurechtgemachten Frau des Opfers, schminkte sie sich dezent, zog eine helle Bluse und schwarze Bundhosen an, dazu halbhohe Pumps. An die rechte Hand steckte sie einen schmalen goldenen Ring mit einem kleinen Diamanten, der als Ehe- oder Verlobungsring durchgehen konnte. Dem Namen der Firma nach zu urteilen, würde sie es dort vor allem mit Männern zu tun haben, und von denen gab es einige, die ausserhalb ihres familiären und beruflichen Umfelds nie mit Frauen sprachen. Wahrscheinlich hatte es in ihrem Leben nur die kurze Zeit zwischen Überwindung der Pubertätsscheu und Finden der festen Partnerin gegeben, in der sie das getan hatten. Nun versuchten sie, ihren Mangel an Übung durch ein Übermass an Enthusiasmus wettzumachen, froh um die Gelegenheit, ihren brachliegenden Charme loszuwerden. Der Ring schützte davor. Meistens. Es war kurz vor Mittag, als sie auf den Hof der Comartec AG in der Nachbargemeinde Hölzlingen fuhr. Die Firma war in einem dieser funktionalen Gebäude untergebracht, deren Fassade vor zwanzig Jahren leicht futuristisch gestaltet worden war, verhaltener Optimismus innerhalb eines strengen Kostenrahmens, als Surprise 420/18
Zeichen der Innovationsfähigkeit des Unternehmens, ohne dessen Grundsolidität in Frage zu stellen. Ein lang gezogener Produktionstrakt, eine Lagerhalle, ein vierstöckiges Verwaltungsgebäude, etwa achtzig Autos auf dem Parkplatz, zwei Dutzend Velos und Mofas im gedeckten Unterstand. Brandstetter stellte ihren sieben Jahre alten silbernen Hyundai auf den Besucherparkplatz. Am Empfang legte sie der jungen Frau, deren Schminkkünste ebenfalls nichts zu wünschen übrigliessen, ihren Polizei- sowie den Firmenausweis von Reto Schwander vor. «Herrn Schwander ist etwas zugestossen. Kann ich mit einem Vorgesetzten oder Kollegen sprechen?» Die junge Frau rang mit der Fassung, auf so eine Situation war sie offenbar nicht vorbereitet. «Am besten sprechen Sie mit Frau Hofmann, warten Sie.» Sie wählte eine Kurzwahlnummer. «Erika, kannst du schnell herunterkommen? Da ist jemand von der Polizei. Danke.» «Ist sie die Chefin hier?», fragte Brandstetter. Die Empfangsdame sah sie an, als sei das eine völlig absurde Idee. «Nein, sie ist die Pi-ey des Si-ii-oo. Sie ist schon sehr lange bei uns.» «Die was ist sie?» «Die P.A. Personal Assistant. Früher sagte man wohl Chefsekretärin», erklärte die junge Frau leicht ungeduldig. Die Lifttür ging auf und eine Frau von etwa sechzig Jahren, die Haare kastanienbraun gefärbt, orange gemusterte Bluse, brauner Rock, um den Hals ein rotbrauner Foulard, trat festen Schrittes heraus und auf Brandstetter zu. «Erika Hofmann, freut mich.» Sie gab ihr die Hand. «Vera Brandstetter. Kriminalpolizei. Es geht um einen Ihrer Mitarbeiter.» «Kommen Sie, wir besprechen das oben.» Hofmann berührte Brandstetter leicht am Ellbogen und sie fuhren mit dem Lift hinauf. Es war nicht der Moment, nach dem Treppenhaus zu fragen, und sie würde am Nachmittag noch einmal sechs Stockwerke hochsteigen, um Frau Schwanders Personalien aufzunehmen.
STEPHAN PÖRTNER schreibt seit 20 Jahren Kriminalromane. Ein weiteres Werk aus seiner Feder feiert derzeit Hörspiel-Premiere auf SRF1. Am 20. März um 20 Uhr wird es im Rahmen von «Zu Ohren kommen» im Theater Winkelwiese vorgestellt. Bereits erschienene Folgen von «Agglo-Blues» kann man online nachlesen oder nachhören: Stephan Pörtner liest sie selbst vor. www.surprise.ngo/krimi
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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01
Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel
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Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern
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VXL gestaltung und werbung AG, Binningen
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Burckhardt & Partner AG, Basel
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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern
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SM Consulting, Basel
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Holzpunkt AG, Wila
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Praxis Colibri, Murten
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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
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SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich
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AnyWeb AG, Zürich
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Hervorragend AG, Bern
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Probst Schliesstechnik AG, Bern
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Hofstetter Holding AG, Bern
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Balcart AG, Therwil
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Echtzeit Verlag, Basel
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Schweizerisches Tropeninstitut, Basel
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Yoga Für Alle, Turgi
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Hedi Hauswirth, Psychiatrie-Spitex, Oetwil
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Barth Real, Zürich
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Claude Keller & Partner AG, Zürich
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Netzpilot, Basel
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Apps with love AG, Bern
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FN Informatik GmbH, Steinhausen
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo
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Wir alle sind Surprise Ausgabe 418
«An der Nase herumgeführt» Mit Ihrem Artikel «Die Sozialzahl – Ständige ausländische Wohnbevölkerung» liefern Sie ein gutes Beispiel dafür, wie eine Statistik schöngeredet werden kann. Im dritten Absatz schreiben Sie folgendes: «Der Rest der Welt spielt in der Statistik der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung nur eine untergeordnete Rolle.» Dabei zählen Sie folgende Personengruppen auf: Afrika 103 000, Nordamerika 26 000, Lateinamerika & Karibik 53000, Asien & Ozeanien 158000. Das sind insgesamt 340 000 Personen. Sie machen somit von den insgesamt 2,1 Millionen Ausländern, die in unserem Land leben, einen Anteil von 16,18 Prozent aus. Und das nennen Sie eine untergeordnete Rolle!? Brisant ist dabei noch, dass Sie den Kosovo mit 109 000 Personen auf Platz 5 offenbar als relevant betrachten, aber Personen aus Afrika mit nur gerade 6000 Personen weniger nicht. Genauso wenig gehen Sie auf die Personen aus Asien und Ozeanien mit einer Anzahl von 158 000 ein. Alleine diese Bevölkerungsgruppe ist um gute 50 Prozent grösser als der Anteil der Kosovaren und müsste dementsprechend ziemlich weit oben auf der Liste aufgeführt werden, nämlich noch vor Frankreich! Es ist eine Mär zu glauben, dass die Schweiz gut und sehr gut qualifizierte Mitarbeitende nur noch im Ausland rekrutieren kann. Erstens werden diese dort selbst benötigt und zweitens haben wir in der Schweiz ein hervorragendes Bildungssystem. Wir verfügen über eine grosse Anzahl an gut und sehr gut qualifizierten Arbeitnehmern. Wir brauchen, bezogen auf fachliche Qualifikationen, nur einen sehr geringen Anteil an ausländischen Arbeitnehmern in hochspezialisierten Branchen. Ich
Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Georg Gindely (gg) Reporter: Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe James Braund, Philip Bürli, Danielle Liniger, Evan Ruetsch, Laura Schäfer, Benjamin von Wyl Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik
kann mit Stolz sagen, dass ich noch nie jemanden eingestellt habe, welcher nicht Schweizer war; und das werde ich auch in Zukunft nicht tun! Ich empfinde es als Skandal, wenn Sie versuchen, Leser eines solchen Magazins mit Ihrer Aussage an der Nase herumzuführen, was Sie meines Erachtens getan haben. P. SALZMANN, Muri
Antwort von Sozialzahl-Autor Carlo Knöpfel: Die Kolumne thematisiert die Herkunft der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz nach Kontinenten. Deutlich wird, dass die Schweiz ein Einwanderungsland für Menschen aus Europa ist. Der Vergleich kann auch auf der Ebene der Länder angestellt werden. Was aber nicht geht, ist ein Vergleich zwischen einzelnen Ländern und ganzen Kontinenten. Geht man die Kontinente durch, so zeigt sich folgendes Bild: Für Afrika ist Eritrea mit 32 888 Personen das wichtigste Herkunftsland, für Nordamerika sind es die Vereinigten Staaten mit 18 954 Personen, für Lateinamerika/Karibik Brasilien mit 20 172 Personen und für Asien/Ozeanien Sri Lanka mit 28 639 Personen. Keines dieser Länder erreicht auch nur ansatzweise die Grössenordnung der wichtigsten Herkunftsländer Europas. Die Zahlen können der Statistik zur ständigen ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz des Bundesamtes für Statistik entnommen werden. www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/ tabellen.assetdetail.3202953.html
Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name
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FOTO: JAMES BRAUND
Internationales Verkäufer-Porträt
«Singen macht mich glücklicher» «Ich bin ein Mitglied der Wiradjuri und wurde auf ihrem Stammesgebiet in New South Wales geboren. Meine Mutter war eine Latchi Latchi. Aufgewachsen bin ich in Heidelberg West, einem Stadtteil von Melbourne – es war wie in der New Yorker Bronx! Als ich ein Teenager war, reiste ich in Australien herum. Damals lebte ich auf der Strasse. Ich kam bis nach Alice Springs im Northern Territory, nach Westaustralien, und den Süden habe ich auch gesehen. Ich war andauernd auf der Suche nach einem Zuhause, weil ich seit meinem vierten Lebensjahr körperlich, sexuell und psychisch missbraucht worden war. Ich versuchte, vor meinen Problemen wegzulaufen. In Alice Springs habe ich es geschafft, trocken und clean zu werden. Damals war ich 27 Jahre alt. Viele sagten, dass der Mittelpunkt von Australien der richtige Ort ist, um von der Sucht wegzukommen. Sie hatten recht. Ich traf viele wunderbare Menschen dort – ich weiss nicht, ob sie noch leben, hoffe es aber sehr. Die AborigineStammesältesten haben mich bei meinem Entzug unterstützt. Ich war ihnen wichtig. Ein Freund von mir, auch ein Aborigine, versuchte sogar, den Bus zu stoppen, mit dem ich zurück nach Melbourne reisen wollte. Er hatte geträumt, dass dort etwas Schlimmes passieren würde. Und so war es auch. Ich landete im Gefängnis. Ich sass schon im Long Bay in Sydney und in Melbourne im Pentridge. Seit dem 27. März 1993 bin ich draussen, dieses Jahr sind es 25 Jahre. Bald werde ich 55 Jahre alt. Seit 20 Jahren bin ich bei The Big Issue. Das hat mir unglaublich geholfen. Würde ich nicht für The Big Issue arbeiten, hätte ich nichts zu tun gehabt und wäre wieder in die Kriminalität reingerutscht ... Ich glaube, ich wäre wieder im Gefängnis gelandet. Oder ich hätte mich mittlerweile umgebracht. Momentan geht es mir wirklich gut. Ich nehme jeden Tag so, wie er kommt. Vor etwa 16 Jahren kam Hank in mein Leben: Er ist mein bester Freund. Er hat seine Mutter verloren. So wie ich. Ich glaube, es ist das, was ihn mir so nah macht. Ich verstehe gut, was er durchmacht. Wir hatten ein Chorprojekt mit dem Namen «Djambana» am Laufen, das Hank und ich selbst gegründet haben. Der Name bedeutet «Der Treffpunkt». Es gab acht weitere Mitglieder, eine Weile lief das. Wir sangen bei Rock Against Racism und mit den Aborigine-Sängern 30
Allan C. verkauft seit 20 Jahren die Strassenzeitung The Big Issue Australia in Melbourne. Er erzählt von seiner Aborigine-Herkunft, von seinem Kampf gegen die Abhängigkeit und davon, wie die Kraft des Gesanges seine Stimmung hebt.
Archie Roach und Kutcha Edwards sowie mit dem Singer-Songwriter Dan Sultan, wir sangen bei Earthcore und für sehr viele gemeinnützige Organisationen. Im «Choir of Hard Knocks» war ich auch für drei oder vier Jahre. Das tat uns wirklich gut, weil wir trocken und clean wurden. Singen macht mir unglaublich viel Spass. Es macht mich glücklicher. Ich liebe es, «Hallelujah» von Leonard Cohen zu singen. Ich liebe diesen Song. Ausserdem mag ich «Down City Streets» von Auntie Ruby Hunter und singe auch gerne «Stand Strong» von Kutcha Edwards. Ich singe unheimlich gern Lieder, in denen eine Wahrheit und das Herz eines Menschen stecken.»
Übersetzt aus dem Englischen von L AUR A SCHÄFER Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von BIG ISSUE AUSTR ALIA/INSP.NGO
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