Strassenmagazin Nr. 421 16. März bis 5. April 2018
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Flugreisen
Liebe oder Klima Am brasilianischen Strand Hochzeit zu feiern, ist romantisch. Aber mit dem Langstreckenflug hinzureisen, zerstört die Umwelt. Darf man das? Seite 8
Pfadfinder
Familie
Comedy
Junge Eritreer haben erkannt, dass der Pfadi-Gedanke für Integration steht
Mutters letzte Reise: Das Sterben ist eine Zerreissprobe für die Angehörigen
In Grossbritannien füllen Comedians die Pubs. Jetzt sind sie in der Schweiz zu sehen
Seite 16
Seite 18
Seite 22
Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BERATUNG
Unterstützung
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STRASSENMAGAZIN
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Erlebnis
Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
Information
Perspektivenwechsel
SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
BETEILIGTE CAFÉS
Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. 2
IN BASEL BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Sphères, Hardturmstr. 66 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47
Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise
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TITELBILD: MARIO FRAUCHIGER
Editorial
Wie eine Frage versandet Es ist herzerwärmend aber gletscherschmelzend, wenn zwei Menschen in Brasilien heiraten und zu diesem Zweck ihren Freundeskreis aus der Schweiz einfliegen. Conradin Zellwegers Titelgeschichte besteht aus flirrender Sonne, warmem Sand am Strand und dem immer wiederkehrenden Gedanken: Ist es richtig, was wir hier tun? Dürfen wir uns diese Reise aus umweltpolitischer Sicht leisten? Diese Frage stellen sich vermutlich viele bei der Ferienplanung, nur um sie möglichst schnell wieder beiseitezuschieben. Aber welche Antworten bekommt man, wenn man sie jungen Schweizer Umweltwissenschaftlern stellt? Sie sind es nämlich, die die besagte Hochzeit in Brasilien feiern. Ab Seite 8. «Fast schon sowas wie ein Primeur!», sagte mein Redaktionskollege, als wir Benjamin von Wyls Text über die eritreische Pfadi lasen. Wir hatten uns unter der Pfadi eine Organisation vorgestellt, die so traditionsverhaftet ist, dass sie auch in einer multikulturellen Gesellschaft am liebsten Schweizer durch die eidgenössischen
Wälder schickt. Aber weit gefehlt. 2015 hat die Pfadfinderbewegung Schweiz entschieden, dass sie Kinder und Jugendliche auf der Flucht in der Schweiz unterstützen wolle. Und entsprechend fördert sie die eritreischen Pfadfinder, die zurzeit eine eigene Gruppe aufbauen. Doch, das sind richtige News, finden wir. Ab Seite 16. Pfadi ist Gemeinschaft. Familie auch. Und eine Familie, die sich zusammenraufen muss, wenn die Mutter stirbt, erst recht. Birgit Ludwig beschreibt in ihrer persönlichen Geschichte ab Seite 18, wie sich das Geflecht von Schwester, Freund, ExMann und Teenie-Töchtern in schweren Zeiten subtil verändert. Die Not schafft letzten Endes Zusammenhalt. Und bringt die Erkenntnis, dass einen die anderen wieder aus dem Dreck ziehen. Wie bei den Pfadfindern im Wald.
DIANA FREI Redaktorin
4 Aufgelesen
25 Dokumentarfilm
Besuch bei der Gegenkultur in China
5 Vor Gericht
Gut eingecremt 26 Veranstaltungen 6 Challenge League
Ein roter Mantel politisierte den Autor
27 Fortsetzungsroman
Feldforschung im Büro Wenn Mutter sich langsam verabschiedet 28 SurPlus
18 Familie
7 All Inclusive
Von Vor- und Nachteilen
Positive Firmen 22 Comedy 29 Wir alle sind Surprise Die lange Tradition Impressum des britischen Humors
8 Flugreisen
Wenn die Liebe das Polareis zum Schmelzen bringt
Surprise abonnieren 16 Integration
Eritreer engagieren sich aktiv in der Pfadi
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25 Buch
Unübersetzbar
30 Surprise-Porträt
«Ich bekomme so viel Liebe zurück» 3
Aufgelesen
BILD: ZVG
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Hungrig in Philadelphia Neusten Untersuchungen zufolge leiden 42 Millionen Menschen in den USA an sogenannter «food insecurity» (Ernährungsunsicherheit). Das bedeutet, dass sie keinen dauerhaften Zugang zu genügend Nahrung haben, um ein aktives und gesundes Leben zu führen. Im Bundesstaat Pennsylvania sind 1,6 Millionen Menschen davon betroffen, das sind 13,1 Prozent der Bevölkerung. Die höchste Rate in Pennsylvania weist Philadelphia mit 20,1 Prozent auf und liegt in den USA damit auf Platz 10 der Städte mit der höchsten Ernährungsunsicherheit. Rang 1 nimmt Los Angeles ein.
ONE STEP AWAY, PHILADELPHIA
Weltfrieden aus dem Café Vor zehn Jahren trafen sich fünf Menschen in einem Café in Melbourne, um über die Abschaffung von Atomwaffen zu sprechen. Nun sind sie die ersten Australierinnen und Australier, die einen Friedensnobelpreis erhalten haben. Ausgezeichnet wurden sie für die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die damals während der Sitzungen im Café entstanden ist und heute ihren Sitz als Organisation in Genf hat. Im Juli 2017 beschloss die Vollversammlung der UNO auch aufgrund der Arbeit der ICAN, Nuklearwaffen zu ächten.
THE BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE
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ILLUSTRATION: MICHEL STREICH
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1997 unterschrieben 650 000 Österreicherinnen und Österreicher das Frauenvolksbegehren, das die Gleichstellung von Frauen forderte. Passiert sei seither wenig bis gar nichts, kritisiert ein neues Komitee, welches das Frauenvolksbegehren 2.0 lanciert hat. Die wichtigsten Forderungen: Macht teilen, Einkommensunterschiede beseitigen, Armut bekämpfen, Wahlfreiheit ermöglichen, Gewalt verhindern. Bereits nach einer Woche waren die 100 000 Unterschriften zusammen, welche ein Volksbegehren benötigt, um im Parlament behandelt zu werden.
ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Frauenbegehren
Vor Gericht
Wessen Schnäbi war’s?
AUGUSTIN, WIEN
Tödliche Kälte Die eisige Kälte im Februar war für Obdachlose lebensbedrohlich. Wie reagiert der Körper auf die Kälte? Zuerst zittert er, wärmt sich also durch Bewegung auf. «Dann wird man schläfrig und verwirrt», sagt Rechtsmediziner Detlef Günther. Blutdruck und Puls fallen ab, und es kann zum paradoxen Phänomen kommen, dass einem ganz warm wird und man zu schwitzen beginnt. Tödlich ist das Absinken der Körpertemperatur auf 27 Grad.
ASPHALT, HANNOVER
Pfandflaschen sammeln
Immer mehr Menschen in Deutschland sammeln Pfandflaschen, um etwas zusätzliches Geld einzunehmen. Im München fischte ein Ehepaar – er Rentner, sie Reinigungskraft – 18 Pfandflaschen aus einem Altglascontainer. Anwohner fühlten sich gestört und alarmierten die Polizei. Der Richter lehnte eine Verurteilung wegen Diebstahls ab, weil kein messbarer Schaden entstanden war.
STRASSENKREUZER, NÜRNBERG
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«Nein!», sagt der Angeklagte kategorisch. Er habe sich nicht bewusst nackig an sein Badezimmerfenster gestellt und die Mädchen auf dem Chindsgi-Heimweg abgepasst. Und schon gar nicht habe er onaniert, als diese vorbeigingen. Die Kinder, die das berichteten, hätten etwas durcheinandergebracht. Ein anderer Mann im Quartier müsse der Exhibitionist sein. Deshalb verlangt der 60-jährige Hilfsarbeiter einen Freispruch. Doch als zur fraglichen Zeit die Polizei kam, stand der Mann sehr wohl nackt in seiner Wohnung. Die Beamten hatten ihn über Wochen beobachtet, nachdem sich eine besorgte Mutter gemeldet hatte. Sie hatte mitgehört, wie die fünfjährige Tochter der kleinen Schwester von einem «Bluddimaa» erzählte. Der würde jeweils in einem Fenster stehen und sein «Schnäbi» zeigen. In der Befragung beschrieb das Mädchen eindeutig Onanierbewegungen. Ihre Erklärung dafür: Der Bluddimaa hatte kalt und wärmte sich mit dem Reiben auf. Dass er nackt am Fenster stand, sei schon möglich, räumt der Angeklagte ein. Aber unbewusst. Seine Ausführungen dazu wirken abenteuerlich: Er habe wohl seinen Penis am Lavabo gewaschen, das mache er oft. Und an dem Tag, als die Polizei ihn nackt sah, war da diese Sache mit dem Fenster. Er habe es vor dem Duschen schrägstellen wollen, wegen dem Dampf. Darüber ist das Gericht verwundert: Normalerweise würde man doch nach, nicht während dem Duschen das Fenster öffnen. Vor allem im November. Doch, meint der
Angeklagte, das mache er immer so. Auf jeden Fall sei dann – schon wieder! – das Fenster ausgehängt. Weshalb er auf den Badewannenrand stieg, um es wieder einzuhängen. Dabei habe er mit der einen Hand das Fenster gehalten und mit der anderen seine Genitalien abgedeckt. Und überhaupt, er habe Erektionsprobleme. Der Staatsanwalt ist ungehalten: Erstens sei beim Tatbestand des Exhibitionismus nicht entscheidend, ob der Angeklagte eine Erektion hatte. Dann seien, zweitens, Zufälle zwar nie ganz auszuschliessen – aber es wäre ja schon erstaunlich, wenn das Kippfenster immer dann aushänge, wenn Kinder an seinem Fenster vorbeigingen. Oder er immer just dann seinen Penis waschen müsse. Und was sei mit dem ominösen zweiten Mann, der sich nie real manifestiert habe? Da seien wir nun aber wirklich tief im Reich der Fantasie. Die Verteidigerin spricht hingegen lang und gewunden von einer Aneinanderreihung unglücklicher Zufälle. Der Angeklagte sei auch nicht eben intelligent und habe das Risiko, nackt gesehen zu werden, verkannt. Er wisse auch nicht, wann die Kinder vom Chindsgi kämen. Inzwischen sei der Mann völlig traumatisiert von den Vorwürfen. Er sei nicht nur freizusprechen, sondern auch mit 1000 Franken Genugtuung zu entschädigen. «Wir halten es zwar für wahrscheinlich, dass Sie schuldig sind, doch wir halten es nicht für erwiesen», sagt der Gerichtsvorsitzende bei der Urteilseröffnung. Deshalb gelangt das Gericht zu einem «Freispruch zweiter Klasse». Gelogen hätten die Kinder aber sicher nicht. Sie hätten zweifelsohne ein «Schnäbi» gesehen. Dass es jenes des Angeklagten war, sei nicht abschliessend klar. Aber die 1000 Franken Genugtuung, die könne er vergessen. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.
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FOTO: TWITTER @ALINEJADMASIH
Challenge League
Wehende Kop ücher Meine Kindheit habe ich in einem Dorf im Nordwesten des Irans verbracht. Damit wir in die Schule gehen konnten, schickten uns unsere Eltern in die Stadt Sardasht. Eines Tages kam meine Schwester weinend nach Hause. Sie ist vier Jahre jünger als ich und ging damals ins erste Schuljahr. Meine Eltern fragten sie nach dem Grund für die Tränen, aber sie konnte nicht richtig antworten, weil sie so schluchzte. Als sie sich etwas beruhigt hatte, erzählte sie, dass man sie nicht in die Schule reingelassen hatte. «Meine Lehrerin hat mich nach Hause geschickt. Sie sagte, ich solle mit meinen Eltern wiederkommen.» Einen Tag zuvor hatten meine Eltern der Schwester einen roten Mantel gekauft. Sie freute sich sehr über die tolle rote Farbe. Ich erinnere mich gut daran, dass sie ihn die ganze Nacht über anbehalten hatte. Die Lehrerin aber sagte, sie dürfe nur mit einem schwarzen oder einem dunkelblauen Mantel in die Schule kommen. Das traf meine Schwester sehr. Wir kamen aus einem kurdischen Dorf, wo die Frauen allerlei Farben anzogen und sich ohne Kopftücher bewegten. In der staatlichen Schule aber durften Mädchen nur dunkle Farben mit weissem Kopftuch tragen. Die Jungen durften zwar verschiedene Farben anziehen, aber auch bei ihnen sollten Schwarz und Weiss überwiegen. Unterdrückung, Gewalt und Schläge bekamen Jungen und Mädchen gleichermassen zu spüren. Diese Art der Schikane brachte mich dazu, mich gegen das Regime aufzulehnen. Schon mit 17 ging ich auf die Strasse, um zu demonstrieren. Auf einer Kundgebung im Jahr 2000 stand ich mit meinem Freund Faraydun in der ersten Reihe und schrie laut: «Nieder mit dem iranisch-islamischen Regime!» Die Streitkräfte griffen uns mit Tränengas an. Wir rannten in eine kleine Nebenstrasse. In der Mitte der Gasse schnitten uns die Soldaten den Weg ab und griffen uns von beiden Seiten an. Mit Schlagstöcken prügelten sie auf uns ein. Wir suchten Schutz in einer Häuserecke, aber wir bekamen immer noch viel ab. Plötzlich öffnete jemand eine Tür und zog mich hinein. Die Soldaten versuchten, mich wieder rauszuziehen, aber ein paar Frauen gingen dazwischen. Während man mich in den Korridor zog und die Frauen versuchten, die Tür zu schliessen, sah ich, wie die Soldaten weiter auf Faraydun einschlugen. Vielleicht war meine Rettung sein Pech und sie schlugen ihn nun noch heftiger, weil sie mich verloren hatten. Er litt sehr. Dann schloss sich die Tür. Die Streitkräfte haben Faraydun mitgenommen. Er sass sechs Jahre im politischen Gefängnis. Das ist jetzt 17 Jahre her. Inzwischen ist meine Schwester verheiratet und hat sich an das religiöse System angepasst, obwohl sie wie viele Frauen weiterhin das islamische System kritisiert. Derzeit tragen die Frauen ihren Widerstand gegen das Regime wieder auf die Strasse. Bei den Unruhen Ende 2017 und Anfang dieses Jahres, als die Demonstrationen das ganze Land eroberten, schrieben sie Parolen an Wände und gingen in derselben Anzahl auf die Strasse wie die Männer. Dann banden 6
Die Aktivistin Shaparak Shajarizadeh sitzt wegen ihres gewaltfreien Protests gegen die Pflicht zur Verschleierung derzeit im Iran im Gefängnis. Sie ist eine von vielen.
sie ihre Kopftücher an Stöcke und liessen sie wie Fahnen wehen. Denn sie wollen weder die Kopftücher noch das islamische Regime. Was dieser Bewegung Kraft gibt, ist, dass Männer Schulter an Schulter mit den Frauen stehen. Für das islamische Regime bedeutet dies: Wir Männer stehen hinter den Frauen, wir wollen die freien Köpfe unserer Frauen nicht mit Tüchern bedecken. Das kann ein Anfang von Freiheit für die Frauen sein, wenn die Gesellschaft dies inmitten des islamischen Regimes und trotz aller Unterdrückungen nicht nur akzeptiert hat, sondern auch wünscht. Weil das islamische Regime den Frauen jedoch diese Rechte bisher nicht zugesteht, brauchen die Frauen internationale Unterstützung. Ich fordere alle auf, ihre Stimme für die Frauen im Iran zu erheben, damit diese zu ihren Rechten kommen.
Der kurdische Journalist KHUSRAW MOSTAFANEJAD floh aus seiner Heimat Iran und lebt seit 2014 in der Schweiz. Der rote Mantel seiner Schwester hat ihm die islamische Unterdrückung vor Augen geführt.
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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
die intellektuellen Kapazitäten der ausübenden Personen stellen. Dabei ist es in der Praxis dann bei weitem nicht immer möglich, wie in einer Prüfungssituation Kompensationsmassnahmen zu treffen. Ein Chirurg, der eine mehrstündige Operation durchführen muss, kann sich nicht auf ein Aufmerksamkeitsdefizit berufen und deshalb die Operation einfach verlängern. Ebenso wenig kann eine Leseschwäche als Vorwand gelten, wieso ein Arzt keine Fachartikel lesen muss, obwohl das zur beruflichen Weiterbildung unabdingbar wäre.»
All Inclusive
Türen öffnen Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. So steht es in der schweizerischen Bundesverfassung. Niemand darf diskriminiert werden, beispielsweise wegen seines Geschlechts, seiner Lebensform oder aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Das Gesetz sieht zudem Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen vor. Um dieser gesetzlichen Verpflichtung nachzukommen, müssen Schulen und Ausbildungsstätten Vorkehrungen gegen behinderungsbedingte Barrieren treffen. Dabei geht es nicht nur um bauliche Anpassungen. Schülerinnen und Studierenden mit einer Behinderung, die grundsätzlich fähig sind, die vorgegebenen Lernziele zu erreichen, soll es ermöglicht werden, ihr Können und Wissen auch zu zeigen. Das kann bedeuten, dass ein Schüler mit einer körperlichen Behinderung eine Prüfung nicht von Hand, sondern mit dem Computer schreibt, oder dass eine Studentin mit einer Sprachbehinderung eine mündliche Prüfung schriftlich ablegen darf. Diese spezifischen Massnahmen werden unter dem Begriff Surprise 421/18
«Nachteilsausgleich» zusammengefasst. Dabei geht es explizit darum, nur Nachteile auszugleichen, die während Prüfungen aufgrund einer – ärztlich attestierten – Behinderung entstehen. Den Lernstoff müssen die behinderten Schüler und Studierenden selbstverständlich genauso beherrschen wie ihre nichtbehinderten Kolleginnen. Trotzdem gibt es immer wieder Kontroversen darüber, ob der Nachteilsausgleich den Betroffenen nicht vielleicht doch ungerechtfertigte Vorteile verschaffe. Die SVP vertrat 2016 in einer Vernehmlassungsantwort zum Medizinalberufegesetz (MedBG) die Meinung, dass nur Menschen mit körperlichen Behinderungen ein Gesuch um Nachteilsausgleich stellen dürfen sollen. Die Partei forderte, dass «Menschen mit geistigen oder psychisch/seelischen Beeinträchtigungen, wie etwa einer Konzentrationsstörung oder einer Lese-Rechtschreibschwäche, von solchen Ausgleichsmassnahmen ausgenommen werden sollten». Begründet wurde dies folgendermassen: «Es gilt hier nämlich zu beachten, dass die Ausübung der im MedBG geregelten Berufe allesamt hohe Anforderungen an
In den Fünfzigerjahren vertauschte ein Junge im Waadtland ständig Buchstaben und Wörter. Er las sehr langsam und hatte Mühe mit dem Verstehen von Texten. Die Schulpflege hätte ihn an liebsten in die Sonderschule geschickt. Doch ein Lehrer erkannte, dass der Junge nicht zu wenig intelligent war, sondern an einer Leseschwäche (Legasthenie) litt. So etwas wie einen «Nachteilsausgleich» gab es damals offiziell noch nicht, doch dank der Fürsprache dieses Lehrers – und nach einigen Schulwechseln – erlangte der junge Waadtländer schliesslich trotzdem die Matura. Er studierte Physik, promovierte in Biophysik, wurde Professor an der Universität Lausanne, Direktor des Elektronenmikroskopiezentrums und leitete die Fakultät für Biologie. Ende des letzten Jahres ging der humorvoll formulierte Lebenslauf des Wissenschaftlers um die Welt. Unter 1955 steht: «Erster offiziell anerkannter Legastheniker des Kantons Waadt – das erlaubte mir, schlecht in allem zu sein … und diejenigen zu verstehen, die Schwierigkeiten haben.» Vergangenen Dezember wurde Jacques Dubochet für seine Entdeckungen im Bereich der Kryo-Elektronenmikroskopie der Nobelpreis für Chemie verliehen.
MARIE BAUMANN glaubt, dass es besser ist, Türen zu öffnen, statt sie zuzuschlagen.
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Die meisten Gäste sind sich der Klimaauswirkungen des Fluges bewusst – und haben sich trotzdem dafür entschieden.
Wenn die Liebe das Polareis zum Schmelzen bringt Flugreisen Ein Umweltwissenschaftler-Paar heiratet in seiner Heimat Brasilien.
Ein Grossteil der Gäste reist per Flugzeug aus der Schweiz an. Umweltfreundlich ist das nicht. Gibt es einen Weg aus dem Dilemma? TEXT CONRADIN ZELLWEGER
Nirgends könnte ich mich den schmelzenden Polen unserer Erdkugel ferner fühlen als hier, barfuss am glühenden Sandstrand in São Sebastião. Von fern erklingt brasilianische Musik, von dort, wo in weniger als einer Stunde zwei Menschen sich das Ja-Wort geben werden. Der Vater des Bräutigams schlendert am Strand entlang. «Du versuchst hier, zwei total ungleiche Dinge in die Waagschale zu werfen», sagt er, etwas beschwingt vor Vorfreude und Caipirinha. «Die Hochzeit meines Sohnes hat einen emotionalen Wert. Umweltschutz ist etwas Rationales.» Die Sonne sinkt in den Südatlantik, zwischen meinen Zehen spüre ich die Hitze, die sie im Sand hinterlässt. Rund 200 Kilometer östlich liegt São Paulo. Einige Monate zuvor sass ich mit Fotograf Marco Frauchiger an der Sihl. Man hörte die quietschenden Züge am Zürcher Hauptbahnhof, wir diskutierten unsere Reisepläne für Brasilien, wo wir an diese Hochzeit eingeladen worden waren. Für wie lange sollten wir fliegen? Mehr als drei Wochen lagen für uns beide nicht drin: Job, Familie, Geld. Aber wenn wir schon nach Brasilien flogen, dann wollten wir auch gleich eine Reportage machen. Vielleicht eine Story über die Zuckerrohr-Monokulturen? Oder das antibiotikatriefende Pouletfleisch, welches in die Schweiz exportiert wird? «Vielleicht denken wir zu weit», sagte Marco. Schliesslich ist es absurd genug, für so kurze Zeit nach Brasilien zu jetten. Ist diese Reportage ein Ablasshandel, ein verzweifelter Versuch, das Gewissen reinzuwaschen? Ich bin ein moderner, umweltbewusster Stadtzürcher Ende 20. Ich kompostiere Eierschalen, besitze kein Auto und fahre trotz Glatteis Velo. Ich habe mich schon quer durch das Bio-Sortiment von Coop gegessen und auch schon stundenlang WC-Papier gesucht, das nicht in Plastikfolie eingepackt ist. Nun aber werde ich 10 000 Kilometer fliegen, um einer Hochzeit beizuwohnen. Und es ist nicht mein erster Langstreckenflug: Schon über viermal habe ich die Welt mit dem Flugzeug umrundet. Mit dem Flug von Zürich nach São Paulo und zurück verdopple ich meinen jährlichen CO²-Fussabdruck beinahe. Ich bin nicht der Einzige: Rund ein Dutzend Gäste werden wie ich für das Hochzeitswochenende aus der Schweiz nach Brasilien fliegen. Surprise 421/18
FOTOS MARIO FRAUCHIGER
Meine Beine habe ich mit der warmen, etwas zu kleinen Swiss-Decke eingepackt – seit bald acht Stunden sitze ich im Flugzeug. Mit dieser Reise verursache ich laut Berechnungen des US-amerikanischen «National Snow and Ice Data Center» etwa zehn Quadratmeter schmelzendes Polareis. Rechnet man diese zehn Quadratmeter auf den Airbus A340 mit seinen 219 Sitzplätzen hoch, mit dem ich den Atlantik überquere, schmelzen wir Passagiere gemeinsam 2190 Quadratmeter Eisfläche – knapp ein Drit-
Ich kompostiere Eierschalen und fahre trotz Glatteis Velo. Nun aber werde ich 10000 Kilometer fliegen, um einer Hochzeit beizuwohnen. tel eines Fussballfeldes. Ich finde es gerechtfertigt. Ich fliege an die Hochzeit von Menschen, die mir nahestehen. Mein Sitznachbar erklärt mir in einem Gemisch aus Italienisch und Portugiesisch, dass er seine Tochter in Brasilien besuche. Er habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Hat er weniger oder mehr Recht zu fliegen als ich? Schon gar nichts weiss ich über die Reisegründe der anderen Passagiere. Versuchslabor für Futterinsekten «Wir heiraten absichtlich in Brasilien», sagt Bräutigam Oskar Hagen kurz nach unserer Ankunft. «So müssen die wenigsten Gäste von weit her anreisen.» Oskar ist mein Cousin zweiten Grades und Schweizer wie ich, aber in São Paulo aufgewachsen. Mit seiner Braut Emily lebt er in Zürich. Dort arbeiten die beiden 30-Jährigen als Umweltwissenschaftler. Für Emily, ebenfalls in Brasilien aufgewachsen, hat die Hochzeit in der Heimat auch viel mit Tradition zu tun. Dass manche Gäste dafür extra aus der 9
«Wenn man der Umwelt schon so viel schadet, dann soll es sich wenigstens lohnen.» MICHAEL HÄBERLI, GEWÄSSERBIOLOGE
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Schweiz angereist sind, schätzt sie. «Früher war es sicher einfacher, die wichtigsten Leute um sich zu scharen. Aber unsere Freunde leben mittlerweile überall.» Für beide war klar, dass sie mit der Wahl des Hochzeitsortes ein Dilemma schaffen: entweder die Hochzeit verpassen oder den Planeten zerstören. Und tatsächlich haben mehrere Freunde dem Klima den Vorzug gegeben und sind zuhause geblieben. «Das habe ich respektiert und finde es löblich», sagt Oskar. Ich lernte meinen Coucousin und Emily Oliveira-Hagen kennen, noch bevor sie ein Paar wurden. Damals war ich Anfang 20 und das erste Mal in Brasilien, die beiden studierten an der Universität in Sorocaba. Heute schreibt Emily an der ETH Zürich ihre Doktorarbeit. Unzählige Flüge zwischen Brasilien und der Schweiz liegen dazwischen. Emily findet das Reisen horizonterweiternd. Ihr und ihrer Familie habe es viel gebracht. Ihre Schwester lebt inzwischen in den USA, Emily selbst in der Schweiz, ihre Eltern in Brasilen. «Für mich waren meine Reisen extrem wichtig. Ich bin dadurch persönlich gewachsen.» Das Reisen habe sie auch aus ihren Gewohnheiten herausgerissen. «In anderen Ländern musste ich neue Denkmuster entwickeln», so Emily. «Und über Grenzen hinwegzusehen, kann sogar der Umwelt helfen.» Auf dem Hof der Familie Hagen verstehe ich, was sie meinen könnte. Hier stehen Versuchslabore für Futterinsekten. Aus Bioabfall züchtet das junge Paar klimaschonende Proteinlieferanten für die Tierhaltung. Wir schauen in die improvisierte Brutstätte in einem kleinen Wald, sie liegt in einem umgebauten Stall. Die Larven krümmen sich, überall flattern ausgewachsene Fliegen umher. Im von Neonlicht durchfluteten Labor hängt ein beissender Geruch. «Diese Insekten können einmal nachhaltiges Tierfutter werden», erklärt uns Oskar Hagen. Bald soll eine kleine industrielle Zuchtstätte den Betrieb übernehmen. Ohne das Engagement und viel Pendlerei des jungen UmweltwissenschaftlerPärchens zwischen der Schweiz und Brasilien wäre das nicht möglich gewesen.
«Ich finde es schwierig mir vorzustellen, dass so ein Flug die CO2-Bilanz von einem ganzen Jahr ruinieren soll.» ENNIO RUSCHE T TI, FILMSTUDENT
Verzichten ist oft keine Option Auf dem Weg zur Hochzeit kurven wir durch den Bundesstaat São Paulo und suchen das Haus am Meer, wo geheiratet wird. Mitfahrer Michael Häberli kennt den Bräutigam vom Militärdienst. Er und seine zwei Freunde wollen etwas erleben. Da sie nun mal so weit gereist sind, waren sie bereits in Rio, machen Strandferien und besuchen Freunde. «Wenn man der Umwelt schon so viel schadet», dann solle es sich wenigstens lohnen, so Häberli. Er ist Gewässerbiologe. «Schon jetzt sterben mehr Fische in Schweizer Flüssen wegen der hohen Temperaturen.» Häberli wusste um die Auswirkungen der Reise beim Buchen und hat sich trotzdem dafür entschieden. Egoistisch aber bewusst, nennt er das und fügt hinzu: «Die Fische sind mir nicht egal, aber ich ignoriere die schreienden Fischstimmen in meinem Kopf jetzt mal.» 11
«Ich bin in den Ferien wohl etwas grosszügiger mit mir selber. Weil ich das Gefühl habe, ich hätte zu Hause vorgearbeitet.» MAR A FIGINI, UMWELTPÄDAGOGIN
CO2-Verbrauch Wie viel CO2 bei einem Retourflug von Frankfurt nach Singapur ausgestossen wird – und wie viel CO2 ein Kühlschrank oder das Autofahren pro Jahr verursacht.
100 kg CO2
Kühlschrank, ein Jahr
2000
kg CO2
Ein Jahr Autofahren, 35 km pro Tag
2300
kg CO2
6000 Klimabudget einer Person pro Jahr, um die Klimaerwärmung auf 2° C zu begrenzen (Wohnen, Transport, Freizeit, etc.)
kg CO2
Frankfurt-Singapur (Hin und zurück, Economy) QUELLE: ATMOSFAIR
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Fast alle Schweizer Gäste haben die Reise zur zweitägigen Hochzeit noch mit Urlaub verbunden. Ob das die ökologischen Auswirkungen rechtfertigt? Hagens und Häberlis Militärfreund Jan Ramseyer sagt: «Ich wurde oft auf die Umweltthematik der Reise hingewiesen.» Die Schwester, der Mitbewohner und viele andere fanden, dass sich ein so langer Flug für zwei Wochen nicht lohne. Aber für die CO²-Bilanz mache es eigentlich keinen Unterschied, ob man für zwei Tage oder zwei Wochen verreise. «Es ist eine moralische Frage, ob mir die Hochzeit die Klimaauswirkungen des Fluges wert ist.» An einer leeren Raststätte kaufen wir kalte Getränke. Ich versuche mir vorzustellen, wie es klingt, wenn Fische schreien, während wir wieder ins überhitzte Auto steigen. Schweizer Flugreisen um 53 Prozent angestiegen Flüge schaden der Umwelt so massiv, dass sie zur Grundsatzfrage werden könnten: Umweltfreund oder Umweltfeind? Es ist vergleichsweise einfach, nur ganz wenig Fleisch zu essen und beim Einkauf selten Plastiktüten zu verwenden. Sich beim Fliegen einzuschränken, fällt uns wesentlich schwerer. Ich bin selber Vielflieger. Auch wenn ich über die enormen Klimaschäden Bescheid weiss, die das Fliegen verursacht: Darauf zu verzichten, ist für mich oft keine Option. Wenn es um einen Auslandbesuch bei der Familie oder Freunden geht, oder wenn mich die unbändige Reiselust packt, muss das Klima hintanstehen. Dieses Verhalten lässt mich daran zweifeln, ob meine sonstigen Bemühungen, umweltfreundlich zu leben, überhaupt Sinn machen. Dabei scheint Umweltbewusstsein in der Schweiz reichlich vorhanOSK AR HAGEN, den: Es wird recycelt, bio und BR ÄUTIGAM sogar vermehrt ohne Verpackung eingekauft. In keinem anderen Land wird pro Kopf mehr Tesla gefahren als bei uns in der Schweiz. Letztes Jahr stimmten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für die Energiestrategie 2050, die einen Ausbau der erneuerbaren Energien, den Ausstieg aus der Atomkraft und die effizientere Nutzung der vorhandenen Energiequellen vorsieht. Im Gegensatz zur Notwendigkeit, Schweizer Häuser im Winter zu heizen, was stark zur nationalen CO²-Bilanz beiträgt, sind Flüge meist optional. Im Strandhaus am Meer ist dafür das Heizen überflüssig. Wir bauen die Bierzapfanlage auf
«Unsere Freunde leben mittlerweile überall.»
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einem Tisch auf. Die Hochzeitsvorbereitungen sind in vollem Gange. Irgendwer hat Wegwerfbecher gekauft, obwohl das Hochzeitspaar keine wollte. Ich verteile sie auf den Tischen. Dabei rede ich mit den anwesenden Gästen. Es fallen Wörter wie «Zero-Waste-Bewegung», «Biotrend», «Secondhand». Vom Flugreiseboom aber wiegen diese Trends bei der Senkung des CO²-Ausstosses nur einen Bruchteil auf. Noch fliesst lauwarmes Bier aus den Zapfhähnen. Während wir warten, erzählen wir einander, wo wir sonst überall die Umwelt schonen: beim Velofahren, beim Kochen, beim Einkaufen und beim Wohnen. Bewirkt umweltfreundliches Verhalten im Kleinen vielleicht gerade, dass man sich im Grossen mehr gönnt? Kompostieren und dafür nach Brasilien fliegen? Das inzwischen kühle Bier füllt die Plastikbecher. Wir stossen an, auf die beiden Menschen, deren Liebe wir hier feiern. «Ich würde nie einen Plastikbecher auf den Boden werfen, fliege aber nach Brasilien», sagt Eva Dreja, die Mutter des Trauzeugen. Umgekehrt wäre wohl besser. Ennio Ruschetti, wie der Bräutigam ein Cousin zweiten Grades, ist das erste Mal ausserhalb von Europa. Der Filmstudent findet die Folgen der Einzeltat, der wenigen Flugstunden in der Luft, gegenüber einem Jahr am Boden schwierig zu begreifen. «Wenn ich beim Verlassen des Zimmers das Licht lösche, ist das wichtig, das leuchtet mir ein. Das passiert ja täglich und summiert sich. Bei einem einzigen Flug aber denkt man, das kann ja nicht so wild sein.» Bei der Planung gab es so viel zu entscheiden, die Route, die Kosten. «Da haben Umweltaspekte fast keinen Platz mehr.» Zuhause verursachen wir Schweizer pro Kopf gut 5,6 Tonnen CO² jährlich. Schaut man Import und Reisen dazu an, dann «beläuft sich das Total der Pro-Kopf-Emissionen auf gut das Doppelte», zeigt eine 2017 veröffentlichte Erhebung des Bundesamts für Statistik. Zwischen 2010 und 2015 sind die privaten Flugreisen in der Schweiz um 53 Prozent angestiegen. 18 Prozent der Schweizer Klimaemissionen macht das Fliegen aus – pro Person im Durchschnitt ein Flug jährlich. Während weltweit nur rund fünf Prozent der Menschen je in einem Flugzeug sassen, sind wir Schweizer extreme Vielflieger. Besonders häufig fliegen gutverdienende und jüngere Menschen, die urban wohnen. Geflogen wird doppelt so viel wie in unseren Nachbarländern. Bis 2022 dürften Flugreisen über 20 Prozent des menschengemachten Klimaeffekts der Schweiz ausmachen. Tendenz steigend, schätzt die Umweltorganisation WWF. Alle buchen den Schnäppchenflug Wieviel CO² entsteht durch den Flug von Zürich nach São Paulo und zurück? Ich lasse die Hochzeitsgäste schätzen. Von 0,5 bis 20 Tonnen reichen die Schätzungen die Befragten. 3,6 Tonnen sind es gemäss CO²-Rechner von Myclimate, einer Klima-NGO, für den Flug Zürich–São Paulo retour. Wer Schaden anrichtet, soll ihn irgendwo anders wieder einsparen, so der Lösungsvorschlag von Myclimate. Die Kompensation für das verursachte CO² kostet etwas über 100 Franken für unseren Reiseweg. Für das Geld, so der Ansatz, kann man beispielsweise in 13
Madagaskar einen Gaskocher mit einem Solarkocher erche scheint wenig Optimismus für eine saubere Umwelt setzen – damit spart man die 3,6 Tonnen auf die Lebenszu hinterlassen. «Solange wir nicht direkt von den Umdauer des Kochers wieder ein. Von den Hochzeitsgästen weltauswirkungen betroffen sind, wird sich nichts ändern. Und sobald es bei mir im Dorf erste Auswirkungen gibt, wollte nur Claudio Culatti, der Dritte der Militärfreunde des Bräutigams, kompensieren. «Ich bin aber auf der ist es bereits zu spät», sagt Robin Dreja. «Ich bin Teil dieBuchungswebseite gescheitert, dann habe ich es sein ser Maschinerie und mache mir nichts vor.» Er reise auch lassen», gesteht der Geschäftsführer einer kleinen Elekprivat fast ausschliesslich mit dem Flugzeug, als Flugbetrotechnikfirma. Ein Hochzeitswochenende von zwei gleiter fast umsonst. «Wer die Möglichkeit hat, der reist», Umweltwissenschaftlern, und niemand kompensiert? so sei eben unsere Gesellschaft, auch wenn das selbstzerWie da wohl der Schweizer Schnitt aussehen wird? Gestörerisch sei. naue Zahlen sind nicht zu finden; Myclimate schätzt, Tage später über den Wolken reicht mir die Flugbedass bei unter einem Prozent der Flüge kompensiert wird. gleiterin das Nachtessen auf dem Tablett. Mara Figini, die Mara Figini, eine Studienfreundin der Braut, arbeitet in der Umweltbildung. «In den Ferien versuche ich, genauso umweltfreundlich zu leben wie zuhause.» Dass der Flug aus der Schweiz dabei nicht ins Bild passe, sei ihr klar. Die Abgase verteilen sich auf der ganzen Welt und werden so unsichtbar. EVA DREJA , KOSTÜMBILDNERIN «Diese Tatsache erleichtert das Ausblenden für uns alle», vermutet Figini. Der Kopf pocht, als ich nach dem Hochzeitsfest erwache. Der Bräutigam steht im Garten und zapft Bier in Plastikflaschen. Es ist so viel Bier übrig, dass wir an die nächste Tankstelle Studienfreundin der Braut, sitzt neben mir. Mit der weit fahren, um einige der abgefüllten Flaschen zu verschenverbreiteten «Katastrophenpädagogik» könne sie wenig ken. Wir besprechen die verschiedenen Rückflugrouten. anfangen, sagt sie. Man solle auch positive Dinge aufzeigen. «Sonst verlieren wir den Antrieb, überhaupt etwas Einige führt der Weg nach Zürich über die USA. Fotograf Marco fliegt São Paulo–Rio–Madrid–Zürich. «Das war der zu tun.» Ich werde also weiterhin die kleinen Dinge tun. günstigste Flug, aber ich weiss nicht, ob sich das gelohnt Eierschalen kompostieren, Velo fahren, recyceln. Den nicht hat, wenn ich an die lange Reise denke.» Bei allen herrscht gebrauchten Rahm und Zucker für den Kaffee will ich der Einigkeit: Die Schnäppchenflüge heutzutage seien irrsinFlugbegleiterin zurückgeben. Mara Figgini sagt, das lande nig und der Hauptgrund für den rasanten Anstieg der sowieso im Flugzeug-Abfall, so die Regeln für LebensFlugkilometer. Trotzdem haben alle Anwesenden den mittel an Bord. Also schmeisse ich Rahm und Zucker stattgünstigsten Flug gebucht. Dafür seien nicht primär die dessen in den Müll. Was versuche ich mir vorzumachen? Hochzeitsgäste verantwortlich, meint Bräutigam Oskar Holprig setzt die A340 auf der Piste in Zürich-Kloten auf. Hagen: «Die Firmen und Regierungen schieben den Konsumenten oft die Schuld in die Schuhe.» Aber man könne doch nicht einer Masse von einzelnen Konsumenten ohne gemeinsame Organisation Verantwortung übertragen. Anders auf der Angebotsseite: «Die Flugfirmen sollten Verantwortung übernehmen.»
«Ich kenne die Lösung nicht. Man lebt vorwärts, verstehen tut man rückwärts.»
Dafür kompostiert man Eierschalen Einige Zeit später sitze ich mit Trauzeugin Kristina Schmitz am Strand. Wir lassen das rauschende Hochzeitsfest nochmals an uns vorbeiziehen. «Ich finde es gut, dass ihr das hier thematisiert», sagt sie, aber ein besonders schlechtes Gewissen habe wohl niemand. Sicher wäre es weniger schädlich gewesen, wenn sie zuhause geblieben wäre – aber es gehe hier doch um die Hochzeit zweier sehr guter Freunde. «Mich stören mehr die Flüge voller Businessleute.» Für ein Meeting von zwei Stunden nach New York fliegen: der tägliche Wahnsinn, den Kristina Schmitz nur zu gut kennt. Sie und ihr Partner Robin Dreja arbeiten als Flugbegleitende. Wie viel Polareis die beiden wohl auf dem Gewissen haben? Ein dummer Gedanke, merke ich schnell: Das Flugzeug hebt schliesslich für die bezahlenden Kunden ab. Aber die Arbeit in der Flugbran14
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«Es gibt vieles, was man tun kann» Verantwortung Weniger Ressourcen zu
verbrauchen, sei gar nicht so schwer, sagt Nina Sahdeva, Expertin für Nachhaltigkeit im Tourismus. Ist das Fliegen wirklich so schädlich? Es gibt natürlich noch andere Dinge, die das Klima stark belasten, wie Fleisch zu essen beispielsweise. Aber um unsere Flugreisen kompensieren zu können, müsste man schon sehr lange vegetarisch leben. Statistisch gesehen fliegt jede Schweizerin und jeder Schweizer knapp 9000 Kilometer im Jahr. Das macht bei einer durchschnittlichen Airline einen Treibhausgas-Ausstoss von rund 5,6 Tonnen aus. Dazu kommt unser Alltag, der uns nochmal rund 5,8 Tonnen Emissionen pro Kopf und Jahr kostet. Das klimaverträgliche Jahresbudget eines Menschen liegt aber bei nur 2,3 Tonnen. Sind wir also alle Umweltverbrecher? Wir sind als Gesellschaft an einem Punkt, wo wir uns einen Alltag geschaffen haben, der nicht nachhaltig ist. Aber es gibt vieles, was man tun kann. Beim Reisen sollte man beispielsweise nur das buchen, was man auch wirklich will, und nicht einfach irgendein Angebot, das man im Internet gefunden hat. Und wenn man sowieso nur entspannen will, dafür nicht nach Thailand reisen, sondern vielleicht an einen Ort, der per Zug erreichbar ist. Als kostbare Ausnahme kann man sich so über einen längeren Zeitraum gerechnet auch mal eine Fernreise gönnen. Ein guter Ansatz ist zu überlegen: Wie bekomme ich dieselbe oder mehr Lebensqualität, ohne viel Ressourcen zu brauchen?
FOTO: ZVG
Also liegt die Verantwortung bei jedem und jeder Einzelnen? Nicht nur. So wie der einzelne Flugreisende seine Reisen kompensieren sollte, muss auch die Flugbranche endlich Klimaabgaben zahlen, anstatt sich mit Flughäfen subventionieren zu lassen. Andere Industriebranchen sind bereits an die Einhaltung von Obergrenzen gebunden und müssen alles, was sie darüber hinaus verursachen, über den Kauf von Emissionszertifikaten bezahlen. Hier muss sich was bewegen, auch politisch. WIN
Nina Sahdeva ist Beauftragte für Bildung und Öffentlichkeitsarbeit beim Arbeitskreis Tourismus und Entwicklung (akte) in Basel. www.fairunterwegs.org
Viele Gäste verbinden die Reise mit Ferien in Rio de Janeiro.
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Samstagnachmittag im Wald: Christian, Salomon, Haben, Ramadan, Kadine, Adiam, Elias und Ghedlom.
Im Wald wächst die Gemeinschaft Integration Durch den Aarauer Stadtwald streift eine eritreische Pfadfindergruppe. Die Jugendlichen,
die sie gründeten, haben erkannt: Der Pfadi-Gedanke kann einen Integrationsbeitrag leisten. TEXT BENJAMIN VON WYL
Es geht durchs Unterholz. Gerade haben wir noch gelacht, sind einem – etwas langfädigen – eritreischen Witz gefolgt. Er handelte von Untreue, aber ich kann ihn nicht in allen Details reproduzieren. Er endete jedenfalls so, dass er mit liberalen Wertvorstellungen zusammengeht. Jetzt liege ich am Boden, denn ich möchte die Wäscheklammer an meinem Oberarm beschützen. Als ich Ghedlom, der vorhin den Witz mit dem Titel «Die Geschichte vom mächtigen Mann» erzählte, im Fallen mit mir ins Laub geschränzt habe, fürchte ich kurz, dass er verletzt ist. Ghedlom ist etwa zehn Jahre jünger und 20 Kilo leichter als ich. Aber er lacht. Es geht weiter. Er gehört zum anderen Team im Geländespiel. Das Häxehüsli im Wald hinter der Aarauer Eisbahn. Es ist Pfadi-High-Time: Samstagnachmittag. Die Krawatte der EDA-Pfadi ist rot und weiss, die jungen Diaspora-Eritreerinnen und -Eritreer haben die Farben selbst gewählt. EDA steht für Eritrean Diaspora Academy. Die 16
FOTOS EVAN RUETSCH
EDA ist eine «Do-it-yourself-Universität», von Eritreern in der Schweiz für ihre Landsleute in der gleichen Situation gegründet. Sie bezeichnet sich selbst als «Reallabor zur Forschung an einer neuen Realität», und die Pfadi ist Teil davon. Die junge Eritreerin Adiam Weldagabriel, ihr Kollege Ghedlom Goitom und Christian Fischer – der einzige Schweizer in der Gruppe, Pfadi-erfahren und schon lange bei der EDA engagiert – haben erkannt, dass der Pfadfinder-Gedanke einen Integrationsbeitrag leisten kann. «Learning by doing» ist Kern und Ursprung der Pfadi-Bewegung, und wer im Schweizer Asylverfahren ausharrt oder rassistische Diskriminierung erlebt, dem fehlt es genau daran: an Möglichkeiten, etwas zu tun. Schnitzeljagd nach positiven Botschaften Das Geländespiel wird von einer Erzählung über eine schwarze Wolke aus schlechten Gedanken und Ängsten eingerahmt. Die Geschichte orientiert sich lose am Film Surprise 421/18
«Heimatland», der vor gut zwei Jahren im Kino lief: Genau eine solche grosse schwarze Wolke bricht über die Schweiz herein, und das Land steht mit seinem Problem ziemlich alleine da, weil es sich zu sehr abschottet. Das Ideal der EDA-Pfadi ist das Gegenteil: eine Schweiz, in der man sich gegenseitig hilft. Wir rennen durch den Wald, im Wettbewerb um Zettelchen mit positiven Botschaften: «Willkommen in der Schweiz!» «Wir sind in Frieden gekommen.» «Wir sind keine Rassisten.» «Wir wollen arbeiten und nicht verfaulen.» «Wir sind mutig.» «Ich liebe die neue Schweiz.» Die acht Frisch-Pfadi sind alle bereits im fortgeschrittenen Teenie-Alter. Adiam und Ghedlom haben bereits Pfadi-Erfahrung gesammelt. Alle anderen leben in derselben Asylunterkunft in Suhr. Adiam alias «Kenai» und Ghedlom alias «Fuchs» tragen bereits Pfadi-Namen – die anderen noch nicht, aber Salomon, Haben, Ramadan, Kadine und Elias haben durch ihr gemeinsames Leben in Suhr eine Grundlage für einen starken Zusammenhalt. Sie sollen irgendwann selbst Projekte durchzuführen und junge Pfadfinder leiten können. Momentan ist das Ziel die Teilnahme am Bundeslager 2021. Am letzten Bundeslager nahmen 20 000 Pfadfinder aus der ganzen Schweiz teil. Verwunderung hilft beim Weiterkommen Adiam engagiert sich für die EDA-Pfadi, weil sie gern für «Dinge brennt», die selbständige Initiative schätzt, aber auch: «Damit ich meine Kultur durch die anderen Eritreer besser kennenlerne.» Adiam glaubt, ein Netzwerk aus eritreischen Pfadi-Abteilungen in der ganzen Schweiz würde der nächsten Generation Mut verschaffen, böte Motivation für die Schule und würde anregen, dabei eigene Wege zu finden. Learning by doing eben. Adiam hat im vergangenen Sommer an einem Pano-Kurs, einem Reflexionskurs für erfahrene Pfadis, teilgenommen. Laut der Kursleiterin Regula Steiner alias «Triel» war Adiams Perspektive für die erfahrenen Pfadi dort bereichernd: «Adiam war verwundert über Dinge, die Pfadi-intern sonnenklar erscheinen. Ein Grundsatz der Pfadibewegung ist, dass wir losgelöst von Kultur und Religion allen offenstehen. Wenn zum Beispiel jemandem etwas als ungewohnt auffällt und man deshalb darüber spricht, hilft das auch uns.» 2015 hat die Pfadibewegung Schweiz PBS per Resolution entschieden, dass sie Kinder und Jugendliche auf der Flucht in der Schweiz unterstützen wolle. Mehrere Kantonalverbände haben sich zur EDA-Pfadi positiv geäussert, und die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände unterstützt sie finanziell. Romano Ca-
menzind alias «Kangaroo» aus dem Team für interkulturelle Öffnung der PBS sagt auf Anfrage, dass die Pfadibewegung ein Interesse daran habe, Diversität zu fördern. Momentan sei die Pfadi Schweiz weniger ein Spiegel der Gesellschaft als einer des Schweizer Mittelstands. Bedingungen für eine offizielle Aufnahme in die PBS seien die Aufnahme in einen Kantonalverband und der Besuch der entsprechenden Ausbildungskurse, aber «Kangaroo» hofft über diese eher formellen Bedingungen hinaus, dass es zu einem nachhaltigen Austausch zwischen der EDA-Pfadi und anderen Abteilungen kommt. Die Pfadi will die interkulturelle Öffnung Beim Häxehüsli bauen wir unter Leitung von Christian ein Feuer. Als es lodert, erinnern sich viele an die DreiMeter-Feuer zum Johannesfest in Eritrea. Auch Adiam erinnert sich, obwohl sie bereits als Elfjährige in die Schweiz kam. Als ich Ghedlom beim gemütlichen Zusammensitzen sage, er wirke sehr verantwortungsbewusst für einen 18-Jährigen, antwortet er: «Das habe ich in der Pfadi gelernt!» Die eigentliche Idee – eine Pfadi-Abteilung für Jugendliche und Kinder aus der eritreischen Diaspora – kam von ihm. Ghedlom hat Christian, der sich ausserhalb und innerhalb der Pfadibewegung für interkulturelle Öffnung einsetzt, an einem Anlass der Eritrean Diaspora Academy geschildert, wovon er träumt: mit den Methoden der Pfadi das Potenzial der Eritreer in der Schweiz zu entwickeln. «Vor einem Jahr war ich bei der Pfadi in Winterthur der einzige Nicht-Schweizer», sagt er. Für Öffnung müsse man sich aktiv engagieren. Für viele junge Eritreer sei die EDA-Pfadi ein niederschwelliger Einstieg – und so verbinden sie sich nach und nach über den Pfadi-Gedanken auch mit Schweizern. Jetzt ist es dunkel. Ich hoffe, dass Ghedlom unterdessen nicht mehr spürt, dass wir beide auf dem Waldboden gelandet sind. Alle blicken ins Feuer, die Gespräche sind
Adiam Weldagabriel glaubt, ein Netzwerk aus eritreischen Pfadi-Abteilungen in der ganzen Schweiz würde der nächsten Generation Mut verschaffen.
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nachdenklich. Wir erleben den Anfang von Ghedloms Idee. Im Leitbild der Pfadibewegung Schweiz steht: «Pfadi ist, in der Gemeinschaft das Leben zu erlernen.» Diese Gemeinschaft umfasst an diesem Samstag acht Frisch-Pfadi und vielleicht irgendwann Jugendliche aus der eritreischen Diaspora in der ganzen Schweiz. Vielleicht auch eine Schweiz, die sich als Gemeinschaft der Menschen, die hier leben, versteht. An der Pfadibewegung würde es nicht scheitern. 17
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Geburtstagsbesuch am Sterbebett Familie Die Tochter wohnt mit ihren Teenager-Töchtern in Bern, die Mutter
700 Kilometer entfernt in der Nähe von Köln. Als die Mutter schwer erkrankt, beginnt die Zerreissprobe. Geografisch. Emotional. TEXT BIRGIT LUDWIG
Das Wasser schäumt und der Rumpf des Seenotkreuzers zittert, als der Mann am Ruder das Boot mit dröhnendem Motor von der Mole wegwendet und durch das Wasser pflügt. Um uns herum jede Menge kleine Segelboote, Ausflugsboote und Touristen in Shorts und Badeanzug. Wir haben Glück mit dem Wetter, obwohl es am Morgen nieselte – keine Seltenheit in der Bretagne im Sommer. Es hat aufgeklart, und trotz des traurigen Anlasses kann man sich dem Charme dieser wunderbaren Landschaft im Golf von Morbihan nicht entziehen. Auf dem Weg nach Pen Ermen tauchen Erinnerungen an die unzähligen Male auf, als wir als Kinder und Jugendliche mit der Familie und Freunden hier Ferien gemacht haben. Jetzt stehen meine Schwester, mein Schwager und ich mit meiner jüngeren Tochter hier an Deck, um in der Bucht, wo meine Eltern 25 Jahre lang ihr eigenes Boot liegen hatten, die Asche unserer Mutter zu verstreuen. Das Wasser schäumt, als der Steuermann den Seenotkreuzer in den Wind dreht. Meine Schwester und ich knien uns gemeinsam auf die Plattform am Heck des Rettungsbootes und schütten die Asche in die grünen Wellen. Ein Jahr vorher haben wir an derselben Stelle diejenige unseres Vaters verstreut, damals war es absolut nicht absehbar, dass meine Mutter ihm so Surprise 421/18
ILLUSTRATION LAURA JURT
schnell folgen würde. Die Urne aus Pappe, auf der wir diesmal bestanden haben, damit uns der Wind nicht wieder die Asche um die Ohren weht, können wir wieder nicht verwenden, weil die Asche selbst in einem Plastiksäckchen steckt. Das hat der pragmatische Segler Jean herausgefunden, doch als wir die Asche in seinem Garten direkt in die Papp-Urne umschütten wollten, stellten wir fest, dass die Urne Löcher im Boden hat. Also werden wir die Asche direkt aus der Plastiktüte ins Wasser verstreuen. Meine Mutter, praktisch veranlagt
Ein grosses, dunkles Zimmer mit Eckfenstern auf die Strasse. Wenn wir unsere Mutter hier hineinzwingen würden, würde sie sich aufgeben.
wie sie war, hätte dafür Verständnis gehabt: Irgendwann ist der Punkt erreicht, da kommt man mit Pietät nicht weiter. Die Dinge müssen erledigt werden. Meine jüngere Tochter, 14, die zuerst partout nicht mitwollte, nimmt mich in den Arm, mein Schwager versteckt seine Gefühle hinter seiner Spiegelreflexkamera und tröstet seine Frau. Aber Mutter will nicht Was eigentlich nur als kurze Spitaluntersuchung wegen einer Nierenschwäche gedacht war, hatte sich bei meiner Mutter schnell zur bedrohlichen Situation ausgewachsen. Zu dem Zeitpunkt war ich gerade verreist. Meine Schwester reiste also allein ins Rheinland zur erkrankten Mutter und entschied dort, dass nun dringend eine Neuorganisation der Wohnsituation anstehe. Sie blieb genau eine Woche, dann flog sie wieder heim. Mich schickte sie zur Besichtigung eines Pflegeheims, wo gerade ein Zimmer frei geworden war. Wenn wir dieses Zimmer nicht jetzt sofort nehmen würden, würde sie «gar nichts mehr!» unternehmen. Ich sah es mir an, ein grosses, etwas dunkles Zimmer mit Eckfenstern auf die Strasse. Auf dem Flur ein paar ältere Leute. Ich wusste, wenn wir unsere Mutter hier hineinzwingen würden, würde sie sich aufgeben. Die Pflegedienstleitung wollte 19
bis zum Nachmittag Bescheid bekommen, da sie schon andere Anfragen hätten – das seien die grössten Zimmer in städtischen Pflegeheimen. Ich sprach mit meiner Mutter. Sie lehnte ab. Sie würde sich dort nicht wohlfühlen und ihr Geld nicht dem teuren Pflegeheim in den Rachen werfen. Ich rief meine Schwester an. Wir stritten uns. Meine Schwester warf mir vor, dass ich meiner Mutter den freien Pflegeheimplatz ausgeredet hätte, und erklärte, dass sie nun «komplett aus der Sache raus wäre». Ich hechelte täglich zwischen dem Krankenhaus, dem chaotischen Haushalt, den täglichen Einkaufsanweisungen meiner Mutter, meinen Aufträgen als Journalistin und PR-Frau und der Telefonbetreuung meiner 14-jährigen Tochter daheim in Bern sowie den angesetzten Heimbesichtigungen hin und her. Und ich versuchte die Unterlagen über die Zustimmung zur Dialyse zu verstehen, die meine Mutter vorsorglich unterschreiben sollte. Von Risiken war da die Rede, Entzündungen, Zugängen, allergischen Reaktionen. Ich liess Handwerker in Mutters Haus, die neue Telefone installieren sollten. Einen Tag, nachdem der eine Techniker mit vier neuen Telefonen dagewesen war, rief ein weiterer Mann an. Er käme morgen und installiere neue Telefone. Als ich der ersten Firma eine wutentbrannte Mail schrieb,
Mein Freund reist zu Besuch aus dem Ausland an und beschwert sich als Erstes über das Durcheinander im Haus. Wir streiten, er reist wieder ab. 20
warum sie einer alten Frau ungefragt neue Telefone installieren würden, schickte mir die indignierte, aber doch verständnisvolle Angestellte eine Mail mit einem unterschriebenen Vertrag im Anhang: Meine Mutter hatte tatsächlich an zwei Orten Telefone samt Installation bestellt, schriftlich, aber es offensichtlich vergessen. Auf Blessuren hinweisen Es nahte der Termin für die Pflegestufen-Einschätzung. Meine Mutter lag bereits zwei Wochen mit unerklärlicher Niereninsuffizienz im Krankenhaus. Noch war sie nicht dialysepflichtig, aber der Zeitpunkt rückte näher. Ich hatte meiner Mutter am Tag vorher geholfen zu duschen, weil das Pflegepersonal alle Hände voll zu tun hatte und ich sie nicht so zerzaust im Bett sitzen lassen wollte. «Putz sie jetzt bloss nicht raus! Und wenn sie gefragt wird, ob sie noch Auto fährt, dann nicht ‹Ja› sagen!», lautete die strategische Anweisung meiner älteren Schwester. Der Gutachter stellte einige Fragen, und ich wies ihn auf ein paar Blessuren meiner Mutter hin, zum Beispiel auf die trockene Haut an den Beinen, die sie sich selber nicht mehr richtig eincremen konnte, und fühlte mich schlecht dabei. Ich hatte das Gefühl, meine Mutter zu verraten, die in ihrem Leben zwar tatsächlich oft eher anderes im Auge gehabt hatte als ihre Gesundheit. Aber sie so vor einem Fremden darstellen? Es war ein Prozess, der uns allen Einsicht und auch Zusammenarbeit abverlangte – auch meiner Schwester, mit der ich schon immer oft uneinig war. Ich sagte ihr und meinem Schwager, wir müssten jetzt zusammenhalten. Meine Schwester war wieder mit im Boot. Mein Freund – gewohnt, dass ich als alleinerziehende Mutter die Fäden in der Hand halte – war überfordert, als es darum ging, Verständnis für meine Situation aufzubringen. Als er zu Besuch aus dem Ausland angereist kam, beschwerte er sich als Erstes über das Durcheinander im Haus meiner Mutter. Wir stritten, er reiste wieder ab. Der Vater meiner zweiten Tochter giftete mich an, was mir einfiele, ständig wegzufahren. Aber
nachdem ich heulend die Situation geschildert und an seine Haltung als Papi appelliert hatte, unterstützte er mich plötzlich: Er würde sich um seine Tochter kümmern. An einem Sonntag fragte ich, ob ich meine Mutter für einen Tag nach Hause holen könne. Seit drei Wochen war sie nicht daheim gewesen, und ich versprach mir von dem Ausflug, dass sie sich wieder an ihrem Garten freuen, den Tag geniessen und etwas Lebensmut fassen würde. Wir frühstückten in der Küche. Auf die sonnige Terrasse aber wollte sie gar nicht. Sie hatte ein paar Rechnungen bezahlen wollen, doch nun fühlte sie sich auch dafür zu müde. Der Gedanke mit dem Pflegeheim schien auf einmal nicht mehr so abwegig. Nachmittags trank sie noch einen Kaffee, dann wollte sie zurück in ihr Krankenhausbett. Das war der letzte Tag in ihrem eigenen Zuhause. Vielleicht brauchen wir alle diesen schleichenden Prozess. Denn das Gefühl dafür, was es bedeutet, wenn Mutti immer schwächer wird, stellt sich erst nach und nach ein. Zwei Kampfhennen Arm in Arm Eines Tages, an dem ich morgens eine Heimbesichtigung hatte, kam ich ins Krankenhaus – und drei Minuten später wurde meine Mutter abgeholt. Der junge Nierenarzt erklärte mir, sie müsse zur Dialyse. Jetzt. Sie rollten sie an mir vorbei. EigentSurprise 421/18
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Pflegekosten in der Schweiz Organisatorisches Werden die Eltern gebrechlich,
stellt sich die Frage: Wer bezahlt die Betreuung? Wie organisiert man für alternde Verwandte einen Platz in einem Pflegeheim oder eine Betreuung zuhause? Auf jeden Fall ist eine ärztliche Verordnung nötig. Diese weist entweder eine Pflegebedürftigkeit, soziale Gründe oder eine Demenzerkrankung aus, sodass ein weiterer Verbleib am bisherigen Wohnort unmöglich ist. Pflegebedürftige sollten so lange wie möglich daheimbleiben können. Für medizinische Pflege gibt es verschiedene ambulante Pflegedienste wie die öffentliche Spitex oder diverse private Pflegeanbieter (private Spitex), die jedoch von den Krankenkassen anerkannt sein müssen und über den Hausarzt oder die Gemeinde vermittelt werden. Bei der Beratungsstelle der Pro Senectute kann man sich kostenlos über alle Fragen zu Finanzen, Pflegekosten oder zur Wohnsituation im Alter informieren.
QUELLEN: PRO SENECTUTE SCHWEIZ, CURAVIVA SCHWEIZ
lich wollte ich bei der ersten Dialyse dabeibleiben, um sie zu unterstützen. Aber in den Katakomben des Krankenhauses fand ich sie nicht wieder. Also fuhr ich nach Hause und legte mich ins Bett. Um fünf Uhr nachmittags klingelte das Telefon. Die Nierenspezialistin. «Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Mutter auf der Intensivstation ist. Sie hatte bei der ersten Dialyse einen Herzstillstand. Wir haben sie reanimiert.» Am nächsten Tag, als ich nachmittags zur Besuchszeit kam, war meine Mutter wieder bei Bewusstsein. Gott sei Dank hatte die Reanimation keine Schäden am Gehirn verursacht. Zwei Tage später reiste meine Schwester an, aber erst nachdem ich ihr gesagt hatte, ich hätte einen wichtigen Termin und müsse nach über drei Wochen wieder mal nach meiner 14-jährigen Tochter daheim sehen. Ich musste diesen Termin setzen und abfahren, sonst wäre sie womöglich nicht gekommen. Kaum bin ich wieder in der Schweiz eingetroffen, klingelt morgens um halb zehn das Telefon. Eine Ärztin von der Intensivstation. «Sie sollten sofort kommen, es sieht nicht gut aus.» Eine halbe Stunde später sitze ich bereits im Zug nach Köln. Mutti ist nicht bei Bewusstsein, wird beatmet, aber ein Pfleger berichtet, dass es ihr wieder etwas bessergehe. Ein bisschen Hoffnung keimt auf. Wir fahren nach Hause, machen uns was zu essen. Meine Schwester und ich, wir zwei Kampfhennen, versuchen in dieser Situation, alle Tretminen zu vermeiden. Am nächsten Morgen klingelt wieder das Telefon. Als wir eintreffen – ich hatte noch schnell zwei rote Rosen aus der Vase daheim gerissen, schliesslich hat Mutter heute Geburtstag –, fängt mich die junge Ärztin vor der Tür ab. An ihrem 74. Geburtstag ist unsere Mutter gestorben. Sie hat es genauso eingerichtet, dass ihre Töchter gemeinsam da sind. Als wir die Blüten auf dem grünen Wasser von Pen Ermen im Wind davontreiben sehen, nehme ich meine Schwester in den Arm. Ich bin froh, dass sie da ist. Und ich weiss, sie wäre für auch meine Töchter da, wenn mir etwas zustossen sollte.
Wer bezahlt den Aufenthalt im Alters- oder Pflegeheim? Laut Statistik der sozialmedizinischen Institutionen war in einem Schweizer Alters- und Pflegeheim im Jahr 2015 mit durchschnittlichen Gesamtkosten von rund 8900 Franken monatlich zu rechnen, davon 3700 Franken für die medizinische Pflege, der Rest entfällt auf Pension und Betreuung. Die Pensions- und Betreuungskosten (Aufenthalt) sind dabei durch die pflegebedürftigen Personen zu finanzieren. Rund 40 Prozent der pflegebedürftigen Personen können
die Aufenthaltskosten aus eigener Kraft (AHV- und BVG-Rente, übrige Einkommen, Vermögensverzehr) finanzieren. Die restlichen 60 Prozent sind auf AHV-Ergänzungsleistungen angewiesen. An die eigentlichen Pflegekosten müssen die Bewohnerinnen und Bewohner ebenfalls einen Beitrag leisten. Dieser ist per Gesetz auf maximal 21,60 Franken pro Tag beschränkt. Die Krankenversicherung beteiligt sich in einem Umfang, der von der Pflegeintensität (Pflegestufe) abhängt, bis zu maximal monatlich 108 Franken. Den Rest der Pflegekosten übernimmt die Gemeinde. Als übrige Kosten versteht man die Aufwendungen für Arzt-, Arznei-, Therapiekosten und Hilfsmittel. Grundsätzlich werden diese durch die Krankenversicherung (Grundversicherung) rückerstattet. Wird die Familie belangt, wenn der Betroffene nicht bezahlen kann? Es gibt eine familienrechtliche Unterstützungspflicht in der Linie Kinder-Eltern-Grosseltern. Gemäss Gesetz sind nur jene Verwandten unterstützungspflichtig, die «in günstigen Verhältnissen» leben. Beitragsleistungen werden also in der Regel bei alleinstehenden Verwandten mit einem Einkommen von mindestens 120 000 Franken pro Jahr geprüft, bei Verheirateten ab 180 000 Franken Einkommen, wobei pro minderjährigem oder in Ausbildung befindlichem Kind von einem je 20 000 Franken höheren Betrag ausgehend gerechnet wird. 21
Arbeiterhumor trifft Internats-Scherzerei Comedy Die Briten sind berühmt für ihren schwarzen Humor.
Heute füllen die Stand-up-Comedians grosse Hallen. Begonnen hat alles vor bereits 300 Jahren mit dem Schriftsteller Jonathan Swift. TEXT HANSPETER KÜNZLER
«Colonel Fawcett», ein trendiger Pub in London, Montagabend. Unten gibt’s Craft-Bier und Gourmet-Burger. Eine mörderisch steile Treppe führt hinauf in einen Saal, dessen Dekor und Geruch in den Siebzigerjahren der Vergessenheit anheimgefallen sind. Im Halbkreis sind ein paar Reihen von klapprigen Stühlen angeordnet. «The Good Ship Comedy Club» – ein Club, wie es sie in England zu Hunderten gibt. Eine Show besteht gewöhnlich aus vier oder fünf Comedians und einem Master of Ceremony. Der Star der Show kann ein grosser Name sein, der neues Material ausprobieren will, oder ein Nachwuchskünstler, der auf der Schwelle zu grossen Dingen steht. Einer der Comedians ist meist ein blutiger Anfänger. Der Rest sind Gesichter, die darauf bauen, beim nächsten EdinburghFestival im Herbst gross einzuschlagen. In Grossbritannien bilden Comedy Nights eine lebendige Kultur, auf den Homepages der Clubs reihen sich die Künstlernamen dicht an dicht. Ein Hauch davon ist auch in der Schweiz zu erleben. Der Schreiber dieser Zeilen kuratiert seit letztem Oktober eine Comedy Night in Zürich und holt dazu einmal monatlich englischsprachige Grössen und Nachwuchskünstler nach Zürich: Jeweils drei Stand-upComedians aus Grossbritannien, Irland oder Neuseeland bestreiten im Miller’s zusammen einen Abend. Zurück in den «Good Ship Comedy Club» in London: Hier ist das Publikum bedeutend bunter gemischt als das an einem Rockkonzert. Alt sitzt neben Jung, Schwarz neben Weiss, grauer Büroanzug neben Death-Metal-Kluft und farbbekleckster Latzhose. Es geht das Licht aus und ein quirliger Mittdreissiger namens Ben Van der Velde sprintet vors Mikrofon. «Hallo Camden!», ruft er aus und schüttelt die Zapfenzieherlocken. «Geht’s uns gut?» Wie viele Berufskollegen führt Van der Velde seinen eigenen Club und agiert als Tätschmeister, wenn er nicht gerade mit seiner neuen Show durchs restliche
Land tingelt. Van der Velde ist ein begnadeter Improvisator. Eine kurze Konversation mit der ersten Reihe reicht, um den Raum in gute Stimmung zu versetzen. Zum Job gehören Nerven, eine schlagfertige Zunge und vor allem Mut. Es gibt kaum eine schlimmere Gelegenheit zum Fremdschämen als der Moment, wenn die Witze eines Comedians betretene Stille auslösen. Über schwierige Themen wie den Brexit reden Doppelbödige Witze über seine jüdische Herkunft und seine Jugend in Newcastle gehören zum Programm von Van der Velde: «Wenn eine Pointe robust genug aufgebaut ist, kann man über alles reden», sagt er und gibt als Beispiel das schwierige Thema Brexit an: «Entweder beginne ich mit einer absurden Bemerkung und wechsle dann in einen ernsteren Tonfall. Oder ich verwende einen alten Debattier-Trick, stelle die Position der Gegenseite besser dar, als sie es selber könnte, nur um sie dann mit ein paar Worten ad absurdum zu führen.» Heute Abend läuft nicht alles rund – und das Gelächter ist darum umso lauter. Nach den tiefgründigen Scherzen des Neuseeländers Matt Stellingwerf über das Ver-
Auch das Verhältnis zwischen Europa und Ozeanien taugt zum Scherz. Wie der Neuseeländer Matt Stellingwerf beweist.
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BILDER: KATE LITTLE PHOTOGRAPGHY (1), ED MOORE (2), CHRISTINE HAYTER (3)
hältnis von Europa und Ozeanien und nach Will Mars’ rasant lustiger Bad-Luck-Geschichte gerät die Stimmung in Schieflage: Eine junge Frau aus Alaska referiert etwas gar lang über ihre sexuellen Gelüste, um anschliessend auch noch eine Oper anzustimmen. Headliner John Robertson hat sich dafür in blinkende Mad-Max-Kleidung gehüllt und inszeniert mit dem Publikum eine Comedy-Version des «Dark Room»-Action-Games. Nur, zuerst spinnt sein Laptop, dann sind die Batterien am Ende und Van der Velde hechtet zum nächsten 24/7-Shop. Robertson bleibt die Aufgabe, die Situation mittels frecher Improvisationen zu retten. Swift, der Ur-Satiriker der Aufklärung Jonathan Swift, anglo-irischer Schriftsteller der Aufklärung, gab vor 300 Jahren den Tonfall für den britischen Humor vor. In einem Traktat plädierte er dafür, irische Babys in England als Delikatessen zu verkaufen, um so die Hungersnot in Irland zu lindern. Humor war auch in den «Music Halls» gefragt, die im 19. Jahrhundert in den Arbeitergegenden florierten. Die Lieder mussten derb oder antiautoritär sein, damit das betrunkene Publikum zuhörte. Die Benny-Hill-Show, «Carry On»-Filme und heute die TV-Serie «Mrs Brown’s Boys» führen diese Tradition weiter. Buchstäblich auf der anderen sozialen Seite hat die britische Comedy-Tradition ihre Ursprünge auch in den privaten Internaten, wo die Sprösslinge wohlbetuchter Familien ihre Schulzeit verbringen. Das Internatsleben ist oft langweilig. Die einfachste Art, für Unterhaltung – und gegenseitigen Respekt – zu sorgen, ist das Reden. Oft spielt der Inhalt gar keine Rolle, wichtig ist das Überraschungsmoment einer cleveren, manchmal surrealen Logik. Zum ersten Mal in den letzten paar hundert Jahren kamen die beiden BEN VAN DER VELDE Seiten – Working Class und Internatsjugend – als Soldaten im Zweiten Weltkrieg zusammen. Die beiden Humorformen wurden vermischt und fanden in der nächsten Dekade dank Spike Milligan und der «Goon Show» den Weg in die britischen Massenmedien. Dem fügten die Monty-Python-Truppe und das Duo Derek & Clive in den Sixties noch eine Dosis surreale Psychedelik hinzu. Politisch motivierter Humor ist zyklisch. Wenn die Zeiten unbewegt sind, herrscht Ebbe. Doch Figuren wie Margaret Thatcher, Tony Blair, David Cameron und Theresa May bringen die scharfen Zungen auf den Plan.
«Ich verwende einen alten Debattier-Trick und stelle die Position der Gegenseite besser dar, als sie es selber könnte, um sie dann mit ein paar Worten ad absurdum zu führen.»
«Sie merken nicht, wie schlecht sie sind» Amy Howerska wuchs im walisischen Swansea auf. Ihre Eltern betrieben einen Extremsport-Club, sie studierte englische Literatur an der Universität Oxford. Aber von Surprise 421/18
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den», erklärt Howerska. «In meinen Augen sollte Comedy immer gegen oben schiessen, nicht gegen unten. So lange man sich nicht über Menschen lustig macht, die auf irgendeine Weise benachteiligt sind, ist in meinen Augen alles gestattet.» In der zweitgrössten Halle im Land Grossbritannien ist die Heimat der pikanten Comedy. In zahllosen Clubs, am Radio und im Fernsehen, auf Youtube, Vimeo und in Podcasts zelebrieren Stand-up-Comedians die böse Sicht auf all die Desaster, die der Alltag bringen kann. Und die Superstars der geflügelten Pointe füllen längst auch die Arenen. Michael McIntyre, Meister der gepflegten familienfreundlichen Beobachtungs-Comedy, kündigte vor Kurzem sechs Oktober-Shows in der O2-Arena in Greenwich an, der zweitgrössten Halle im Land. Das sind sechs Mal 20 000 Zuschauer. Es reichte nicht. Bereits ist eine Zusatz-Show hinzugefügt worden. Es dürften noch mehr dazukommen. Schon aus Prestigegründen wollen die Top-Comedians nicht mehr in der etwas kleineren Wembley Arena auftreten, für die sich in den kommenden Monaten weder Jason Derulo noch Noel Gallagher, Lenny Kravitz oder Def Leppard zu schade sind. Im November tritt McIntyre zwar auch hier auf, drei Abende lang. Dabei ist das Comedy-Erlebnis in einer grossen Halle nicht zu vergleichen mit den Freuden eines winzigen Comedy-Clubs im alten Stil. In der Halle wird das Publikum mitgerissen von der guten Stimmung, die eine gut geölte Show verbreitet, bei der die Wirkung jedes einzelnen Scherzes sorgfältig austariert ist. Im typisch englischen Comedy-Club sitzen die paar Dutzend Zuschauer dafür so nahe an der Bühne, dass sie dem Performer auf die Beine helfen können, sollte er einmal abstürzen.
«Comedy sollte immer nach oben schiessen, nicht nach unten.» AMY HOWERSK A
der berühmten dortigen Comedy-Szene bekam sie nichts mit: «Ich hatte zu viel Arbeit im Studium.» Dabei sind der «Oxford Revue», die an ihrer Aufmerksamkeit vorbeiging, Stars wie Stewart Lee, Richard Herring und Al Murray entwachsen. Dem verbalen Extremsport Comedy verfiel Amy Howerska erst nach dem Umweg über Jobs bei einer Plattenfirma und dem British Film Institute. Sie wisse nicht mehr, was für ein Affe sie gelaust habe, als sie zum ersten Mal eine Bühne betreten habe. «Es dürfte eine Übung zum Aufbau von Selbstvertrauen und einer dicken Haut gewesen sein», grinst sie. Offenbar sei es nicht so schlecht gelaufen, sonst wäre daraus keine Karriere geworden. «Die Sache ist die – alle Anfänger sind furchtbar schlecht. Aber in ihrer Aufregung merken sie gar nicht, wie schlecht sie sind, und darum machen sie weiter. Und plötzlich sind sie gut.» In den letzten Jahren hat sich in England ein neuer Comedy-Stil entwickelt, der darauf basiert, möglichst provokative Sprüche zu reissen, um das Publikum vor die harte Gewissensfrage zu stellen, wie viel politische Unkorrektheit man zu tolerieren gewillt ist. «Es wird schon Leute geben, die meine Witze unangebracht fin24
Hanspeter Künzler, in der Schweiz als Musikjournalist bekannt und wohnhaft in London, kuratiert im Miller’s Theater Zürich die «British Comedy Night». Nächste Termine: British Comedy – Matt Stellingwerf, Jay Foreman und Amy Howerska, Di, 27. März, 20 Uhr; Rhys James (Wales) und Peter Flanagan (Irland), Di, 17. April, 20 Uhr, Miller’s, Seefeldstrasse 225, Zürich. Die «British Comedy Night» geht auf Englisch über die Bühne. www.millers-studio.ch
Verlosung Miller’s verlost 3 × 2 Tickets für die Vorstellung am 27. März und 3 × 2 Tickets für die Vorstellung am 17. April. Schicken Sie bis am 23. März eine Mail mit dem Betreff «Verlosung Surprise» und Ihren Kontaktdaten an tickets@millers.ch. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden benachrichtigt.
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Wörterwelten
Die Verantwortung, sich zu erinnern
Buch Ein aussergewöhnliches Wörterbuch
FOTO: ZVG
Die Autorin und Illustratorin Ella Frances Sanders ist eine Wörtersammlerin. Eine, die die Welt der Sprachen bereist und deren Leidenschaft für ihre Trouvaillen ansteckend ist. So ist es kein Wunder, dass «Lost in Translation», ihre Sammlung unübersetzbarer Wörter aus der ganzen Welt, zum internationalen Bestseller wurde. Zum einen, weil diese etwa 50 Fundstücke aus den grossen Sprachen der Welt und auch aus einigen unbekannten, gefährdeten Idiomen schlicht verzaubern. Und zum anderen, weil sich dieses kleine, liebevoll illustrierte Büchlein bestens zum Verschenken eignet, zum Beispiel dann, wenn einem selber die rechten Wörter fehlen. So könnte man etwa jemanden für ein «pisan zapra» (Malaiisch: die Zeit, die man braucht, um eine Banane zu essen) ins «komorebi» (Japanisch: das Sonnenlicht, das durch die Blätter von Bäumen schimmert) einladen, weil man ein «kilig» in sich spürt (Tagalog, Philippinen: das Gefühl, Schmetterlinge im Bauch zu haben, wenn etwas sehr Romantisches passiert). Oder auch zu einem gemeinsamen «uitwaaien» (Holländisch: eine Pause machen, um den Kopf freizubekommen), zum Beispiel in der sogenannten «Waldeinsamkeit», einem der fünf Begriffe aus der deutschen Sprache, die sich ebenfalls in diesem Kompendium finden. Denn so sprechend dieser Begriff auch ist, so ist das, was er meint (das Gefühl, allein im Wald zu sein, eine angenehme Einsamkeit und Verbundenheit mit der Natur), bestenfalls zu umschreiben, aber nicht mit nur einem Wort in eine andere Sprache zu übertragen. So wie auch «mamihlapinatapai» (Yaghan, Sprache der Ureinwohner Feuerlands: eine stillschweigende Übereinkunft zwischen zwei Menschen, die sich beide das Gleiche wünschen – und beide nicht den ersten Schritt tun wollen), «poronkusema» (Finnisch: die Entfernung, die ein Rentier bequem zurücklegen kann, bevor es eine Pause machen muss), «kaapshljmurslis» (Lettisch: das unangenehme Gefühl, in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln eingequetscht zu sein) oder die berühmte portugiesische «saudade», der Inbegriff aller Wehmut, eine Definition, die bestenfalls die Spitze des Eisberges erfasst. Es findet sich viel in diesen und anderen Botschaftern der Wörterwelten: Poesie, Witz, Tiefgründigkeit, Melancholie, Schalk. Sie bezaubern, rufen ein Lächeln hervor oder regen zum Nachdenken an. Sie zeigen, wie reich die Sprachen sind, wie einmalig auch und zugleich, wie sehr sie uns verbinden. Und eines ist gewiss: Dem Büchlein von Ella Frances Sanders blüht wohl kaum das Schicksal des «tsundoku» (Japanisch: ein Buch ungelesen lassen, nachdem man es gekauft hat, und es zu den anderen ungelesenen Büchern legen). CHRISTOPHER ZIMMER
Dokumentarfilm Regisseur Luc Schaedler besucht
fünf Kunstschaffende der aktuellen chinesischen Gegenkultur. Ihre gemeinsame Vision ist eine demokratische Zivilgesellschaft.
«Erziehung zur Grausamkeit» nennt es der Schriftsteller und Poet Ye Fu, was dem chinesischen Volk seit der Kulturrevolution angetan wurde. Er selbst gehörte als Kind eines Landbesitzers zu den Sündenböcken der kommunistischen Partei. «Ich passte immer auf, dass keine anderen Kinder zuhörten, wenn ich dem Lehrer meinen Familienstatus ‹Landbesitzer› nennen musste.» Der Vater starb in Gefangenschaft. Ye Fu wurde von seiner Grossmutter aufgezogen, die in ihm den Samen der Poesie säte, indem sie wie im alten China für ihn Gedichte rezitierte. Trotz der bitteren Erfahrungen wurde er Polizeibeamter, ein Teil dieses Systems, das die Menschen dazu brachte, sich gegenseitig zu bespitzeln und zu verraten. Aber als 1989 auf dem Tiananmen-Platz die Studentenproteste in Peking blutig niedergeschlagen wurden, konnte er seine Tätigkeit nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren. Er kündigte, indem er in einem Brief seine Beweggründe darlegte. Später stellte man ihm eine Falle, er kam für sechs Jahre ins Gefängnis. Mit der Saat der Poesie im Herzen begann er «die Dunkelheit zu kritisieren», wie er sagt. Ye Fu ist einer von fünf namhaften Kunstschaffenden, die sich in Luc Schaedlers neuem Dokumentarfilm mit den Nachwirkungen der jüngeren chinesischen Geschichte auseinandersetzen. Der Film nähert sich ihnen über deren Erinnerungen, hat einen tragischen Höhepunkt, als blutige Körper vom Tiananmen-Platz weggekarrt werden, und zeigt, wie diese Erfahrungen Eingang in die Werke der Künstler finden. So veranschaulicht die Choreografin Wen Hui die Verletzungen, die der chinesischen Seele durch das Klima des gegenseitigen Misstrauens zugefügt wurden, mit ihrem Körper. Für sie ist der Körper voller Spuren, die die Gesellschaft hinterlassen hat. Und sie versteht sich als Vermittlerin zwischen der Vergangenheit und den jungen Leuten, da diese kaum etwas über die eigene Geschichte wüssten. «Ich bin dafür verantwortlich, mich zu erinnern», sagt sie. MONIK A BET TSCHEN FOTO: ZVG
vereint ein kunterbuntes Sammelsurium unübersetzbarer Begriffe aus aller Welt.
Ella Frances Sanders: Lost in Translation. Unübersetzbare Wörter aus der ganzen Welt. Dumont 2017, CHF 27.90 Luc Schaedler: «A Long Way Home», CH 2018, 73 Min., läuft zurzeit im Kino.
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BILD(1): JULIAN QUENTIN, ALIEN, BILD(2): JENS NIELSEN, BILD(3): GEORGIOS KEFALAS, MUSEUM.BL, BILD(4): JEN ROSENBLIT
Veranstaltungen Zürich 42. Schweizer Jugendfilmtage, Mi, 4. April bis So, 8. April, Kino Xenix, Zürcher Hochschule der Künste, Gessnerallee 13, Zürich. jugendfilmtage.ch
Der Schweizer Filmnachwuchs soll gefördert und gefordert werden. Und er fordert heraus. Die Filme des Wettbewerbs der Jugendfilmtage loten einige Grenzen aus: Online-Dating unter Jugendlichen ist genauso ein Thema wie die Frage, wie weit man mit Bildsprache experimentieren kann oder wie man ein Statement gegen Homophobie setzt. Vorgestellt werden erste Gehversuche im Medium Film genauso wie professionelle Filme von Filmhochschulabsolventen. Jedes Jahr sind auch kuratierte Programme von renommierten Jugendfilmfestivals im Ausland zu sehen, diesmal aus Norwegen. Die beiden Festivals Nordic Youth Film Festival NUFF in Tromsø und das Minimalen Short Film Festival in Trondheim haben Reihen zum Thema «Kämpfe» zusammengestellt. Sie stellen die Frage: Wie geht man mit den inneren Kämpfen um, wie kann man sich in der Gesellschaft behaupten und aus den gegebenen Normen ausreissen? DIF
Morgenkolumne, Mo, 19., bis Fr, 23. März, 6.10 Uhr, SRF2 Kultur; Zwingli-Slam Spoken Word, Do, 29. März, 20 Uhr, Pfauenbühne, Zürich. Weitere Termine: jens-nielsen.ch
Auf allen Kanälen Jens Nielsen: «Ich und mein Plural – Das Bühnenprogramm zum Buch», So, 8. April, 11 Uhr, Bibliothek, Burgdorf, und Mi, 25. April, 20 Uhr, Kellerbühne, St. Gallen. Diverse Programme und Veranstaltungsorte: literarischer Musikabend, Fr, 16. März, 20.30 Uhr, Herzbaracke Rapperswil;
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Vor Kurzem ist Jens Nielsens Buch «Ich und mein Plural» erschienen. Der Spoken-Word-Autor und Schauspieler beherrscht das Spiel mit Wort- und Denkkunststücken und beweist, dass Sprache nicht nur zum Reden da ist, sondern auch zum Nachdenken. Nielsen hinterfragt in seinen Texten Alltagsrituale und scheinbar Selbstverständliches. Der Erzähler in «Ich und mein Plural» baut sich aus mehreren Personen neu zusammen, und wir hören jeder Einzelnen zu, die auch noch jede für sich die Wahrheit beansprucht. Haben Sie an der Uni einmal etwas über den unzuverlässigen Erzähler gehört? Dann lernen Sie Jens Nielsen kennen, der in die grotesken Abgründe dieses Erzählprinzips führt. Nielsen ist aber nicht nur mit dem Bühnenprogramm zum Buch unterwegs, sondern auch mit einem Musikabend oder SpokenWord-Veranstaltungen. DIF
Liestal «Das Schwein. Sympathisch, schlau und lecker», Ausstellung bis 11. August 2019, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Zeughausplatz 28, Liestal. museum.bl.ch Juden und Muslimen gilt das Schwein als unreines Tier – einer der Gründe, warum die Debatte über unseren Schweinefleischkonsum nicht selten stellvertretend für sämtliche Integrations- und Migrationsfragen herangezogen wird. Dabei ist das Verhältnis zu den grunzenden Geschöpfen auch jenseits von Religionsfragen nicht ganz ungestört: Kaum eine, die gern Cervelat und Lendchen isst, will Genaueres über Leben und Können der graubraunen und weissrosa Tiere wissen. Denn kaum lässt man die realen Vorbilder für Cartoon-Charaktere wie «Peppa Pig» und «Ferkel» an sich heran, wird der nächste Grillabend zur ethischen Frage. Es sei denn, man kultiviert die Ambivalenz und widmet der Schweinezucht eine ganze Ausstellung. WIN
Zürich Sofalesungen: Flurin Jecker, So, 25. März, 19 Uhr, Anna und WG, Haarbachstrasse 4, Winterthur; Dominic Oppliger, Fr, 6. April, 22 Uhr, Schlachthaus Theater Bern; Katja Brunner und Sophie Aeberli, So, 8. April, 19 Uhr, Hyperlokal, Grubenstrasse 39 (im Hof hinten), Zürich. Weitere Autorinnen, Autoren und Termine sind online zu finden: sofalesungen.ch
terszene, seit sie 2013 den Mülheimer Dramatikerpreis erhielt. Zwei Jahre als Hausautorin am Luzerner Theater hat sie bereits hinter sich, und ihr Stück «Den Schlächtern ist kalt oder Ohlalahelvetia» wurde letztes Jahr im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Sie bringt gesellschaftliche Tabus und Absurditäten auf die Bühne: ob Inzest, Einsamkeit oder Heimatzwänge – Katja Brunner sucht nach Erklärungsmodellen und Antworten. An der Sofalesung mit Unterstützung der Musikerin Sophie Aeberli. DIF
Zürich zurich moves!, Festival for contemporary arts practice in performing arts, Mo, 19. bis So, 25. März, Tanzhaus Zürich, Wasserwerkstr. 129, und andere Veranstaltungsorte in Zürich. zurichmoves.com Welche Spuren hinterlassen die aktuelle gesellschaftliche Situation und das politisch weltweit raue Klima in der darstellenden Kunst? Welche Mittel und Darstellungsformen werden benutzt, um diese Spuren abzubilden? Das ist die Kernfrage, der das Tanz- und Kunstfestival zurich moves! nachgeht. Je mehr es bebt und wogt im Zusammenleben der Menschen, desto eher bilden sich neue Gemeinschaften. Die Idee der Gemeinschaft an sich verändert sich. Gerade in Zeiten der Unsicherheit und Bedrohung wird sie zu einem Zufluchtsort. Auch die Kunst ist ein solcher Zufluchtsort. Ein Ort der Gemeinschaft, des kollektiven Glaubens ans Verfassen von Gedanken, an neue Ideen. Ein Ort, an dem auch heikle Fragen diskutiert werden, ohne dass sofort ein Urteil gefällt werden muss. Ja, das ist so ungefähr das, was uns an der Kunst eben auch gefällt. DIF
Sofalesungen.ch bringt Literatur nach Hause: Die Sofalesungen sind öffentlich, finden aber meist in privaten WG-Wohnzimmern, Ateliers und Hinterhöfen statt und bringen die Schreibenden mit den Lesenden zusammen. Das kuratierte Programm richtet den Fokus speziell auf überzeugende ProsaDebüts. Die 1991 geborene Katja Brunner gilt zwar schon als erfolgreiches Enfant terrible der Thea-
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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT
Agglo-Blues
Folge 6
Ein stiller Kollege Was bisher geschah: Die Ermittlungen im Fall eines ermordeten Joggers führen die 35-jährige Kriminalpolizistin Vera Brandstetter an den Arbeitsplatz des Opfers, ein solides Unternehmen mit Autobahnanschluss. Sie gelangt bis in die Chefetage, was in der Branche nur wenigen Frauen gelingt. Vom Büro von Frau Hofmann aus hatte man Aussicht über die hüglige Landschaft, die so viele Menschen anheimelte, Vera Brandstetter jedoch zuwider war. Wäre der Wald nicht gewesen, hätte man den Schnabelweiher gesehen. Dankbar nahm sie das Angebot für einen Espresso an und erstattete Erika Hofmann kurzen Bericht. «Könnte Reto Schwanders Tod etwas mit der Arbeit zu tun haben?» «Das kann ich mir nicht vorstellen», antwortete Hofmann. «Wir stellen rotationssymmetrische Teile aus Metall her. Durch Stanzen und Umformen fertigen wir Serienteile und Baugruppen.» Frau Hofmann lächelte, als sie den ratlosen Ausdruck in Brandstetters Gesicht sah. «Grob gesagt stellen wir Ersatzteile für die Auto- und Maschinenindustrie her und entwickeln Prototypen.» «Ist Werksspionage ein Thema?» «Auszuschliessen ist es nicht. Patente schützen einen heutzutage nur noch bedingt, doch es ist sehr kapitalintensiv, unsere Produktionsanlagen zu kopieren. Herr Schwander kannte kaum ein Betriebsgeheimnis, das ihm hätte gefährlich werden können.» «Was war er für ein Typ?» «Ruhig, fleissig, pünktlich. Er ist seit dreizehn Jahren im Betrieb. Kommen Sie, ich bringe Sie in seine Abteilung hinunter. Dort kann man Ihnen mehr über ihn erzählen.» Mit dem Lift fuhren sie in den zweiten Stock. Hofmann klopfte an eine Tür, auf der «206 Development Alfred Kauer, Reto Schwander» stand. «Herein», rief es von drinnen, und sie betraten ein schlicht eingerichtetes Zweierbüro. Stirnseitig aneinander geschobene hellgraue Schreibtische mit Monitoren und Tastaturen darauf, festmontierte Schreibtischlampen, beige gesprenkelter Bodenbelag, halbhohe Schubladengestelle. Der leere Schreibtisch war derart aufgeräumt, dass er unbenutzt aussah. Am anderen Tisch sass ein Mann Mitte fünfzig, der sich erhob, als sie hereinkamen. Er trug ein blauweiss kariertes Hemd, das Surprise 421/18
am Bauch etwas spannte, die Ärmel waren hockgekrempelt und gaben kräftige Unterarme frei. Um den Hals baumelte an einem Lederbändel eine dunkelblaue Plastikbrille. Er zog seine hellen, unförmigen Jeans hoch und reichte Brandstetter die Hand. «Ich muss wieder, wenn Sie noch etwas von mir brauchen, kommen Sie einfach, Sie wissen ja wo», verabschiedete sich Hofmann. Brandstetter bedankte sich bei ihr. Alfred Kauer liess sich auf seinen Bürostuhl fallen, als sie ihm von Schwanders Tod berichtete. «Das ist ein Schock», sagte er leise. «Was können Sie mir über Ihren Kollegen erzählen?» Der Mann fuhr sich durchs graue Haar, zuckte die Achseln. «Nicht viel, fürchte ich. Wir haben eigentlich nur über die Arbeit gesprochen. Privat weiss ich so gut wie nichts über ihn.» «Wie lange arbeiten sie schon zusammen?» «Wir teilen seit vier Jahren das Büro, was aber nicht heisst, dass wir immer am selben Projekt arbeiten. Reto war sehr verschlossen. Es gab Leute, die ihm das als Arroganz ausgelegt haben. Man konnte schon den Eindruck bekommen, dass er sich für etwas Besseres hielt und darum nichts mit anderen zu tun haben wollte. Ich persönlich glaube eher, dass er schüchtern war, unsicher. Ein brillanter Ingenieur, aber mit den Menschen konnte er es nicht.» «Hat er Sie zu seiner Hochzeit eingeladen?», fragte Brandstetter, der das Bild auf dem Tablet in den Sinn kam. «Nein, wo denken Sie hin? Ich habe den Ring an seinem Finger erst nach vier Monaten bemerkt. Wir hatten ausserhalb der Arbeit wirklich nichts miteinander zu tun.» «Nicht einmal ein gemeinsames Mittagessen oder so etwas?» «Nur, wenn es etwas zu besprechen gab. Reto ging über Mittag oft heim, er wohnt ja ganz in der Nähe.» Brandstetter strich sich durch ihr kurzes rotbraunes Haar. Sie zog die Schubladen des Schreibtischs auf und schaute in die Abteile des Gestells. Säuberlich eingeräumtes Büromaterial, Ordner und Fachbücher. Wie die Wohnung wirkte auch der Arbeitsplatz wie aus dem Katalog. Perfekt und unpersönlich. Brandstetter überreichte Kauer ihre Karte und verabschiedete sich.
STEPHAN PÖRTNER schreibt Romane und Theaterstücke. Wer eine oder mehrere Folgen von «Agglo-Blues» verpasst hat, kann sie auf unserer Webseite nachlesen oder auch hören, gesprochen vom Autor selbst oder von prominenten Gastlesern wie Andrea Zogg: www.surprise.ngo/krimi
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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
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Brother (Schweiz) AG, Dättwil
03
Kaiser Software GmbH, Bern
04
Coop Genossenschaft, Basel
05
Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel
07
Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern
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VXL gestaltung und werbung AG, Binningen
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Burckhardt & Partner AG, Basel
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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern
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SM Consulting, Basel
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Holzpunkt AG, Wila
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Praxis Colibri, Murten
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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
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AnyWeb AG, Zürich
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Hervorragend AG, Bern
18
Probst Schliesstechnik AG, Bern
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Hofstetter Holding AG, Bern
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Balcart AG, Therwil
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Echtzeit Verlag, Basel
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Schweizerisches Tropeninstitut, Basel
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Yoga Für Alle, Turgi
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Hedi Hauswirth, Psychiatrie-Spitex, Oetwil
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Barth Real, Zürich
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#419: «Der Ball der Jungfrauen»
«Überrascht und schockiert»
«Emotionaler Missbrauch»
Ich möchte mich ganz herzlich für die beiden Führungen sowie die Interviewstunde mit Markus Christen bedanken. Es hat alles wunderbar geklappt, und die teilnehmenden Lernenden waren je nach Situation interessiert, überrascht, schockiert und wurden zum Nachdenken angeregt. A . KÖZ, LEHRER, Reinach
Das Heft war wieder einmal sehr spannend. Fragend hat mich der Artikel zum «Ball der Jungfrauen» hinterlassen. Ob es sich da nicht um (institutionalisierten) emotionalen Missbrauch von jungen Mädchen handelt?
Stadtrundgang Basel
ehemaliger Familienrichter, Luzern
B. ROELLI,
«Kleinkarierter Kantönligeist» Es ist eindrücklich zu erfahren, wie Menschen ohne Obdach in unserer Gesellschaft leben und mit welchen Problemen sie konfrontiert sind. Das aufopfernde Bemühen von Institutionen, staatlichen Einrichtungen und ehrenamtlichen Hilfspersonen ist lobenswert und müsste viel mehr Beachtung finden. Unverkennbar ist die Tatsache, dass ohne die Eigeninitiative des Schutzbedürftigen selber ein Weiterkommen respektive ein Ausstieg aus dieser Misere nicht möglich ist. Die gesamte Unterstützung beruht auf Motivation und der Aussicht auf eine positive Perspektive. Die Statistik der Obdachlosenentwicklung vor Ort, der rasante Anstieg, die politische Einflussnahme, die Unterstützung und der naive, kleinkarierte Kantönligeist lassen aufhorchen. Beeindruckt bin ich von der Offenheit und authentischen Art und Weise, mit der Betroffene über die eigenen Erfahrungen und Empfindungen berichten. Deutlich wird vor Augen geführt, wie wichtig ein gutes soziales Umfeld und der Kontakt zu Mitmenschen ist.
#419: «Der Ball der Jungfrauen»
O. VON DESCHWANDEN, Dornach
T. R AMSEIER, Bern
Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99 info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Sara Winter Sayilir (win), Georg Gindely (gg) Reporter: Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Mario Frauchiger, Laura Jurt, Hanspeter Künzler, Birgit Ludwig, Evan Ruetsch, Benjamin von Wyl, Conradin Zellweger
25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name
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Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik
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Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 33 500
Und da meint man, es gäbe einen Fortschritt. Dieser Bible-Belt (Gürtel) ist wirklich zum Bellen (belting). Trotzdem ein interessanter Bericht.
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FOTO: BODARA
Surprise-Porträt
«Ich bekomme so viel Liebe zurück» «Ich hatte eine glückliche Kindheit. Meine Eltern, meine Geschwister und ich lebten in einem Haus mit Garten in einem schönen Quartier in Mogadischu. Als ich zwölf Jahre alt war, begann in Somalia der Bürgerkrieg. Dadurch änderte sich alles. Eines Tages drangen bewaffnete Männer in unser Haus ein. Die Erinnerung daran wird mich nie mehr loslassen. Mein Vater und mein ältester Bruder wehrten sich. Sie wurden beide getötet. Auch meine Mutter wurde erschossen. Meine anderen Geschwister und ich versteckten uns im oberen Stock unter dem Bett. Später flüchteten wir in den Wald. Zurückkehren konnten wir nicht. Ein ehemaliger Geschäftspartner meines Vaters, der wohl hinter dem Überfall stand, zog in das Haus. In Mogadischu galten keine Gesetze mehr. Ein Onkel nahm mich und meine Geschwister auf. Später flüchtete er mit meinen Geschwistern nach Kenia. Ich blieb, weil ich mich in den Sohn seines Nachbarn verliebt hatte. Wir waren glücklich zusammen, heirateten und bekamen vier Kinder. Doch das Verhältnis mit meiner Schwiegermutter war sehr schwierig. Sie machte mich schlecht vor meinem Mann, und nach einer gewissen Zeit glaubte er ihr. Er begann mich zu schlagen, und irgendwann schickte er mich fort. Die Kinder behielt er. Ich konnte nichts tun. Es war zu gefährlich, als Frau alleine in Somalia zu bleiben. Ich flüchtete nach Kenia und wollte von dort aus weiter nach London, wo eine meiner Schwestern mittlerweile lebte. Bei der Zwischenlandung in Zürich wurde ich wegen Unklarheiten mit meinen Papieren festgenommen. Ich blieb in der Schweiz hängen. Ich kannte niemanden hier, und jede Nacht träumte ich von meinen Kindern. Es zerriss mir fast das Herz. Meine jüngste Tochter war einen Monat alt, als ich sie verlassen musste. Nach einer Weile lernte ich einen Mann kennen, auch er stammt aus Somalia. Wir bekamen drei Kinder. Unser jüngster Sohn hat Trisomie 21. Kurz nach seiner Geburt starb mein Ex-Mann in Somalia, und ich konnte meine vier älteren Kinder zu mir kommen lassen. Es war ein unglaubliches Gefühl, als ich sie wiedersah und in die Arme schliessen konnte. Doch das Zusammenleben mit meinem Mann in der Schweiz wurde immer schwieriger. Er konnte nicht akzeptieren, dass unser Sohn Trisomie 21 hat, und als er arbeitslos wurde, begann er, ständig Streit zu suchen und mich zu schlagen. Irgendwann war es zu viel, ich rief die Polizei. Sie nahm ihn fest. 30
Fartun Abukar Mahamed, 35, verkauft Surprise in Bauma im Zürcher Oberland. Sie ist alleinerziehende Mutter von sieben Kindern. Ihr jüngster Sohn hat Trisomie 21.
Heute sind wir geschieden, und ich bin alleine mit meinen sieben Kindern. Gerne würde ich arbeiten, um nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig zu sein und ihnen mehr ermöglichen zu können. Während der Schulferien fragen sie mich oft: Weshalb verreisen wir eigentlich nie? Doch leider ist es fast unmöglich, in meiner Situation eine Stelle zu finden. Wenn ein Kind krank ist, kann ich es nicht einfach allein lassen, und meinen jüngsten Sohn bringe ich häufig in die Therapie. Surprise ist auch deshalb ein Glücksfall für mich. Ich kann meine Arbeitszeit selber einteilen. Meinen Stammplatz habe ich in Bauma. Die Menschen dort sind sehr nett. Sie helfen gerne und sprechen mit mir. Das tut meinem Herzen gut, egal, ob sie ein Heft kaufen oder nicht. Ich habe viel erlebt in den 35 Jahren, in denen ich auf der Welt bin. Jetzt bin ich wieder glücklich. Vor allem dank meinen Kindern. Die Älteren machen eine Lehre oder haben eine Lehrstelle gefunden. Sie sind sehr fleissig und pflichtbewusst, genauso wie die Jüngeren. Ich liebe sie alle sehr, vor allem auch meinen Jüngsten. Ich bekomme so viel Liebe von ihm zurück. Er ist ein Geschenk Gottes.»
Aufgezeichnet von GEORG GINDELY
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