Strassenmagazin Nr. 423 20. April bis 3. Mai 2018
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davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden
Sozialabbau
Dagegen SP-Nationalrätin Silvia Schenker über realitätsfremde Bürgerliche, zögerliche Linke und das neue Observationsgesetz Seite 8
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Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BERATUNG
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN Information
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Erlebnis
Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel
SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
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Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO
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TITELBILD: LUCIAN HUNZIKER
Editorial
Gegen die soziale Härte Vor 15 Jahren erfand die SVP den Begriff «Scheininvalide». Seither beschliessen die bürgerlichen Parteien Kürzung um Kürzung bei den Sozialversicherungen und der Sozialhilfe, oft mit dem Argument der Missbrauchsbekämpfung. In der Frühjahrssession verabschiedeten sie zudem ein Überwachungsgesetz, das Sozialversicherungsdetektive mit mehr Kompetenzen ausstattet als Polizisten. SP-Nationalrätin Silvia Schenker hat die Debatte in den letzten 15 Jahren hautnah miterlebt. Sie findet die Härte erschreckend, mit der die Bürgerlichen sparen. Denn die Kürzungen treffen die Anspruchsberechtigten ins Mark, wie Schenker in ihrem Alltag als Sozialarbeiterin erlebt. Sie kritisiert aber auch ihre eigene Partei dafür, dass sie die Auseinandersetzung zu oft scheut. So ist Schenker überzeugt, dass es sehr gute Argumente gibt, die Observationsvorlage zu bekämpfen. Vergessen geht ihrer Ansicht nach auch, wie tief die Missbrauchsquote wirklich ist: Bei der IV zum Beispiel liegt sie bei 0,3 Prozent, das sind 650 Fälle auf 220 000 Versicherte.
4 Aufgelesen 5 Vor Gericht
14 Psychopharmaka
Die Pharmafirmen forschen kaum mehr
Das Interview mit Silvia Schenker finden Sie auf Seite 8, eine Übersicht über die Sozialhilfekürzungen in den Kantonen auf Seite 12. Der Kosovo feiert zehn Jahre Unabhängigkeit, doch vielen ist nicht zum Feiern zumute. Der junge Staat wird von politischen Querelen und Korruption blockiert. Auch die Menschen sind blockiert: Sie dürfen als Einzige in Europa nicht visafrei in den Schengenraum reisen. Teuta Krasniqi, eine junge Balletttänzerin, hat mit dem kosovarischen Nationalballett ein Stück zum Thema inszeniert. Die Reportage darüber lesen Sie auf Seite 18. Neu im Surprise-Team begrüssen dürfen wir Andres Eberhard. Er wird neben Simon Jäggi als Reporter für uns tätig sein. Wir freuen uns auf seine Geschichten – und danken Ihnen, dass Sie sie lesen.
GEORG GINDELY Redaktor
25 Kino
Grosse Oper im Supermarkt
Ausgepoltert 26 Veranstaltungen 6 Challenge League
Hört auf zuzuschauen!
27 Fortsetzungsroman
Das Arsenal 28 SurPlus Positive Firmen
7 All Inclusive
Die Ärmsten und Schwächsten
18 Kosovo
Tanzen für die Freiheit 29 Wir alle sind Surprise 8 Sozialpolitik
«Ich bin sehr besorgt die Kürzungen»
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24 Kultur
Mit Fans statt Experten ins Museum
Impressum Surprise abonnieren
30 Surprise-Porträt
«Wir wissen nicht, wie es weitergeht» 3
Aufgelesen
FOTO: ZVG
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Berühmte Verkäuferin Nun verkauft sogar die Queen Strassenmagazine – wenigstens wenn es nach einem britischen Strassenkünstler geht. Sein Bild, das an einer Wand in London prangt, zeigt Königin Elisabeth II. mit ihrer Krone auf dem Kopf und dem Londoner Strassenmagazin The Big Issue in der Hand. Auf ihrer Schulter sitzt der berühmte Kater Street Cat Bob, über dessen Leben an der Seite eines Verkäufers ein Buch erschien, das kürzlich auch verfilmt wurde. Für einmal ist nicht der berühmte Banksy der Urheber des Bildes. Vermutet wird, dass der Künstler Loretto hinter dem Werk steht.
THE BIG ISSUE, LONDON
Duschen im Bus FOTO: ZVG
Rollt bald eine fahrende Duschanstalt durch Dresdens Strassen? Grüne, Linke und SPD haben den Stadtrat beauftragt, diese Idee zu prüfen. Der Duschbus ist ein mehrfach preisgekröntes Projekt, dessen Ursprünge in San Francisco liegen. Dort erwirbt die Non-Profit-Organisation «Lava Mae» seit fünf Jahren ausgediente Linienbusse, um sie zu öffentlichen Duschbädern auf Rädern umzubauen. Seit 2013 haben über 10 000 Menschen den Service genutzt.
DROBS, DRESDEN
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Darüber sprechen
Hilary Marks, 58, lebte zwölf Jahre lang auf den Strassen von Victoria, der Hauptstadt des kanadischen Bundesstaats British Columbia. Heute erzählt sie in Schulen und an anderen Orten von ihrem Leben. Damit will sie zusammen mit ihren Mitstreitern des 2013 gegründeten Speakers Bureau mehr Verständnis für Obdachlose schaffen. Um ihre Aufgabe meistern zu können, absolvierten Hilary und ihre Kolleginnen und Kollegen ein Medientraining und setzen sich intensiv mit ihrer eigenen Geschichte auseinander – ähnlich wie die Stadtführerinnen und Stadtführer von Surprise.
MEGAPHONE, VANCOUVER
Obdachlos in Berlin
Im Frühling 2017 beschäftigte sich der aktuelle Jahrgang der Evangelischen Journalistenschule Berlin im Rahmen eines Datenjournalismus-Projekts mit dem Thema Obdachlosigkeit. Das Projekt liefert interessante Einblicke und eine Vielzahl von Daten, die bisher nicht erhoben wurden. Zu finden sind die Informationen auf der Webseite www.obdachlosinberlin.de.
DER STRASSENFEGER, BERLIN
Bunte Altersheime
Drei der 13 Heime der Münchenstift GmbH nennen sich «Häuser der Vielfalt». Sie wollen besonders offen für Schwule, Lesben und Transmenschen sein. «Das Ziel ist, dass in Zukunft alle MünchenstiftHäuser attraktive Orte für alle Menschen werden», sagt Geschäftsführer Siegfried Benker. Die Münchenstift GmbH betreibt auch drei Heime, in denen besonders auf die Bedürfnisse älterer Migrantinnen und Migranten eingegangen wird.
BISS, MÜNCHEN
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Vor Gericht
Ausgepoltert Dass Polterabende bisweilen aus dem Ruder laufen, ist bekannt. Dennoch enden sie schlimmstenfalls meist in der Ausnüchterungszelle, nicht mit einer Anklage wegen Rassendiskriminierung. Doch wenn drei Dutzend Neonazis für einen ausgelassenen Junggesellenabschied ausgerechnet nach Wiedikon fahren, ins jüdisch-orthodoxe Wohnquartier Zürichs, ausgerechnet am Schabbat, wenn besonders viele Juden auf der Strasse unterwegs sind, ist klar: Antisemitismus ist das Extra des Abends! Im Chor gegrölter Rassenhass, Hitlergruss, Juden bespucken als rituelles letztes Auf-den-PutzHauen vor der Ehe. Und genau so kam es. Das wusste wohl auch der Beschuldigte – bevor die ersten Gläser durch das Lokal flogen, die Stripperin verstört das Weite suchte und mehrere entsetzte Anwohnerinnen der Polizei meldeten, eine Gruppe Neonazis verfolge einen Juden. Der einschlägig vorbestrafte Sänger der rechtsextremen Band Amok trägt ein Hakenkreuz-Tattoo auf der Schulter, quer über seinem Bauch prangt der Schriftzug RaHoWa, Akronym für «Racial Holy War», deutsch: «Rassischer Heiliger Krieg». Vor Gericht distanziert er sich von Gewalt und der Szene – nicht von der Ideologie. Aber er lebe seine politische Gesinnung nur noch in der Musik aus. Sein zentraler Lebensinhalt seien jetzt Familie und Beruf, er ist Metzger. Er wolle die Schulden, Gerichtsgebühren und Geldstrafen aus früheren Verurteilungen abzahlen. «Man» habe seinen Lebenswandel geändert, sagt er über sich. Die wilden Zeiten seien vorbei. Seine respektvolle Höflichkeit passt so gar nicht zur rohen Brutalität, die aus seinem Straf-
register spricht. Einmal hat er bei einem Besäufnis mit einem schweren Glasaschenbecher jemandem den Schädel eingeschlagen – zwei Kollegen hielten das Opfer fest. Der 31-Jährige zeigt Einsicht, ja, er habe es verdient, bestraft zu werden. Aber mit den ihm hier vorgeworfenen Taten habe er nichts zu tun gehabt. Er habe keinen Juden bespuckt, nicht «Wir schicken euch nach Auschwitz!» und «Heil Hitler» gebrüllt. Als es zu den wüsten Szenen kam, sei er bereits auf dem Weg zum Bahnhof gewesen. Polizei und Staatsanwaltschaft wirken wenig überzeugend: So wurde versäumt, ein DNA-Profil der Spucke auf dem Mantel des Opfers zu erstellen. Die ersten Einvernahmen erfolgten erst Monate nach dem Ereignis. Derweil macht der Strafverteidiger eine Verwechslung geltend: Zeugenaussagen zu einem Hakenkreuz-Tattoo reichten hier als Identifikation nicht aus. Wohl wahr – mit dem Sujet ist der Angeschuldigte in der Szene nicht allein. Bei den Erläuterungen zum Urteil räumt der Gerichtsvorsitzende denn auch ein, es gebe den einen, klaren Beweis nicht. Doch in der Gesamtbetrachtung seien die Zeugenaussagen und Indizien schlüssig – während die Ausführungen des Beschuldigten voller «merkwürdiger Zufälle» steckten. Vor allem aber nimmt das Gericht dem Beschuldigten die Läuterungsgeschichte nicht ab: «Sie haben sich nicht im Griff», sagt der Gerichtspräsident. «Und Sie hatten genug letzte Chancen.» Er verurteilt den Beschuldigten zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren. In Rechtskraft wird das Urteil vorerst nicht treten: Schon unmittelbar nach der Verhandlung kündigt der Verteidiger Berufung an.
Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich
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Challenge League
Hört auf zuzuschauen! FOTO: REUTERS/KHALIL ASHAWI
schen Staat besiegt haben. Dafür waren sie im Westen bejubelt worden. Plötzlich aber durfte der Nato-Staat Türkei mit westlichen Waffen die kurdischen Helden in Afrin angreifen. Sie haben die Stadt geplündert und Hunderttausende in die Flucht getrieben, sie haben Frauen und Kinder getötet, Wasserleitungen stillgelegt und das Spital angegriffen. Das geschah vor den Augen aller. Und kaum jemand sagt etwas dagegen. Warum sehen alle schweigend zu, obwohl die Sozialen Netzwerke von schrecklichen Bildern nur so überquellen? Sind der Krieg und das Blutvergiessen zur Normalität worden, oder haben wir die Menschlichkeit vergessen?
Bewohner von Afrin fliehen mit ihrem Hab und Gut aus der nordsyrischen Stadt.
Ich schreibe viel zu spät an meiner Kolumne, da ich völlig kraftlos bin, seitdem ich täglich Nachrichten über die Gräueltaten der türkischen Armee und ihrer islamistischen Verbündeten in Afrin sehe. Ich habe deshalb diesen Monat die Sozialen Medien gemieden, weil ich nur noch Bilder und Videos der Gräueltaten gegen Zivilisten sah. Nur bei Facebook habe ich mich manchmal eingeloggt, damit ich anderen weitergeben konnte, was ich wusste. Mehrere Male habe ich meine Freunde in Afrin angerufen, um sie zu fragen, was bei ihnen vorging. Solch schreckliche Gewalt ist unvorstellbar. Und das vor aller Augen, schliesslich werden die Bilder ungefiltert und unmittelbar über das Internet in alle Welt verbreitet. Am Schlimmsten traf mich der 3. Februar, als ich ein Bild von einer zerstückelten Kämpferin der YPG mit abgeschnittenen Brüsten sah. Es war morgens etwa um zehn Uhr und ich war zu dem Zeitpunkt an der Filmschule. Ich verstand nichts mehr, weil es mich so sehr schockte. Gleichzeitig wirkte das Geschehen um mich herum zunehmend surreal. Um elf Uhr stritt ich mich mit der 6
Lehrerin und verliess den Unterricht. Ich ging zum Bahnhof, um nach Hause zu fahren, doch dann sass ich nur stundenlang am Bahnhof und dachte nach. Ich empfand die Taten als Beleidigung gegen die ganze Menschheit. Und ich fragte mich: Warum sagt, warum tut niemand etwas dagegen? Seit 2012 tobt der Krieg in Syrien. Erst, im sogenannten Arabischen Frühling, gingen die Leute auf die Strasse und wollten von vorn anfangen. Sie wollten keine Diktatur mehr. Anfangs wusste jeder noch, wer da gegen wen kämpft. Klar widersetzten sich die Leute Bashar al-Assad. Heute aber blickt kaum noch einer durch. Erst die Freie Syrische Armee. Danach der sogenannte Islamische Staat. Dann die Kurden gegen den Islamischen Staat. Dann mischten sich die USA und Russland ein. Und nun träumt auch noch Erdogan davon, in die Fussstapfen der osmanischen Sultane zu steigen und Syrien zurückzuerobern. Und alle sagen, dass sie den Terrorismus bekämpfen wollen. Dabei waren es doch die Kurden, die im Norden Syriens und im Irak den Islami-
Wir ahnen: Dahinter stecken ökonomische Interessen. Es geht um Erdöl und Waffenhandel. Davon profitieren der Westen und auch Russland, das fleissig jene unterstützt, die gegen den Westen sind. Iran will, dass Assad an der Macht bleibt, damit er weiter Milizen wie die Hizbollah züchten kann. Und die Türkei will um jeden Preis eine souveräne kurdische Entität verhindern. Und dazwischen sterben Kinder, Frauen, Männer, ganze Generationen. Wir dürfen aber nicht schweigen, wenn Unschuldige sterben. Hunderttausende sind aus Afrin geflüchtet. Ganz im Interesse der Türkei übrigens: Nicht nur bekommt sie einen Milliardenbetrag, um die Fluchtroute nach Europa zu blockieren, sie nutzt ihre Schlüsselposition auch dazu, die Kurden vor den Augen des schweigenden Westens gleich ganz zu vernichten. Europa sollte besser gegen diese Politik der Türkei Widerstand leisten, oder sich darauf einrichten, bald noch viel mehr Menschen aus dem Nahen Osten hier ankommen zu sehen.
Der kurdische Journalist KHUSRAW MOSTAFANEJAD floh aus seiner Heimat Iran und lebt seit 2014 in der Schweiz. Die türkische Offensive gegen Afrin hat ihn zeitweise arbeitsunfähig gemacht.
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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
zu den parlamentarischen Beschlüssen, dass EL-Beziehende sich gut überlegen müssten, «ob sie sich einen Gang zum Arzt oder zur Zahnärztin überhaupt leisten können».
All Inclusive
Die Ärmsten und Schwächsten Stellen Sie sich vor, Sie warten nichtsahnend an einer Tramhaltestelle. Plötzlich drückt Ihnen eine fremde Person mit mitleidigem Blick einen Fünfliber in die Hand. Vermutlich ist Ihnen das noch nie passiert. Ausser Sie sind auf einen Rollstuhl angewiesen; dann stehen die Chancen gut, dass Sie die beschriebene Szene schon ein- oder gar mehrmals erlebt haben. Und dass die Person, die Ihnen Geld in die Hand drücken wollte, beleidigt reagiert hat, als Sie ihr das Geld mit einem freundlichen «Nein danke, ich brauche das nicht» zurückgegeben haben. Oft sind die Spender ältere Menschen, die sich noch daran erinnern, wie es war, als es noch keine Invalidenversicherung gab und es eine Familie in grosse finanzielle Schwierigkeiten stürzen konnte, wenn ein Familienmitglied eine Behinderung oder eine schwere Erkrankung erlitt. Dass Menschen mit Behinderung heute nicht selten arbeiten oder, falls dies behinderungsbedingt nicht möglich ist, auf die Unterstützung der IV zählen können, haben sie nicht mitbekommen. Nicht ganz unschuldig an diesem Bild sind allerdings auch die Behindertenorganisationen, die noch viel zu oft das Bild Surprise 423/18
der armen und bedürftigen Behinderten zeichnen, um damit für ihre Organisation um Spenden zu werben. Selbstbewusste und fröhliche Behinderte, die nicht am Hungertuch nagen, wirken da einfach nicht so gut: Warum sollte man für deren Anliegen überhaupt spenden? Bei jeder Gesetzesvorlage, die Menschen mit Behinderungen betrifft, kramen linke Parteien und Behindertenorganisationen die «Ärmsten und Schwächsten» aus der Wortschublade. So auch bei der kürzlich im Parlament beratenen Revision des Gesetzes über die Ergänzungsleistungen. Die Ansätze für den Lebensunterhalt – die in der Revision nicht angetastet werden – sind allerdings bei den Ergänzungsleistungen deutlich grosszügiger bemessen als bei der Sozialhilfe. Das liegt daran, dass die EL nicht als Überlebenshilfe konzipiert sind, sondern als Ergänzung zu den nicht existenzsichernden Renten für alte oder kranke Menschen dienen. EL-Bezüger pauschal als «die Ärmsten» zu bezeichnen, ist daher nicht angebracht. Trotzdem impliziert Agile, der Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen, in einer Medienmitteilung
Diese Darstellung der Agile ist schlicht falsch: EL-Beziehenden werden sowohl die Krankenkassenprämien, der Selbstbehalt bei krankenkassenpflichtigen Leistungen als auch die Zahnarztkosten erstattet. Das ist heute so und das wird durch die EL-Revision auch nicht geändert. Man würde ja denken, dass Behindertenorganisationen eigentlich wissen müssten, wovon sie sprechen. Doch solche fehlerhaften Darstellungen, die das Narrativ von Menschen mit Behinderungen als den «Ärmsten und Schwächsten» stützen, kommen immer wieder vor. Das heisst nicht, dass es nicht tatsächlich Fälle gibt, wo Betroffene in finanziell sehr prekären Situationen leben. Zum Beispiel dann, wenn die IV die IV-Rente kürzt, obwohl die Betroffenen gar nicht gesünder geworden sind. Oder wenn ein hoher Pflegebedarf besteht, der nicht anerkannt wird. Doch pauschal alle Menschen mit einer Behinderung – oder in diesem Fall EL-Bezügerinnen – immer wieder als «arm und schwach» zu bezeichnen, prägt das Bild der Betroffenen als komplett hilflose Wesen. Die demütig die vom Tisch fallenden Krümel entgegennehmen dürfen, während die Spender sich gut dabei fühlen. Der Rollstuhlfahrer an der Tramhaltestelle würde es anstelle des Fünflibers vorziehen, wenn der edle Spender stattdessen bei den nächsten Wahlen diejenigen Politikerinnen wählt, die sich für mehr Barrierefreiheit einsetzen. Damit er nicht mehr aufs nächste Tram warten muss. Weil das, das jetzt grad vorgefahren ist, nämlich noch nicht barrierefrei ist.
MARIE BAUMANN dokumentiert unter ivinfo.wordpress.com seit 2009 das politische Geschehen rund um die Invalidenversicherung.
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«Die Sparer blenden die Lebensrealität anderer komplett aus» Sozialpolitik Nationalrätin Silvia Schenker (SP) kritisiert die Kürzungen im Sozialbereich und kämpft gegen das neue Observationsgesetz. INTERVIEW GEORG GINDELY
Das Schweizer Sozialsystem ist unter Beschuss. Immer mehr Kantone beginnen, bei der Sozialhilfe zu kürzen und die Richtlinien der der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) zu unterschreiten. Vor Kurzem hat der Kanton Bern eine Senkung von 8 Prozent beschlossen, bei bestimmten Gruppen wie jungen Erwachsenen beträgt die Kürzung bis zu 30 Prozent. Andere Kantone haben ebenfalls bereits gespart oder stehen kurz davor (siehe Übersicht auf den Seiten 12 und 13). Auf nationaler Ebene geht das Kürzen bei den Schwachen weiter: Bei den Ergänzungsleistungen zum Beispiel wollen die bürgerlichen Parteien in Zukunft 700 Millionen Franken sparen. Das hat die Mehrheit des Nationalrats in der Frühjahrssession beschlossen, die Schlussabstimmung steht noch aus. Bereits verabschiedet haben die Räte ein neues Observationsgesetz gegen Sozialversicherungsbetrug, das den privaten Ermittlern mehr Befugnisse gibt als der Polizei. Im Sommer steht eine erneute Revision der Invalidenversicherung auf der Traktandenkiste des Parlaments. SVP und FDP haben angekündigt, weitere Kürzungen vorzunehmen, nachdem bereits bei den früheren Revisionen der IV gespart wurde. SP-Nationalrätin Silvia Schenker, 64, ist seit 2003 Mitglied des Parlaments und hat den Wandel in der Sozialpolitik an vorderster Front miterlebt. Nicht nur als Politikerin übrigens: Schenker arbeitet als Sozialarbeiterin bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB in der Stadt Basel. Surprise 423/18
FOTOS LUCIAN HUNZIKER
Frau Schenker, Sie sitzen seit 15 Jahren als Sozialpolitikerin der SP im Parlament und fahren Niederlage um Niederlage ein: Die Bürgerlichen sparen bei der Invalidenversicherung, der Sozialhilfe und den Ergänzungsleistungen. Wie frustriert sind Sie? Ich bin nicht frustriert, aber sehr besorgt. Als Sozialarbeiterin bin ich mit vielen Menschen in Kontakt, die direkt von den Beschlüssen des Parlaments betroffen sind. Ich weiss, mit wie wenig Geld sie bereits jetzt auskommen müssen, wie schwierig ihre Situation ist und welche verheerenden Auswirkungen dies auf ihre Würde und ihr Selbstwertgefühl hat. Das motiviert mich, alle Kämpfe auszufechten, auch aussichtslose oder fast aussichtslose. Weshalb kommen die Bezügerinnen und Bezüger von Sozialleistungen im Moment so unter Druck? Bei den Bürgerlichen dreht sich alles um das Wort «Selbstverantwortung». Wer auf Sozialhilfe angewiesen ist, macht ihrer Ansicht nach etwas falsch. Der Begriff «Fürsorge» wird immer negativer besetzt, dabei ist Fürsorge etwas sehr Positives. Weshalb? Fürsorge heisst, dass man für jemanden sorgt. Man ist solidarisch, teilt und nimmt Anteil am Leben von Menschen, denen es nicht so gut geht. Aber heute ist das Teilen bei vielen Menschen kein Thema. Das Umverteilen ist den Bürgerlichen ein grosser Dorn im Auge. Das ist mir bei der Diskussion über die Rentenreform aufgefallen.
Dort war die berufliche Vorsorge aus deren Sicht immer das gute System, weil da jeder für sich spart und sein Kässeli füllt. Die AHV hingegen ist der Inbegriff der Umverteilung, weil das Geld von den Reichen zu den Armen und von den Jungen zu den Alten fliesst. Und das passt den Bürgerlichen gar nicht. Hat die Solidarität nur bei den Politikern abgenommen oder in der ganzen Gesellschaft? Ich glaube schon, dass die Solidarität in der Tendenz abnimmt. Das sieht man, wenn man schaut, wie sich in den letzten Jahren der Blick auf Sozialhilfe- und IV-Bezügerinnen und -Bezüger verändert hat. Begonnen hat es, als die SVP den Begriff «Scheininvalide» prägte. Diese Propaganda zeigte bereits bei der folgenden IV-Revision Wirkung, und diese Wirkung hat sich seither noch verstärkt. Das Misstrauen gegenüber IV-Bezügern gipfelt nun in der Observationsvorlage, die beide Räte eben verabschiedet haben. Zu den Scheininvaliden kamen die Sozialschmarotzer. Sozialschmarotzer sind laut der SVP Menschen, die bequem vom Staat leben. Das ist eine Sichtweise, die mittlerweile von der FDP und anderen bürgerlichen Parteien übernommen wurde. Ich finde sie erschreckend. Weshalb? Weil diese Sichtweise weit weg ist von der Lebensrealität der Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen kein oder nur ein sehr tiefes Einkommen generieren. Die 9
Working Poor zum Beispiel: Die gibt es in der Schweiz, aber von ihnen ist nie die Rede. Dabei machen sie genau das, was die Bürgerlichen wollen: Sie arbeiten. Aber sie müssen dennoch Sozialhilfe beziehen, weil das Gehalt nirgends hinreicht. Weshalb wird über diese Realität nicht gesprochen? Weil die Menschen, welche die Kürzungen beschliessen, die Lebensrealität von anderen komplett ausblenden. Sie sehen nur das Umfeld, das sie kennen und in dem sie sich bewegen. Und in diesem Umfeld gilt: Wer etwas erreichen will, der schafft es auch.
Silvia Schenker am Rheinsprung in Basel.
Sehen Sie das anders? Ja, die Voraussetzungen sind nicht für alle gleich. Das beginnt schon ganz früh: Kinder von Sozialhilfebezügern haben ein viel grösseres Risiko, ebenfalls von der Sozialhilfe abhängig zu werden, weil viele von ihnen weniger gute Startbedingungen haben, was die Bildung betrifft. Heute beziehen auch viele Menschen mit Suchtproblemen oder psychischen Beeinträchtigungen Sozialhilfe, weil sie nicht oder nicht mehr IV-berechtigt sind. Oder denken Sie an ältere, ausgesteuerte Arbeitslose, die sich jahrelang erfolglos um eine neue Stelle bemüht haben. Dass man es diesen Menschen anlastet, dass sie es nicht aus der Sozialhilfe hinausschaffen, ist verheerend, weil es sie zusätzlich stigmatisiert und entwertet. Bürgerliche Politiker, zum Beispiel der Berner SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg, sagen, dass es stossend sei, wenn Sozialhilfebezüger mehr Geld erhalten als Menschen, die arbeiten. Das sei in unserem System heute der Fall. Finden Sie das nicht auch störend? Die Aussage von Herrn Schnegg bestreite ich. Es ist heute so: Wenn man arbeitet, aber mit seinem Lohn das Existenzminimum nicht erreicht, kann man Sozialhilfe beantragen. Das machen viele Working Poor. Was die Aussage zeigt, ist, wie die Bürgerlichen einen Keil zwischen die ganz Armen und die etwas weniger Armen treiben wollen. Sie schüren Neid. Aber man kann doch neidisch sein auf die Sozialhilfebezüger, die Geld vom Staat bekommen, ohne zu arbeiten. Ich bin überhaupt nicht neidisch auf Sozialhilfebezüger. Die ganze Debatte weckt den Eindruck, es sei eine Strafe, arbeiten 10
zu müssen. Das stimmt für den grösseren Teil der Arbeitnehmenden nicht. Die bürgerlichen Politikerinnen und Politiker, die das behaupten, arbeiten alle gerne, und auch ich arbeite in einem Beruf, der mir Freude macht. Das empfinde ich als Privileg. Die Menschen, denen ich als Sozialarbeiterin begegne, wollen ebenfalls arbeiten. Sie finden es überhaupt nicht toll, keinen Job zu haben, sondern suchen eine Beschäftigung. Viele von ihnen engagieren sich deshalb freiwillig. Können Sie den Neid nicht verstehen? Nein, ganz und gar nicht. Aus meinem Beruf weiss ich, dass man als Sozialhilfebezüger nicht einfach so Geld bekommt. Man muss seine finanzielle Situation offenlegen und für jede Ausgabe, die man tätigt, Quittungen einreichen. Das ist demütigend und mit ein Grund, weshalb viele Menschen, die eigentlich Anrecht auf Sozialhilfe hätten, keine beantragen. Diejenigen, die Sozialhilfe beziehen, leben mit einem Mini-
mum an Geld. Der Mindestbetrag für den Grundbedarf beträgt im Moment laut SKOS-Richtlinien 986 Franken pro Monat und deckt viele Sachen nicht ab, die wir als völlig selbstverständlich erachten. Sie und ich können einfach einen Kaffee trinken gehen, wenn wir am Samstag in der Stadt sind. Diese Menschen können das nicht tun. Sie müssen sich jedes Mal genau überlegen, was sie sich leisten können. Ist das die Erfahrung, die Sie als Sozialarbeiterin machen? Ich machte sie auch selbst. Als ich als alleinerziehende Mutter die Matura nachholte, musste ich eine Weile lang mit sehr wenig Geld auskommen. Ich habe erlebt, wie viel Stress es verursacht, wenn die Rechnung der Billag im Briefkasten liegt oder die Prämie der Hausratsversicherung. Oder dann war ich mit Freunden unterwegs, die sagten, komm, wir gehen etwas trinken – und ich konnte nicht mitgehen. Ich wusste damals, dass ich auf ein Ziel Surprise 423/18
hinarbeite und diese Zeit begrenzt ist, da nimmt man das in Kauf. Aber wenn es ein Dauerzustand ist und keine Aussicht auf Besserung besteht, dann ist das eine schreckliche Situation. Wenn man solche Sachen erlebt hat, kann man nicht nachvollziehen, wie da Neid aufkommen kann. Und ich kann noch viel weniger nachvollziehen, wie Bürgerliche in Bern und im Aargau mit solcher Härte und Kälte sagen können: Es ist tolerabel, beim Grundbedarf 8 oder sogar 30 Prozent zurückzugehen. Missbrauchsfälle stören Sie nicht? Doch, natürlich, und wie die mich ärgern! Weil dadurch genau das geschieht, was jetzt passiert: Dass man wegen einiger weniger Fälle einen solchen Überwachungsapparat aufbaut und es zulässt, dass Unschuldige, die ihre Leistungen völlig zu Recht beziehen, unter Generalverdacht stehen und observiert werden können. Missbrauch gibt es überall: Es gibt Leute, die bei ihrer Mobiliarversicherung tricksen, es gibt Steuerhinterziehung, und ich finde es auch in diesen Fällen sehr störend. Ich finde es sehr unehrlich, wenn die Bürgerlichen bei den Sozialhilfe- und IV-Bezügern so hart einfahren und bei anderen, gerade bei Steuerdelinquenten, viel grosszügiger sind und Amnestien erlassen. Den einen rollt man quasi den roten Teppich aus und den anderen hetzt man Detektive hinterher. Hat die Linke nicht auch Fehler gemacht, dass sich die von der SVP geprägten Begriffe so in den Köpfen der Menschen festsetzen konnten? Wahrscheinlich haben wir zum Teil die Auseinandersetzung zu sehr gescheut. Ich finde es zum Beispiel einen Fehler, dass die SP das Referendum gegen das Observationsgesetz nicht selbst ergreift. Bei sozialpolitischen Fragen, bei denen es um so
Grundsätzliches geht wie bei dieser Vorlage, müssen wir meines Erachtens Stellung beziehen, auch wenn es vielleicht sehr schwierig wird, den Kampf zu gewinnen. Warum wird es schwierig? Weil es die Gegenseite sehr einfach hat. Sie braucht nur zwei, drei stossende Einzelfälle zu präsentieren, und dann ist die Empörung da. Dass es solche Fälle wirklich gibt, habe ich nie bestritten. Aber es sind sehr wenige: Die Missbrauchsquote bei der IV liegt bei 0,3 Prozent, das sind 650 Fälle auf 220 000 Bezügerinnen und Bezüger. Das neue Gesetz ist weder verfassungskonform noch respektiert es die Privatsphäre der Menschen. Das kann man aber nicht so einfach ins Bild setzen wie die Missbrauchsfälle. Dennoch glaube ich, dass wir sehr gute Argumente haben. Ich bin froh, hat nun eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern das Referendum angestossen, und ich bin froh, dass die SP das Vorhaben mittlerweile unterstützt. Gibt es andere Beispiele, wo sich die Linke zu wenig gewehrt hat? Wir wehren uns eigentlich immer, aber die Bürgerlichen haben nun einmal die Mehrheit im Parlament. Bei den meisten Vorlagen geben sie uns ein Zückerchen, damit wir mit an Bord sind, auch wenn wir gleichzeitig viele Kröten schlucken müssen. In der IV-Revision 6a zum Beispiel legten die Bürgerlichen fest, dass Menschen mit sogenannten somatoformen Schmerzstörungen keinen Anspruch auf eine IV-Rente mehr haben. Dabei handelt es sich um Schmerzen, bei denen keine genaue körperliche Ursache gefunden werden kann, etwa Schleudertraumata. Ich fand das sehr problematisch. Gleichzeitig wurden aber auch die Assistenzbeiträge in die Vorlage genommen, die wir schon lange gefordert hatten. Sie ermöglichen es Menschen mit
«Ich bin überhaupt nicht neidisch auf Sozialhilfebezüger. Die ganze Debatte weckt den Eindruck, es sei eine Strafe, arbeiten zu müssen.» Surprise 423/18
einer Behinderung, selbstbestimmt leben und wohnen zu können. Das führte dazu, dass vor allem die Behindertenorganisationen fanden, die Gesamtbilanz sei immer noch positiv. Deshalb gab es kein Referendum. Das Problem bei solchen Vorlagen und Verschlechterungen ist ja meist, dass die Betroffenen keine Lobby haben. Wer setzt sich, abgesehen von ein paar engagierten Anwälten, schon für Menschen mit derartigen Schmerzstörungen ein? Bei Steuersenkungen für Reiche finden die Bürgerlichen oft auch im Volk eine Mehrheit. Eine Begründung dafür ist, dass die Stimmenden hoffen, selbst einmal davon profitieren zu können. Wieso funktioniert dieser Mechanismus umgekehrt nicht? Jeder kann doch IV-Bezüger werden. Viele Menschen glauben, dass es sie nicht treffen kann. Es gibt diesbezüglich eine interessante Hierarchie der Sozialversicherungen. Die AHV ist die Sozialversicherung, von der die Leute wissen, dass sie sie irgendwann beziehen werden. Die AHV betrifft also alle, weshalb Kürzungen dort sehr schwierig durchzubringen sind. Bei der Arbeitslosenversicherung war auch einmal ein massiver Abbau geplant, den wir mit einem Referendum verhindern konnten. Das hat sicher damit zu tun, dass den meisten Menschen heute bewusst ist, dass auch sie ihre Stelle verlieren könnten. Bei der IV ist es anders. Dort gibt es wirklich das Phänomen, dass viele Menschen komplett ausblenden, dass sie auch einmal invalid werden könnten. Welche politische Niederlage hat Sie in den letzten Jahren am meisten geschmerzt? Die Ablehnung der AHV-Revision durch das Volk. Natürlich war das eine Vorlage mit vielen Kompromissen unsererseits. Aber wir hätten Entscheidendes geschafft: Zum ersten Mal seit sehr vielen Jahren wären die AHV-Renten erhöht worden. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament war das ein historischer Erfolg – vor allem auch wegen der Art der Finanzierung. Diese wäre über die Lohnprozente erfolgt, was dafür gesorgt hätte, dass Menschen mit hohen Einkommen stärker zur Finanzierung beigetragen hätten als andere. Dass wir es nicht geschafft haben, diese Vorlage an der Urne durchzubringen, bedaure ich sehr, und ich bin pessimistisch, was die Zukunft der AHV angeht. 11
Sparwut statt soziale Pflege Sozialhilfe Seit rund zehn Jahren ist das Schweizer Sozialsystem unter Beschuss –
nicht nur beim Bund, auch in den Kantonsparlamenten. Angriffsziele sind dort vor allem die Sozialhilfe sowie die individuelle Prämienverbilligung.
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September 2015, Wallis: Das Parlament stimmt
drei Motionen zu, welche die Sozialhilfe drastisch kürzen: Unter-25-Jährige erhalten neu statt knapp 900 Franken nur noch Nothilfe in Höhe von monatlich 500 Franken. Die Eingliederungspauschale von 100 Franken wird gestrichen. Juni 2016, Schaffhausen: Der Kanton übernimmt
die aktuellen SKOS-Richtlinien und verschärft diese in manchen Punkten. Der Grundbedarf für Jugendliche und junge Erwachsene beträgt nur 755 Franken. Sozialhilfebezüger müssen 10 Prozent der Zahnarztkosten, welche nicht durch Dritte getragen werden, neu als Selbstbehalt aus dem Grundbedarf bezahlen. Juli 2016, Freiburg: Der Kanton kürzt bei der So-
zialhilfe, indem er seine Richtlinien den Empfehlungen der SKOS anpasst. September 2016, Obwalden: Das Volk verhindert
in einer Abstimmung Kürzungen bei der individuellen Prämienverbilligung. November 2016, Thurgau: Die neue Sozialhilfe-
verordnung kürzt in verschiedenen Punkten über die Empfehlungen der SKOS hinaus. Unter anderem können Sozialhilfebezüger verpflichtet werden, eine günstigere Wohnung zu suchen. In der Folge kommt es auf kommunaler Ebene zu weiteren Vorstössen, die eine Reduktion der Sozialhilfekosten bezwecken. November 2016, St. Gallen: Mit dem neuen Sozi-
alhilfegesetz kann der Kanton die Gemeinden dazu zwingen, die SKOS-Richtlinien zu übernehmen. Damit soll verhindert werden, dass einzelne Gemeinden bei der Sozialhilfe ausscheren. Januar 2017, Waadt: Die Revision des Sozialhilfe-
gesetzes sieht eine Kürzung der Beiträge vor. Junge Erwachsene erhalten neu nur noch 986 statt 1110 Franken. Ausserdem werden die Sanktionsmöglichkeiten bei derselben Gruppe verschärft. Dafür gibt es bei Stipendien und Mietzinsansätzen kleine Verbesserungen. Januar 2017, Jura: Der Kanton übernimmt die ak-
tuellen SKOS-Richtlinien, was einer Kürzung der Sozialhilfe entspricht. Hängig im Parlament ist eine Motion, dass Sozialhilfebezüger einen Monat gemeinnützige Arbeit verrichten sollen, um von finanzieller Unterstützung zu profitieren. Ausserdem ist die Regierung daran, das «Sozialsystem eingehend zu überprüfen». Surprise 423/18
QUELLEN: CARITAS, BEHÖRDEN, MEDIENBERICHTE
1905 stellte einen Meilenstein in der Armutsbekämpfung der Schweiz dar: Es war das Jahr, als die Schweizerische Armenpflegerkonferenz gegründet wurde. Ihre wichtigste Errungenschaft in den kommenden Jahrzehnten hatte es in sich: Nicht mehr der Heimat-, sondern der Wohnort sollte entscheidend sein, ob jemand Sozialhilfe beziehen konnte. Bis 1967 traten alle Kantone dem Verbund bei. Es war eine Erfolgsgeschichte, auch nachdem sich die Konferenz 1966 erst in Schweizerische Konferenz für öffentliche Fürsorge (SKöF) und 1996 schliesslich in Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) umbenannte. Der Verein und Fachverband brachte die wichtigsten Vertreter der Sozialhilfe zusammen: Städte und Gemeinden, kantonale Sozialbehörden, Bundesbehörden und Organisationen der privaten Sozialhilfe. Seit den Sechzigerjahren gibt die SKOS Richtlinien heraus, die an Kantone und Behörden Empfehlungen über die Höhe der Beiträge abgeben. Doch 2010 wurde die SKOS von einem Fachverband zu einem politischen Zankapfel. Einige Gemeinden und Städte, die eine restriktivere Sozialhilfe verlangten, traten unter Protest aus dem Verein aus. Unter diesem politischen Druck änderte die SKOS im September 2015 ihre Richtlinien. Erstmals überhaupt in ihrer Geschichte schlug sie Kürzungen bei der Sozialhilfe vor. Betroffen sind vor allem Grossfamilien und junge Erwachsene. Die SKOS liess bei der Revision dieser Richtlinien wissenschaftliche Studien ausser Acht. Diese hatten nämlich aufgezeigt, dass der in der Sozialhilfe ausbezahlte Grundbedarf den Lebensunterhalt von kleinen Haushalten nicht deckt und angehoben werden müsste. Gemäss dem Hilfswerk Caritas ist damit das soziale Existenzminimum für Menschen in Not nicht mehr gewährleistet. Es scheint, dass bei der SKOS nicht nur punkto Namen nicht mehr viel an ihren Ursprung erinnert. Auch ihre Mission hat sie geändert: vom sozialen Pflegen zum politischen Sparen. Neben der Sozialhilfe trifft ein zweites Angriffsziel der kantonalen Sparpolitik die Schwächsten unserer Gesellschaft: die individuelle Prämienverbilligung. In den Kantonen Bern, Thurgau, Zürich, Luzern, Basel-Landschaft, Aargau, St. Gallen, Nidwalden, Uri und Appenzell Ausserrhoden wurden die Beiträge in den letzten Jahren gekürzt – und dies, obwohl die Krankenkassenprämien seit Jahren steigen. Es gibt aber auch Opposition: In manchen Kantonen verhinderte das Volk erfolgreich geplante Kürzungen bei der Prämienverbilligung, so geschehen in Schaffhausen (2012), Solothurn (2015), Obwalden und Bern (beide 2016). Die SP will im kommenden Herbst eine nationale Volksinitiative lancieren, mit welcher die Krankenkassenprämien auf maximal 10 Prozent des Haushaltseinkommens beschränkt werden sollen. Seit dem Richtungswechsel der SKOS von Ende 2015 erfolgen in den Kantonsparlamenten politische Angriffe auf die Sozialhilfe oder auf Prämienverbilligung im Monatstakt. Im Folgenden eine (nicht abschliessende) Übersicht über erfolgreiche, abgewehrte und geplante Angriffe.
Januar 2017, Appenzell Innerrhoden: Der Kanton
übernimmt die aktuellen SKOS-Richtlinien mit geringfügigen Änderungen. Februar 2017, Zug: Eine Motion verlangt nur noch
Nothilfe statt Sozialhilfe für Asylsuchende. Das Parlament lehnt dies im Februar 2018 aber ab. Dafür geht es im Rahmen des Sparpakets 2018 in Heimen lebenden IV-Rentnern an den Kragen: Im August 2017 stimmt das Parlament einer Erhöhung des Vermögensverzehrs auf einen Fünftel jährlich zu. April 2017, Zürich: Vorläufig Aufgenommene (Sta-
tus F) bekommen keine Sozialhilfe mehr, sondern nur noch Asylfürsorge. Dies entscheidet das Volk, nachdem linke Kreise gegen den Beschluss des Kantonsrates das Referendum ergriffen hatten. Auch in Zürich werden bereits seit Längerem die aktuellen SKOS-Richtlinien angewandt. Auch bei der Prämienverbilligung will der Zürcher Kantonsrat weiter kürzen. Doch im Februar 2017 macht das Parlament im letzten Moment einen Rückzieher.
schlag der Regierung – einem Postulat zu, welches reduzierte Beiträge für Personen mit geringer Anzahl Beitragsjahre (Steuern und AHV) fordert. Im März 2018 kommt es dann knüppeldick für Sozialhilfebezüger: Das Parlament beschliesst, dass der Grundbedarf in der Sozialhilfe generell um 30 Prozent auf das Existenzminimum gekürzt werden soll. «Integrationswillige, motivierte und engagierte Personen» sollen Bonuszahlungen erhalten. Auch bei den individuellen Prämienverbilligungen beschliesst das Kantonsparlament im Dezember 2017 weitere Kürzungen. Das Volk will derweil den Abbau nicht stoppen: Im Mai 2017 hat es eine Volksinitiative der SP abgelehnt, welche die Krankenkassenprämien auf maximal 10 Prozent des Haushaltseinkommens begrenzen wollte. Januar 2018, Solothurn: Ein Postulat, das ver-
langt, den Grundbedarf in der Sozialhilfe zu kürzen und Ausländern die Sozialhilfe um bis zu 50 Prozent zu kürzen, wird zurückgezogen. Januar und März 2018, Bern: Nach den Aargau-
September 2017, Schwyz: Der Kantonsrat lehnt
eine Kürzung bei der Sozialhilfe um 10 Prozent ab. Dafür wird bei den Prämienverbilligungen gespart: Im März 2018 stimmt das Volk Einsparungen in der Höhe von 5,7 Mio. Franken zu. Oktober 2017, Genf: Das Parlament lehnt eine
Kürzung bei der individuellen Prämienverbilligung ab. Und im März 2018 reicht die SP eine Initiative ein, welche die Krankenkassenprämien auf 10 Prozent des Haushaltseinkommens beschränken will.
ern zeigen sich auch die Berner Kantonsparlamentarier als Hardliner bei der Sozialhilfe. Der Rat senkt den Grundbedarf in der Sozialhilfe um 8 Prozent. Noch drastischer (zwischen 15 bis 30 Prozent) wird bei vorläufig Aufgenommenen, jungen Erwachsenen sowie Personen ohne Deutsch- oder Französischkenntnisse gespart. Bei den individuellen Prämienverbilligungen hat das Stimmvolk im Februar 2016 weitere Kürzungen verhindert. Jedoch scheitert im März 2018 auch eine linke Motion, welche die Krankenkassenprämien auf maximal 10 Prozent des Haushaltseinkommens festsetzen will.
November 2017, Neuenburg: Der Kanton kürzt
die Sozialhilfe, indem er die aktuellen Richtlinien der SKOS weitgehend übernimmt. Es werden zusätzliche Mittel für Integrationsbemühungen zur Verfügung gestellt. November 2017, Basel-Stadt: Der Grosse Rat
lehnt es ab, die Sozialhilfe für vorläufig Aufgenommene zu streichen. Wenige Monate zuvor hatte die Regierung aber bekannt gegeben, dass der Sozialhilfeansatz bei dieser Gruppe um einen Fünftel gekürzt werde. Der SVP geht das zu wenig weit. Sie plant nun eine Volksinitiative. November 2017 und März 2018, Aargau: Besonders vehement geht der Grosse Rat im Kanton Aargau vor. Erst stimmt er – entgegen dem Vor-
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Februar 2018, Basel-Landschaft: Die Motion
«Keine Luxusgüter für Sozialhilfebezüger», welche unter anderem Tabakwaren und auswärts eingenommene Getränke vom Grundbedarf ausnimmt, wird vom Landrat hauchdünn mit 42:41 Stimmen abgelehnt. Nach wie vor zur Diskussion steht aber eine generelle Kürzung des Grundbedarfs auf 70 Prozent der SKOS-Empfehlung. Gleichzeitig arbeitet die Regierung an einer «Strategie gegen die Armut im Kanton». Nachdem gleichlautende Initiativen vom Berner und Aargauer Stimmvolk verworfen wurden, wird am 18. November 2018 auch der Kanton Basel-Landschaft über eine Initiative abstimmen, welche die Krankenkassenprämien auf maximal 10 Prozent des Haushaltseinkommens beschränken will – eine Hauptprobe für die geplante nationale Initiative der SP. ANDRES EBERHARD 13
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Kaum Neues in der Pillendose Pharmaindustrie Psychopharmaka bescheren den Herstellern seit Jahrzehnten
Millionenumsätze. Die Pillen helfen aber längst nicht allen Patienten und haben starke Nebenwirkungen. Geforscht wird in diesem Bereich trotzdem kaum mehr. TEXT BEAT CAMENZIND
«Ich nehme Psychopharmaka, seit ich 16 bin», sagt Susanne. «Die haben mir geholfen, aber sie haben auch starke Nebenwirkungen.» Die 60-Jährige, die ihren richtigen Namen nicht preisgeben will, erzählt von immenser Gewichtszunahme und vom Zittern, seit sie die Pillen nimmt. Zudem befällt sie nach der Einnahme jeweils extreme Müdigkeit. Trotzdem: «Ich nehme die Pillen eigentlich immer, denn sie helfen mir bei psychotischen Schüben.» Fridolin, der ebenfalls anders heisst, glaubt nicht an die Wirkung der Pillen. Als er depressiv war und Suizidgedanken hatte, begab er sich in die Psychiatrie. Ein Arzt gab ihm Beruhigungsmittel. «Die Wirkung war gleich null.» Besser halfen ihm die Gespräche mit einer Freundin. Für Annette Brühl sind widersprüchliche und kritische Aussagen über Psychopharmaka nichts Aussergewöhnliches. Die leitende Ärztin am Zentrum für Depressionen, Angsterkrankungen und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) hat Erfahrung im Verschreiben von Psychopharmaka: «Bei 30 bis 50 Prozent der Patienten schlägt das erste Medikament nicht an», sagt die Fachfrau. Sie versuche es dann mit einem anderen Surprise 423/18
ILLUSTRATIONEN JOËL ROTH
Präparat, die Auswahl sei von der richtigen Diagnose abhängig. Die Nebenwirkungen von Psychopharmaka spielen dabei eine grosse Rolle: «Das Schwierige ist, die Balance zwischen Wirkung und Nebenwirkung zu finden.» Jemandem mit Schlafstörungen verabreicht sie kein Mittel, das wachhält, jemandem mit Übergewicht gibt sie kein Medikament, das den Appetit fördert. Auf Mittel, die abhängig machen, verzichtet sie so weit als möglich. «Bei 20 bis 30 Prozent der Patienten wirkt gar kein Medikament.» Das kann an einer sehr gut funktionierenden Leber liegen, die den Wirkstoff abarbeitet, bevor er anschlägt. «Manche Patienten kommen auch zu spät zu uns», sagt Brühl. «Wurde eine Depression oder eine Psychose lange nicht behandelt, kann manchmal auch ein Medikament nichts mehr ausrichten.» Magnete und Stromstösse gegen die Depression Brühl betrachtet Psychopharmaka als einen Grundpfeiler der Behandlung von psychischen Krankheiten: «Zu uns kommen Patienten, bei denen ihr Arzt nicht mehr weiterweiss.» Das sind vorwiegend Menschen mit mittelschweren 15
und schweren Depressionen oder Psychosen. «Man kann schon fast von einem Kunstfehler sprechen, wenn solche Patienten noch keine Psychopharmaka erhalten haben.» Der Gebrauch von Medikamenten sei gestiegen, schätzt Brühl. In der PUK setzt man aber auch auf andere Behandlungen: Arbeits-, Psycho-, Physio-, Ergo-, Musik- und tiergestützte Therapien. Oft geht das eine nicht ohne das andere. Die Ärzte arbeiten zudem mit der transcranialen Magnetstimulation, bei der mithilfe starker Magnetfelder Gehirnregionen stimuliert oder gehemmt werden. Oder mit der Elektrokonvulsions-Therapie, bei der unter Narkose mit Stromstössen ein epileptischer Anfall ausgelöst wird. Bei leichten Depressionen arbeitet Brühl mit Psychotherapie. «Diese sollten eigentlich nicht mit Medikamenten behandelt werden», sagt die Ärztin. Andere Klinik, andere Haltung: An den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) ist die Psychotherapie auch bei mittelschweren Depressionen «erste Wahl», wie die Pressestelle vermeldet. Darin geht die UPK mit Irving Kirsch einig. Der Medizinpsychologe von der Harvard Medical School hat in Studien nachgewiesen, dass es keinen Unterschied machte, ob Betroffene ein Antidepressivum oder eine Pille aus Zucker – ein Placebo – schluckten. Das Ergebnis war dasselbe. Nur bei schwer Erkrankten halfen einzig die echten Pillen. Viele Psychopharmaka sollen laut den Herstellern auf die Chemie im Hirn wirken. Sie zielen auf Glückshormone wie Dopamin oder Serotonin. Kritiker wie Kirsch oder die Psychiaterin Joanna Moncrieff vom University College London finden es schwer vorstellbar, dass ein einziges Hormon für derart komplexe Krankheiten verantwortlich sein soll, wie sie in ihren Studien schreiben. Beide lehnen Psychopharmaka nicht strikt ab. Wem ein Medikament helfe, der solle es nehmen. Moncrieff sieht Psychopharmaka zudem als Mittel zum Zweck: Sie können den Patienten in einen Zustand versetzen, in dem er für eine Psychotherapie empfänglich werde. Kirsch und Moncrieff sind längst nicht die Einzigen, die am Nutzen von Psychopharmaka zweifeln. Inzwischen gibt es ganze Kongresse über deren Vor- und Nachteile. «Evergreens» beherrschen den Markt Trotz all der Zweifel an der Wirkung und der Bedenken über die Nebenwirkungen von Psychopharmaka finden sie immer noch reissenden Absatz. Das zeigen die Zahlen des Marktforschungsinstituts IQVIA: 2016 gingen in der Schweiz 9 Millionen Packungen Beruhigungsmittel und 4,2 Millionen Packungen Antidepressiva über den Ladentisch (siehe nebenstehenden Text). Unter den meistverkauften Psychopharmaka befinden sich einige «Evergreens»: Zoloft von Pfizer wurde 1993 in der Schweiz zugelassen, Temesta, auch von Pfizer, im Jahr 1973, Ritalin von Novartis gibt es hier seit 1954 und Fluctin von Eli Lilly (auch bekannt unter dem Namen Prozac) seit 1991. Viel Neues kommt nicht auf den Markt: In den letzten zehn Jahren hat die Arzneimittel-Zulassungsstelle Swissmedic gerade mal vier Psychopharmaka gegen Schizophrenie oder bipolare Störungen neu zugelassen. Sie stammen allesamt von kleineren Herstellern. Antidepres16
«Das Schwierige ist, die Balance zwischen Wirkung und Nebenwirkung des Medikaments zu finden.» ANNE T TE BRÜHL , PSYCHIATRISCHE UNIVERSITÄTSKLINIK ZÜRICH
siva kamen in dieser Zeit keine neuen auf den Markt. Einige grosse Firmen der Pharmabranche haben ihre Forschung auf andere (lukrativere) Krankheiten wie Krebs oder HIV verlegt. Das zeigt eine Umfrage unter den Pharmariesen. Glaxo-Smith-Kline, Eli Lilly, Sanofi, AstraZeneca, Bristol-Myers Squibb verneinen die Frage, ob sie ein neues Präparat gegen Depression oder Psychose entwickeln. Einzig Pfizer und Roche wollen in den kommenden Jahren je ein Medikament gegen Schizophrenie lancieren. Novartis äussert sich nicht. Vielen Menschen mit schweren psychischen Krankheiten bleibt vorläufig also nichts anderes übrig, als die Pillen zu schlucken und die Nebenwirkungen zu ertragen. Ein Hoffnungsschimmer bleibt: In mehreren Projekten betreiben Pharmafirmen zusammen mit Universitäten Grundlagenforschung. So etwa beim bereits abgeschlossenen Projekt «Newmeds», dessen Forschungsresultate allerdings nicht wie erhofft zu einem neuen Medikament führten. Oder beim von Pharmariesen gegründeten Wellcome Trust: Der hat die Universität Aberdeen mit 5,5 Millionen Franken ausgestattet, damit die Forscher die Depression besser verstehen lernen. Surprise 423/18
Welche Pille wofür? Psychopharmaka Die Kosten sinken, der Konsum steigt.
Das zeigen aktuelle Zahlen in der Schweiz.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO teilt Medikamente danach ein, in welchem Teil des Körpers sie wirken. Psychopharmaka setzen beim Nervensystem an und sind wiederum in zwei Gruppen eingeteilt: Psychoanaleptika (Stimulanzien) und Psycholeptika (Beruhigungsmittel). Zu den Stimulanzien gehören Antidepressiva und Mittel gegen ADHS. Diese machen den Hauptteil des Konsums von Psychopharmaka aus. Laut dem Helsana-Arzneimittelreport nahmen 2016 rund 900 000 Schweizerinnen und Schweizer Stimulanzien ein, was 308 Millionen Franken gekostet hat. Der Konsum dieser Pillen hat in den letzten Jahren zugenommen (rund 5 Prozent seit 2013), während die Kosten seit Jahren auf demselben Niveau verharren. Der Grund dafür: Während die Kosten für Mittel gegen ADHS steigen, sinken diejenigen für Antidepressiva, da immer mehr Generika auf den Markt kommen. Die drei Renner unter den Stimulanzien sind laut dem Marktforschungsinstitut IQVIA die Antidepressiva Cipralex, Remeron und Efexor und ihre Generika. Sie machen zusammen einen Viertel aller Bezüge von Stimulanzien aus. Auf dem sechsten Platz folgen schon Ritalin und seine Surprise 423/18
Generika, knapp 300 000 Packungen gingen davon 2016 über den Ladentisch. Dahinter kommen Seropram, Zoloft und Prozac. Beruhigungsmittel sollen gegen Psychosen, Neurosen, Angststörungen oder Schlaflosigkeit helfen. 1,1 Millionen Menschen haben laut Helsana-Arzneimittelreport 2016 hierzulande diese Medikamente konsumiert. Die Kosten dafür sind in den vergangenen zwei Jahren laut Report von 267 auf 253 Millionen Franken gesunken, die Anzahl Konsumenten blieb gleich. Die beiden wichtigsten Medikamente dieser Gruppe sind Stilnox und Temesta und ihre Generika, mit 1,5 respektive 1,2 Millionen verkauften Packungen. Beides sind Benzodiazepine, die Ängste lösen respektive den Schlaf fördern sollen. Beide können abhängig machen. Bei beiden Medikamenten sind steigende Absatzzahlen (rund 4 Prozent seit 2013) zu verzeichnen. Gegen Schizophrenie wird vorwiegend Seroquel verabreicht. 640 000 Packungen davon wurden im Jahr 2016 verkauft, und rund 110 000 Menschen schluckten diese Pillen, was bei den Herstellern für einen Umsatz von 58 Millionen Franken sorgte. BEAT CAMENZIND 17
Teuta Krasniqi steht beim Nationalballett unter Vertrag, kann sich aber keine eigene Wohnung leisten.
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Tanzen für die Freiheit Isoliert Zehn Jahre nach der Unabhängigkeit bleibt der Kosovo nicht nur
das ärmste, sondern auch das isolierteste Land des Westbalkans. Der Traum vom visafreien Reisen wird sogar auf der Ballettbühne zum zentralen Motiv. TEXT FRANZISKA TSCHINDERLE
FOTOS MARTIN VALENTIN FUCHS
SERBIEN
Priština MONTENEGRO KOSOVO BULGARIEN
ALBANIEN MAZEDONIEN
Sie tanzen im Keller. In einem Raum mit gesprungenen Spiegeln und kleinen Fenstern, durch die wenig Licht fällt. Klaviermusik erfüllt den Saal, der zu klein ist für die 20 Tänzerinnen und Tänzer, die sich dehnen, als wären sie aus Gummi, sich drehen wie Kreisel und dabei aufpassen müssen, dass sie nicht zusammenstossen. Der Ort, an dem Kosovos Nationalballett trainiert, ist ein bisschen wie das Land, das es repräsentiert: klein und provisorisch. Ein Land, das zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer nicht von allen EU-Mitgliedsländern anerkannt wird. Und das von seinem Nachbarn Serbien als abtrünnige Provinz angesehen wird. Ein Land, dessen Hymne zwar eine Melodie, aber noch immer keinen Text hat, weil man sich nicht einigen kann, ob auf Serbisch, Albanisch oder Englisch gesungen werden soll. Ein Land, dessen Bevölkerung als einzige in Europa nicht visafrei in den Schengenraum reisen darf und sich deswegen isoliert und eingesperrt fühlt. Seit sechs Jahren führt der Kosovo einen sogenannten Visa-Dialog mit der EU. Ein Kapitel – die Ratifizierung eines Grenzabkommens mit Montenegros – wurde kürzlich nach zweieinhalbjährigen Verhandlungen im Parlament geschlossen. Darüber hinaus bleibt noch eine Forderung offen: die Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption im Land. Niemand in der Bevölkerung kann abschätzen, wann das möglich werden könnte, geschweige denn, welche Surprise 423/18
Massnahmen daran geknüpft sind. Der Dialog bleibt höchst bürokratisch und technisch. Die einfachen Bürger bekommen vor allem eines mit: Es geht nichts weiter. Heute Abend will Teuta Krasniqi, 28 Jahre alt, eine zierliche Frau mit dunklen Haaren und rot geschminkten Lippen, all diese Gefühle auf die Bühne bringen. Die Anspannung ist ihr anzusehen. Krasniqi ist die erste Frau seit Errichtung des Theaters 1947, die hier ihr eigenes Ballettstück auf die Bühne bringt. Sein Titel: «No Walls». Keine Mauern. Das Theater, in dem Krasniqi mit ihren Tänzern übt, ist ein architektonisches Überbleibsel aus der Zeit Jugoslawiens: holzvertäferte Räume, in denen man rauchen darf, rote Samtsessel und verwinkelte Gänge. Es
Lehrer mussten ihre Schule verlassen, Politiker das Parlament und der Direktor das Theater.
liegt im Zentrum der Hauptstadt Pristina, gegenüber dem Regierungsgebäude, einem spiegelverglasten Büroturm. Kontakte zur politischen Elite helfen «Jedes Jahr, seitdem wir unabhängig sind, hoffen wir, dass sich die Situation hier verbessern wird. Aber die jungen Menschen finden keine Jobs, obwohl sie ein abgeschlossenes Studium haben», erzählt Krasniqi, als sie auf einer Gymnastikmatte im Ballettsaal sitzt. Sie selbst steht beim Nationalballett unter Vertrag. Das Gehalt ist aber so niedrig, dass sie noch immer nicht aus der Stadtwohnung ausgezogen ist, die sie sich mit Mutter, Geschwistern und Stiefvater teilt. Andere Tänzer aus ihrem Ensemble, die bereits Kinder haben, müssen nebenher einen zweiten Job annehmen. Das Durchschnittseinkommen im Kosovo beträgt 300 Euro. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 65 Prozent. Wer jemanden aus der politischen Elite kennt, findet leichter einen Job. Die grösste Einkommensquelle bleibt aber die Diaspora, also Familienmitglieder im Ausland, die ihren Geschwistern, Cousins oder Eltern ein paar hundert Euro im Monat überweisen. Jährlich gelangt auf diese Weise eine Milliarde Euro in den Kosovo. Wenn Krasniqi die letzten zehn Jahre Revue passieren lässt, fällt ihr vor allem das Wort «Blockade» ein. «Einmal wurde ich zu einem Workshop nach New York eingeladen. Ich hatte mich so darauf gefreut. 19
Aber dann wurde mein Visum abgelehnt, und ich musste absagen», erzählt sie. Es macht sie traurig, dass immer mehr Menschen den Kosovo auf illegalem Weg verlassen. 2015 fand eine Art Exodus aus dem Land statt. 50000 bis 60000 Menschen sollen die Flucht ergriffen haben. Sie flohen vor Armut, Korruption, fehlenden Perspektiven. Ein Ereignis hat Krasniqi besonders erschüttert. 2009 ertrank eine Gruppe von Kosovo-Albanern bei dem Versuch, den Fluss Theiss an der ungarischen Grenze zu überqueren. «Hätten wir Visa-Freiheit, wäre das nicht passiert», sagt sie. Die Rückkehr der 50-jährigen Tänzer Als sie 16 Jahre alt war, fiel dem Direktor des kosovarischen Nationalballetts ihr Talent auf. Ahmet Brahimaj, 69, war während der Siebzigerjahre selbst Tänzer und hat sich nach dem Krieg zum Ziel gesetzt, die junge Generation auszubilden. Für ihn ist Krasniqi eines der grössten Talente des Landes. Brahimaj ist fast so alt wie das Theater, das 1947 errichtet wurde. Die Fotos an den Wänden erinnern an die Zeit, als er einer der ersten Balletttänzer des Kosovo war und Auftritte in ganz Jugoslawien hatte. Damals trug Brahimaj enge Sportanzüge, hatte eine athletische Figur und lange Haare. Heute spannt sich das Hemd über seinen Bauch, er hat kräftige Arme und raue Hände. Brahimajs Karriere ging 1991 abrupt zu Ende. Die Gründe dafür sind ein Stück Zeitgeschichte. Mit dem Zerfall Jugoslawiens und den Unabhängigkeitsbewegungen in Slowenien, Kroatien und Bosnien wurde auch im Kosovo der Wunsch laut, die Provinz vom ehemaligen Vielvölkerstaat abzutrennen. Doch der damalige serbische Staatschef Slobodan Milošević ging mit Repressionen dagegen vor. In den Neunzigern verloren KosovoAlbaner ihre politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Autonomierechte. Hunderttausenden Albanern wurde gekündigt. Fussballspieler mussten ihre Teams verlassen, Lehrer ihre Schulen, Politiker das Parlament und Brahimaj sein Theater. «Es ist nicht einfach, wenn dir jemand deine Bühne nimmt», sagt er. In Gedanken habe er das Theater, das die ganzen Neunziger über leer stand, niemals verlassen. Viele Tänzer flohen damals ins Ausland. Brahimaj fand in Kanada Zuflucht, wo man ihm einen Job als Tänzer anbot. Er lehnte ab und kehrte nach dem Krieg zurück in den Kosovo. Dort trommelte er sein altes Ensemble zusammen, das damals vorrangig 20
Er muss sich nicht verbiegen: Das Nationalballett darf für Auftritte ins Ausland.
aus Männern bestand, jeder einzelne schwer gezeichnet vom Krieg. «Obwohl wir alt waren, zum Teil schon über 50 Jahre, haben wir noch ein letztes Mal auf der Bühne getanzt. Es war unsere Rückkehr. Die Menschen im Publikum haben geweint. Das letzte Mal, als sie uns tanzen gesehen hatten, waren wir junge Männer gewesen», erinnert er sich. Für Brahimaj erzählt «No Walls», Krasniqis Choreografie über die Perspektivenlosigkeit der Jüngeren, deshalb auch seine Geschichte. «Die Wände, um die es geht, sind nicht neu. Sie waren schon in den Neunzigern da, als man den Albanern verboten hat, ihre nationalen Stücke aufzuführen.» Heute ist es aber nicht der ethnische Konflikt zwischen Serben und Albanern, an dem die junge Generation
verzweifelt, sondern die innenpolitische Krise. Derzeit ist eine Regierung an der Macht, die vermutlich einmal als die aufgeblähteste in die Geschichte eingehen wird: 17 Parteien, 22 Minister, 70 Vizeminister. Jüngst hat der neue Premierminister Ramush Haradinaj, Ex-Kommandant der albanischen Guerilla-Organisation UÇK, sein Gehalt auf 3000 Euro verdoppeln lassen. Die rechtliche Grundlage für die Gehaltsverdopplung prüft gerade das Verfassungsgericht. Ob sie am Ende genehmigt wird oder nicht: Haradinaj hat damit gezeigt, dass es den Eliten vor allem darum geht, sich selbst zu bereichern. Dazu kommt die eingeschränkte Reisefreiheit. Für Albanien und Bosnien wurde die Visapflicht im Schengenraum 2010 aufgehoben, für Serbien, Montenegro und MaSurprise 423/18
«Die Menschen im Publikum haben geweint. Das letzte Mal, als sie uns tanzen gesehen hatten, waren wir junge Männer gewesen.» AHME T BR AHIMA J, EHEMALIGER DIREK TOR DES KOSOVARISCHEN NATIONALBALLE T TS
zedonien 2009. Auch die Bürger der Republik Moldau, dem ärmsten Land Osteuropas, können ohne Visum in die SchengenLänder reisen. Der Kosovo bleibt Schlusslicht. Neben den nach wie vor offenen Kapiteln im Visa-Dialog gibt es dafür noch einen weiteren Grund. Fünf EU-Mitgliedsländer – Slowakei, Spanien, Griechenland, Zypern und Rumänien – erkennen den Kosovo noch immer nicht als unabhängigen Staat an. Sie blockieren den Kosovo im Rat der Europäischen Union. Dahinter steckt dasselbe innenpolitische Motiv. Alle fünf Länder wollen Autonomiebestrebungen im eigenen Land – im Fall von Spanien etwa Kataloniens – keine Legitimation geben. Teuta Krasniqi ist bewusst, dass sie als offizielle Staatstänzerin in einer privilegierten Situation ist, weil ihre Visa-Anträge Surprise 423/18
schneller bearbeitet und in der Regel genehmigt werden. Sie weiss aber auch, dass es dem Rest der Bevölkerung nicht so geht. Überall werde über die Visa-Freiheit geredet. Es sei das Thema Nummer eins unter den Jungen. Ihren Geschichten will Krasniqi eine Bühne bieten. Noch sind es zwei Stunden, bis sich der Vorhang heben wird. Sie hetzt zu den Garderoben, in der einen Hand ihr Smartphone, in der anderen eine grosse Schokoladenschachtel als Dank für das Engagement ihrer Tänzer. Der Glaube an die EU In den Garderoben sind die Duschen kaputt, das Neonlicht über dem Spiegel ist das einzige Licht im Raum. Die Stimmung ist trotzdem gut. Die Tänzerinnen, die ihre Wimpern tuschen, singen albanische Pop-
songs. Immer mal wieder kommt einer der Tänzer aus der Männergarderobe vorbei, um sich Haargel oder Puder zu borgen. Die aufgeregte Stimmung vor einer Premiere ist für die Ballettgruppe Routine. Sie hat häufig Auftritte im Ausland. Für jene im Kosovo, die weder Sportler noch Künstler oder Politiker sind, bleibt die Ausreise ein bürokratischer Kampf, der oft Monate, manchmal ein halbes Jahr oder länger dauert. «In Pristina werden aktuell Anträge angenommen, bei denen die Wartezeit auf den Termin vier bis elf Monate betragen hat», heisst es aus dem deutschen Auswärtigen Amt. Wer einen Termin bekommt, ist noch nicht fertig. Die Bearbeitungszeiten des Antrags schwanken sehr stark, von einigen Tagen bis zu mehreren Monaten. Die jungen Kosovaren legen Mappen an, um 21
Vor der Premiere: Mascara, albanische Popsongs, letzter Puder.
Ăœberall wird Ăźber die Visa-Freiheit geredet. Es ist das Thema Nummer eins unter den Jungen. 22
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nicht den Überblick über all die Dokumente zu verlieren, die sie brauchen: Krankenversicherung, Einladungsschreiben auf Deutsch oder Englisch, Kontoauszüge der letzten sechs Monate und so weiter. Von allen Seiten hört man, wie entwürdigend und kräftezehrend diese Bürokratie sei. Dabei ist die Europäische Union in keinem Land des Westbalkans so beliebt wie im Kosovo. Das hat jüngst das Balkan-Barometer 2017 bestätigt: 90 Prozent der Befragten im Kosovo halten die EU für eine «gute Sache». In Serbien sind es nur 26 Prozent. Paradoxerweise ist der Kosovo auch das Land, in dem die meisten Menschen damit rechnen, bald EU-Mitglied zu werden. Dabei ist der Kosovo das einzige Balkanland, das noch keinen EU-Beitrittsantrag stellen durfte. Das Ansehen der EU leidet aber gerade, weil die europäische Gemeinschaft den Jungen keine Perspektive bietet. Das Stück «No Walls» wäre schon in den Neunzigern aktuell gewesen.
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Auch die Oppositionspartei blockiert Fitore Pacolli, 36, Abgeordnete der linksnationalistischen Oppositionspartei Vetëvendosje, hat selbst sechs Jahre in London studiert. Sie weiss, wie wichtig das Reisen für junge Menschen ist. Das erzählt sie an einem regnerischen Nachmittag in einem Café im Zentrum von Pristina. Pacolli, eine junge Frau mit Kurzhaarfrisur, Hosenanzug und giftgrünem Mantel, kommt gerade von einer Parteiveranstaltung. Ihre Partei Vetëvendosje, die von der internationalen Gemeinschaft lange nicht ernst genommen wurde, ist aus der letzten Wahl als stärkste Kraft des Landes hervorgegangen. In der Regierung ist sie trotzdem nicht, was für Pacolli ein Beweis dafür ist, wie machthungrig die Elite des Landes sei. «Sie fürchten sich vor uns, weil wir mit Korruption und Vetternwirtschaft aufräumen würden.» Pacolli wollte früher einmal Lehrerin werden. Als sie in England lebte, wo ein Teil ihrer Familie noch heute ist, nahm sie an Studentenprotesten gegen den Konservativen David Cameron teil. Dann kehrte sie zurück, um Politik zu machen. In fehlerfreiem britischen Englisch fragt sie: «Wie sollen wir die Zukunft des Kosovo verändern und die aktuelle Politik kritisch hinterfragen, wenn man uns nicht von der Situation in anderen Ländern Europas lernen lässt?» Vetëvendosje punktet vor allem bei jungen Wählern. Umso erstaunlicher ist es, dass die Partei bis zum Schluss zu verhindern versucht hat, dass eines der letzten Kapitel im Visa-Dialog geschlossen wird.
Die Rede ist vom Grenzabkommen mit Montenegro, das am 21. März nach zweieinhalb Jahren Verhandlungen und gescheiterten Abstimmungen ratifiziert werden konnte. Das macht die Politik der Linksnationalisten auch so widersprüchlich. Einerseits wollen sie für ihre jungen Wähler da sein und ihre Lebensumstände verbessern. Andererseits blockierten sie ihren Traum, indem sie Tränengaskapseln im Parlament zündeten, um die Abstimmung zu verhindern. Der Streit spaltete das Land in zwei Lager: Jene, die sagen, dass die Grenze mit Montenegro fair verhandelt wurde. Und jene, zu denen Vetëvendosje zählt, die eine nationalistisch gefärbte Kampagne gegen die Regierung fahren und ihr vorwerfen, Land leichtfertig zu «verschenken». Dass die Visa-Freiheit so lange auf sich warten lässt, scheitert also an zwei Dingen: der Oppositionspartei, die zweieinhalb Jahre lang eine Grenzziehung blockiert hat – und der Regierung, die nicht bereit ist, die Korruption im Land einzudämmen. Noch 60 Minuten bis zum Auftritt der Ballettgruppe. Langsam legt sich die Dunkelheit über Pristina. Auf dem Boulevard gehen die Strassenlaternen an, geschmückt mit Ballons und Bannern in den Staatsfarben. Im Theatersaal lassen sich die Gäste nieder. Dort, wo eigentlich das Orchester sitzt, wurde ein Bretterboden gelegt, damit die Tänzer mehr Platz haben. Für die Restauration der Bühne fehlt seit Jahren das Geld. An den Besucherzahlen ändert das nichts. Alle samtroten Sessel sind besetzt. Das Stück beginnt abrupt. Die Männer und Frauen kämpfen gegen unsichtbare Mauern, werden immer wieder von einer schwarz gekleideten Person zurückgezogen. Sie greifen sich an die Kehlen. Sie trösten einander im Paartanz, liefern sich einen Staffellauf, der mit Trommelwirbel unterlegt ist. Und sie winden sich am Boden, als hätten sie Schmerzen. Sie tanzen nicht nur für die 300 Besucher, sondern stellvertretend für den ganzen Kosovo. Es ist eine Mischung aus klassischem Ballett und Ausdruckstanz. Die Musik ist meist bedrückend, blechern, fast klaustrophobisch. Am Ende erhebt sich der ganze Saal, klatschend und pfeifend. Teuta Krasniqi steht auf der Bühne und strahlt, in der Hand einen grossen Blumenstrauss. So abstrakt und künstlerisch ihr Ballett auch war – im Publikum gibt es niemanden, der nicht verstanden hat, was sie damit ausdrücken wollte. 23
FOTO: PETER WEBB; COLLAGE: CHRIS EGGLI
Kathrin Hönegger, Luc Oggier, Jana Schiffmann, Carmen Siegenthaler und Jean-Marc Nia reden über Kakteen und Kunst.
Mein Attribut sind die spätgotischen Schuhe Führungen Die Touren von #letsmuseeum zeigen Ausstellungssammlungen für einmal nicht aus der Sicht von Experten. Sondern aus der von prominenten Fans. Ihr Ziel ist es, uns mit ihrer Leidenschaft anzustecken. TEXT MONIKA BETTSCHEN
In rasantem Tempo ziehen wir, eine siebenköpfige Gruppe, an Rodins «Höllentor», einem Wandbild von Joan Miró und einem Gemälde des abstrakten Expressionisten Franz Kline vorbei. Unser Guide auf dieser #letsmuseeum-Tour durch das Kunsthaus Zürich ist Jean-Marc Nia, Redaktor bei der Kulturbeilage Züritipp des Tagesanzeigers. Mit grossen Schritten durchqueren wir mit ihm Epochen und Kunstströmungen, und immer wieder hält Nia an, um uns erstaunliche, witzige und informative Details rund um die Künstler und deren Werke zu erzählen. Zum Beispiel, dass die Konservation von Joseph Beuys‘ Installation «Olivestone» eine echte Herausforderung sei. «Alle paar Monate wird ein Ölwechsel gemacht, da das Olivenöl in den fünf Kalksteinwannen sonst ranzig wird. Dafür darf nur feinstes Extra Vergine aus Bologna verwendet werden, woher auch der Kalkstein kommt. In etwa tausend Jahren wird das Fett alles zersetzt haben.» Dann 24
die Installation «Chamer Raum» des Schweizer Künstlerduos Fischli/Weiss. Zu sehen ist eine Art Werkstatt mit einer etwas chaotischen Ansammlung von Gegenständen: abgenutztes Mobiliar, Farbpinsel, Werkzeug, ein Schwamm. Auf einem Tisch steht eine Milchpackung und verstärkt den Eindruck, dass derjenige, der hier eben gerade noch gewerkelt haben muss, gleich wiederkommen würde. Ein raumfüllendes Trugbild, wie uns Nia aufklärt. «Nichts in diesem Raum ist echt. Die Künstler haben jeden einzelnen Gegenstand aus Polyurethan geschnitzt.» Er holt aus einer Tasche eine Packung Hustenbonbons hervor. «Hier draussen ist das einfach ein Gebrauchsgegenstand, aber dort drin im Chamer Raum wäre es Kunst, es würde kaum auffallen. Es ist der Rahmen, der Kontext, der hier die Kunst macht.» Nach einer Ausstellung der Installation «Der Tisch» von Fischli/Weiss hätten Mitarbeiter einmal sogar Gegenstände, die Besucher dort platziert Surprise 423/18
Biblische Motive folgen dem Comic-Prinzip Im spätgotischen Raum erzählt er uns die dramatische Geschichte der tugendhaften Römerin Lucretia, die sich aus Schmach nach einer Vergewaltigung das Leben nahm, und zeigt auf die Fülle biblischer Motive in den Gemälden der niederländischen Meister um uns herum. «Damit Jesus oder seine Jünger voneinander unterscheidbar waren, wurden den Figuren Attribute gegeben. Petrus trägt zum Beispiel einen Schlüssel. Die meisten Menschen konnten damals nicht lesen, daher funktionierten die Bilder nach dem Comic-Prinzip.» Weil auch wir hier nicht im Kunstgeschichte-Seminar, sondern an der Führung eines Kunst-Begeisterten sind, suchen wir uns nun auch ein Attribut aus. Ich entscheide mich für ein Paar spätgotische Schuhe, weil ich Schuhe generell mag. Und dann tun wir, was man heute eben tut: Wir fotografieren es mit dem Smartphone. An sich könnte ich es auf Facebook posten, das wäre eigentlich ein ideales Profilbild. Ja, ich denke, wir haben das Konzept des Attributes in der Kunst nun verstanden. «Nicht nur in meiner, sondern auch in den vier anderen Führungen steht die Unterhaltung im Vordergrund. Wir sind keine Fachleute, sondern Fans, die ein breites Publikum für die jeweiligen Sammlungen begeistern möchten. Ziel meiner Tour ist es, dass die Leute nicht in Ehrfurcht vor der Kunst erstarren, sondern neugierig werden auf ihre Geschichten und sie aktiv geniessen», sagt Jean-Marc Nia. «Museum Hack» heisst das in New York #letsmuseeum startete 2017. Gründerin Rea Eggli liess sich vom Format «Museum Hack» in New York inspirieren, das in mehreren renommierten Museen der USA erfolgreich unkonventionelle Touren durch die Sammlungen anbietet. Neben dem Kunsthaus finden in Zürich Touren durch das Museum Rietberg und die Sukkulenten-Sammlung und in Bern durch das Museum für Kommunikation und das Historische Museum statt. In Planung befinden sich Touren in Basler Museen und in anderen Sprachen. Jeder Rundgang lebt von der persönlichen Sichtweise des Guide. So auch im Bernischen Historischen Museum, wo Luc Oggier vom Schweizer Hiphop-Duo Lo & Leduc unter dem Titel «Rand-ständig» durch die Sammlung führt. «Randständig» aber nicht bloss im herkömmlichen Sinn gemeint, sondern recht wörtlich genommen: «An Rändern entdeckt man oft Dinge, die man sonst übersehen hätte: Obwohl die Mona Lisa so oft fotografiert wird, kann sich an deren Bilderrahmen niemand erinnern. Ich taste die Ränder des Schlössli am Helvetiaplatz ab und finde Ecken und Kanten, welche die Stadt auch gerne mal verdrängt», sagt der Berner Rapper. «Wenn man so lange wie ich in Bern wohnt, wird man selber ein bisschen zu einem Museumsobjekt. Das heisst aber auch, dass man etwas betriebsblind durch die gewohnten Gassen läuft und vieles nicht mehr bewusst wahrnimmt. Umso spannender ist es, sich im Historischen Museum mit der eigenen Vergangenheit zu konfrontieren.»
Tour-Daten und Informationen unter www.letsmuseeum.com
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Traumstrand unter der Neonröhre Kino Stempeluhr, Kunstlicht, Donauwalzer:
Der Spielfilm «In den Gängen» verbindet Gabelstaplerchoreografien mit Sozialrealismus.
Begleitet vom Pathos einer Donizetti-Oper fährt Christian (Franz Rogowski) auf dem Gabelstapler durch die Gänge: eine karge Welt, bestehend aus Paletten und Harassen, die bespielt wird, als wären wir auf der grossen Bühne. Wir haben «Lucia di Lammermoor» auf den Ohren, aber Warenregale im Blick. Im schmucklosen Billig-Gross-Supermarkt irgendwo in der ostdeutschen Provinz ist alles da: Süsswaren, Farfalle und sogar Sibirien und das Meer. So nennen die Angestellten die Tiefkühlabteilung, die man in warmer Jacke und Wintermütze betreten muss, beziehungsweise den Raum mit den Lebendfischaquarien. Christian, blau bekittelt und mit dunklen Augenringen, lässt in repetitiven Einstellungen Tag für Tag seine Tattoos unter der Arbeitskluft verschwinden. Wir ahnen, dass hier einer ins Leben neu einsortiert werden muss wie die Tomatendosen ins Regal. Die Dialoge sind Supermarkt-Jargon, man fährt die «Ameise» oder den «Hubi» durch die Gänge, und Christian selbst sagt lange so ziemlich gar nichts. Nach Feierabend ist es Nacht geworden, ohne dass irgend jemand mitbekommen hätte, dass je ein Tag angebrochen wäre. Marion (Sandra Hüller) – die von den Süsswaren – zeigt Christian, dass der Gabelstapler ein Geräusch machen kann, das wie das Rauschen des Meeres klingt. Sie nennt Christian «Frischling» und lässt sich im Pausenraum von ihm auf einen Automaten-Cappuccino einladen. Das Meer rauscht auch hier, vor der Strandtapete im Pausenraum, ganz leise im Hintergrund. Marion ist zwar verheiratet, aber um einen wie Christian, der sie wirklich mag, ist auch sie froh. Es geht um Arbeit, Einsamkeit und den Schmerz, den man fühlt, wenn man einen Platz im Leben sucht, den es vielleicht gar nicht gibt. Das Drehbuch von Regisseur Thomas Stuber und Erfolgsautor Clemens Meyer («Als wir träumten») erhielt den Deutschen Drehbuchpreis 2015. DIANA FREI FOTO: ZVG
hätten, wieder entfernen müssen. Dies anhand einer Liste, auf der genau vermerkt war, was zum Kunstwerk gehörte – und was nicht. Mit Anekdoten wie dieser schärft Nia spielerisch und in einem unwiderstehlichen Plauderton unseren Blick für das Versteckte und Ungewöhnliche.
Thomas Stuber: «In den Gängen», D 2018, 125 Min., mit Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth u. a. Läuft ab 26. April im Kino.
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BILD(1): BASLER AFRIKA BIBLIOGRAPHIEN, BILD(2): YOSHIKO KUSANO, BILD(3): MATTHIAS WILLI
Veranstaltungen Basel «Gästezimmer – Egalité, c’est quoi?», eine performative Recherchereihe, #1 Weisse Privilegien, Mo, 23. April, 20 Uhr, #2 Szenografische Hierarchien, Mo, 28. Mai, 20 Uhr, #3 Kritische Männlichkeit(en), Mo, 18. Juni, 20 Uhr, Roxy, Muttenzerstrasse 6, Birsfelden. www.theater-roxy.ch
Das Basler Medientheaterkollektiv «Firma für Zwischenbereiche» hat sich auf die künstlerische Erforschung der Wirklichkeit spezialisiert. In der Veranstaltungsreihe «Gästezimmer» gehen die Schauspielerin Ute Sengebusch und der Dramaturg Jonas Gillmann mit Kunstschaffenden Fragen der Privilegierung nach: Wo bestehen unbewusst Bevorteilungen für ein paar «happy few»? Was heisst das für die Bildung von Hierarchien? Ein Musikethnologe schaut im April die Arbeitsbeziehungen von Kunstschaffenden aus dem globalen Süden und Norden an. Im Mai macht eine Performancekünstlerin fühlbar, wie sich ein Raum auf die Gruppenbildung auswirkt. Und im Juni DIF kümmert sich ein Genderaktivist um den Vorteil der Männlichkeit.
Bern «Die Schwestern Karamasoff», Premiere Teil 3 Do, 26. April, 20.30 Uhr, weitere Vorstellungen (z. T. der vorhergehenden Teile) Fr, 27. April, 20.30 und 23 Uhr, Sa, 28. April, 18 und 20.30 Uhr, So, 29. April, 15.30, 18 und 20.30 Uhr sowie Do, 10. bis Sa, 12. Mai (Teil 4). Schlachthaus Theater, Rathausgasse 20/22, Bern. www.schlachthaus.ch Der Berner Autor, Film-, Theaterund Spoken-Word-Macher Matto Kämpf hat Fjodor Dostojewskis letztes Werk, «Die Brüder Karamasoff», umgeschrieben. Die Brüder sind nun Schwestern, Schauplatz der Handlung ist das heutige Bern,
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aber die Themen sind immer noch die gleichen: Schuld und Sühne, Leid und Mitleid, Liebe und Versöhnung. Im Schlachthaus Theater heissen die Schwestern ganz russisch Mascha, Vera und Sonja, die Männer aber Stöffu und Claudio. Aufgeteilt in vier Teile, sind wir im April / Mai zwar schon bei Teil 3 angelangt, aber auch 1 und 2 werden sporadisch noch gespielt. Mit Mona Petri auf der Bühne und russischen Speisen im Tearoom. DIF
Zürich «Schwerpunkt Sprache», Mi, 25. April, Mi, 2. Mai, Mi, 16. Mai, Do, 17. Mai, je 19.30 Uhr, Fr, 8. Juni, 20 Uhr, Mo, 11. Juni, 19 Uhr, Sa, 30. Juni, 14 Uhr, Karl der Grosse, Kirchgasse 14, Zürich. www.karldergrosse.ch Sprache ist Werbung ist Philosophie ist Kunst ist Manipulation ist Emotion. Und so weiter. Sprache kann man genauso akademisch analysieren wie sinnlich erfahren. Und wahrscheinlich bringt jedes Jahrzehnt sein ganz eigenes Gefühl mit sich, man müsse sich besonders dringend mit der Sprache auseinandersetzen. So geht es uns auch heute, in Zeiten von teils spannenden und nicht selten unsäglichen Facebook-Diskussionen. Und so ist einer der Programmpunkte von «Schwerpunkt Sprache» im Zentrum Karl der Grosse der Workshop «Argumentieren auf Social Media». Sicher auch nützlich: der Workshop «Hätte ich doch was gesagt! – Argumentieren gegen Stammtischparolen». Dazu gibt es ein Podium zu gerechter Sprache, Bullshit-Bingo, eine Dachterrassen-Lesung, Floskeln und Fakten. DIF
Basel «Göttliche Un-Ordnung – 50 Jahre 1968», öffentliche Frühlingstagung der GrossmütterRevolution, Do, 26. April, 9 bis 16 Uhr: Tagung im Union, Klybeckstrasse 95, Basel. 16 bis 17 Uhr: Gang zum Rathaus. www.grossmuetter.ch Ob Frauenstimmrecht, die Diskussion um Lohndiskriminierung oder MeToo: Die Frauenbewegung der 68er hat viel bewegt, und ihr Einfluss ist bis heute spürbar. Unter dem Motto «Göttliche Un-Ordnung – 50 Jahre 1968» diskutieren Zeitzeuginnen, damalige Aktivistinnen sowie weitere interessierte Frauen und Männer, was aus feministischer Sicht von 1968 im Heute angekommen ist und wo weiterhin Handlungsbedarf besteht. Teilnehmerinnen der Tagung sind unter anderen die Historikerin und Frauengeschichtsexpertin Heidi Witzig, die Frauenbewegungs-Pionierin Beatrice Alder und die Berner ExNationalrätin Barbara Gurtner. Die Tagung ist öffentlich, eine Anmeldung ist erwünscht. Getätigt
werden kann sie auf der Webseite (www.grossmuetter.ch) oder per E-Mail (info@ grossmuetter.ch). Nach der Tagung marschieren die Teilnehmerinnen durch die Stadt zum Basler Rathaus, wo sie von Regierungspräsidentin Elisabeth Ackermann empfangen werden. Die GrossmütterRevolution versteht sich als Plattform und Thinktank der heutigen Grossmütter-Generation. GG
Bern «Der Goldene Kaktus – die glücksbringende Preisverleihung», Fr, 27. April, Bar ab 17 Uhr, Preisverleihung ab 20 Uhr, Heitere Fahne, das inklusive Kultur- und Gastrolokal, Dorfstrasse 22/24, Wabern bei Bern www.dieheiterefahne.ch
Wo steckt das Glück? Im Bioradiesli? Im Putzschrank? Oder auf einem Stuhl vor dem Haus? Das «inklusive Kultur- und Gastrolokal» Heitere Fahne vergibt dieses Jahr zum ersten Mal den Goldenen Kaktus. Die Auszeichnung können Leute gewinnen, die unser Leben bereichern, inspirieren und beflügeln – gerne auch abseits der geltenden Norm. Es gab über 200 Nominierungen. Wir sind stolz darauf, dass auch vier Surprise-Verkäuferinnen und -Verkäufer dabei sind (und wir haben sie notabene nicht selbst nominiert), unter anderen Lisbeth Schranz aus Bern (siehe Bild). Die Heitere Fahne, am Fuss des Gurten gelegen, konnte während des Gurten-Festivals letztes Jahr über 10 000 Franken Depotspenden generieren, weshalb das Lokal nun die Auszeichnung für die Originale des Landes lanciert hat. Mit der Hoffnung und dem Ziel, dass der Preis zur wiederkehrenden Tradition werden kann. DIF
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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT
Agglo-Blues
Folge 8
Das Arsenal Was bisher geschah: Vera Brandstetter, Ermittlerin im Fall eines in der Agglomeration ermordeten Ingenieurs, entdeckt in der perfekten Wohnung des Opfers ein Spielzimmer, das Abgründe vermuten lässt. Unter der Tischplatte war in der hinteren rechten Ecke mit braunem Paketband ein wattierter Umschlag befestigt. Brandstetter riss ihn los, kroch unter dem Tisch hervor und öffnete ihn. Banknoten quollen heraus, gebrauchte Scheine, alle Stückelungen. «Woher stammt dieses Geld?», fragte sie streng. «Ich weiss es nicht, ich war nie hier drin.» Frau Schwander lehnte sich an den Türrahmen. Brandstetter drehte den Kopf und entdeckte den Waffenschrank, der vom Vorhang verdeckt in der Ecke des Zimmers stand. Ein billiges Modell aus dem Baumarkt, gesichert mit einer Zahlenkombination. «Können Sie den öffnen?», fragte sie. «Nein.» «Wissen Sie, was drin ist?» «Seine Waffen.» «Wozu brauchte er Waffen?» «Um sich zu verteidigen.» Olena Schwander sah Brandstetter an, als sei das die dümmste Frage, die sie je gehört hatte. «Gegen wen?» «Gegen Verbrecher, gegen Terroristen, gegen Fremde.» «Machen Sie den Schrank auf.» «Ich kenne die Kombination nicht.» Olena Schwander verschränkte die Arme vor der Brust. «Das hier war sein Reich. Ich bin eine Frau und kümmere mich um den Haushalt, ich koche, ich putze, ganz normal.» Trotzig strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. «Ich weiss, in der Schweiz ist das nicht normal. Hier sind die Frauen keine Frauen mehr, sie wollen wie Männer sein, und die Männer sollen wie Frauen sein.» Brandstetter, die Schweizer Frau, die in einem Männerberuf arbeitete und eine Kurzhaarfrisur trug, hob die Augenbrauen. «Das ist aber nicht normal», fuhr Frau Schwander fort. «Wie wir es machen, ist normal. Der Mann versorgt die Familie und verteidigt das Haus, die Frau hält es in Ordnung. So war es schon immer und überall.» Brandstetter wartete, ob da noch etwas kommen würde, doch Schwander blieb stumm. Surprise 423/18
«Wenn Sie den Schrank nicht öffnen, muss ich die Kollegen aufbieten. Die nehmen dann auch Ihre Wohnung auseinander.» «Ich kenne die Kombination nicht, das habe ich doch gesagt. Nennen Sie mich etwa eine Lügnerin?» Brandstetter ging nicht darauf ein. Stattdessen rief sie die Untersuchungsrichterin an, die Spurensicherung und die Computerforensik. Ohne zu fragen, setzte sie sich im Wohnzimmer in den Sessel. Olena Schwander nahm ihr gegenüber auf dem Sofa Platz. Sie bot ihr nichts zu trinken an, versuchte nicht, ein Gespräch in Gang zu bringen. Die meisten Leute fingen an zu reden, wenn die Polizei in ihrer Stube sass. Weil sie einen guten Eindruck machen wollten, etwas loswerden mussten oder ganz einfach die Stille nicht ertrugen. Nach einer Weile griff Frau Schwander nach dem Tablet und wischte darauf herum. Brandstetter schaute ihr zu, widerstand dem Drang, sich mit ihrem Handy zu beschäftigen. Sie konnte gut stillsitzen. Das hatte sie als Kind gelernt, wenn der Vater seine schwierigen Tage hatte, wenn der Föhn ging und es am besten war, so zu tun, als sei man gar nicht da. Seither konnte sie sich so weit in sich selber zurückzuziehen, dass sie ihren Körper, der auf die erzwungene Bewegungslosigkeit mit Schmerzen, mit Stechen und Jucken reagierte, nicht mehr spürte. Das war immer noch besser gewesen, als den unberechenbaren und heftigen Zorn des Vaters auf sich zu ziehen. Bis die Kollegen endlich an der Tür schellten, war eine geschlagene Stunde vergangen. Den Waffenschrank öffneten sie im Nu. Die beiden Sturmgewehre und die drei Pistolen, die sich neben reichlich Munition darin befanden, waren ordnungsgemäss gemeldet, ebenso der geladene Revolver in seiner Nachttischschublade. Reto Schwander hatte Angst gehabt. Ob vor etwas Konkretem oder vor der Welt im Allgemeinen, war Brandstetter noch nicht klar. In einer braunen Ledermappe bei der Garderobe steckte sein Firmenlaptop, im Schlafzimmer lagen ein privates Notebook und ein Tablet. Weil Olena Schwander keine Passwörter zu kennen vorgab, wurden alle Geräte, auch der Desktop, mitgenommen. Bis die Kollegen fertig waren, war es bereits dunkel. Brandstetter bestellte Olena für den nächsten Tag auf zehn Uhr in ihr Büro im Hauptgebäude der Kriminalpolizei. Es war Zeit, sich dort wieder einmal zu zeigen, bevor sie ganz vergessen ging. Diese Gefahr drohte nicht nur, weil sie in der Agglo wohnte. STEPHAN PÖRTNER schreibt Romane und Theaterstücke. Wer eine oder mehrere Folgen von «Agglo-Blues» verpasst hat, kann sie auf unserer Webseite nachlesen oder auch hören, gesprochen vom Autor selbst oder von prominenten Gastlesern wie Andrea Zogg: www.surprise.ngo|krimi
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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01
Madlen Blösch, GELD & SO, Basel
02
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03
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04
Cantienica AG, Zürich
05
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06
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Kaiser Software GmbH, Bern
08
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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel
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Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern
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VXL gestaltung und werbung AG, Binningen
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Burckhardt & Partner AG, Basel
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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern
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SM Consulting, Basel
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Holzpunkt AG, Wila
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Praxis Colibri, Murten
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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
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AnyWeb AG, Zürich
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Hofstetter Holding AG, Bern
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Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo
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#420: Strassenmagazin
#420: Interview mit Pierre Alain Schnegg
Unfair und falsch
Tägliche Erinnerung an die Not
Ich musste mein Studium aus gesundheitlichen Gründen aufgeben, bezog vorübergehend Sozialhilfe und bin jetzt IV-Rentnerin. 2700 Franken monatlich hatte ich nie zur Verfügung. Menschen, die diesen Betrag erhalten, haben hohe Zusatzauslagen, beispielsweise krankheitsbedingt. Arztrechnungen, Medikamente, Krankenhausaufenthalte oder Pflege zuhause können sehr viel kosten. Lieber Herr Schnegg, es so darzustellen, als hätten alle Sozialhilfebezüger 2700 Franken zum Leben, ist nicht nur unfair, sondern schlicht falsch.
Den immer sehr freundlichen Surprise-Verkäufer Mussie Zeggai aus Eritrea sehe ich nun schon seit etwa zwei Jahren in Gümligen zwischen Migros und Coop stehen. Er lebt bereits seit 13 Jahren in der Schweiz, hat Familie, Frau und schulpflichtige Kinder. Sehr viele der einkaufenden Personen schätzen seine aufgeschlossene, freundliche Art. In der vergangenen Woche habe ich die Gelegenheit wahrgenommen, mit seinem Einverständnis ein Foto von ihm zu machen. Nun ist der «Schnegg» auch mit auf dem Bild, der ja glaubt, ausgerechnet bei den Schwachen im Lande sparen zu müssen. Als ob da wirklich etwas zu holen wäre. Es braucht anscheinend den Fokus auf diese Nebenschauplätze, ganz besonders immer dann, wenn gerade andernorts eigennützig, ungeniert und skandalträchtig tief ins öffentliche Portemonnaie gegriffen wurde. Gut, dass es das Angebot des Surprise-Magazins im öffentlichen Raum gibt, welches von fleissigen, immer freundlichen und tapferen Menschen angeboten wird und uns immer auch an den akuten sozialen Notstand in dieser Gesellschaft erinnert, der nicht kleiner geworden ist, ganz im Gegenteil.
C. WOLF
#421: Strassenmagazin
Viel Nachlebenswertes Heute das Magazin gekauft in Albisrieden, eine freundliche Frau, vor dem Coop, schöne Begegnung! Die Ausgabe ist einzigartig, grosses Kompliment, viel Nachdenkenswertes und noch viel mehr Nachlebenswertes. Danke und viel Mut zum Weitermachen.
M. MAR X, Rüfenacht
M. BR ÄGGER, Teufen
Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Georg Gindely (gg) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Beat Camenzind, Martin Valentin Fuchs, Ruben Hollinger, Lucian Hunziker, Isabel Mosimann, Joël Roth, Franziska Tschinderle
Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name
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FOTO: RUBEN HOLLINGER
Surprise-Porträt
«Wir sahen uns sieben Jahre nicht mehr» «Ich stamme aus Eritrea und bin in der Hauptstadt Asmara aufgewachsen. Mit 17 habe ich geheiratet, damit ich nicht wie mein Mann Militärdienst leisten muss. Ein Jahr nach der Heirat kam unser erster Sohn zur Welt. Eines Tages hatte mein Mann im militärischen Ausbildungscamp einen Unfall und verletzte sich am Rücken. Statt zu warten, bis er fit war, zwangen ihn seine Vorgesetzten gleich wieder zum Training. Als er sich weigerte, setzten sie ihn drei Tage lang bei über 30 Grad an die Sonne. Daraufhin flüchtete er und kam nach Asmara. Bei uns konnte er aber nicht wohnen, weil Soldaten immer wieder nach ihm suchten. Um nicht entdeckt zu werden, schlief er jede Nacht an einem anderen Ort. Nach drei Jahren fanden sie ihn trotzdem – er war unvorsichtig geworden und hatte bei uns übernachtet. Als es an die Tür polterte, wussten wir: Jetzt ist es vorbei. Die Soldaten nahmen ihn fest, und wir sahen uns sieben Jahre nicht mehr. Unser zweiter Sohn, der ein paar Monate nach der Verhaftung zur Welt kam, lernte seinen Vater erst hier in der Schweiz kennen. Den Lebensunterhalt für die Kinder und mich verdiente ich mit meinem eigenen Coiffeursalon. Nach der Festnahme meines Mannes wurde mir jedoch die Arbeit in meinem Geschäft verboten. Die Regierung wollte auf diese Weise auch mich bestrafen. Über die Runden geholfen hat mir von da an meine Familie, speziell mein Bruder in Israel.
Tirhas Gerezgiher (30) ist mit ihren beiden Buben in die Schweiz geflüchtet. Im Moment macht sie einen Deutsch-Intensivkurs und verkauft Surprise vor der Migros an der Marktgasse in Bern.
2014, nach vier Jahren Gefängnis, gelang meinem Mann die Flucht. Um sich und uns nicht in Gefahr zu bringen, flüchtete er diesmal so schnell wie möglich ins Ausland. Auf Umwegen und erst Monate später erfuhr ich davon. Ob er überlebt hatte und wo er nun war, konnte mir niemand sagen. Das ungewisse Schicksal meines Mannes, die Schikane mit dem Arbeitsverbot und die Hautkrankheit, an der mein älterer Sohn schon längere Zeit litt, bewogen mich schliesslich dazu, Eritrea zu verlassen. Mit finanzieller Unterstützung meines Bruders reiste ich mit den Kindern in den Sudan. In der Hauptstadt Khartum erhielt mein Sohn zwar die erhoffte medizinische Hilfe, doch es zeigte sich bald, dass ich im Sudan als Frau, alleine mit zwei Kindern und dazu noch christlichen Glaubens, keine Chance auf ein normales Leben hatte. So reiste ich mit meinen fünf- und neunjährigen Söhnen durch die Sahara nach Libyen, drei Monate später, im Juni 2015, über das Mittelmeer nach Italien und von dort aus in die Schweiz. Bei der Ankunft im Empfangszentrum Kreuzlingen brach ich krank und entkräftet zusammen und musste einen Monat im Spital verbringen, während die Buben im Zentrum bei anderen eritreischen Familien blieben.
Wie es weitergeht, wissen wir nicht. Nach bald drei Jahren in der Schweiz möchten meine Söhne und ich nicht noch einmal in einem anderen Land neu anfangen. Mein Mann lebt seit vier Jahren in Schweden und darf auch nicht einfach von heute auf morgen in die Schweiz ziehen. Wir hoffen, dass er uns spätestens nächsten Herbst wieder besucht, vorher reicht das Geld nicht.»
Mein Mann war ein Jahr zuvor in Schweden angekommen und hatte dort einen Asylantrag gestellt. Nach seiner Ankunft begann er mithilfe des Roten Kreuzes, nach uns zu suchen.
Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN
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Doch es gab Probleme mit der Schreibweise unserer Namen sowie falschen Geburtsdaten. So fanden sie uns erst 2017. Letzten August kam es hier in der Schweiz nach sieben Jahren endlich zum Wiedersehen. Mein Mann konnte uns drei Wochen lang besuchen, musste dann aber zurück nach Schweden, weil er dort in einem Integrationsprogramm ist. Wir können ihn nicht besuchen, da wir im Moment weder Reisedokumente noch die finanziellen Mittel haben. Vor allem mein älterer Sohn vermisst seinen Vater sehr, deshalb sind wir froh, dass wir mit den modernen Kommunikationsmitteln jeden Tag Kontakt zu ihm haben können.
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SURPRISE-ETUI rot
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Talon heraustrennen Surprise 423/18 und schicken oder faxen an: Surprise | Spalentorweg 20 | CH-4051 Basel | F +41 61 564 90 99 | info@surprise.ngo
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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Sphères, Hardturmstr. 66 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47
Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise 32
Surprise 423/18