Surprise Nr. 426

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Strassenmagazin Nr. 426 1. bis 14. Juni 2018

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Russland

Aussteiger

Die Mieten in Moskau sind für viele Russen unbezahlbar. Sie suchen neue Wohnformen. Wie Juri, der in einer Erdhütte lebt. Seite 14 Surprise 400/18

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TITELBILD: MARIO HELLER

Editorial

Erdhütte statt Plattenbau Die Mieten in den Stadtzentren steigen seit Jahren. Die Folge: Menschen mit schma­lem bis normalem Budget können sich die Preise nicht mehr leisten und ziehen an den Stadtrand oder aufs Land. Was in den ­grösseren Städten der Schweiz geschieht, kann man auch in Moskau beobachten. Dort sind es aber nicht nur private Eigentümer, die zur Verteuerung beitragen, ­sondern auch der Staat. Tausende Plattenbauten aus den Fünfziger- und Sechzi­ gerjahren sollen in nächster Zeit saniert oder ersetzt werden. Bereits jetzt ist die Situa­ tion so an­gespannt, dass viele Moskauerinnen und ­Moskauer nach alternativen Wohn­formen suchen. Thorsten Gutmann und Mario ­Heller haben einige von ihnen besucht: Sie leben in einer selbstgebauten Erdhütte an einer Ausfallstrasse, auf einem alten Kriegsboot auf der Moskwa oder in einem verfallenen Künstlerhaus mitten im Stadtzentrum. Den Blick hinter die Fassaden von Moskau, wo am 14. Juni die Fussballweltmeisterschaft beginnt, ­finden Sie ab ­Seite 14.

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Romeo und Julia mit Handschellen

GEORG GINDELY Redaktor

8 Sozialhilfe

26 Veranstaltungen

Die Erfindung des Schmarotzens

6 Moumouni …

27 Fortsetzungsroman

Leere Drohungen

22 Film

... und Schwarzer

14 Wohnen

Hinter den Fassaden von Moskau

25 Randnotiz

Das nächste Kapitel 25 Buch

Paradies der falschen Vögel

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28 SurPlus Positive Firmen

29 Wir alle sind Surprise Regisseur Christian Petzold über «Transit» Impressum

7 Die Sozialzahl

Generation prekär

Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, werden hierzulande ­immer mehr stigmatisiert. Wer Sozialhilfe empfängt, wird als Schmarotzerin und ­Betrüger gebrandmarkt. Nicole F ­ rischknecht spürt das fast täglich an den Blicken und Bemerkungen anderer Menschen. Sie würde noch so gerne den Weg aus der Sozialhilfe finden, aber wer stellt schon eine al­ leiner­zie­hende Mutter an, die seit zehn ­Jahren immer wieder auf staatliche Unterstützung ­angewiesen ist? Wie gross die Stigmatisierung von Sozialhilfeempfängern heute ist, zeigt sich auch daran, dass rund ein Viertel aller Menschen, die Anspruch auf Sozial­hilfe hätten, freiwillig ­darauf verzichtet – meist aus Scham. Darüber wird nie gesprochen. Über die ­wenigen Betrügenden schon. Weshalb, schreibt unser Reporter Andres Eberhard ab Seite 8.

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Erinnerungen an Anita Pfister

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Aufgelesen

FOTO: ALEXEY TALIPOV

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Witali ist auch an der WM dabei

Put Domoi, die einzige Strassenzeitung Russlands, wurde vor 24 Jahren in St. Petersburg gegründet. Verkäufer hat sie kaum ein Dutzend. Alle sind schon sehr alt oder invalid oder haben psychische Pro­bleme. Denn für gesunde und nüchterne Obdachlose ist es in St. Petersburg durchaus möglich, eine ganz ordentliche, wenn auch illegale Arbeit zu finden. Und diejenigen, die das gar nicht wollen, kommen recht gut mithilfe von zahlreichen wohltätigen Organisationen zurecht. Deshalb landen bei Put Domoi all diejenigen, die schon einen grossen Teil ihres Lebens hinter sich haben, aber auch jetzt nicht ohne ehrliche Arbeit leben möchten. «Wir haben uns geschworen, sie bis zuletzt nicht hängen zu lassen», sagt Chefredaktor Arkady Tyurin. «Solange es min­ destens noch einen Verkäufer gibt, werden wir unsere 4

Zeitung weiterhin heraus­bringen.» Im Moment bereitet sich die ganze Stadt auf die Fussballweltmeisterschaft vor. Einer der bekanntesten Zeitungsverkäufer von Put Domoi, Witali Petrowitsch Schaschlow (Foto), wird seinen Traum wahrmachen und freiwilliger Helfer bei der WM werden. Die Strassen­zeitung hat übrigens selbst eine Fussballmannschaft, die auch regelmässig an internatio­nalen Strassen­fussballturnieren teilnimmt. «Fussball ist ein Wundermittel für die soziale Re­ integration», sagt Chefredak­tor Tyurin. Denn Fussball be­deute nicht nur eine gesunde Lebensweise, sondern fördere auch die Zusammenarbeit im Team. Beides sind unabdingbare Voraussetzungen, um im Leben bestehen zu können.

PUT DOMOI, ST. PETERSBURG

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Zentrum für Strassenfussballer

Im schottischen Edinburgh entsteht ein Zentrum für Strassenfussball. Das 5-Millionen-Pfund-Projekt bietet sechs Spielfelder, eine Unterkunft mit 32 Schlafzimmern, ein Café und soll 30 neue Arbeitsplätze schaffen. Hinter dem Projekt mit dem Namen «The Change Centre», für das vor wenigen Tagen das Baugesuch eingereicht wurde, steht David Duke, Gründer von Street Soccer Scotland.

Vor Gericht THE BIG ISSUE, LONDON

Mieten auf Rekordniveau

In Hamburg sind die Mietpreise im Vergleich zum Vorjahr um 4,4 Prozent gestiegen. Das geht aus einer Analyse aktueller Wohnungsan­ zeigen durch Schüler des Gymnasiums Ohmoor hervor. Eine weitere Studie bescheinigt, dass Hamburg 150 000 günstige Wohnungen fehlen. Heute gibt jeder fünfte Hamburger Haushalt mehr als 40 Prozent seines Nettoeinkommens für Miete aus.

FOTO: BRANT ADAM PHOTOGRAPHY

HINZ & KUNZT, HAMBURG

«Wichtiger denn je»

«Kürzlich war ich in Brighton und sah, wie Touristen über Dutzende von obdachlosen Menschen hinweg­ stiegen. Die Obdachlosigkeit wächst exponentiell und wird es weiterhin tun, wenn man nichts dagegen unternimmt. Strassen­zeitungen sind deshalb noch wichtiger und notwen­diger als je zuvor», sagt der britische Schriftsteller Irvine Welsh («Trainspotting»). Er setzt sich als Botschafter des INSP aktiv für Obdachlose ein.

INTERNATIONAL NETWORK OF STREET PAPERS

Romeo und Julia mit Handschellen Der 57-jährige Salvatore G.* wirkt auf den ersten Blick nicht wie ein Frauenheld. Er ist kein weltgewandter Charmeur, Bildung hat er keine, Geld besass er nie. Auch gleicht der gebürtige Sizilianer jedem anderen Durchschnittstypen wie ein Sandkorn am Strand dem anderen. Gleichwohl liess sich Francesca M. auf eine langjährige Affäre mit dem Ehemann ihrer besten Freundin ein. Bis sie ihn vor die Wahl stellte: «Entweder sie oder ich». Er wollte auf keine verzichten. Sie aber meinte es ernst und gab ihm den Laufpass. Salvatore liess sie nicht los. Buchstäblich. Er verfolgte sie trotz Kontaktverbot auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, fing sie vor ihrer Haustür ab, drängte sich in ihre Wohnung und fesselte sie mit Handschellen ans Heizungsrohr. «Ich wollte doch nur mit ihr reden». sagt Salvatore. Er redete von Romeo und Julia, was Francesca in Todesangst versetzte – denn bekanntlich kam keiner lebend aus dieser Tragödie heraus. Wegen Freiheitsberaubung, Nötigung und Drohung wurde er zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zehn Monaten sowie einer Busse von 900 Franken verurteilt. Salvatore will aber weder die Busse bezahlen noch die Genugtuung von 3000 Franken und die Prozessentschädigung an seine Angebetete, und legt Berufung ein. Francesca habe ihn zuerst geschlagen, heischt er um Verständnis vor Obergericht, also musste er sie ans Heizungsrohr im

­ adezimmer fesseln, aber nur zwei MinuB ten. Wieso er denn mit Handschellen zu Francesca gegangen sei, will der Richter wissen. «Das sind Sex Toys, von denen haben wir mehrere», antwortet Salvatore. Ob er drohte, sie und sich selbst umzubringen, damit sie beide tot seien wie Julia und ­Romeo, fragt der Richter. «Nein», verteidigt sich Salvatore, «ich wollte ihr nur sagen, dass unsere Liebe ebenso gross ist wie die grösste Liebe aller Zeiten.» Mittlerweile ist der arbeitslose und ausgesteuerte Magaziner zu seiner Ehefrau zurückgekehrt. «Sie ist meine grosse Liebe – heute begreife ich das.» Der Verteidiger lässt in seinem Plädoyer nochmals die Liebesgeschichten seines Mandanten Revue passieren. «Es geht im Kern um ein Beziehungsproblem», erklärt er und fragt, «ob das Strafrecht tatsächlich das richtige Mittel sei, dieses zu lösen.» Schliesslich, nun dreht er den Spiess um, habe Francesca seinen Mandanten manipuliert und ihn in eine Falle gelockt, um ihn zu ruinieren. Der Anwalt des Opfers bemerkt trocken, er sei froh, müsse sich Francesca diese Täter-Opfer-Umkehr nicht anhören. Seine Mandantin sei traumatisiert und seit dem Vorfall arbeitsunfähig. Das Gericht hat keine Zweifel, dass in der Romeo-und-Julia-Geschichte eine Drohung mitschwang. Es wandelt die bedingte Freiheitsstrafe gleichwohl in eine bedingte Geldstrafe um, senkt die Busse und hebt das Kontaktverbot auf. «Lassen Sie sich nicht mehr auf amouröse Verwicklungen ein», rät der Richter. «Nie mehr», verspricht Salvatore, «meine Frau hat mir eine letzte Chance gegeben.» * persönliche Angaben geändert ISABELL A SEEMANN ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

ein Gesprächsangebot machen. Trotzdem: Ich finde Schwarzers Islamfetisch widerlich. Und ich kann nicht anders, als ihr diesen als unfeministisch auszulegen. Die Mai/Juni-Ausgabe der Emma besteht zu 50 Prozent aus Stimmungsmache gegen muslimische Frauen und Männer. Feminismus, der nur Frauen zugutekommt, die aussehen und denken wie Alice Schwarzer, ist kein Feminismus. Wer Frauen gezielt blossstellt und nicht zu Wort kommen lässt sowie sich von rechter Hetze vereinnahmen lässt, ist keine Feministin. Schwarzer verbreitet vollkommen ohne Beweise, Frauen würden von islamistischen Organisationen bezahlt werden fürs Kopftuchtragen und dass es nur eine richtige, «objektive» Meinung zum Kopftuch gebe – nämlich dass dieses islamistisch und ein Zeichen der Überforderung mit der Emanzipation sei. Nicht zu vergessen: die regelmässigen Diffamierungskampagnen von Emma und Co. gegen junge Muslimas, wie zum Beispiel die deutsche Bloggerin Kübra Gümüsay. All das ist nicht sonderlich ladylike, Frau Schwarzer!

Moumouni …

… und Schwarzer Ich würde sehr gerne mal Alice S ­ chwarzer treffen. Für ein intergenerationelles Feminismusgespräch oder so. Wahrscheinlich wäre es mehr als das. Wir könnten auch darüber reden, wie es ist, sein Geld mit Schreiben zu verdienen. Was macht das mit einer auf längere Sicht? Und wie sie meinen neuen Lippenstift findet: Er hat eine ähnliche Farbe wie der, den sie auf manchen ihrer Pressefotos trägt. Ich trage ihn eigentlich gerne, komme mir aber irgendwie doof vor, wenn es darum geht, ihn in der Öffentlichkeit aufzu­ frischen – da fühle ich mich plötzlich eitel. Und dann würde es um unsere unterschiedlichen Ansichten zu ihren neusten Veröffentlichungen gehen. Ich lernte Alice Schwarzer über die vielen bösartigen Kommentare kennen, die in der Öffentlichkeit so herumschwirren. So wurde sie für mich nie zum Inspirations6

anker. Allerdings waren für mich bisher viele Frauen wichtig, für die Schwarzer wiederum lange inspirierend war, weshalb ich dennoch so etwas wie Enttäuschung darüber verspüre, dass ich mit der heutigen Alice Schwarzer nichts anfangen kann. Sie macht mich häufig wütend – das letzte Mal, als sie auf einem Plakat zur Lesung ihres neuen Buchs mit dem Titel «Meine algerische Familie» einlud. «Meine» algerische Familie? Welch paternalistisches Possessivpronomen, dafür dass es nur um ihre Beziehung zu einer langjährigen algerischen Bekannten und deren Familie geht! Ist das ihre Antwort auf die Rassismusvorwürfe, die ihr nach dem vorigen Buch über die Silvester­ nacht in Köln entgegenschlugen? «Guckt her, ich bin nicht rassistisch, ich habe eine algerische Familie!» Aber gut, ich möchte Alice Schwarzer ja eigentlich

Mit meiner Enttäuschung über Alice Schwarzer verhält es sich nicht wie mit anderen grossen Persönlichkeiten, von denen man im Nachhinein erfährt, dass sie trotz ihres Beitrags zur Geschichte offenbar Menschen mit schlechtem Charakter waren. Solange es um die Relativitätstheorie geht, ist es wohl relativ egal, ob Einstein seine erste Frau schlug. Bei Schwarzer hingegen schmälert ihr Verhalten ihre Errungenschaften und Kämpfe, weil ich nicht das Gefühl habe, dass sie auch für mich als musli­ mische, schwarze Frau spricht. Im Gegenteil, sie versucht noch, Muslimas und andere Frauengruppen wie zum Beispiel Sexarbeiterinnen und Queerfemi­ nistinnen, die selbst für sich sprechen wollen, zum Schweigen zu bringen. Was für ein Macho diese Frau doch ist.

FATIMA MOUMOUNI fordert Alice Schwarzer zum Einzelkampf auf. Und zum Reden.

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dass manche zunächst im Rahmen von mehreren Praktika verschiedene Möglichkeiten ausloten möchten, bevor sie sich für einen verbindlichen Schritt in das Arbeitsleben entscheiden.

Generation prekär Lange Zeit galt der Übergang von der Schule in die Berufsausbildung als schwierig. Es mangelte an genügenden und inter­ essanten Lehrstellen. Diese Schwierigkeiten sind inzwischen überwunden. Im Moment ist es eher so, dass Firmen nicht mehr alle Lehrstellen besetzen können. Die neue Problemzone scheint heute der Übergang von der Berufsausbildung in den Arbeitsmarkt zu sein, zumindest für jene mit einem tertiären Abschluss, zum Beispiel an einer Universität oder Fachhochschule. Junge Erwachsene erleben diesen Übergang jedenfalls als eine prekäre Phase in ihrer Erwerbsbio­grafie. 30 Prozent der jungen Männer zwischen 15 und 39 und 35 Prozent der jungen Frauen in der gleichen Altersgruppe haben in dieser Lebensphase befristete Arbeitsverträge. 2010 betrugen diese Anteile noch 24 Prozent für die jungen Männer und 29 Prozent für die jungen Frauen. Wie sind diese Zahlen des Bundesamtes für Statistik zu interpretieren? Ist diese Entwicklung als eine schleichende Abkehr von normalen Arbeitsverhältnissen ohne zeitliche Begrenzung zu werten? Findet mithin im Zeichen der Digitalisierung also eine Prekarisierung der Arbeitswelt statt? Oder sind diese Zunahmen der befristeten Arbeitsverhältnisse nur die Folge eines steigenden Anteils von jungen Menschen mit einem tertiären Bildungsabschluss, für die schon immer galt, dass der Weg zu einer Festanstellung über befristete Arbeitseinsätze führt?

Unternehmen bieten Praktika an, damit junge Erwerbstätige nach ihrer eher praxisfernen Ausbildung die Realität eines Berufs kennenlernen können. Dass sie dabei von billigen Arbeitskräften profitieren, darf nicht verschwiegen werden. Ähnlich wie bei den Lehrstellen hängt die Frage der Rendite für die Firmen allerdings vom Aufwand, der für Einführung und Begleitung der Praktikantinnen und Praktikanten geleistet werden muss, und von der Dauer der Einsätze ab. Es überrascht daher nicht, dass es bereits Anzeigen für Praktikumsstellen gibt, in denen vermerkt wird: «Praktikumserfahrung erwünscht». Praktika gab es schon immer, aber die Akademisierung der beruflichen Ausbildung hat zu einer Ausdehnung der Branchen geführt, in denen solche «Einarbeitungsstellen» angeboten werden. In manchen Branchen kommt dazu, dass immer häufiger in Projekten gearbeitet wird. Dafür werden oft junge Erwachsene eingestellt. Gehen die Projekte zu Ende, geht auch das Arbeitsverhältnis zu Ende. Das Risiko der (vorübergehenden) Arbeitslosigkeit wird auf die jungen Erwerbstätigen abgewälzt. Die Betriebe hingegen können flexibel auf den Bedarf reagieren. Die Digitalisierung der Arbeitswelt macht die Projektarbeit einfacher. Sie kann über das Internet organisiert und koordiniert werden. Die Projektmitarbeitenden brauchen weder Arbeitsplätze noch Sitzungsräume. Diese Entwicklung wird sich weiter verstärken. Damit wird für viele junge Akademikerinnen und Akademiker der Weg zu einer «entfristeten» Anstellung länger, auch in der Schweiz.

Fest steht, dass Praktika, Volontariate und projektbezogene Anstellungen in akademischen Berufsfeldern immer häufiger zu beobachten sind. Der Fächer der Branchen ist dabei weit aufgespannt und reicht vom Sozial- und Gesundheitsbereich über die Architektur und Kultur bis zum Rechts- und Beratungswesen. Die Gründe sind vielfältig. Jungen Erwachsenen mit guter Ausbildung eröffnen sich heute so viele Berufswege,

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Befristete Arbeitsverträge als Prozent der Arbeitnehmenden (ohne Lehrlinge) nach Geschlecht und Alter, 2010 und 2017 2010

Frauen:

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Alter: 15–24

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7,8%

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15%

11,5%

15%

0%

2017

2010 24,6%

Männer:

15,8%

INFOGRAFIK: BODARA; QUELLEN: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2018): SCHWEIZERISCHE ARBEITSKRÄFTEERHEBUNG SAKE 2017. MEDIENMITTEILUNG VOM 19.04.18. NEUCHÂTEL

Die Sozialzahl

65+

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Die erfundene Geschichte des Schmarotzens Stigmatisierung Die Sozialhilfe ist die Versicherung für den schlimmsten Fall. Wer verarmt,

kann auf die Unterstützung seiner Mitmenschen zählen. Trotzdem fühlen sich Sozialhilfeempfänger häufig wie Betrüger. Wie konnte es so weit kommen? TEXT  ANDRES EBERHARD FOTOS  SOPHIE STIEGER

Dieser Text beginnt mit einer Aufgabe: Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Manager und führen ein Jahresgespräch mit einem Ihrer Mitarbeitenden. Wie motivieren Sie ihn, das Beste für Ihr Unternehmen zu tun? Wie Sie die Aufgabe lösen, hängt vor allem davon ab, welches Menschenbild Sie haben. Dazu gibt es zwei Theorien, aufgestellt vom Ökonomen Douglas McGregor. Seine Studie hat die Arbeitspsychologie der vergangenen 50 Jahre geprägt wie kaum eine andere. In Theorie X, wie Douglas sie nennt, ist der Mensch grundsätzlich faul. Er geht Arbeit aus dem Weg, wo immer er kann. In Theorie Y ist der Mensch grundsätzlich motiviert. Er ist ehrgeizig und sucht die Herausforderung. Aus der Arbeit schöpft er Zufriedenheit. Welche der beiden Theorien wählen Sie? Ist es X, müssen Sie Ihren neuen Mitarbeitenden fortan zur Arbeit zwingen und ihn unter Androhung von Strafen überwachen. Ist es Y, tun Sie gut daran, dafür zu sorgen, dass sich der neue Mitarbeitende mit den Zielen des Unternehmens identifiziert. Denn in diesem Fall holt er gerne von sich aus das Beste für Sie raus. Nun geht es in diesem Artikel um die Sozialhilfe. Warum also der Ausflug in die Psychologie? Weil das Beispiel offenbart, wie Sozialhilfebezüger stigmatisiert werden. Die meisten von Ihnen dürften sich in der obigen Aufgabe für Theorie Y entscheiden – weil die Aufgabe von Menschen handelt, die arbeiten. So dürfte beispielsweise eine Gehaltserhöhung den Mitarbeitenden motivieren, in Ihrem Sinne zu handeln. Geht es aber statt um einen neuen Mitarbeitenden um einen Sozialhilfebezüger, ändert sich die Wahrnehmung. Plötzlich scheint es angebracht, in 8

ihm einen potenziellen Betrüger zu sehen und ihn bei weniger Lohn ab sofort strenger zu überwachen, damit er Sie ja nicht ausnutzt. Anders ist nicht zu erklären, warum viele es in Ordnung finden, die Beiträge für die Sozialhilfe drastisch zu kürzen, wie es derzeit in vielen Kantonen passiert. Und eine strengere Überwachung von Bezügern staatlicher Leistungen zur Missbrauchsbekämpfung erachten heute sogar Exponenten der SP für angebracht. Reiche Menschen brauchen viel Geld, damit sie gut arbeiten. Bei armen Menschen hingegen soll Geld zur Folge haben, dass sie faul werden und gar nicht mehr arbeiten wollen. Wie ist dieses Zweiklassendenken entstanden? Sie hat es satt, sich schlecht zu fühlen Nicole Frischknecht sitzt auf einer Holzbank in ZürichSeebach an der Sonne und zündet sich eine Zigarette an. Einmal in der Woche verteilt sie im Namen der Sozialwerke Pfarrer Sieber Essen an Menschen, denen es noch schlechter geht als ihr. Frischknecht lebt von der Sozialhilfe. 3200 Franken bekommt sie für sich und ihren 14-jährigen Sohn. Abzüglich Miete und Krankenkasse bleiben rund 1500 Franken zum Leben. Die Sozialhilfe ist für vorübergehende Notlagen gedacht. Frischknecht wäre es recht, wenn es dabei geblieben wäre. Ihr grosses Ziel war von Anfang an, wieder Arbeit zu finden. Das klappte auch hin und wieder, durch eigene Initiative kam sie zu temporären Anstellungen als Buchhalterin. «Wenn sich eine Chance bot, dann habe ich sie gepackt», sagt sie. Trotzdem ist Frischknecht seit mittlerweile bereits zehn Jahren immer wieder auf Sozialhilfe Surprise 426/18


«Ich hätte sofort wieder Arbeit angenommen, doch das war nicht so einfach. Ich hatte das Gefühl, fallengelassen zu werden .» NICOLE FRISCHKNECHT


angewiesen. Heute ist sie 50 Jahre alt, und mit jedem Jahr sinken ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt – weil Jüngere günstiger sind und weil sich das Sozialamt als Station im Lebenslauf nicht gut macht. Trotzdem könnte es in diesem Sommer endlich klappen mit der Festanstellung: Durch persönliche Kontakte hat sie einen 50-Prozent-Job an einem Kiosk in Aussicht. Finanziell lohnt sich das nicht, denn sie verdient kaum mehr als bis anhin mit der Sozialhilfe. Doch darum geht es ihr nicht. «Es wäre der Ausstieg, endlich», sagt sie und zieht lange an ihrer Zigarette. Frischknecht ist froh um die finanzielle Hilfe, die ihr ein Leben auch ohne festen Job ermöglichte. Sie hat es aber auch satt, sich schlecht zu fühlen, weil sie die Hilfe angenommen hat. Als ihr die Ämter Jobs vermittelten – wie jenen als Sekretärin an einer Schule, für den sie 250 Franken pro Monat extra bekam, während alle anderen ein Vielfaches verdienten –, fühlte sie sich zweitklassig. Als man sie darauf hinwies, dass es Betrug sei, wenn sie nicht angebe, falls ihr jemand 20 Franken schenke, spürte sie die Bevormundung. Und was die Leute über sie dachten – manchmal erfuhr sie es durch Sprüche, manchmal erahnte sie es durch Blicke –, stresst sie: «Du bist sicher selbst schuld.» Frischknecht hat sich nie vor der Arbeit gedrückt. Nach dem Gymnasium arbeitete sie bei einer Bank, machte in jungen Jahren Karriere und verdiente so bis zu 13 000

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Franken pro Monat. Dann bildete sie sich zur eidgenössisch diplomierten Finanzplanerin weiter, liess sich ihr Pensionskassengeld auszahlen und machte sich selbständig. «Das ging leider in die Hose», sagt sie rückblickend. Das allein wäre verkraftbar gewesen. Ihr Mann hatte sich in der Zwischenzeit im Gastgewerbe hochgearbeitet und konnte die Familie versorgen. Doch dann starb er im Alter von 37 Jahren an einem Herzinfarkt. Frischknecht blieb zurück als Witwe, als Hausfrau, als Alleinerziehende eines damals Siebenjährigen, als Arbeitslose ohne Vermögen. Frischknecht hätte sofort wieder Arbeit angenommen, doch das war nicht so einfach. Sie war drei Jahre lang weg gewesen vom Arbeitsmarkt, und als sie wieder einsteigen wollte, brach die Finanzkrise aus. Die Banken, ihre potenziellen Arbeitgeber, hatten nun andere Sorgen. «Ich hatte das Gefühl, einfach fallengelassen zu werden», sagt sie. Spirale der Stigmatisierung Beispiele wie jenes von Frischknecht gibt es viele. «Arbeitslos zu sein ist in der Schweiz äusserst stigmatisierend», sagt der Basler Soziologe und Armutsforscher Peter Streckeisen. Er erklärt dies mit der Tatsache, dass es in relativ wohlhabenden Ländern mit hohem Beschäftigungsgrad besonders schlimm sei, aus dem Raster zu fallen. «Unsere Gesellschaft ist sehr stark auf die Erwerbsarbeit ausgerichtet. Das setzt eine Stigmatisierungs-­ Spirale in Gang.» Wer zum Sozialamt gehe, gelte schnell als nicht angepasster Sozialfall oder fauler Mensch. Auch der renommierte französische Soziologe Serge Paugam stellt die Schweiz als typisches Beispiel dafür dar, dass Armut oder Arbeitslosigkeit aus Scham verborgen bleiben. «In der Schweiz verläuft die Armut still», schreibt er in seinem Buch «Die elementaren Formen der Armut». «Die Armen sind gezwungen, ihre Armut schweigend zu ertragen, um die mit Schuldgefühlen verbundene Erfahrung gesellschaftlicher Missbilligung zu vermeiden.» Sichtbare Armut ist hierzulande unerwünscht. Dazu passt, dass der Kanton Waadt 2016 das Betteln in der Öffentlichkeit verbot. In Lausanne weist die Polizei mit Berufung auf ein generelles Campierverbot sogar Obdachlose weg, die auf Bänken schlafen. Wie schwer vielen der Gang zu den Behörden fällt, zeigt sich auch darin, dass rund ein Viertel aller Menschen, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, freiwillig verzichtet. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universität Surprise 426/18


Rund ein Viertel der Personen, die Anrecht auf Sozialhilfe hätten, verzichtet freiwillig darauf. Eher nehmen diese Menschen die Armut in Kauf.

Bern. Eher nehmen diese Menschen die Armut in Kauf. Auf dem Land soll die Quote der Nichtbezüger gar bis zu 50 Prozent betragen. Auswertungen des Bundesamtes für Statistik bestätigen: Je kleiner die Ortschaft, desto geringer ist die Sozialhilfequote im Vergleich zur Armutsquote. Eine mögliche Interpretation dazu: Kennt man die Nachbarn sowie die Sozialarbeiter persönlich, ist das Schamgefühl grösser, Sozialhilfe zu beantragen. Scham ist aber nicht der einzige Grund, warum viele nicht oder nur im äussersten Notfall ihren Anspruch auf Sozialleistungen geltend machen, wie das Beispiel von Herbert Engeler zeigt. «Leben ist erleben», sagt Herbert Engeler immer wieder. Er sitzt in einer Bar im Erdgeschoss des Prime Tower in Zürich und bestellt eine Tasse Tee. Dann erzählt er aus seinem Leben. Mal war er oben, dann wieder ganz unten. Engeler ist ein freiheitsliebender Mensch. Wenn es ihm nicht mehr passte, kündigte er den Job und bereiste die Welt. Als ihm der gelernte Job als Chemie-Laborant zu langweilig wurde, wechselte er in die IT-Branche. Als ihm auch das nicht mehr passte, machte er sich selbständig und verkaufte RAM-Datenträger. Als er im weit fortgeschrittenen Erwachsenenalter die Matur nachholen wollte, tat er es auch. Und als der Vater starb und die Mutter hochdement zurück blieb, entschied er sich, zuhause zu bleiben, um sie zu pflegen. Surprise 426/18

Heute ist Engeler pensioniert. Er lebt von einer AHV-Rente in der Höhe von 1716 Franken. Er könnte Antrag auf Ergänzungsleistungen stellen, doch stattdessen verkauft er lieber Surprise-Hefte draussen unter der Hardbrücke und verdient sich so einige Hundert Franken dazu. Mehr braucht Engeler nicht zum Leben. Sein angespartes Pensionskassengeld, das er sich bis zum Lebensende einteilen muss, verschenkt er an Hilfswerke oder steckt es in eine seiner Reisen. Engeler wehrte sich gegen staatliche Hilfe, wann immer es ging. Die Abhängigkeit, welche die Kontrollen mit sich bringen, passte ihm nicht. «Ich will doch nicht an der Leine laufen», sagt er. Doch manchmal ist die Not so gross, dass es einfach nicht anders geht. Das musste auch Engeler einsehen. Herbert Engeler war zwischen Indonesien und Ma­ laysia im Urwald, als er in stockdichtem Nebel über eine Felswand stolperte und sich das Knie brach. Eigentlich hätte er nach Afrika gewollt, «um den Armen zu helfen», wie er sagt. Wegen des Unfalls kam er aber zurück in die Schweiz. Zur gleichen Zeit hatte sich sein Vermögen in Luft aufgelöst: Die Firma, an der Engeler beteiligt war, war Konkurs gegangen. Den Rest des Geldes, das er als Chemie-Laborant und mit der eigenen IT-Firma verdient hatte, hatte er in seine Reisen und die Auszeit gesteckt, die er sich für seine Eltern genommen hatte. Solche Lebensgeschichten hört man nicht oft Weil er seit mehreren Jahren nicht mehr gearbeitet hatte und in seinem Beruf in der Zwischenzeit andere Fähigkeiten gefragt waren, fand Engeler keine Stelle mehr und hatte auch kein Anrecht auf Arbeitslosengeld. Irgendwann ging es nicht mehr. Er sei, erzählt er, während zwei Wochen richtiggehend durch die Stadt gekrochen und habe am Ende nur noch eine Einfranken-Briefmarke in der Tasche gehabt. Er brauchte sie für den Brief ans Sozialamt. Die Unterstützung machte es möglich, dass er den Weg zurück ins Arbeitsleben fand: Er liess sich zum Altenpfleger umschulen und konnte sich bis zur Pensionierung wieder selbst finanzieren. «Ich möchte nichts missen, auch diese Erfahrung nicht», sagt Engeler und nimmt einen Schluck Tee, der inzwischen kalt geworden ist. Es gibt viele solcher Lebensgeschichten. Doch man hört sie nicht oft. Es wird im Moment so viel über den Ausnahmefall des faulen Betrügers gesprochen, dass der 11


«Ich wehrte mich gegen staatliche Hilfe, wann immer es ging. Ich will doch nicht an der Leine laufen.» HERBERT ENGELER

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Die Geschichte des Schmarotzens wurde in den Achtzigerjahren in den USA erfunden. Die Studie, auf der sie beruht, ist mittlerweile mehrfach widerlegt.

Normalfall des in Not geratenen Menschen vergessen geht. Wie konnte es so weit kommen, dass sich das Bild von Sozialhilfebezügern gewandelt hat zu passiven Leistungsempfängern, welche es sich in der sozialen Hängematte gemütlich machen? Die Antwort ist relativ einfach: Weil eine ganze Politik auf diesem Bild aufbaut. Nennen wir es die Geschichte des Schmarotzens. Erfunden wurde sie in den Achtzigerjahren in den USA. Damals erschien eine von einem neokonservativen Thinktank bezahlte Studie, die zum Aufsehen erregenden Schluss kam, dass Sozialleistungen Fehlanreize setzen würden. Wer Geld vom Staat erhalte, dem fehle die Motivation, Arbeit zu suchen. Anders gesagt: Arbeit «lohne» sich nicht, die Arbeitslosen würden in einer «Armutsfalle» verharren. Diese und ähnliche Studien waren der Beginn eines Wechsels der Sozialpolitik von «welfare» (Wohlfahrt) hin zu «workfare». Staatliche Unterstützung soll vereinfacht gesagt nicht mehr bedingungslos erfolgen, sondern an Bedingungen geknüpft sein: allen voran an die Verpflichtung zur Arbeit beziehungsweise an das Bemühen, Arbeit zu finden. Der Paradigmenwechsel erfolgte zunächst in den USA, später in Europa und seit Ende der Neunzigerjahre auch in der Schweiz. Die amerikanische Studie war ein Theoriekonstrukt. Verschiedene Forscher untersuchten später die sogenannte Armutsfalle und kamen zum Schluss, dass eine Surprise 426/18

solche nicht existiert. So stellt etwa der deutsche Soziologe Ronald Gebauer mithilfe einer aufwendigen empirischen Analyse fest, dass Geld bei Sozialhilfebezügern nur eine untergeordnete Rolle als Motivation zur Arbeitsaufnahme spielt. Andere Faktoren sind wichtiger: der Wunsch nach Integration in den Arbeitsmarkt, gesellschaftlicher Anerkennung, Selbstverwirklichung und beruflichen Aufstiegs- und Entwicklungschancen. Erfolgreiche politische Sparstrategie Trotzdem wird mit der Armutsfalle politisiert – auch in der Schweiz. Und dies äusserst erfolgreich: In mehreren Reformen wurde bei der Invalidenversicherung («ScheinInvalide») sowie später bei der Sozialhilfe gekürzt. Die Strategie der Sparer ist dabei stets die Dauerthematisierung von Missbrauch. «Das Drehbuch der Senkung von Sozialversicherungsstandards ist stets exakt dasselbe», schreibt Daniel Binswanger im Online-Magazin Republik treffend: «Der Missbrauchsdiskurs ist immer das Einfallstor für Sozialabbau.» Dass ein verfälschtes Bild von Sozialhilfeempfängern vorherrscht, liegt insbesondere an der verwendeten poli­ tischen Rhetorik. So bringt der Begriff des «Sozialschmarotzers», den die SVP im Wahljahr 1999 einführte, das Narrativ des passiven Leistungsbezügers, der lieber auf der faulen Haut liegt als zu arbeiten, in einem Wort auf den Punkt. Er suggeriert, die angeblich Faulen von den Fleissigen zu trennen. Dieses Narrativ hat für ihre Verfechter einen grossen Vorteil: Es bestätigt sich immer wieder von selbst. Jedes Mal, wenn in den Medien ein krasser Fall von Sozialhilfebetrug bekannt wird, denkt fast jeder: So geht das aber nicht. Als politische Konsequenz dieser Stimmung werden dann Überwachung und Kontrolle stärker, worauf – nicht verwunderlich, sofern die Überwacher ihren Job machen –  mehr Betrugsfälle ans Licht kommen. Daraufhin werden die Vertreter der Schmarotzer-Geschichte sagen: Seht her, wir haben’s ja gesagt. Betrug kommt bei der Sozialhilfe gleich häufig vor wie bei allen anderen Versicherungen, wie Untersuchungen zeigen. Die Geschichte der faulen Betrüger ist also nachweislich falsch. Sie dient lediglich dazu, das Sparen bei Armen zu rechtfertigen. Anders gesagt: Bezüger von Sozialhilfe sollten nicht als Schmarotzer bezeichnet werden, sondern als das, was sie sind: Menschen in Not. 13


Riesig und teuer: Blick auf Moskau.

Hinter den Fassaden von Moskau Russland Die hohen Mieten in Moskau sind für die meisten Russen eine Herausforderung.

Viele von ihnen sind gezwungen, in weit entfernte Vororte zu ziehen. Oder sie wählen alternative Wohnformen – in Erdhütten, alten Kriegsbooten oder Künstlerhäusern. TEXT  THORSTEN GUTMANN FOTOS  MARIO HELLER

Moskau

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RUSSLAND

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umsiedlung. Sie haben Angst, dass sie in schlecht erschlossene Neubausiedlungen gedrängt werden könnten, fernab von S- und U-Bahn. Vor allem ältere Menschen, die sich über Jahrzehnte an ihre Lebensumgebung gewöhnt haben, sind besorgt über eine ungewisse Zukunft.

«Chruschtschowka»: So werden die vielen Plattenbauten aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren genannt.

«Die Wohnungsfrage hat sie verdorben», schrieb Michail Bulgakow im Roman «Meister und Margarita» über die Moskauer. Auch heute gibt es in der russischen Hauptstadt kaum ein Thema, welches leidenschaftlicher diskutiert wird. Als Bürgermeister Sergej Sobjanin im Mai 2017 das grösste Abrissprogramm der jüngeren Geschichte ankündigt, strömen im ansonsten eher politikverdrossenen Land mehr als 20 000 Demonstranten auf die Strasse. Über eine Million Moskauer sollen in den kommenden Jahren umgesiedelt werden, die Kosten für das Projekt werden auf mehr als 55 Milliarden Euro beziffert. Betroffen sind Tausende fünfstöckige Plattenbauten aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren, die in Anlehnung an den kommunistischen Generalsekretär Nikita Surprise 426/18

Chruschtschow auch «Chruschtschowka» genannt werden. Doch auch ältere Gebäude aus der Stalin-Zeit, im Volksmund als «Stalinka» bezeichnet, stehen auf der Abrissliste. An ihrer Stelle entstehen teilweise gigantische Neubauten mit über 20 Stockwerken, die einige Viertel in Betonwüsten verwandeln werden. Viele Bewohner der Chruschtschowkas fürchten, dass ihre Interessen von der Regierung übergangen werden. In einem Staat, der erst seit wenigen Jahren das Recht auf Eigentum kennt, ist die Angst vor Enteignungen immer noch präsent. Ein im letzten Jahr verabschiedetes Gesetz soll den betroffenen Eigentümern das Recht zusichern, eine adäquate Ersatzwohnung gestellt zu bekommen. Doch viele Menschen betrachten den Abriss als Zwangs-

1600 Euro für ein Zimmer Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind die Eigentumsrechte zahlreicher Wohnungen, die zuvor in Staatsbesitz waren, an ihre Bewohner überschrieben worden. Für die Bevölkerung Russlands, der im Zuge der Jelzin­-Ära eine chaotische Umbruchphase bevorstand, war diese Privatisierung des Wohnraums eine willkommene Stütze. Doch wer heute ohne viel Eigenkapital nach Moskau ziehen will, kommt am hart umkämpften Mietmarkt nicht vorbei. Die hohen Mietpreise sind für viele Russen eine Herausforderung. Zugezogene aus wirtschaftsschwachen Regionen, Migranten aus Ex-Sowjetrepubliken und Studenten leben in Moskau unter harten Bedingungen. Der durchschnittliche Mietpreis für eine Einzimmerwohnung reicht von 380 Euro am Stadtrand bis zu 1600 Euro im zentral gelegenen Luxusviertel. Für einen grossen Teil der Russen ist Wohnraum in Moskau unbezahlbar. Nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat liegt der monatliche Durchschnittslohn von über 22 Millionen Beschäftigten in Russland (also 14,6 Prozent der Gesamtbevölkerung) unter dem festgelegten Existenzminimum von rund 150 Euro. Zwar sind die Löhne in Moskau höher als in den meisten Regionen des Landes. Doch davon profitieren vor allem Beschäftigte in traditionell starken Sektoren wie der Öl- und Gas-Branche; Berufsgruppen wie Lehrerinnen, Ärzte, Fahrer und Verkäuferinnen dagegen kämpfen mit niedrigen Löhnen und widrigen Arbeitsbedingungen. Sie leben häufig in Vorstädten und müssen täglich einen langen Arbeitsweg auf sich nehmen. Kurz vor der Präsidentschaftswahl im März 2018 erhöhte Präsident Putin den Mindestlohn und die staatliche Unterstützung für einkommensschwache Familien. Es bleibt jedoch fraglich, ob diese Massnahmen tatsächlich helfen. All diese sozialen und finanziellen Lasten wurden Juri (42), Andrej (43) und ­Sergej (40) irgendwann zu viel. Für sie war es keine Option mehr, sich tagtäglich dem harten Wettbewerb zu stellen. Der Überlebenskampf auf dem Arbeitsmarkt, das raue 15


Juri und sein Hase in der chaotisch, aber liebevoll eingerichteten Erdhütte zwischen Moskau und Jaroslawl.

Stadtleben und die hohen Mieten brachten sie dazu, nach alternativen Wohnformen zu suchen. Juri lebt in einer selbstgebauten Erdhütte an einer Schnellstrasse zwischen Moskau und Jaroslawl. Sergej wohnt gemeinsam mit einem Freund auf einem alten Kriegsboot auf dem Fluss Moskwa. Andrej schläft in der Werkstatt eines verfallenen Künstlerhauses aus vorrevolutionären Zeiten. Einen Kontrastpunkt dazu bilden Anna (23) und Artemi (33). Sie sind erfolgreiche Geschäftsleute und wohnen in einem luxuriösen Prachtbau im Moskauer Stadtzentrum.

Alte Computer, Bücher, Federn und Staub. 16

In der Erdhütte Juri (42) lebt in einer Erdhütte am Rande der Fernstrasse M8 zwischen Moskau und Jaroslawl. Als wir mit dem Auto a­ nkommen, Surprise 426/18


Mithilfe der Solarzellen auf dem Dach surft Juri im Internet. Er betreibt einen eigenen YouTube-Kanal mit 25 000 Abonnenten.

«Es war frustrierend, dass ein Grossteil des Gehalts in Moskau für die Miete draufging.» JURI

wartet er mit einem breiten Grinsen am Fahrbahnrand. Er hat filzige blonde Dreadlocks und einen langen roten Bart, trägt eine rosa Wollmütze und zerfledderte Lederschuhe. Sein treuer Begleiter, ein Hase mit weissem Fell, hüpft im Gras herum. «Lasst uns drinnen einen Tee trinken», sagt er freundlich. «Ich habe zehn Jahre in Moskau verbracht, dort mein Studium abgeschlossen, in einer Wohnung gelebt und als Jurist im Büro gearbeitet», erzählt er, als wir in seine Hütte eintreten. «Danach bin ich immer fauler geworden.» Es sei frustrierend gewesen, so Juri, dass ein Grossteil des Gehalts für die Miete draufging. Irgendwann verlor er seine Motivation : «Ich hatte immer weniger Geld und wollte auch keines mehr verdienen.» Schliesslich entschloss er sich dazu, Surprise 426/18

­ bdachlos zu werden. Lange Zeit dachte o er über seine Zukunft nach. Irgendwann entdeckte er in der Nähe einer Tankstelle ein Stück Land. Zunächst errichtete er dort eine Art Indianerzelt, das nach einem Unfall abbrannte. Darauf grub er über Jahre hinweg eine Erdhütte und richtete sie chaotisch, aber liebevoll ein: Zu sehen sind Hunderte Bücher auf schiefen Holzregalen, staubige Batiktücher, Büsten von Platon und Aristoteles, Teppiche mit orientalischen Mustern, Räucherstäbchen und Keramiktassen mit Tabakresten. Um den russischen Winter zu überleben, baute Juri einen Holzofen mit Banja, einem Dampfbad. Tagsüber surft er mithilfe von Solarzellen auf dem Dach im Internet. Überall kleben Sticker mit der Aufschrift «Nawalny 2018». Der russische Oppositionspolitiker

Alexej Nawalny ist für Juri der einzige Mann, der «gegen Präsident Putin aufstehen kann». Juri betreibt einen YouTube-Kanal mit über 25 000 Abonnenten. Dort gibt er Ratschläge, wie man den Alltag in der «Wildnis» überlebt, ohne Strom Kaffee kocht und Essen zubereitet. Aber der ehemalige Jurist erklärt dort auch, wie sich regierungskritische Demonstranten nach einer Verhaftung verhalten sollten. Kurz bevor Putin im Vorfeld der Wahlen die M8 überqueren sollte, statteten mehrere Polizisten Juri einen Besuch ab und forderten ihn dazu auf, einen Nawalny-Schriftzug mit Ausrichtung zur Schnellstrasse abzubauen. «Sogar um Banditen zu fangen, kommen in diesem Land weniger Bewaffnete», kommentiert Juri. Die Korruption in R ­ ussland 17


Lichtdurchflutetes Wohnzimmer auf der Moskwa.

«Wir leben so, wie wir leben. Und ich glaube, dass es uns auf dem Boot nicht schlecht geht.» SERGEJ

Sergej hat das alte Kriegsboot zusammen mit seinem Freund Dmitri wieder auf Vordermann gebracht.

stehe auch mit seiner persönlichen Situation in Verbindung. Er verstehe nicht, wie es sein könne, dass ein junger Mensch mit guter Ausbildung unter dem Existenzminimum leben müsse. Er hofft auf Veränderung: «Nawalny ist ein Symbol für den Wandel.» Im Kriegsboot Sergej (40) lebt auf einem alten Kriegsboot am Ufer der Moskwa. Vor vielen Jahren kaufte er den rostigen Metallkahn in ­Jaroslawl, brachte ihn über die Wolga nach Moskau und erfüllte sich damit einen Kindheitstraum. Gemeinsam mit seinem Freund Dmitri investierte er viel Geld, um das Boot auf Vordermann zu bringen. Heute sitzt er mit entspannter Miene auf dem Sonnendeck, raucht Zigaretten und 18

schwärmt von der Zukunft. «Wir wollen im Sommer auf die Krim. Unser Plan ist es, eine Anlegestelle zu mieten und Rundfahrten anzubieten. Wir haben so viel in dieses Boot gesteckt. Es wäre schön, wenn es sich eines Tages auszahlte», erzählt er mit kindlicher Aufgewecktheit. Für den völkerrechtlich umstrittenen Anschluss der Halbinsel Krim an Russland im Jahr 2014 ist Sergej der Regierung dankbar. «Wladimir ­Wladimirowitsch ist ein guter Kerl», lobt er Präsident Putin mit einer respektvollen Anrede, zusammengesetzt aus dessen Vorund Vatersnamen. «Egal ob in der Ukra­ine oder in Syrien, Putin ist der einzige Poli­ tiker, der weiss, was zu tun ist.» Am Bug des Boots weht die Flagge Russlands auf Vollmast. Doch der gesellschaftliche Zusammenhalt sei in der Sowjetunion besser

gewesen, findet Sergej. Er nennt diese Zeit «die hellen Jahre des Kommunismus»: «Ich sage das, weil meine Kindheit sehr abwechslungsreich war. Die Pionierlager zum Beispiel. Heute sitzen die Kinder nur noch vor dem Computer.» Doch er weiss selbst, dass er die Vergangenheit nicht zurückholen kann: «Wir leben so, wie wir eben leben. Und ich glaube, dass es Dmitri und mir auf dem Boot nicht schlecht geht.» Stolz spricht er über die selbstgebaute Banja unter Deck. Im Winter wird sie auf 100 Grad erhitzt und nach kurzem Lüften zum Schlafzimmer umgewandelt. Das Boot macht einen gemütlichen Eindruck: Es gibt zwei grosszügige Schlafkojen, flauschige Sofas, Sitzecken, eine geräumige Küche und hohe Fenster, die das Innenleben mit Licht durchfluten. Auf dem Fluss sei es Surprise 426/18


Künstler Andrej wohnt und arbeitet in einem alten Haus im Zentrum, in dem sich faszinierende Objekte und Bilder stapeln.

«Ich bin sehr froh, dass unser Protest etwas bewirkt hat und das Haus noch steht.» ANDREJ

­ esser als in der lauten und dreckigen b Stadt, so Sergej. Früher habe er bei täglichen Autofahrten durch Moskau einen halben Tag im Verkehr verloren und Geld für Benzin verschwendet. Nach Los Angeles gilt die russische Metropole als staureichste Stadt der Welt. 2017 verbrachte ein Moskauer Autofahrer durchschnittlich 91 Stunden im Stau. In der Natur hat Sergej einen Ausweg aus dem harten Alltag im kapitalistischen Russland gefunden. Er liebt die feuerroten Sonnenuntergänge, das Zirpen der Heuschrecken und die frische Luft beim Angeln. Im Künstlerhaus Andrej (43) lebt in einem Haus im Moskauer Stadtzentrum, das 1917 kurz vor der Oktoberrevolution gebaut wurde und Surprise 426/18

heute wie aus der Zeit gefallen wirkt. Die Eingangstür zum Atelier, das der Künstler gleichzeitig als Unterkunft verwendet, steht für Besucher immer offen. Als wir gegen Nachmittag eintreten, liegt Andrej auf seinem Bett. «Ich bin gerade aufgewacht.» Er sitzt mit nacktem Oberkörper am Bettrand und raucht eine Zigarette. Tattoos zieren die muskulösen Arme. Hinter der schwarzen Hornbrille wandern seine Augen unruhig durch den Raum. Die Bewegungen seines Oberkörpers wirken abgehackt und hektisch. Er nimmt eine Dose Kondensmilch vom Holztisch und verspeist sie mit einem Löffel. Wer bei Andrej eintritt, reist in eine Welt der Magie. Hier gibt es allerlei Faszinierendes zu entdecken: furchteinflössende Figuren mit Gasmasken, Zeichnungen von Fantasiewesen mit

erigierten Penissen, an den sozialistischen Realismus angelehnte Installationen, Knetund Farbkleckse an den Wänden, antike Möbel mit dicker Staubschicht, Schallplatten und Bücher. Eigentlich hätte das Haus, das nie ganz fertiggestellt wurde, in den 1990er-Jahren abgerissen und neu gebaut werden sollen. Doch das Gebäude, dessen Aussenfassade mit gotischen Ornamenten bestückt ist, steht unter Denkmalschutz. Der russische Maler Jewgeni Lansere, Mitglied der berühmten Künstlervereinigung «Mir ­Iskusstwa», arbeitete dort von 1934 bis 1946 in einer Werkstatt. Laut einer Legende gaben die Beatles in den 1960er-Jahren im Keller des Hauses ein geheimes Konzert für Leonid Breschnew. Nach einem Protest der anliegenden Bewohner, an dem 19


Die Einrichtung der Wohnung von Anna und Artemi im 13. Stock wirkt wie aus der Zeit gefallen.

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auch Andrej teilgenommen hatte, legte die Stadtverwaltung ihre Abrisspläne vorerst aufs Eis. «Ich bin sehr froh, dass es nicht abgerissen wurde.» Er glaubt, dass die moderne Architektur auf dem Grundstück, ähnlich wie an vielen historischen Orten der russischen Hauptstadt, ein kitschiges Ungetüm produziert hätte. Nur wenige Gehminuten entfernt befinden sich die Metro­-Station Lubjanka, Standort der ehemaligen KGB-Zentrale und heutiger Sitz des Inlandgeheimdiensts FSB, sowie das Hauptgebäude der renommierten Higher School of Economics. Die Gegend ist im Trend, Geschäftsleute und Touristen verbringen ihre Freizeit in modernen Cafés, Restaurants und Museen. Andrej weiss es zu schätzen, dass er im Gebäude gegen geringes Entgelt als Künstler arbeiten darf. Surprise 426/18


Eine der «Sieben Schwestern», die unter Stalin errichtet wurden und eine prächtige Aussicht auf Moskaus Zentrum bieten.

«Manche Menschen leben gut, manche leben schlecht. Dieses Gefälle wird es immer geben.» ANNA

Doch er weiss auch, dass es bloss eine Frage der Zeit ist, bis ein Investor das Gebäude abreissen lässt. In den Sieben Schwestern Nicht alle Bewohner Moskaus müssen sich über schwierige Arbeitsbedingungen und unverhältnismässige Wohnraumkosten den Kopf zerbrechen. Anna (23) und Artemi (33) leben in einer der «Sieben Schwestern», die im Auftrag Stalins erbaut wurden. «Die sieben Hochhäuser im Zuckerbäckerstil sind ein Symbol der Stadt, wenn nicht gar der Nation», sagt Anna. «Ihre Errichtung war eine sozialistische Machtdemonstration.» Das zwischen 1948 und 1954 entstandene Gebäude, in dem Anna und Artemi wohnen, liegt gegenüber der zentralen Metro-Station Barrikadnaja. Das Surprise 426/18

Viertel zählt zu den teuersten Wohngegenden Russlands. Der Blick aus dem Fenster in der 13. Etage offenbart einen herrlichen Blick auf die Skyline der Stadt. Das junge Paar gehört zu den Gewinnern der wilden Neunzigerjahre. Beide stammen aus einem wohlhabenden Elternhaus, ihre Ausbildung haben sie im Ausland genossen. Anna trägt legeres Make­-up und einen Lippenstift, der zu ihrem roten Abendkleid passt. Sie arbeitet als Managerin bei einem renommierten Staats­chor. In einer Zweizimmerwohnung lebt sie gemeinsam mit Artemi, dem Chef eines aufstrebenden Marketing-Unternehmens. Er trägt kurze Haare, einen Kinnbart, ein Hemd und orangefarbene Designerjeans. «Bis zum Roten Platz sind es nur zehn Minuten zu Fuss. Das ist eine sehr

bequeme Lage für Geschäftstreffen», sagt er. «Ohne seine Arbeit kann Artemi nicht leben», scherzt Anna. Sie serviert Schokolade und Tee auf einem Porzellanservice. Auf dem Tisch steht eine Vase mit einem Blumenstrauss in sanften Herbstfarben. Bücher, Ölmalereien und eine Ikone zieren ein Klavier aus edlem Holz. Der Stil der Wohnung wirkt wie aus der Zeit gefallen, ein Hauch von Biedermeier in einem Relikt der Sowjetunion. Die Wirtschaftskrise, die Russland 2014 aufgrund von Ölpreiszerfall, Rubelabwertung und Ukraine-Krise in eine tiefe Rezession stürzte, wollen Anna und Artemi in ihrem Umfeld nicht bemerkt haben. «Manche Menschen leben gut, manche leben schlecht», sagt Anna. «Dieses soziale Gefälle wird es immer geben, egal in welchem Land.» 21


FOTOS: SCHRAMM FILM/MARCO KRÜGER

Der deutsche Regisseur Christian Petzold schafft Figuren mit gespensterhafter Existenz. In «Transit» sind es Migranten.

«Kann einen die Liebe retten?» Kino Christian Petzold hat mit «Transit» Anna Seghers’ gleichnamigen

Roman verfilmt, der im Zweiten Weltkrieg spielt. Den Ort der Handlung, Marseille, hat er dafür im Hier und Heute belassen. INTERVIEW  MONIKA BETTSCHEN

Herr Petzold, «Transit» ist der Abschluss einer Trilogie. «Barbara» (2012) und «Phoenix» (2014) gehören dazu. Was hält die drei Filme zusammen? Ich habe diese drei Filme die «Liebes-Trilogie» genannt. Ich habe sie mit dem 2014 verstorbenen Filmemacher Harun Farocki geplant. Es wird ja immer so getan, als würde die Liebe alles heilen. Das wollten wir genauer anschauen. Ich glaube, dass Liebe eben nicht das Heilmittel ist, sondern die Bewegung, die Verführung, das Ausprobieren, der Fehler, die Schuld. Wir wollten untersuchen, wie sich die Liebe in Extremsituationen zeigt. Bei «Phoenix» war es der Nationalsozialismus, bei «Barbara» der sterbende Kommunismus in der DDR und bei «Transit» sind es das Exil und die Flucht. Wir wollten schauen, was die Liebe in einem solchen Ausnahmezustand bedeutet. Kann sie schützen? Einen retten? Oder ist sie etwas, das einen erst recht in den Untergang treibt? Und kann man sich Liebe eigentlich noch leisten? 22

Es ging Ihnen darum, die Extreme der Liebe auszuloten? Ja. Bei «Barbara» will die Figur nicht lieben, weil sie wegwill, und bei «Phoenix» nimmt es fast perverse Züge an, weil die Figur noch an die Liebe glaubt, obwohl sie verraten wurde. Und weil es nach den Nazis überhaupt keine Welt mehr für die Liebe gibt. Bei «Transit» versuchen Georg und Marie, sich in dieser Leere, in dieser Gespensterexistenz als Flüchtlinge irgendwie eine Erzählung zu geben, um wenigstens etwas zu haben. Wenn wir schon keinen Pass haben, so lieben wir uns wenigstens, sagen sie sich. Dieser Pragmatismus ist ebenso spürbar wie die Sehnsucht nach dem Menschlichen in einer feindseligen, fremden Umgebung. Die beiden schaffen es, in einer Situation, in der man überhaupt nicht mehr über so etwas nachdenken sollte, da es ja um die nackte Existenz geht, eine Liebeserzählung voller Sehnsucht, Surprise 426/18


Zärtlichkeit und auch Vergebung zu haben. Ausgerechnet als Illegaler lernt Georg, Mensch zu werden. Er beginnt, sich zu verantworten, selbstlos zu sein, ein gesellschaftliches Leben zu führen in einer Situation, in der er das eigentlich weder darf noch soll. Das hat mich schon in Anna Seghers’ Roman beeindruckt. «Transit» spielt in den Vierzigerjahren, Schauplatz ist aber dennoch das heutige Marseille. Diese Überlagerung der Zeitebenen ist mutig. Warum haben Sie keinen historischen Film gedreht? Weil es heute überall auf der Welt Flüchtlinge gibt und wir in einem Europa der Re-Nationalisierung leben. Ich wollte die Vergangenheit nicht nachbauen, denn diese Vergangenheit wirkt bis ins Jetzt hinein. Die Vergangenheit im Jetzt ist besonders präsent, als Georg eine Tür öffnet und ihm eine Gruppe nord­afrikanischer Flüchtlinge entgegenblickt. Wenn sich diese Tür öffnet, öffnet sich eine Tür zwischen zwei Zeiten. Es erlaubt einen Blick zu uns in ein heutiges Europa, wohin Menschen aus dem Maghreb, aus ehemaligen Kolonien, migrieren. Marie sagt, dass diejenigen, die verlassen, nichts hätten –  im Gegensatz zu jenen, die verlassen werden. In Bezug worauf sind denn die Verlassenen im Vorteil? Wer verlassen wird, hat Erzählungen und Lieder, um den Schmerz zu verarbeiten. Marie sagt, sie habe ihren Mann, den Schriftsteller Weidel, verlassen. Sie habe keine Musik, sie sei diejenige, die keine Kultur habe. Bei der Recherche zu meinem Film «Toter Mann» 2001 habe ich gemerkt, dass die Musikstücke – wenn es keine Tanzmusik ist – immer Liebeslieder für Verlassene sind. Es sind Trostlieder. Es gibt eine ganze Kultur des Trostes. Diesen Trost haben die Exilanten, die ihre Heimat verlassen müssen, nicht. Als ich in Marseille und in den anderen Städten der Provence für «Transit» recherchierte, tat ich dies im Wissen, dass in dieser Region sehr viele deutsche Exilanten, darunter viele Schriftsteller, zum Beispiel Hannah Arendt, Thomas Mann oder Hermann Kesten, gelebt hatten. Sie schufen dort aus dem Umstand heraus, dass sie ihre Heimat verlassen mussten und nichts mehr hatten, eine Exilkultur. Diese Gedanken haben uns bei der Recherche begleitet. Wie haben Sie sich an den Schauplatz Marseille herangetastet? Ich hatte die Konzeption, dass sich hier zwei Zeiten unter dem Aspekt der Flucht begegnen, von Anfang an. Als wir dann ­Marseille

«Ausgerechnet als Illegaler lernt Georg, Mensch zu werden.» CHRISTIAN PE T ZOLD

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Anna Seghers Text im Ohr, aber im Bild eine heutige Szene.

bereisten, haben wir die Stadt mit den sensiblen Augen eines Flüchtlings betrachtet. Wir haben nicht nur überlegt, wo wir drehen könnten, sondern auch, wo man sich verstecken könnte. Ich habe bemerkt, dass fast alle Drehorte Durchgangsorte sind, selbst die Pizzeria, wo sich im Film immer alle treffen. Vielleicht ist es das, was Hafenstädte ausmacht, dass sie Durchgangsorte sind und Orte der Vermischung. Flüchtlinge gehen dahin, weil sie dort existieren können, während man zum Beispiel in einer geschlossenen Kleinstadt auffällt und wahrscheinlich kaserniert wird. Sie haben Ihre Augen für tote Winkel geschult? Genau. Es gibt tote Winkel, es gibt Verstecke. Als wir die Fotos von Orten, die wir in Marseille gemacht hatten, nebeneinanderlegten, um den Drehplan zu erstellen, fiel uns auf, dass es überall im Hintergrund eine Art Durchgang hatte. Das sind keine ­Sackgassen, Höhlen, sondern Durchgangsorte, Fussgängerzonen, wo sich seltsamerweise auch Obdachlose immer hinlegen. Sie sind immer dort, wo die Menschen durchgehen, als ob sie da unsichtbarer wären und weniger auffielen als an anderen Orten. Interessant ist, dass in «Transit» nur jene Figuren die Exilanten wahrnehmen, die selber auch Migranten sind oder in Durchgangsorten arbeiten. Anna Seghers’ Roman, an dem sich mein Film orientiert, ist eine Ich-Erzählung, die in einer Pizzeria stattfindet. Ein Namenloser, der bei mir der Georg ist, erzählt einem anonymen Gegenüber eine Geschichte. Bars oder auch Pizzerien sind Transitorte, wo Leute 23


Sehnsucht im Exil: Georg (Franz Rogowski) und Marie.

«Transit» lebt von den Bildern der Durchgangsorte.

Kein sicherer Hafen Transit Petzolds Film ist eine sinnliche Geschichte, aber intellektuell konstruiert. kurz einkehren, ihre Geschichten erzählen und ­weitergehen. Die Einzigen, die Flüchtlinge wahrnehmen, sind Leute, die selber in Transitzonen leben, wie ein Barkeeper oder jemand, der im Vorzimmer eines Konsulats arbeitet. Nur dort haben Flüchtlinge so etwas wie eine Erkennungsmarke, einen Pass, eine Identität. Aber sonst werden sie von den meisten Menschen ignoriert beziehungsweise gar nicht gesehen, und das macht sie zu Gespenstern. Was fasziniert Sie so an Durchgangsorten? Es gibt von Marc Augé den schönen Text «Nicht-Orte». Darin geht es um den modernen Mann, der in den Boarding Zones unserer Welt lebt. Geschäftsleute, die ihr Gepäck abgeben und danach nur noch eine Visa Card, ihren Pass und die Boarding Card auf sich tragen. Boarding Zones, Flughäfen und Hotels sind die NichtOrte. Diese Geschäftsleute sind in einem gewissen Sinn verantwortungslos, weil sie nichts mehr mit sich herumtragen. Sie haben keinen Ballast an Schuld oder Liebe, sondern sind auf eine fürchterliche Art frei. Aber sie sind reich. Flüchtlinge sind ihnen gar nicht unähnlich, auch sie befinden sich in der Zeitlosigkeit und an Nicht-Orten, aber sie sind gefährdet, das ist der Unterschied. Flüchtlinge müssen, um in Bewegung bleiben zu können, Gepäck abwerfen, sie können nur das Wesentlichste mitnehmen. Das bezieht sich auf der emotionalen Ebene aber auch auf Erinnerungen und Gefühle. Zu viele Gefühle, zu viel Heimweh, zu viel Sehnsucht nach dem Verlorenen würde sie in ihrer Mobilität begrenzen, und deshalb fallen sie aus der Zeit heraus. Sie haben keine Vergangenheit mehr und sie dürfen auch nicht zu sehr auf die Zukunft hoffen, weil auch das sie langsam und unflexibel macht. Sie haben auch keine Gegenwart mehr, ausser einer gespenstischen. Man schaut, wo man etwas zu essen bekommt, wo man schlafen kann, wie man die nächsten Minuten und Stunden übersteht. Diese Ort- und Zeitlosigkeit des Flüchtlings, fand ich, ist eine Metapher für das Leben.­ 24

Der Deutsche Georg, gespielt von Franz Rogowski («In den Gängen»), flüchtet vor den Nazis nach Marseille und nimmt dort die Identität des toten Schriftstellers Weidel an. Bei den Dokumenten des Verstorbenen findet er eine Zusicherung der mexikanischen Botschaft für eines der raren Transitvisa, die die Überfahrt über den Atlantik ermöglichen. Doch begegnet Georg in Marseille ­Marie, Weidels Frau, die auf ihren Mann wartet und nicht weiss, dass dieser tot ist. Die zarte Liebesgeschichte zwischen den beiden Heimatlosen steht in hartem Kontrast zur Realität des Flüchtlingsalltags, in dem Liebe zum Luxus wird. «Transit» basiert auf dem gleichnamigen Roman von Anna Seghers aus dem Jahr 1944. Schauplatz in Christian Petzolds Film ist aber das heutige Marseille. Der Regisseur lässt das Gestern in diesem Drama geisterhaft mit dem Heute koexistieren, weshalb sich in den Verstecken der Stadt nicht nur deutsche Exilanten, sondern auch Migranten aus dem Maghreb finden. Der deutsche Regisseur Christian Petzold, geboren 1960, gilt als einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten Berliner Schule. Als Stilrichtung im deutschen Kino in den Neunzigerjahren entstanden, zeichnet sie ein karger visueller Stil mit knappen Dialogen aus, die Geschichten sind oft von einem Gefühl der Unsicherheit geprägt. Petzold gewann für «Die innere Sicherheit» 2001 den Deutschen Filmpreis für den besten Spielfilm und für «Barbara» 2012 den Silbernen Bären für die beste Regie. MBE Christian Petzold: «Transit», D/F 2018; 101 Min., mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese. Läuft zurzeit im Kino.

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Randnotiz

Falsche Vögel

Das nächste Kapitel

Buch In Wolfgang Hildesheimers Schelmenroman wird

das Spiel mit Fälschungen zum Gesamtkunstwerk.

Meine letzte Beziehung ist zu Ende geschrieben, ich wende das Blatt, bereit für das nächste Kapitel. Noch sind die Seiten leer, und ich denke, dass ich zum Weiterschreiben einen zweiten Protagonisten brauche, damit die Handlung wieder spannend wird. Bin ich etwa nur zufrieden an der Seite eines anderen? Ja, ich scheine unfähig, als Hauptfigur alleine weiterzugehen, und rette mich in die Arme eines Nächsten, damit es mit der Geschichte weitergehen kann.

Es gibt Adjektive, die man nicht steigern sollte. Weiss zum Beispiel. Weisser als weiss kann nichts sein, selbst wenn die Werbung gerne damit hausieren geht. Falsch ist auch so ein Wort. Eine Sache kann falsch sein, aber nicht noch falscher und schon gar nicht am falschesten. Und doch drängt sich dies bei der Lektüre von Wolfgang ­Hildesheimers «Paradies der falschen Vögel» geradezu auf. Denn dieser Roman von 1953, der in der Edition Büchergilde neu erschienen ist, treibt das falsche Spiel auf die Spitze. Herausgekommen ist dabei ein Fälscherroman, der nicht nur unterhaltsam ist, sondern auch auf wunderbar ironische Weise den Kunstbetrieb parodiert. Und damit noch nicht genug: Quasi als Bonus findet sich in der von Monika Aichele illustrierten Neuauflage eine von der Künstlerin als Buch im Buch beigefügte Enzyklopädie der falschen Vögel, in der sie ihre eigenen skurrilen Geschöpfe mit erfundenen Lexikoneinträgen ausstattet – und die Herkunft dieses Handbuchs sogar noch mit den Figuren des Romans verknüpft. Und was für schillernde Figuren dies sind! Der Erzähler ­Anton Velhagen, der schon als Kind seine erste Fälschung produziert – und seit einem Grenzzwischenfall unter falschem Namen lebt. Tante Lydia, die ihren lückenhaften Stammbaum durch repräsentative Vorfahren samt fiktivem Friedhof aufpeppt. Der Geliebte der Tante,

Das Gegenüber soll körperlich anziehend sein, schlussendlich ist Sexualität nicht unwichtig. Es muss Austausch auf intellektueller Ebene geben. Ich will durch ihn Unterstützung erfahren, Zuverlässigkeit geniessen. Und ich sollte ihn den Eltern vorstellen können. Ich muss gespiegelt werden, damit ich mich selbst erkennen kann. Ich glaube zu wissen, dass ich nach Sicherheit verlange, doch diese fordert auch Verantwortung von mir. Bin ich erwachsen genug geworden, oder mache ich wieder dieselben Fehler wie im letzten Kapitel? Ich habe aus meinen Fehlern gelernt, doch kann ich das Gelernte auch umsetzen? Ich glaube zu spüren, dass das Gegenüber Harmonie, Sicherheit und Raum braucht. Genau danach suche ich auch. Doch gleichzeitig will ich Drama, Leidenschaft und Reibung. Kann ich die nicht ausserhalb der Beziehung suchen? Sodass diese zum Fels in der Brandung wird? Ich möchte die Ruhe auf der Insel aushalten können, die Harmonie. Und mich nicht gleich gelangweilt zeigen, um immer wieder zu zerstören, was länger schöner sein kann. Ich brauche Selbstbewusstsein, um im Partner kein Spiegelbild mehr zu suchen, und Sicherheit durch das be­ freiende Gefühl, dass ich nicht nur in Begleitung ganz bin. Ich will den Genuss des Moments erkennen und aus­ kosten lernen, und die hoffentlich neu erwachte Stärke geniessen, für die mein Comeback stehen soll. Ich will ehrlich zu mir selber sein, indem ich aktiver herausfinden will, was ich fühle, und anschliessend die Gefühle offen kom­ munizieren. Ich will lernen, meine Liebe auszudrücken.

FLORIAN BURKHARDT war Sportler, Model und Internetpionier. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert. Sein neuer Roman heisst «Das Gewicht der Freiheit» und ist im Wörterseh-Verlag erschienen.

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BILD: ZVG

Es ist viel, was ich mir vornehme, aber ich will nicht, dass sich die Geschichte aus dem vorigen Kapitel wiederholt.

ein Fälscher frühbyzantinischer Vasenmalerei, der als Alibi-­ Hauslehrer des jungen Velhagen die Historie verdreht, wie es ihm in die Lebensweisheiten passt. Und schliesslich das eigentliche Genie der Familie, Robert ­Guiscard, der «König der Fälscher», der vor nichts zurückschreckt, weder vor der Mona Lisa, die er schon als Student kopiert, noch vor einem Holbein, Rubens oder Rembrandt. Spätestens mit dem Auftritt dieser illustren Gestalt wird der Roman zum rasanten Abenteuer, das in einer Fälschung kulminiert, die man als «Gesamtkunstwerk» bezeichnen muss. Denn nachdem es Robert Guiscard in die – natürlich fiktive – Procegovina verschlagen hat (wobei eine schöne Möchtegern-Spionin und ein abge­ hängtes Zugabteil entscheidende Rollen spielen), ergreift er die Gelegenheit beim Schopf und erfindet den barocken Maler Ayax Mazyrka, den procegovinischen Rembrandt, und dazu auch gleich noch den Kunsthistoriker, der die Biografie des Malers schreibt. Das und noch viel mehr an Ereignissen und Schicksalswendungen ist von «erstaunlicher wissenschaftlicher Fantasie». Diese herrlich widersinnige Defi­ nition, mit der Hildesheimer die Biografie Ayax Mazyrkas charakterisiert, trifft nicht weniger auf die blühende Fantasie zu, mit der Hildesheimer selbst seinen Schelmenroman geschrieben hat. CHRISTOPHER ZIMMER

Wolfgang Hildesheimer: Paradies der falschen Vögel. Illustriert von Monika Aichele. Edition Büchergilde 2017. CHF 38.90

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BILD(1): DOMINIK ASCHE, BILD(2): SCHLOSS LA SARRAZ, BILD(3): PETER MOSIMANN, BILD(4): MKB, OMAR LEMKE, BILD(5): JOSETTE RISPAL «LA CHIFFONNETTE NO 243»

Veranstaltungen Basel «Die Welt in Basel», Hörausstellung, Fr, 8. bis Fr, 29. Juni, und Sommerfest, Fr, 8. Juni, ab 18.30 Uhr, Grosser Saal, Kultur- und Begegnungszentrum Union, Klybeckstrasse 95, Basel. Weitere Ausstellungsstationen und Online-Radio: www.zuhoeren-schweiz.ch/oar

Das schrille Klingeln des Tram, Motorfahrzeuge, Stimmengewirr, Kinderrufe oder Vogelgezwitscher und Blätterrauschen im Wind – wie klingt das eigene Zuhause? Beim Projekt «Ohren auf Reisen» von Zuhören Schweiz gestalten Jugendliche und Erwachsene unterschiedlicher Herkunft Audio-Collagen und Radiobeiträge zu typischen und besonderen Klangerlebnissen in ihrem früheren oder gegenwärtigen Zuhause, darunter auch Mitglieder des Surprise Strassenchors. WIN

Jegenstorf «Unsere Frauen. Im Schloss gelebt, gedient, gehütet», Ausstellung, Di bis Sa, 13.30 bis 17.30 Uhr, So 11 bis 17.30 Uhr, bis 14. Oktober, Schloss Jegenstorf, per Bahn ab Bern ca. 15–20 Min. www.schloss-jegenstorf.ch

Wo ein Schloss ist, sind viele Frau­ enrollen. Hier flanierten die Damen aus dem gehobenen Bürgertum und dem Patriziat und auf der an­ deren Seite arbeiteten hier die Kö­ chinnen, Dienstmädchen und Wä­ scherinnen. Das Schloss Jegenstorf schöpft aus der eigenen Geschichte und stellt die Frauen ins Zentrum,

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die mit dem Schloss einst tatsäch­ lich in Zusammenhang standen. In ihnen spiegeln sich der Alltag und die Stellung der Frau in den vergangenen Jahrhunderten. Auch vertreten: Spionin Katharina von Wattenwyl und die 2017 fast hun­ dertjährig verstorbene Marthe ­Gosteli, Schweizer Frauenrecht­ lerin der ersten Stunde und Grün­ derin des Gosteli-Archivs, dem eigentlichen Gedächtnis der Schweizer Frauengeschichte. DIF

Bern «Re/public – Öffentliche Räume in digitalen Zeiten», Ausstellung, Mo, 14 bis 18 Uhr, Di bis Fr, 10 bis 18 Uhr, Sa, 10 bis 16 Uhr, bis 7. Juli, Polit-Forum Bern, Markt­ gasse 67, Bern. www.polit-forum-bern.ch Wer bestimmt die Nutzung des öffentlichen Raumes? Was den Marktplatz in der eigenen Stadt angeht, ist die Sache ja vielleicht relativ simpel. Aber was ist mit Facebook und Co.? Mit den digi­ talen öffentlichen Räumen? Be­ stimmen da die Nutzer, wie im selbst verwalteten Speakers’ Cor­ ner? Oder ist der digitale Markt­ platz doch eher die Business-Zone

grosser Unternehmen, die hier das Sagen haben? Begleitend zur Aus­ stellung gehen Podiumsdiskussi­ onen Fragen nach wie: «Sind Wahrheit und Demokratie die Op­ fer der digitalen Transformation?» (Do, 14. Juni, 18.30 Uhr) oder «Gibt es überhaupt noch Freizeit in der ‹always on›-Kultur?» (Do, 28. Juni, 18.30 Uhr). DIF

Gelterkinden «Flüchtlingstag – MitenandFescht», Sa, 16. Juni, 16 bis 21 Uhr, Begegnungsplatz vor der katholischen Kirche, Gelterkinden BL. www.fluechtlingstage.ch Zum nationalen Flüchtlingstag wird in Gelterkinden getanzt und gesungen, getrunken und geges­ sen. Die Einnahmen kommen der Flüchtlingsarbeit zugute. Zuerst tritt eine kurdische Tanztruppe als Act auf – aber Achtung, bei ihrem zweiten Auftritt dürfen Sie bereits mittanzen. Courage kann man vor­ her eine Stunde lang mit Songs vom Surprise-Chor tanken. DIF Basel «125 Jahre Museum der Kulturen», Gesprächsreihe «Ethnologie fassbar»: «Geschenkt, gekauft oder mitgenommen?», Mi, 6. Juni 2018, 18.15 bis 19.45 Uhr; «Picknick-Konzert», So, 10. Juni, 11 bis 12 Uhr, Museum der Kulturen Basel, Münsterplatz 20, Basel. www.mkb.ch

Das Museum der Kulturen feiert Geburtstag – was bedeutet, dass viel los ist. Wir würden als Erstes am Mittwoch, 6. Juni, beim Vortrag «Geschenkt, gekauft oder mitge­ nommen?» erfahren wollen, wieso Missionare und Missionarsschwes­ tern von ihren Reisen ausgerechnet

chinesische Ehrenschirme und Opiumpfeifen mit nach Hause brachten. Und dann würden wir am Sonntag, 10. Juni, endlich die Picknickdecke hervorsuchen und uns im Museumshof nieder- und von Johan de Meij ins Auenland tragen lassen. Der holländische Posaunist und Komponist schrieb seine 1. Sinfonie «The Lord of the Rings» nach Tolkiens Fantasy-Tri­ logie und beglückt uns zusammen mit dem Brass-Ensemble des Sin­ fonieorchester Basel. DIF

Zürich «Woman Outsider», Ausstellung, Mi bis So, 14 bis 18 Uhr, bis 30. September, Musée Visionnaire, Predigerplatz 10, Zürich. www.museevisionnaire. wordpress.com

Neun Mal Frau – in der Kunst, in der Gesellschaft. Das Musée Vision­ naire zeigt Werke von neun Frauen und thematisiert ihre selbstge­ wählten oder aber aufgezwunge­ nen Aussenseiterrollen. Die Künst­ lerinnen scheren sich weder um gesellschaftliche Normen noch um traditionelle Kunstbegriffe, leben in kaum zugänglichen eigenen Welten oder nehmen gar eine fremde Identität an. Passion oder schmerzerfüllte Leidenschaft be­ stehen hier für einmal aus Samen­ kapseln und Schneckenhäusern, aus Fläschchen, Perlen und ande­ rer materialisierter Wahrnehmung der Welt. DIF

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 11

Leere Drohungen Was bisher geschah: Kriminalpolizistin Vera Brandstetter wartet in ihrem Büro auf die Witwe des Mordopfers, das in der Nähe ihres Wohnortes gefunden wurde. Da die Frau nichts über die in der Wohnung gefundenen Waffen und das Bündel Bargeld erzählen wollte, wird es Zeit, etwas Druck aufzusetzen. Punkt zehn Uhr brachte ein Uniformierter Olena Schwander in Vera Brandstetters Büro. Der junge Beamte wollte gar nicht mehr gehen. Falls die Witwe bald wieder heiraten wollte, hätte er sich mit Begeisterung zur Verfügung gestellt. Sie war die Traumfrau für Männer ohne Fantasie, fand Brandstetter. Hübsch, blond, blaue Augen, gute Figur, lange Beine, perfekt zurechtgemacht. Heute trug sie enge Jeans - ohne Löcher -, einen blauen Pulli mit aufgenähten Strass-Steinen, die den Namen eines Luxuslabels bildeten, eine kurze hellbraune Lederjacke, ein Handtäschchen, dessen Verschluss vom goldenen Logo einer weiteren Edelmarke gebildet wurde. Brandstetter verscheuchte den stieräugigen Uniformierten und bat Frau Schwander Platz zu nehmen, während sie selber stehen blieb. Olena Schwander setzte sich steif auf die Vorderkante des Stuhls und betrachtete das Geld, das Brandstetter auf dem Schreibtisch ausgelegt hatte. «Was können Sie mir dazu sagen?» Brandstetter stützte sich auf die Tischplatte. Süssliches Parfüm stieg ihr in die Nase, sie bewunderte das kunstvoll aufgetragene Wangenrouge. Wie lange die Frau wohl brauchte, um sich am Morgen zurechtzumachen? Bestimmt war sie jeweils vor ihrem Mann aufgestanden, um ihm dezent geschminkt das Frühstück zu servieren. Olena blieb stocksteif sitzen, erschrak nicht, wich nicht zurück. Die Situation schien ihr nicht neu zu sein. Hatte Sie schon öfter mit der Polizei zu tun gehabt? In ihrem Heimatland vielleicht? «Ist Ihnen eingefallen, wer Ihren Mann umgebracht haben könnte?» «Nein. Ich weiss nicht.» Brandstetter schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. «Woher stammt das Geld? Warum hat er es versteckt?» «Ich weiss nicht.» Brandstetter schüttelte genervt den Kopf. «So kommen wir nicht weiter.» Sie ging um den Tisch, liess sich in ihren Bürostuhl ­fallen und sah zur Decke. Surprise 426/18

«Warum haben Sie keine Kinder?» Es war nicht fair, diese Frage zu stellen. Sie war ihr selber oft genug von Leuten gestellt worden, die das einen Dreck anging. Doch sie musste Olenas Verteidigungswall knacken, sie aus dem Konzept bringen. Da sie nicht gleich antwortete, doppelte Brand­ stetter nach: «Sie sind doch für die traditionelle Rollenverteilung. Was gibt es Traditionelleres als die Mutterrolle?» «Ich bin Mutter», antwortete Schwander trotzig. «Ich habe einen Sohn, er ist sechzehn, er lebt in der Ukraine.» «Wusste Ihr Mann davon?» Brandstetter merkte, dass die Methode wirkte. In dem Blick, der sie traf, lagen Schmerz und Wut. «Natürlich, wir wollten Bohdan zu uns holen, aber das ist nicht so einfach.» «Entschuldigen Sie. Ich habe mich ungenau ausgedrückt. Ich wollte wissen, warum Sie mit Ihrem Mann keine Kinder hatten.» Treffer. Tränen schossen in die Augen von Frau Schwander, geborene Rudenko. «Er wollte keine in diese Welt setzen», sagte sie leise. «Sie war ihm zu schlecht.» «Woher stammt das Geld?» Brandstetter wechselte das Thema, in der Hoffnung, die Gefühlsregung ausnutzen zu können. «Handelt Ihr Mann mit Drogen? Mit Waffen? Schickt er Sie auf den Strich?» Es war die falsche Taktik. Olena Schwander machte sofort wieder zu. Brandstetter stand wieder auf. «Sie sind seit zwei Jahren verheiratet, Sie haben keinen Job, kein Einkommen, keine Kinder. Was glauben Sie, wie schnell Sie zurück in der Ukraine sind, wenn Sie nicht gewillt sind, mit der Polizei zu kooperieren?» «In der Ukraine herrscht Krieg. Mein Sohn kann bald ins Militär eingezogen werden ...» «Ach was. Das EDA schätzt die Lage anders ein, die Ukraine ist kein Kriegsgebiet», unterbrach Brandstetter. «Das EDA ist unser Aussenministerium. Stimmt, das wissen Sie nicht, Sie mussten ja nicht zur Einbürgerungsprüfung. Wäre auch Zeitverschwendung gewesen, denn wenn Sie erst mal aus der Schweiz draussen sind, kommen Sie so schnell nicht mehr rein. Landesverweis nennt sich das und wird sehr schnell ausgesprochen.» Sie wusste, dass das Quatsch war, aber Frau Schwander wusste es offenbar nicht. «Er hat das Geld ...», begann sie. Dann zögerte Olena. STEPHAN PÖRTNER schreibt Romane und Theaterstücke. Wer eine oder mehrere Folgen seines Krimis «Agglo-Blues» verpasst hat, kann sie auf unserer Webseite nachlesen oder auch hören: www.surprise.ngo|krimi

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Echtzeit Verlag, Basel

02

Maya-Recordings, Oberstammheim

03

Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

04

Scherrer & Partner GmbH, Basel

05

Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

06

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

07

Lotte’s Fussstube, Winterthur

08

Cantienica AG, Zürich

09

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

10

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Kaiser Software GmbH, Bern

12

Coop Genossenschaft, Basel

13

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

14

Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel

15

Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

16

VXL gestaltung und werbung AG, Binningen

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Burckhardt & Partner AG, Basel

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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

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SM Consulting, Basel

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Holzpunkt AG, Wila

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Praxis Colibri, Murten

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

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Hervorragend AG, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise BILD: SIMON STÄHLI

#421: Wenn die Liebe das Polareis zum Schmelzen bringt

«Überhaupt nichts reflektiert»

Liebe Bernburger, wir danken Euch! Für den «den langjährigen Einsatz für sozial benachteiligte Menschen» verlieh die Burgergemeinde Bern Surprise Ende April den Sozialpreis 2018. Die mit 50 000 Franken dotierte Auszeichnung würdigt damit den «wichtigen sozialen Beitrag an die Schweizer Gesellschaft». Wir danken ganz herzlich. Das Preisgeld kommt der Regionalstelle Bern von Surprise zugute und wird insbesondere für die Schulung von Verkaufenden sowie die Rekrutierung neuer Verkaufender eingesetzt. Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99
 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Georg Gindely (gg) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Thorsten Gutmann, Mario Heller, Sophie Stieger Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

H. GERIG, Zürich

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon

Auflage  23 100

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Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr

Datum, Unterschrift

Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Der Artikel von Conradin Zellweger über das Fliegen war eine echte Enttäuschung. Er tut nichts anderes, als oberflächliche Ausreden und tausendmal gehörte, verschiedene Formen von Entschuldigungen aufzulisten. Diese «lustigen» Vergleiche zwischen Eierschalen kompostieren und Fliegerei, das generelle Zustimmen, es sei halt einfach zu billig, und das obligate «ich weiss ja, dass man nicht fliegen sollte». Fazit ist, dass es den meisten Leuten eigentlich eben scheiss­egal ist. Inklusive Autor. Dann soll er das wenigstens schreiben. Und nicht mehrere Seiten PseudoRef­lex­ion, die seinen jung-urbanen Kollegen ein gutes Gefühl gibt.

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Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Surprise, Spalentorweg 20, CH-4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@surprise.ngo

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FOTO: TOBIAS SUTTER

Surprise-Nachruf

Erinnerungen an Anita Pfister *20. Februar 1960 bis †6. Mai 2018

Wenn Anita Pfister das Surprise-Büro in Zürich betrat, wurde es laut und lustig. Fast immer hatte sie einen Spruch auf den Lippen, und sie verströmte eine positive Energie, die den Raum erfüllte. Anita war ein treuer Gast: Mindestens einmal in der Woche kam sie vorbei, meistens häufiger. Nun wird sie uns nicht mehr besuchen. Sie ist am 6. Mai in ihrer Wohnung in Adliswil gestorben. Ganz überraschend kam ihr Tod nicht. Im letzten Jahr hatte sich ihr Gesundheitszustand aufgrund der jahrelangen Einnahme von Medikamenten, des starken Rauchens, einer Diabetes und des immer höheren Alkoholkonsums massiv verschlechtert. Die Medikamente musste Anita gegen ihre Schizophrenie nehmen, die vor mehr als 35 Jahren diagnostiziert worden war. Bevor die Krankheit auftrat, durchlebte Anita eine glückliche Kindheit. Sie war eine gute Schülerin und besuchte anschliessend mit Begeisterung das Lehrerseminar. Doch die Schizophrenie veränderte sie und warf sie aus der Bahn. Jahrelange Heilungsversuche in der Psychi­ atrie blieben erfolglos, und Anita litt unter den starken Nebenwirkungen der Medikamente. Erst als ein neues Mittel auf dem Markt kam, das sie besser vertrug, konnte sie ein Leben ausserhalb der Klinik führen. Zehn Jahre lang lebte sie in einer therapeutischen Wohngemeinschaft in Zürich-Oerlikon. In dieser Zeit begann sie, Surprise zu verkaufen. Ihren Standplatz hatte sie vor dem Coop beim Tiefenbrunnen im Seefeld. Anita kleidete sich gerne extravagant, war charmant und schlagfertig. Zu ihren Stammkunden gehörten, erzählte sie selber, Prominente wie Yello-Sänger und Unternehmer Dieter Meier. Das Seefeld war ein gutes Pflaster für Anita: Es kam vor, dass ein Käufer das Heft mit einer Hunderternote bezahlte und kein Rückgeld wollte. Anita war stolz, wenn sie einen guten Tag im Verkauf hatte. Sie hatte ihre Tricks. Es gab Menschen, die dachten, Anita würde Hundeguetsli essen, weil ihre Manteltaschen manchmal damit vollgestopft waren. Doch die Guetsli brauchte sie nicht für sich, sondern für die Hunde, die von ihren Besitzerinnen und Besitzern während des Einkaufs vor dem Coop angeleint wurden. Anita hatte Hunde gern, kümmerte sich um die Tiere und 30

Mit ihr wurde es oft laut und lustig: Anita Pfister beim Fotoshooting für den Surprise-Jahresbericht 2014. Nun ist sie leider für immer verstummt.

gewann so ihre Gunst – und dadurch auch diejenige ihrer Besitzer, die ihr als Dank für die Hundebetreuung noch so gerne ein Heft abkauften. Anita liebte es, mit den Menschen auf der Strasse und im Surprise-Büro zu plaudern und zu lachen. Die sozialen Kontakte taten ihr gut. Einer der Höhepunkte für Anita war, als ein Foto von ihr das Titelbild des SurpriseJahresberichts 2014 zierte. Nachdem sie die Wohngemeinschaft in Oerlikon verlassen musste, lebte sie eine Zeit lang bei ihrer Mutter in Adliswil. Vor zwei Jahren fand sie mithilfe ihrer Familie eine Wohnung in einer Einrichtung des Begleiteten Wohnens in Adliswil, wo sie selber haushaltete. «Das waren die zwei besten und glücklichsten Jahre seit Beginn ihrer psychischen Erkrankung», schrieb ihre Mutter im Nachruf für die Trauerfeier. «Auch deshalb, weil ihr die Arbeit als Surprise-Verkäuferin so viel Freude machte. Sie war beim Vertrieb und bei ihren Stammkunden sehr beliebt.» Das war sie. Wir werden Anita vermissen. Von GEORG GINDELY

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GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2018! Die Strassenfussball-Nationalmannschaft nimmt im November 2018 am Homeless World Cup in Mexiko-Stadt teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler auch in diesem Jahr ihren Gegnern zum Handshake handgemachte Fanschals. Machen Sie mit! Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und – Sie hätten es erraten - in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht! Die Spieler unserer Nati werden den schönsten Schal küren – der Gewinnerin oder dem Gewinner winkt ein attraktiver Überraschungspreis!

Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens 15. Oktober 2018 an: Surprise | Strassenfussball | Spalentorweg 20 | CH-4051 Basel INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1

Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und aufSurprise die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. 423/18 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: 12-551455-3 | IBAN CH11 1 0900 0000 1255 1455 3 INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 PC 09.05.17 15:43 Seite

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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbar Volière, Inseli Park IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


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