Surprise Nr. 427

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Strassenmagazin Nr. 427 15. bis 28. Juni 2018

CHF 6.–

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Bosnien

Vermintes Land Wie vier ehemals Verfeindete mit der Vergangenheit aufräumen Seite 8


GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2018! Die Strassenfussball-Nationalmannschaft nimmt im November 2018 am Homeless World Cup in Mexiko-Stadt teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler auch in diesem Jahr ihren Gegnern zum Handshake handgemachte Fanschals. Machen Sie mit! Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und – Sie hätten es erraten - in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht! Die Spieler unserer Nati werden den schönsten Schal küren – der Gewinnerin oder dem Gewinner winkt ein attraktiver Überraschungspreis!

Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens 15. Oktober 2018 an: Surprise | Strassenfussball | Spalentorweg 20 | CH-4051 Basel

HAUPTSPONSOR DER SURPRISE STRASSENFUSSBALLLIGA Ein attraktives und erfolgreiches Fussballspiel braucht eine geschickt zusammengesetzte Mannschaft. Die Vielfalt prägt die Stärke einer Mannschaft massgeblich mit. Ausgrenzung schwächt ein Team. Surprise unterstützt Menschen in sozialen Schwierigkeiten und will mit der Kraft des Strassen-Fussballs ihr Selbstvertrauen stärken. Die Swiss Football League trägt dieses Engagement gerne mit. Claudius Schäfer CEO SFL

“ Foto: Ruben Hollinger


TITELBILD: JAN BAUMGARTNER

Editorial

Jeder braucht Schutz Ich weiss noch, wie meine Eltern geschimpft haben, wenn ich als Kind wieder einmal den Hausschlüssel verloren hatte. Da sie nicht alle Schlösser auswechseln konnten (zu teuer), ging jeder Verlust mit einem gewissen Anstieg an Unsicherheit einher. Was, wenn jemand den Schlüssel findet, weiss, dass er zu unserem Haus gehört, und nun Zutritt hat? Meist fand sich das verlorene Stück später irgendwo im Garten wieder. Die Verunsicherung aber blieb, seltsamerweise. Sicherheit ist ein existenzielles Bedürfnis. Die vier Männer aus Bosnien, deren Job es ist, unter Einsatz ihres Lebens Minen zu räumen, wissen allerdings kaum noch, was das ist: Sicherheit. Doch es ist nicht ihre Arbeit, die ihnen diese geraubt hat. Es war der Krieg davor. Ihr hochgefährlicher Job hingegen hat möglicherweise sogar heilende Aspekte: Denn die Teamkollegen stammen aus ehemals verfeindeten Lagern. Heute sind sie gezwungen, einander täglich ihr Leben anzuvertrauen, ab Seite 8.

4 Aufgelesen

16 Lilian und Heiko

Verliebt und obdachlos

Lilian Senn und Heiko Schmitz können sich ebenfalls nur schwer an ein Leben in Sicherheit erinnern. Zu viel haben sie verloren, zu viele Jahre auf der Gasse verbracht. Über die Sozialen Stadtrundgänge von Surprise sind sie einander nähergekommen. Und haben Stück für Stück miteinander neu aufgebaut, was kaputtgegangen war: Liebe, Vertrauen und Geborgenheit. Nur ein gemeinsames Dach über dem Kopf fehlt dem Paar weiterhin, ab Seite 16. Im Strassenverkehr ist Sicherheit vor allem für Velofahrerinnen und Velofahrer ein brisantes Thema. In der Schweiz verloren letztes Jahr 37 Menschen bei einem Velounfall ihr Leben. Andernorts setzt man den auf diese Weise tödlich Verunglückten mit weiss angemalten, geschmückten Zweirädern ein Denkmal. Als Warnung für andere und für mehr Sicherheit, ab Seite 20.

SAR A WINTER SAYILIR Redaktorin

24 Kultur

Allein auf der Bühne

5 Vor Gericht

Angriff in Unterwäsche

30 Surprise-Porträt

«Ich liebe alles Lebendige»

25 Buch

Doppelgänger 6 Challenge League

Nur knapp entkommen

26 Veranstaltungen 27 Fortsetzungsroman

7 All Inclusive

Theorie und Praxis 20 Geistervelos 8 Bosnien

Vier Feinde im Minenfeld

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Weisse Warnungen

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

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Aufgelesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

BILDER: MIRIAM DEPREZ

Kleine Lebensretter Kambodscha gehört wie Bosnien (siehe Seite 8) zu den am stärksten verminten Ländern der Welt. Um die Sprengsätze zu finden, stehen in dem asiatischen Land seit Kurzem speziell trainierte Ratten im Einsatz. Die Nager werden neun Monate lang darauf trainiert, den Sprengstoff zu erschnüffeln. Die Arbeit ist für sie ungefährlich, weil sie zu leicht sind, um die Minen auszulösen. Sie durchsuchen ein Areal in zwanzig Minuten, für das ein Mensch mit einem Metalldetektor vier Tage braucht. Die Ratten halfen bereits mit, Mosambik minenfrei zu machen. THE BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE

Weltmeisterliche Strassenkinder

THE BIG ISSUE, LONDON

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BILD: ZVG

Vor der Fussball-WM fand in Moskau der Street ch alle Child World Cup statt. Dort messen sich vier Jahre 24 Teams aus aller Welt, die aus Strasen sind senkindern bestehen. Die Teilnehmenden n von Hilfszwischen 14 und 16 Jahre alt und wurden assenkindern organisationen ausgewählt, die mit Strassenkindern arbeiten. Dieses Jahr gewann Brasilien bei den tan den Titel. Mädchen, bei den Buben holte Usbekistan

Surprise Sur Su S urrpri u prrri p rise is se e 427/18 427 427 42 27/1 /18 /18 18


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Immer länger arbeitslos

Hartz-IV-Empfänger bleiben immer länger ohne Job: 2017 lag die Dauer im Schnitt bei 650 Tagen Arbeitslosigkeit, knapp 100 mehr als noch 2011. Die deutsche Regierung will deshalb in den kommenden vier Jahren vier Milliarden Euro für «Qualifizierung, Vermittlung und Reintegration» Langzeitarbeitsloser bereitstellen – genug für bis zu 150 000 Menschen, ein knappes Sechstel der Betroffenen.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Zweitjob notwendig

Immer mehr Arbeitnehmende in Deutschland sind auf einen Zweitjob angewiesen. Ihre Zahl lag letztes Jahr bei 3,26 Millionen, 2004 waren es noch knapp unter 2 Millionen Mehrfachbeschäftigte. Gleichzeitig stieg die Zahl der Fehl- und Krankheitstage zwischen 2012 und 2016 um mehr als 50 Prozent. 2012 fehlten Arbeitnehmer aufgrund von Belastungsstörungen 10,5 Millionen Tage, 2016 waren es 16,9 Millionen.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

Bettelverbot für Kinder Bett

Dres Dresden hat das Betteln von und mit Kindern K unter 14 Jahren untersagt. Grüne und Linke stimmunter gegen das Verbot, weil es ten g bettelnde Kinder und deren Eltern bette kriminalisiere. Die Argumenkrim tation der Befürworter, das Verbot tatio diene dem Kindswohl, sei vorgeschoben, fanden die Gegner. Denn gesch wenn die Eltern die Kinder nicht mehr zum Betteln mitnehmen dürfen, müssen sie diese öfter sich dürfe selbst überlassen. selbs

DROBS, DRESDEN DROBS

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Vor Gericht

Angriff in Unterwäsche Landauf, landab beklagt die Polizei die zunehmende Aggressivität in der Bevölkerung gegenüber Angestellten des öffentlichen Dienstes. Rund 3100 Verurteilungen wegen Gewalt und Drohungen gegen Behörden und Beamte zählten die Statistiker letztes Jahr – eine davon betraf die Beschuldigte in diesem Fall. Das Bezirksgericht Bülach hatte sie wegen einer Spuck- und Trittattacke gegen Polizisten schuldig gesprochen. Nun wollte sie vor dem Obergericht «die Wahrheit», wie sie sagt. Sprich: einen Freispruch. Die Lastwagenchauffeurin war damals auf dem Weg unter die Dusche, als sie durch das Fenster sah, wie ihr jüngerer Sohn vor dem Haus verhaftet wurde. Nicht zum ersten Mal, auch an diesem Tag Ende März 2016, war die Polizei im Rahmen von Ermittlungen im Drogenmilieu gekommen. Dazu sagt die Angeklagte leicht säuerlich: «Die Mutter ist doch immer die Letzte, die es glauben will.» Augenblicklich war sie losgerannt, in BH und Slip, ihr älterer Sohn hintendrein. Auf der Strasse kreischte sie: «Puta!» und gestikulierte wild vor den vier Polizisten herum. Die Beamten versuchten noch, die Brasilianerin zu beschwichtigen, da rastete der ältere Sohn aus. Und zwar so, dass man ihn ebenfalls festnahm. Nun beschimpfte die Frau die auf dem älteren Sohn knienden Polizisten als Rassisten. Was dann geschah, ist Gegenstand der Verhandlung. Ja, sie habe schon gespuckt, aber auf den Boden – sagt die Frau. Die Beamten hingegen beschreiben detailliert ihren Ekel, als ihnen die Spucke an die Wangen klatschte. Und als sich der eine auf die

Frau zubewegte, spürte er ihren Fuss seine Hüfte streifen. Nein, sagt sie, sie habe niemanden getreten. Gut, vielleicht schon, aber getroffen habe sie nicht. Und schliesslich habe der Polizist ihr ja auch einen Faustschlag gegen den Mund versetzt. Dazu hat der Strafverteidiger noch ein paar Fragen: Wenn es stimmt, was die Polizisten sagen – warum hat man die Frau erst zwei Stunden später verhaftet? Warum erwähnt das erstinstanzliche Urteil mit keinem Wort, dass ein Polizist der Frau ins Gesicht geschlagen hat? Mit einem einzigen Spucker gleich zwei Polizisten treffen – wie soll denn das gehen? Und überhaupt: Ist Spucken Gewalt? Spucken ist ein Ausdruck von Verachtung, sagt das Obergericht und bestätigt den Schuldspruch. Was die Polizisten schilderten, sei «situationsadäquat», während sich die Frau in Widersprüche verwickelt habe. Den Fusstritt wertet das Obergericht nicht als gezielte Attacke, aber als Tätlichkeit gegenüber der Polizei. Und das sei wirklich ein Problem heutzutage: dass die Sanität angegriffen wird, wenn sie helfen will, die Feuerwehr, wenn sie löschen will. Bei der Strafe lässt das Obergericht aber etwas Milde walten: 60 statt 65 Tagessätze bedingt à 50 Franken. Das Leben bestrafe die Frau schon hart genug: Sie hat ihren Job verloren, arbeitet nun als Putzfrau und verdient viel weniger – nur weil sie für einen Moment die Kontrolle verloren hat. Selbst dafür zeigen die Oberrichter Verständnis: Die Polizei sei wohl in der Tat ruppig aufgetreten. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich

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Challenge League

Nur knapp entkommen

Von Januar bis April suchte ich eine geeignete Wohnung. Zwar hatte ich fast jeden Tag einen Besichtigungstermin, bekommen aber habe ich nichts. Als mein Blick einmal auf meinen Namen auf einem Briefumschlag fiel, ging mir durch den Kopf, dass ich einem Mann mit diesem Namen wohl auch keine Wohnung geben würde, wenn ich Schweizer wäre. Ich war schon völlig entmutigt, als ich Mitte April eine E-Mail bekam. Jemand schrieb mir, dass ich eine Wohnung zur Untermiete besichtigen könnte. Ich ging noch am selben Tag vorbei. Es war eine Dreieinhalbzimmer-Wohnung. Der Hauptmieter hatte bereits zugesagt, aber noch keinen Vertrag aufgesetzt. Wir trafen uns einen Tag später und unterzeichneten. Zwei Wochen später zog ich ein. Ich fand die Wohnung leer vor, der Hauptmieter war nicht da. Mithilfe eines Freundes richtete ich mich ein. Am Abend rief mich der Hauptmieter an: «Ich will den Schlüssel zurück. Verlass so schnell wie möglich das Haus.» Ich habe gelacht und aufgelegt. Am nächsten Morgen läutete und klopfte es an der Tür. Es war der Hauptmieter. Er sagte, dass ich sofort aus der Wohnung raus müsse, weil die Verwaltung die Wohnung zurückhaben wolle. Ich war schockiert: «Soll ich auf der Strasse schlafen?» Da wurde der Hauptmieter aggressiv und wollte mir den Schlüssel wegnehmen, der auf dem Tisch lag. Ich schnappte ihn mir schnell und sagte: «Ich gebe den Schlüssel nieman6

FOTO: KHUSRAW MOSTAFANEJAD

Ich habe mich nach zwei Jahren Studium in Zürich entschieden, von Neuhausen am Rheinfall nach Zürich umzuziehen. Den Kanton zu wechseln, bedeutet für uns Flüchtlinge viel Bürokratie. Das erste Mal wurde mein Antrag vom Kanton Zürich abgelehnt, weil ich nur einen F-Ausweis für vorläufig Aufgenommene besass. Das war im Herbst 2017. Im Januar darauf bekam ich den B-Ausweis und reichte so schnell wie möglich Rekurs ein. Innerhalb einer Woche erhielt ich einen positiven Bescheid. Einzige Bedingung: Ich brauchte einen Mietvertrag, um nach Zürich ziehen zu können.

Viel Angst heisst hier auch: viel Bier.

dem. Versuche, eine Lösung zu finden.» Da jammerte er, dass er auch nur ein Opfer der Verwaltung sei. Ich rief die Verwaltung an. Dort sagte man mir, dass er von Januar bis April keine Miete bezahlt hatte, weshalb die Verwaltung ihm nun gekündigt habe. Nun sollte auch ich rausgeworfen werden. Ich schrie: «Nein, ich gehe nicht raus. Dann muss ich auf der Strasse schlafen.» Sie sprachen von Polizei, aber ich konnte nicht mehr wirklich zuhören. Ich war sehr verunsichert und ging hinaus auf die Strasse. Ich kaufte mir ein Bier an der Langstrasse. Das reichte nicht. Ich kaufte noch zwei. Das genügte immer noch nicht. In der Nacht trank ich mehr als zehn Bier. Ich war so schlimm besoffen, dass ich mich in meinen Schuhen und Kleidern ins Bett legte. Am nächsten Tag stritt ich mit der Verwaltung am Telefon, aber sie blieb stur. Am Abend trank ich noch mehr als am Tag zuvor. Eine Woche lang ging das so. Ich konnte mich nur mit Alkohol beruhigen, da ich fürchtete, jede Minute auf der Strasse zu landen.

Dann sprach ich mit der Asylorganisation Zürich AOZ. Diese vereinbarten mit der Verwaltung, dass ich bleiben dürfe, wenn sie noch weitere Flüchtlinge dort unterbringen könnten. Jetzt sollte ich Leute finden, die mit mir wohnen wollten. Ich fand auch jemanden. Doch nun war die AOZ am Drücker, und sie wollte gleich mehrere Personen in der Wohnung unterbringen. Es dauerte eine Woche, bis ich mit der AOZ eine Einigung fand. Abends habe ich mich immer noch betrunken. Wenn ich nun auf der Strasse die Obdachlosen mit ihrem Bier sehe, frage ich mich: «Haben sie solche Geschichten hinter sich ich?» Ich bin sicher, viele könnten ähnliche Geschichten erzählen. Dass sie von der Gesellschaft einfach ausgespuckt wurden. Es kann so schnell gehen.

Der kurdische Journalist KHUSRAW MOSTAFANEJAD floh aus seiner Heimat Iran und lebt seit 2014 in der Schweiz. Um ein Haar wäre er auf der Strasse gelandet.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

in einer 2007 vom liberalen Think-Tank Avenir Suisse in Auftrag gegebenen Analyse zur Invalidenversicherung geschrieben, dass es sich finanziell zu sehr «lohne», krank oder behindert zu sein. Die einfachste Motivation, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, läge deshalb in der Senkung der staatlichen Transferleistungen.

All Inclusive

Theorie und Praxis Kennen Sie den schon? Kommen drei Ökonomen in eine Bar … Äh nein, falscher Text. Erstellen drei Ökonomen im Auftrag des Staatssekretariates für Wirtschaft (SECO) eine Studie über «Arbeitsanreize in der sozialen Sicherheit» und schreiben gleich zu Beginn: «Damit eine Beschäftigung zustande kommt, braucht es zusätzlich zu einem bestehenden Arbeitsangebot auch die dazu passende Arbeitsstelle sowie ein Matching von Arbeitsangebot und -nachfrage. In dieser Studie wird implizit davon ausgegangen, dass eine passende Nachfrage sowie ein funktionierendes Matching vorhanden sind.» Wenn dieses Theoriemodell der Wirklichkeit entspräche, bräuchte es eigentlich gar keine Sozialwerke, weil demnach auch für einen ungelernten 59-jährigen ehemaligen Fabrikarbeiter mit Alkoholproblem und Krebs im Endstadium eine Arbeitsstelle existiert, wo er seine Fähigkeiten einbringen und ein existenzsicherndes Einkommen erzielen kann. Unter der Prämisse, dass jedes Individuum seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt existenzsichernd verkaufen kann, deklinieren die Autoren dann auch 1001 Varianten der These «SozialSurprise 427/18

leistungen hemmen die Arbeitsaufnahme und müssen deshalb gesenkt werden» durch. Auf diese Kernaussage der Studie berief sich kürzlich auch der SVP-Politiker Peter Riebli, der im Baselbieter Landrat eine Kürzung der Sozialhilfe um 30 Prozent forderte und damit nicht nur Erfolg hatte, sondern schweizweit für Aufsehen – und vermutlich auch Inspiration – sorgte. Höhere Unterstützungsbeiträge sollen künftig nur noch jene Personen erhalten, die sich genügend «integrationswillig» zeigen. Da neben dem Integrationswillen vor allem auch Integrationsfähigkeit vorhanden sein muss, dürfte die Abgrenzung zwischen «nicht wollen« und «nicht können» – beispielsweise bei Sozialhilfebezügerinnen mit psychischen Problemen – in der Praxis einige Probleme mit sich bringen. Und die Betroffenen einer höheren Willkür aussetzen. Laut den Verfassern der SECO-Studie stellen gesundheitliche Einschränkungen allerdings sowieso kein Integrationshindernis dar. Sie berufen sich dabei wiederholt auf eine weitere Ökonomin: Die HSG-Professorin Monika Bütler hatte

Das Motto «gesünder und leistungsfähiger durch weniger Geld» fand das Parlament anno 2010 eine gute Idee. Es beschloss im Rahmen der 6. IV-Revision, bei IV-Bezügerinnen und -Bezügern mit unsichtbaren Erkrankungen wie Schmerzstörungen oder psychischen Krankheiten die Rentenberechtigung zu überprüfen beziehungsweise zu streichen. Die 16 000 Betroffenen sollten wieder ins Erwerbsleben integriert werden. Die meisten der überprüften IV-Bezügerinnen und -Bezüger stellten sich dann aber als so stark eingeschränkt heraus, dass statt der 16 000 nur einige hundert Versicherte (teil)eingegliedert werden konnten. Die restriktiveren Zugangsbedingungen zu einer IV-Rente haben ausserdem dazu geführt, dass mittlerweile zwei Drittel der Langzeitbeziehenden in der Sozialhilfe gesundheitliche Probleme haben, aber trotzdem als «zu gesund» für die IV gelten. Dass ihre Theorien den Praxistest nicht bestehen, interessiert die Ökonomen allerdings nicht. Und die Politiker, die sich auf die unrealistischen Studien berufen, natürlich auch nicht. Das Publikationsorgan des SECO bebilderte den Artikel zur Studie über die «Arbeitsanreize in der sozialen Sicherheit» übrigens mit dem Symbolbild eines schlampig gekleideten Mannes, der vor dem Fernseher sitzt. Neben dem Text: die Porträtfotos der Autoren, adrett im Anzug, professionell in Szene gesetzt.

MARIE BAUMANN schreibt unter ivinfo.wordpress.com über Behinderung und die Invalidenversicherung und wünscht sich von den Forschenden mehr Realitätsbezug und weniger Klischees.

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Vier Feinde im Minenfeld Bosnien-Herzegowina Sie k채mpften f체r Kriegsverbrecher und litten

im Konzentrationslager: Vier M채nner, die einst Feinde waren, arbeiten heute gemeinsam als Minenr채umer. Die Gefahr bringt sie zusammen. TEXT CHRISTIAN ZEIER

FOTOS JAN BAUMGARTNER

KROATIEN

BOSNIEN-HERZEGOWINA SERBIEN

Gornji Vakuf-Uskoplje

MONTENEGRO

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Die Minenräumer beim Anziehen ihrer Schutzausrüstung.

«Sie ist die gefährlichste», sagt er. «Nur vor ihr haben wir Angst. Wenn du drauftrittst oder den Draht berührst, aktivierst du den Zünder, der einen Teil der Mine in die Luft schleudert, das Ding zieht ein Kabel mit sich, das sich strafft und auf Hüfthöhe die Hauptsprengladung aktiviert. Im Umkreis von 50 Metern wird alles zerrissen. Verstehst du? Dann bist du tot.» Gemeint ist die PROM 1, Springmine jugoslawischer Produktion, 425 Gramm Sprengladung. Bis heute reisst sie jedes Jahr Minenräumer in den Tod, 51 sind seit Ende des Krieges bei der Arbeit gestorben. In Bosnien-Herzegowina liegen noch immer mehr Landminen als in jedem anderen europäischen Land. Ein Gebiet in der Grösse von 150 000 Fussballfeldern soll kontaminiert sein. Gesäubert werden die Hügel und Wälder von der Armee und privaten Unternehmen. Eines davon ist Pazi Mine mit Teamchef Željko. Der bosnische Serbe ist ein Bär von einem Mann, kräftig und gut 100 Kilo schwer, der Fremden mit grimmigem Blick entgegentritt. Sein Gesicht wird von der Nase dominiert, die breit ist und auf einer Seite aufgerissen. Er ist der einzige Serbe unter elf Minenräumern, sein Status zeigt sich vielleicht am besten daran, dass keiner der Kumpels je gewagt hat, ihn zu fragen, was mit seiner Nase passiert ist. Vor ein paar Stunden noch, im Kreis der Kollegen, hat Željko erzählt, dass er Koch war im Krieg. Alle lachten. Jetzt sagt er: «Ich war Offizier der Serben. Wir können offen darüber reden. Es ist ja vorbei.» Ist es das wirklich?

«Wenn du auf die Mine trittst, wird im Umkreis von 50 Metern alles zerrissen. Verstehst du? Dann bist du tot.» ŽEL JKO

Grund zu hassen hätten sie alle genug. Auf einem Hügel über der zentralbosnischen Stadt Gornji Vakuf-Uskoplje stehen vier Männer, die sich einst tot sehen wollten und jetzt gemeinsam Leben retten. Wie jeden Morgen holen sie ihre Ausrüstung aus den weissen Jeeps – Helm, Visier, schusssichere Veste, Detektor –, schauen hinunter auf das verschlafene Städtchen, machen Spässe und trotten davon. In Einerkolonne hinein ins Gelände, ins Feld, in dem die Minen warten. Željko. Ninja. Džomba. Und Ivan. Einer war Bodyguard des Serben Karadžić. Einer kämpfte mit den Mujahedin für Bosnien. Einer wurde ins serbische KZ gesteckt. Und einer verlor den kroatischen Vater im Krieg. Alle vier sind bosnische Staatsangehörige. Was sie unterscheidet, sind Volksgruppe und Religion. Als BosnienHerzegowina 1992 zerbrach, standen sich die Männer plötzlich im Krieg gegenüber: Surprise 427/18

muslimische Bosniaken gegen orthodoxe Serben – orthodoxe Serben gegen katholische Kroaten – katholische Kroaten gegen muslimische Bosniaken. Drei Jahre später hatten alle Seiten Kriegsverbrechen verübt, hunderttausend Menschen waren tot, und wer überlebt hatte, stand vor einer wahnsinnigen Aufgabe: Man sollte wieder zusammen leben. Zusammen arbeiten. Zusammen das junge Land aufbauen. So wie die vier Minenräumer. Auf dem Hügel über Gornji VakufUskoplje geht ein starker Wind. Das saftige Grün der Bäume wechselt sich ab mit Sträuchern in Braun, auf einer Anhöhe haben die Minenräumer mit gelbem Absperrband eine Sicherheitszone markiert – als Parkplatz, Pausenraum und Ausgangspunkt für ihre Arbeit im Feld. Teamchef Željko Veselinović spricht über seinen schlimmsten Feind.

Verschluckt vom Krieg Zwei Jahrzehnte nach den Gräueln des Krieges sind die Spannungen zwischen den Volksgruppen noch immer präsent. In Bosnien-Herzegowina gibt es Dörfer mit geteilten Schulen, Politiker mit Separationsgelüsten und wenig Aufarbeitung. Was der Krieg mit Land und Leuten gemacht hat, kann nur verstehen, wer einen Blick zurück wirft. 1991 befindet sich Jugoslawien in Auflösung. Mit Ausnahme von Serbien und Montenegro streben alle Teilrepubliken nach Souveränität. Slowenien und Kroatien setzen ihre Unabhängigkeit militärisch durch, Mazedonien verlässt die Föderation 9


Džomba (links) und Željko (Mitte) bei der Einsatzbesprechung mit einem Kollegen.

Blick auf Gornji Vakuf-Uskoplje: Die Häuser und Gärten dort waren früher ebenfalls vermint.

konfliktlos und in Bosnien-Herzegowina schwelt ein Konflikt: Die Volksgruppen der Bosniaken und Kroaten wollen sich von Serbien entfernen, die Serben sind für den Anschluss. Željko Veselinović ist zu dieser Zeit 20 Jahre alt und im obligatorischen Militärdienst der Jugoslawischen Volksarmee in Kroatien stationiert, weitgehend abgeschirmt von jeglichen Nachrichten. Als er im Mai 1992 nach Bosnien zurückkehrt, ist die Welt eine andere: Jugoslawien, das Land, für das er eingerückt ist, existiert nicht mehr; die bosnischen Serben haben ihre eigene Republik, die Republika Srpska, ausgerufen; seit einem Monat belagern sie Sarajewo. Željko wird der Armee der Republika Srbska zugeteilt, die in Bosnien gegen Kroaten und Bosniaken vorgeht. Der Grossteil seiner Landsleute wird zu Feinden. Wie er sich damals gefühlt hat, darü10

ber mag Željko nicht sprechen. Lieber erzählt er noch einen seiner Witze, die oft schlüpfrig sind und von Mujo, Suljo und Fata handeln, den beliebten Protagonisten des bosnischen Witzes. Als er gefragt wird, ob er sich hätte weigern können, in den Krieg gegen seine Landsleute einzutreten, überlegt Željko kurz und sagt: «Wenn jeder geht, geht auch der kleine Mujo.» Bis Ende 1992 bringt die Republika Srpska 70 Prozent des Landes unter Kontrolle. Darunter auch die Heimatstadt des Bosniaken Džomba. Ibrahim Zahirović, genannt Džomba, sitzt im Rückraum einer Ambulanz in der Sicherheitszone über Gornji Vakuf-Uskoplje. Er trägt eine blaue Pilotenjacke mit schwarzem Faserpelzfutter, darunter ein graues Hemd, das in der Hose steckt. Wenn Džomba lächelt, geht von seinen braunen Augen eine einnehmende Freundlichkeit aus. Seit

23 Jahren sucht und vernichtet der Bosniake Minen – kaum einer ist länger im Geschäft. Von denen, die gleich nach dem Krieg angefangen haben, seien die meisten in Rente gegangen, sagt Džomba. «Ein paar sind noch dabei. Und einige sind gestorben. Bei fünf oder sechs war ich dabei. Körperteile deiner eigenen Freunde aufsammeln, das ist schrecklich.» Noch einmal wiederholt Džomba das Wort «strašan», schrecklich, als würde es ihn an den Tod der einstigen Kameraden erinnern. Džomba, wolltest du je aufhören deshalb? Natürlich habe ich darüber nachgedacht. Wenn ein Kollege 20 Meter von dir entfernt von einer Mine zerfetzt wird, dann geht es dir schlecht. Du denkst dann: Soll ich weitermachen oder nicht? Und gleich darauf: Aber was soll ich sonst machen, um meine Familie zu ernähren? Surprise 427/18


«Vor 15 Jahren sind meine ersten Kollegen auf dem Minenfeld gestorben. Noch heute träume ich von ihnen.» DŽOMBA

Wie bist du über all das hinweggekommen? Du kommst nicht drüber hinweg. Vor 15 Jahren sind meine ersten Kollegen auf dem Minenfeld gestorben. Noch heute träume ich von ihnen. Teamleader Željko steckt seinen Kopf zur offenen Autotür hinein. «Wir haben ihn ins Konzentrationslager gesteckt», ruft der Serbe und zeigt auf Džomba. «Zu seiner eigenen Sicherheit. Damit wir auf ihn aufpassen können.» Željko lacht. Džomba schaut mit leerem Blick hinaus auf die Hügel. Auch Džomba wird 1992 vom Krieg verschluckt. Seine Heimatstadt Mrkonjić Grad liegt im Gebiet der neu ausgerufenen Republika Srpska und ist eine der ersten Gemeinden, die von den ethnischen Säuberungen getroffen wird. Zusammen mit anderen nicht-serbischen Männern wird Surprise 427/18

Džomba am 15. Juni ins Konzentrationslager Manjača verfrachtet. Wenn man ihn nach Details zu dieser Zeit fragt, weicht er aus. «Es ist vorbei», sagt Džomba. «Man soll ja nicht vergessen. Aber versuchen muss ich es.» In den Unterlagen des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) taucht der Name Manjača öfters auf. Systematische Folter und Hinrichtungen sind dokumentiert. Ehemalige Gefangene erzählen, wie sie wochenlang in grossen Ställen auf dem Boden ausharren mussten. Bilder zeigen lange Reihen von sitzenden Männern, gehalten wie Vieh, auf weniger als zwei Quadratmeter pro Person. Mehr als 5000 Bosniaken und Kroaten sollen in Manjača inhaftiert gewesen sein. «Die Szenen, die ich erlebt habe, sie kommen plötzlich wieder hoch», sagt Džomba. «Manchmal, wenn wir vom Krieg erzählen. Und manch-

mal einfach so.» Nach 75 Tagen im Konzentrationslager kommt er durch einen Gefangenenaustausch frei. Džomba kehrt zurück in seine Heimatstadt und flieht 1994 nach Travnik. Er tritt der bosnischen Armee bei und kämpft bis Kriegsende an verschiedenen Fronten – gegen serbische Truppen, aber auch gegen kroatische. Seit April 1993 ist das Bündnis zwischen Bosniaken und Kroaten Geschichte. Die drei Volksgruppen bekämpfen sich jetzt alle gegenseitig. Wenn einer einen Fehler macht In der Sicherheitszone stösst Ivan Križenović zu seinen Kameraden Džomba und Željko. Der einzige Kroate im Team ist auch der einzige der vier Männer, der zu jung war, um im Krieg zu kämpfen. «Er ist ein Arbeitskollege, aber auch ein Freund», sagt Džomba über Ivan. «Auf ihn passe ich besser auf als auf mich selbst.» «Ich habe viel von ihm gelernt», sagt Ivan über Džomba. «Er ist ein guter Mensch. Auf der Arbeit, aber auch danach.» Der Kroate und der Bosniake arbeiten als Zweierteam auf dem Feld. Wenn einer einen Fehler macht, schwebt auch der andere in Lebensgefahr. Verstärkt wird dieses Risiko durch den Zeitdruck, dem die Minenräumer ausgesetzt sind. Rund 25 Arbeitstage sind für das 40 000 Quadratmeter grosse Feld über Gornji Vakuf-Uskoplje eingeplant. «Mit der sichersten Variante bräuchten wir fast drei Mal länger», sagt Željko. Weil die Firmen pro Quadratmeter bezahlt werden und die Preise massiv gesunken sind, müssen die Männer auf Geschwindigkeit statt auf absolute Sicherheit setzen. Erst teilen sie das vermutete Minenfeld in zehn Mal zehn Meter grosse Quadrate, dann säubern sie schmale Wege dazwischen, von welchen aus die Boxen mit dem Detektor grob durchsucht werden. Ertönt ein Signal, wird das Quadrat zu einem späteren Zeitpunkt exakt durchsucht und gesäubert. Ertönt kein Signal, sollte das Feld frei sein von grösseren Minen wie der berüchtigten PROM 1. «Dann kannst du schon mal nicht einfach so sterben», sagt Željko. «Was mit deinem Bein passiert, passiert halt.» Die Ansicht, dass ein verlorenes Bein kein Weltuntergang ist, teilen die älteren Minensucher. Nur Ivan habe noch etwas mehr Angst, sagt Džomba. Dieser sitzt im Fond der Ambulanz und spielt nervös mit einer Zigarette. Vor Kurzem ist er Vater geworden. «Manchmal denke ich: Wer kümmert sich um das Baby, wenn mir etwas 11


geschieht?», sagt Ivan. Er trägt einen grauen Kapuzenpullover und kurze Haare, auf Fragen antwortet er mit kurzen Sätzen und wenig Details. Ivan, wie fühlst du dich als einziger Kroate im Team? In der Firma gibt es keine Unterschiede. Sonst schon, in der Gesellschaft. Es kommt halt auf die Menschen an. Ist der Krieg ein Thema im Team? Ja, aber es ist mehr ein Scherzen. Die anderen erzählen Witze und so. Hast du negative Gefühle, wenn du an die Kriegszeit zurückdenkst? Natürlich. Jede Familie hat das. Ivan erlebt die Kriegsjahre in der zentralbosnischen Stadt Vitez, die von kroatischbosnischen Truppen kontrolliert wird. 1994 verliert er seinen Vater im Kampf –

wo genau und gegen wen, dazu will er nichts sagen. «Kann ich wieder arbeiten gehen?», fragt er ungeduldig. Auch Jahrzehnte später wird über die Wunden des Krieges nur ungern gesprochen. Verkörpert Željko die serbische Aggression, stehen Džomba und Ivan für die Opfer des Feindes. Doch es gibt eine weitere Seite. Die des Bosniaken Ninja. Siebenmal angeschossen Der Muslim Suleiman Aličković meldet sich freiwillig zum Dienst. Erstmals Mitte 1992, doch weil er noch keine 18 Jahre alt ist, wird er abgewiesen. Ende Jahr dann, als die 7. Muslimische Brigade gegründet wird, tritt der Teenager in die bosnische Armee ein. Er wird Teil der berüchtigten Militäreinheit El Mudžahid, der bosnischen Mujahedin, in der auch muslimische Freiwillige aus Albanien oder Tschetschenien und Anhänger der al-Qaida aus Afghanistan kämpfen. Die Kameraden geben ihm den

Spitznamen Ninja, innert Kürze steigt er zum Kommandanten eines Trupps auf, der landesweit Angriffe lanciert. Wo genau seine Einheit gekämpft hat und wo sie stationiert war, will Ninja nicht sagen. Nur so viel: «Wir waren mobil. Bis zu dreimal pro Tag griffen wir an, als Stosstrupp, an vorderster Front. Wir hatten die schlechteren Waffen, nur leichte, primitive – und Messer. Aber wir haben unser Land verteidigt.» Die Bosniaken brauchten am längsten, um eine schlagkräftige Armee aufzubauen. Mit Verzögerung gelingt es ihnen, wichtige Gebiete zurückzuerobern und Serben wie Kroaten schmerzhafte Niederlagen zuzufügen. Auch auf dieser Seite kommt es zu Vertreibungen, Misshandlungen und Tötungen der Zivilbevölkerung. Heute sitzt Ninja in einem Café im muslimischen Teil von Gornji Vakuf-Uskoplje und trinkt Kaffee mit Milch. Er trägt eine Trainingsjacke des FC Barcelona und Glatze, auf seinem kahlgeschorenen Kopf

«Wenn du viel Krieg gemacht hast, brauchst du einen Job mit viel Adrenalin. Im Büro sitzen, tötet dich.» NINJA

Manchmal gehen die Warnschilder kaputt oder fallen herunter.

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ist deutlich eine lange Narbe sichtbar. «Streifschuss», erklärt Ninja und beginnt mit dem Aufzählen seiner Wunden. Rechte Hand: «Kroaten». Bein: «Serben». Arm: «Kroaten». Und so weiter. Siebenmal wurde Ninja angeschossen. Wenn der Bosniake über seine Beteiligung am Krieg spricht, vermischen sich Stolz und Zurückhaltung. Auf Details geht er ungern ein. Die Jahre im Krieg und auf den Minenfeldern haben ihn vorsichtig gemacht – mit seiner freundlichen Art aber, dem rundlichen Gesicht und den weichen Gesichtszügen ähnelt er eher einem Bäcker als einem kaltblütigen Krieger.

Kurze Momente der Entspannung sind wichtig: Ivan raucht dann eine.

Ninja, was denkst du über die Menschen, die dich töten wollten? Wir können uns ja nicht benehmen, als wäre nichts geschehen. Aber wir möchten keine Konflikte mehr. Jeder hat seine Ideologie, seine eigene Geschichte. Vielleicht ist es besser, nicht allzu oft darüber zu sprechen. Auch nicht über die Kriegsverbrechen? Wir haben Waffe gegen Waffe gekämpft und nie Zivilisten angegriffen. Von den ausländischen Mujahedin haben wir uns früh distanziert – die waren zu extrem. Und wie geht ihr auf der Arbeit mit der Vergangenheit um? Es gibt keinen Hass mehr. Die Gefahr bringt uns zusammen. Aber für Željko als einzigem Serben ist es sicher nicht leicht mit uns. Der Serbe Željko Veselinović kehrt Mitte August 1992 in seine Heimatstadt Pale zurück. Wenige Kilometer von seinem Elternhaus entfernt stehen serbische Truppen auf den Hügeln über Sarajewo und schiessen auf alles, was sich in der Stadt bewegt. Željko selbst rückt in den folgenden Jahren in die Nähe jener Kriegsverbrecher, die später die Schlagzeilen der internationalen Presse dominieren werden. Erst wird er zum Schutz der Familie des serbischen Führers Radovan Karadžić abbestellt. Dann, nach dem Besuch der Offiziersschule in Banja Luka, soll er die Sicherheit von Ratko Mladić, des Oberbefehlshabers der bosnisch-serbischen Truppen, garantieren. Beide werden Jahre später vom ICTY wegen Völkermordes und Kriegsverbrechen verurteilt. Auf ihren Befehl hin überrannten serbische Truppen im Juli 1995 die UN-Schutzzone in der ostbosniSurprise 427/18

schen Stadt und töteten mehrere Tausend Bosniaken. Heute, 23 Jahre später, sitzt Željko in einer Bar im kroatischen Teil von Gornji Vakuf-Uskoplje und trinkt Bier aus der Flasche. Željko hat das Lokal gewählt, weil er lieber nicht drüben sprechen wollte, auf der anderen Seite der Stadt, wo die Muslime wohnen. «Ihr könnt mich alles fragen, auch die schlimmen Sachen», sagt er. Tatsächlich erzählt Željko ausführlich über die Arbeit als Minenräumer und die Zeit des Kriegsausbruchs, doch sobald es um Mladić oder Karadžić geht, sagt er: «Das ist nicht wichtig.» Željko, wie geht ihr damit um, dass alle Seiten Kriegsverbrechen verübt haben? Wer die Ereignisse verursacht hat, soll büssen. 90 Prozent der Menschen wollen keinen Krieg. Auch heute noch sind es die Politiker, die den Hass zwischen uns schüren.

Was hast du selbst verloren im Krieg? Mein Vater wurde getötet und viele meiner Freunde. Zehn insgesamt. Und dann, als es vorbei war? Es war ein komisches Gefühl. Wenn mir Anfang 1995 jemand gesagt hätte, dass ich überlebe, hätte ich ihm nicht geglaubt. Und dann war plötzlich fertig. Im November 1995 endet der Krieg mit dem Friedensabkommen von Dayton. Die Waffen werden niedergelegt, Bosnien bleibt als Staat erhalten und die Republika Srpska wird zum Teilgebiet einer dezentralisierten Republik. Željko, der Bodyguard, geht nach Sarajewo und heuert beim Flüchtlingshilfswerk der UNO an. Džomba, der Gefangene, stürzt sich in die Arbeit. Er gründet mit Freunden eine Firma und beginnt als Erster der vier mit dem Räumen von Minen. Ninja, der Krieger, fällt in ein Loch. Er trinkt, geht immer öfter in Bars 13


Die staatliche Minenräumungs-Behörde will das Land bis 2019 gesäubert haben. Doch daran glaubt keiner der Männer.

Eine weniger: Sprengung einer Mine.

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und schlägt sich dort mit jedem, der es mit ihm aufnehmen will. Und Ivan, der Sohn, kehrt seinem Land den Rücken. Er verschwindet zum Studium nach Split in Kroatien. Er möchte Informatiker werden. Es ist jetzt Nachmittag auf dem Hügel über Gornji Vakuf-Uskoplje, die Minenräumer sind aus dem Feld zurückgekehrt und posieren zwischen Jeep und Ambulanz für ein Gruppenbild. Elf Männer in zwei Reihen, Džomba blickt in die Ferne, gleich neben ihm steht Ivan, Željko lacht und Ninja macht Faxen. Pro Tag verdienen die Männer von Pazi Mine umgerechnet 35 Euro. Das ist ein guter Lohn in Bosnien. Doch zur täglichen Gefahr kommt die Unsicherheit: Regnet es, wird nicht gearbeitet und nicht bezahlt. Winter bedeutet Pause, da der harte Boden die Arbeit gefährlich macht. Und neue Minenfelder werden erst in Angriff genommen, wenn die Finanzierung steht. Das meiste Geld für die Räumung kommt dabei aus dem Ausland, die Schweizer StifSurprise 427/18


Wer im Wald einen Stolperdraht übersieht, geht in die Luft.

Bevor es losgeht, wird die Ausrüstung gecheckt: Funktioniert die Heckenschere?

tung Welt ohne Minen etwa finanziert regelmässig Projekte von Pazi Mine. Doch Bosnien steht längst nicht mehr im Fokus der internationalen Gemeinschaft. «Aktuell sind der Irak oder Syrien», sagt Željko. «Uns hat man vergessen.» Alles ausser damals Offiziell will die staatliche Minenräumungs-Behörde das Land bis 2019 gesäubert haben. Doch daran glaubt keiner der Männer. «Wäre nicht so viel veruntreut worden, wären wir längst fertig», sagt Željko. Ohne Reformen aber und ohne neues Vertrauen der Geldgeber werde es noch lange dauern. Er wolle so lange weitermachen, wie die Minenräumer von Nutzen sind, sagt der Serbe. Ivan hingegen würde lieber als Maschinentechniker arbeiten. Vor acht Jahren ist er aus Kroatien zurückgekehrt, doch er tut sich schwer damit, einen anderen Job zu finden. Džomba lacht, als er gefragt wird, wieso er noch imSurprise 427/18

mer dabei ist. «Was soll ich sagen? Es ist Gewohnheit geworden.» Kurz nach dem Krieg, da habe er sie gehasst, die Minen. Aber mittlerweile sei es mehr wie Kaffeetrinken. «Ich freue mich, wenn ich eine finde», sagt Džomba. «Vielleicht habe ich dann ein Leben gerettet.» Und Ninja holt sein Smartphone hervor, zeigt ein Bild, auf dem er neben einer Mine im Wald liegt und grinst. «Wenn du viel Krieg gemacht hast, brauchst du einen Job mit viel Adrenalin», sagt er. «Im Büro sitzen, das tötet dich vor Langeweile.» Der Bosniake kann nur schwer erklären, wie das gewesen ist nach dem Krieg. «Ich denke, die Kinder haben mich gerettet.» Nach der Geburt seines ersten Sohnes hört Ninja auf zu trinken, geht nicht mehr in Bars und schaut mehr auf seine Familie als auf sich selbst. Jetzt freut er sich jedes Mal, nach Hause zu kommen. Nicht selten arbeiten die Minenräumer zwei Wochen am Stück und übernachten in der Nähe des Minenfeldes. «Deshalb ha-

ben wir nicht viele Freunde zuhause», sagt Ninja. «Die Kumpels sind zu einer Art Familie geworden.» Auf dem Hügel laden die Männer ihre Ausrüstung in die Jeeps und machen sich bereit für die Fahrt ins Städtchen. Es war ein guter Tag, man ist sich einig. Ninja setzt sich in einen der Wagen, Željko, Džomba und Ivan in einen anderen. Auf dem Heimweg werden die drei sich Witze erzählen und über alles reden ausser über damals. Unten in Gornji Vakuf-Uskoplje werden sie die gemeinsame Wohnung betreten, zusammen essen und unter einem Dach die Nacht verbringen. «Drei Volksgruppen und drei Religionen», sagt Džomba, und sein Blick verrät einen Anflug von Stolz. «Zeigt das nicht, wie Bosnien sein könnte?» Fotograf Jan Baumgartner hat die Begegnung mit den Minenräumern zu einem Film verarbeitet: «Talking Soil». Trailer und weitere Infos unter www.talkingsoil.com

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Neues GlĂźck: Lilian Senn und Heiko Schmitz im Basler Solitude-Park.

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Und plötzlich keimt da was Liebe Lilian Senn und Heiko Schmitz glaubten beide nicht, dass sie sich nochmals auf jemanden einlassen könnten. Doch seit Kurzem sind sie ein Paar. Eines ohne Dach über dem Kopf. TEXT GEORG GINDELY

Lilian war Heiko zuerst in der Gassenküche Basel aufgefallen. Das war Mitte 2015. Er beobachtete sie und dachte: Das ist eine Gute. «Das hast du mir gar nie erzählt», sagt Lilian und lächelt Heiko an. Er drückt ihre Hand. Die beiden sind seit zwei Monaten ein Paar. Wann genau Lilian sich in Heiko verliebt hat, kann sie nicht sagen. Es ist schleichend passiert, über Wochen und Monate hinweg. Die Liebe wuchs an verschiedenen Orten: An einem Tisch vor dem türkischen Imbiss beim Wettsteinplatz. Im kleinen Park beim Museum Tinguely. An den vielen Surprise-Stadtführungen durch Basel. Und in einem Haus in Münchenstein, in dem Lilian Heiko über Wochen hinweg gepflegt und über einen Hindernisparcours gehetzt hat. Als Heiko Lilian in der Gassenküche beobachtet, imponiert ihm ihr Auftreten. Sie kann gut reden, sie markiert Präsenz. Sie wäre eine gute Stadtführerin, denkt Heiko, der selber Stadtführer ist. Er weiss, dass Surprise FrauenRundgänge anbieten will und auf der Suche nach passenden Kandidatinnen ist. Er spricht Lilian an und fragt sie, ob sie Interesse habe. Danach sieht er Lilian nur noch selten. Ein Jahr später fällt Heiko unglücklich und landet auf dem Rücken. Ein Wirbel verschiebt sich. Die Folge: eine teilweise Querschnittlähmung. Es ist nicht sein erster Unfall. Heiko Schmitz, 52 Jahre alt, aus Köln, früher Inhaber einer Firma für Fertighäuser, seit zwölf Jahren in der Schweiz, arbeitete als Bauführer, bis zu 14 Stunden am Tag, vier Jahre lang ohne Ferien. Dann passierte Unfall Nummer eins. Die Bänder in der linken Schulter rissen. Die Unfallversicherung zahlte nicht. Surprise 427/18

FOTOS LUCIAN HUNZIKER

Die Schäden seien schon vorher da gewesen, begründete sie den Entscheid. Um die Behandlungskosten zu bezahlen, verschuldete sich Heiko. Kurze Zeit später machte seine Frau per SMS Schluss mit ihm, nach 22 Jahren Ehe. Er verlor seinen Halt, seine Stelle, seine Wohnung. Er schlief unter der Brücke, 36 Monate lang. In der Gassenküche fand er Halt, Menschen, die ihm zuhörten, eine Beschäftigung. Und er fand Lilian. Heiko liegt mit einem gelähmten Bein im Spital, als ihn Sybille Roter anruft, seine Vorgesetzte bei Surprise. Eine Frau habe sich bei ihr gemeldet. Sie wolle Stadtführerin werden. Sie sage, sie kenne ihn. Seit 18 Jahren ohne eigene Wohnung Lilian hat nach Heikos Anfrage ein Jahr lang überlegt, ob sie diesen Schritt wagen will. Wer Stadtführerin werden möchte, muss vor Menschen stehen können, muss sich intensiv mit seiner Biografie auseinandersetzen, muss viel von sich preisgeben. Lilian Senn, 61, ist ohne eigene Wohnung, seit ihre Ehe auseinanderbrach. Das war im Jahr 2000. Ihr Mann war weg, die Söhne, das Haus, bald darauf auch die Arbeit. Sie schlug sich durch, übernachtete bei Bekannten, surfte von Sofa zu Sofa. Als sie 2013 nach Basel kam, hatte sie zwei Koffer und einen Rucksack dabei. Darin hatte alles Platz, was ihr gehörte. Sie fand Unterschlupf bei einer Pastorin, begann, an Jesus zu glauben, «den Sohn des lebendigen Gottes», wie sie ihn nennt, und begann, mit ihm zu sprechen, ihn um Rat zu fragen und ihm ihre Geschichte zu erzählen. Kurze Zeit später begann sie im Haus der Pastorin in Münchenstein, das sich «Schule des Lebens Beth Nitzachon» nennt und als 17


Lilian begleitet ihren «Tourenpapi» Heiko bei einem Stadtrundgang in Basel.

Begegnungs- und Auffangzentrum für Menschen in Not dient, unentgeltlich als Beraterin und Pflegerin zu arbeiten. Das Zimmer, in dem sie die Beratungen abhält, ist oft auch Lilians Schlafort. Zehn Wochen nach dem Sturz auf den Rücken kann Heiko wieder gehen. Mit Mühe und mit Stock zwar, aber das bremst ihn nicht: Er beginnt gleich wieder mit den Stadtführungen. Um sich wenigstens ein bisschen zu schonen, absolviert er jeweils die kürzeste Tour mit vielen Sitzmöglichkeiten, und Lilian begleitet ihn. Er wird ihr «Tourenpapi», wie sie ihn nennt, ihr Lehrmeister auf dem Weg zur Stadtführerin. Sie wählt ihn, weil er sich Zeit nimmt, ruhig und zurückhaltend ist und doch frei und offen aus seinem Leben spricht. Zum Beispiel von dem Moment, als er 2014 erfuhr, dass seine Tochter bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Und von dem, was danach passierte: Wie er sich komplett gehen liess, wie er trank, 25 bis 30 Dosen Bier pro Tag. So viel, dass er in der grössten Kälte aus dem Schlafsack rollte und ein Teil seiner Nase abfror. Heiko erzählt auch davon, wie er sich wieder fing und Stadtführer wurde. Wie er immer wieder motiviert werden und sich durchbeissen musste, um dabeizubleiben. Nach den Touren sitzen Lilian und Heiko zusammen, meist draussen an einem Tisch vor dem türkischen Imbiss Ubek. Dort kann Heiko rauchen, und dort können die beiden miteinander reden. Über die Touren, über ihre Erlebnisse, über ihre Vergangenheit, über sich. Zum Teil sitzen die beiden so lange da, dass sie gar nicht merken, dass es 18

Nacht und kalt geworden ist. Lilian hat neben dem «Sohn des lebendigen Gottes» einen weiteren Ansprechpartner gefunden und merkt, dass sie Heiko lieb bekommt. Das ist ungewohnt und neu. Lilian hat die Menschen um sich herum immer abgewertet. Es war ihre Art, Distanz zu halten, nichts mehr an sich herankommen zu lassen. Es ist nicht leicht, Vertrauen in andere zu haben, wenn man erlebt hat, was Lilian erlebt hat. Ihre Kindheit war geprägt von Gewalt. Der Vater nahm sich das Leben, als Lilian ein Jahr alt war. Der Grossvater missbrauchte sie, da war sie dreieinhalb. Die Mutter schützte ihr Kind nicht, im Gegenteil. Nähe, Zärtlichkeit und Sex, das war für Lilian aufgrund ihrer Erfahrungen nichts Erstrebenswertes. Nicht, dass sie nicht auf der Suche nach Liebe gewesen wäre. Mit ihrem Mann hatte sie diese zeitweise gefunden und dann wieder verloren. «Ich bin schuld, dass es mit uns nicht geklappt hat», sagt Lilian. Weil sie sich zurückzog, in die Arbeit stürzte, ihm das Vertrauen entzog. Lilian hätte nicht daran geglaubt, dass es nochmals klappen würde mit der Liebe. Heiko auch nicht. «Ich dachte, ich sei fertig mit den Frauen», sagt er. Sie stellte ihm Hindernisse in den Weg Heiko lebt in einem Zimmer in einem Obdachlosenheim in Lörrach, nicht weit entfernt von der Landesgrenze. Im November 2017 taucht er plötzlich nicht mehr auf in Basel, er sei gesundheitlich nicht gut beieinander, heisst es. Lilian macht sich Sorgen. Kurz nach Weihnachten fährt sie nach Lörrach, ohne Heikos genaue Adresse zu kennen, Surprise 427/18


Die Suche nach einer eigenen Wohnung ist für Lilian und Heiko fast aussichtslos. Dennoch sind sie zuversichtlich.

fragt sich durch, sucht und findet ihn. Er liegt in seinem Zimmer und kann fast nicht aufstehen. Die Lähmung im Bein ist immer noch da, dazu gekommen ist eine grossflächige Infektion der Haut, die an vielen Stellen offen ist, auch an den Füssen. So kann ich dich nicht liegenlassen, sagt Lilian, packt Heiko ein und bringt ihn ins Haus nach Münchenstein. Sie beschliesst, ihn gesund zu pflegen. Lilian hatte vor ihrer Scheidung eine gradlinige Arbeitskarriere. Sie machte eine Lehre als Floristin, wechselte ins Kaufmännische, absolvierte Weiterbildungen, wurde Personalchefin. Ihr Hobby war das Turnen. Sie besuchte mehrere Kurse in Magglingen, um als Jugend&Sport-Leiterin Turnstunden geben zu können. Das kommt Heiko nun zugute. Lilian richtet im Keller des Hauses in Münchenstein einen Parcours aus Petflaschen und Harrassen ein, den Heiko absolvieren muss, immer und immer wieder. Im einen Bein hat er immer noch wenig bis kein Gefühl. Lilian lässt ihn Standfestigkeit üben, sagt ihm, er soll auf das schwache Bein stehen, damit die Muskeln erhalten bleiben und wieder aufgebaut werden können. Er muss draussen im Wald bergab laufen, weil ihm das am Schwersten fällt. Sie lässt ihn Beckenbodentraining machen und Liegestützen. Sie massiert sein Bein, seinen Rücken. Und sie pflegt seine entzündete Haut, die grossen Wunden. Die Unterhose muss er immer anbehalten. «Wir waren ja kein Paar», sagt Lilian. Anfang 2018 führt Lilian ihren ersten sozialen Stadtrundgang durch, als erste Frau in der Schweiz. Sie ist nervös, aber es geht alles gut, sie erhält viel Lob. Der einSurprise 427/18

zige Wermutstropfen ist, dass ihr Tourenpapi Heiko nicht dabei sein kann. Am Abend erzählt sie ihm von der Premiere, er freut sich für sie. Dann muss er wieder um Petflaschen und Harassen herumbalancieren. Heiko unterbricht. Er will nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht. Lilian sei nicht sehr streng gewesen, «sie war kein Feldwebel», sagt er, sondern habe sehr viel Einfühlungsvermögen gezeigt. Die beiden sprechen viel zusammen im Haus. Sie öffnen sich. Sie fassen Vertrauen. Das klingt jetzt leicht. Aber das ist es nicht. Es braucht viel Arbeit und Zeit auf beiden Seiten, bis die Bereitschaft da ist, sich zu öffnen. Zwei Monate Bedenkzeit bis zum «Ja, ich will» Lilian spürt, dass nicht nur das Vertrauen wächst, sondern auch die Liebe. Mitte Februar fasst sie sich ein Herz und sagt Heiko auf einer gemeinsamen Autofahrt, dass sie ihn liebt. Heiko schluckt. Er freut sich. Er hat Angst. Er braucht Bedenkzeit. Lilian gibt sie ihm und pflegt ihn weiter. Am 8. April, fast zwei Monate, nachdem Lilian ihn gefragt hat, fast drei Jahre, nachdem sie ihm zum ersten Mal in der Gassenküche aufgefallen ist, sagt Heiko: Ja, ich will. Sie küssen sich. Fast wie bei einer Hochzeit. Seither laufen sie Hand in Hand. Sie sind zärtlich zueinander und liebevoll. Sie lachen miteinander, sie sprechen miteinander, und manchmal weinen sie miteinander. Sie geniessen ihre Liebe, auch wenn das nicht einfach ist für ein Paar, das auf der Gasse lebt. Intimität ist nur im Haus in Münchenstein möglich. Manchmal gehen die beiden in den Park beim Museum Tinguely, sitzen auf eine Bank, spazieren Hand in Hand unter den Bäumen. Wenn der Tisch vor dem Ubek ihr Ess- und Wohnzimmer ist, so ist der Solitude-Park ihr Garten. Am liebsten würden Lilian und Heiko zusammenziehen, in eine eigene Wohnung, ein Zimmer würde reichen, zwei wären besser. Die Lage für Lilian spitzt sich bereits Ende Juni zu: Sie verliert die Möglichkeit, in Münchenstein zu übernachten. Das Haus, in dem die beiden zusammengefunden haben, in dem der Hindernisparcours stand, ist verkauft worden und wechselt Ende Monat den Eigentümer. Lilian und Heiko müssen den einzigen Ort verlassen, an dem sie ungestört zusammensein konnten. Die Suche nach einer eigenen Wohnung ist für Menschen wie sie fast aussichtslos. Beide hatten Schulden, beide wurden betrieben. Das sind keine Traummieter, gerade weil Wohnungen so gefragt sind in Basel und Umgebung. Dennoch sind Lilian und Heiko zuversichtlich. Lörrach wäre ein guter Ort zum Wohnen, finden sie. Ende Jahr, so hofft Heiko, kann er beim Gehen auf den Stock verzichten. Viel früher, so hoffen beide, können sie zusammenziehen. In die eigenen vier Wände, wie ein richtiges Ehepaar.

Mit einer losen Abfolge besonderer Geschichten feiert das Strassenmagazin das 20-jährige Bestehen von Surprise.

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Denkmal mit zwei Rädern Geistervelos Der neuseeländische Fotograf Henry Hargreaves fotografiert «Ghost Bikes»,

um den Blick auf die Sicherheit von Velofahrenden im Strassenverkehr zu lenken. TEXT WHITLEY O’CONNOR UND SARA WINTER SAYILIR

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FOTOS HENRY HARGREAVES

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Sie werden «Ghost Bikes», zu Deutsch Geistervelos, genannt. Gekettet an einen Zaun oder eine Strassenlaterne, oftmals mit Blumen geschmückt, erinnern die weiss angemalten Verkehrsmittel an verunfallte Velofahrerinnen und Velofahrer. Mal als politisch motivierte Warnung an einem besonders gefährlichen Verkehrsknotenpunkt, mal als einfaches Denkmal mit Namen und Todesdatum der Verstorbenen. Der Neuseeländer Fotograf Henry Hargreaves entdeckte die weissen Velos erstmals vor einigen Jahren rund um seine Wohnung im New Yorker Stadtteil Brooklyn. «Als ich hierherzog und durch das Quartier ging, sah ich die angeketteten HENRY HARGREAVES weissen Velos an mehreren Strassenecken. Erst habe ich sie nicht recht beachtet, bis ich eines Tages an einem vorbeikam, auf dem ich einen Namen und ein Datum entdeckte. Mir wurde klar, dass dies das Todesdatum des Velofahrers sein müsse», erinnert sich Hargreaves. «Um diese Zeit begann ich selbst Velo zu fahren, und so waren die Geisterräder wie eine Erinnerung und eine Mahnung, dass man auf dem Velo immer nur knapp vom Tod entfernt ist. Erschreckend, aber wahr.»

«Erschreckend, wie knapp man auf dem Velo im Strassenverkehr vom Tod entfernt ist.»

Geistervelo zum Gedenken an Unfallopfer Nicolas Djandji.

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Auf dem Veloweg überfahren Jedes Jahr verunglücken in den USA zwischen 45 000 und 50 000 Velofahrende. 2016 verliefen 840 dieser Verkehrsunfälle tödlich. Das erste Geistervelo wurde in St. Louis, Missouri aufgestellt: 2013 war der Amerikaner Patrick Van Der Tuin dort Zeuge eines Unfalls geworden, bei dem ein Motorradfahrer auf einem Fahrradweg einen Velofahrer umfuhr. Van Der Tuin malte ein Velo weiss an und stellte es mit einem Schild an die Unfallstelle, auf dem stand: «Hier wurde ein Velofahrer überfahren.» Prompt beobachtete er, dass die Motorradfahrer an dieser Stelle nun aufmerksamer fuhren. Daraufhin setzte sich der Velo-Lobbyist dafür ein, überall in der Stadt solche WarnVelos aufzustellen. 2005 tauchten dann die ersten 21


Nahebei verunfallte Anna Rodriguez tödlich.

Christopher Doyles Ghost Bike oder was davon übrig ist.

Ein Denkmal für Lauren Elisabeth Davis.

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37 Velofahrerinnen und Velofahrer starben letztes Jahr im Schweizer Strassenverkehr.

weissen Velos in London auf, inzwischen findet man sie in über 25 Ländern weltweit, dokumentiert auf der Website ghostbikes.org. «Für mich sind sie wie eine Metapher für die Toten», sagt Henry Hargreaves. «Als sie platziert wurden, waren sie rein und weiss. Aber auf den Bildern, die ich mache, kann man erkennen, wie sie langsam verrotten. Leute kommen und stehlen die Räder der Geistervelos. Das ist wie Grabschändung. Manchmal verschwinden sie komplett.» Aus Neugier und Anteilnahme fotografierte Hargreaves also mehrere Jahre lang die Geistervelos, die an verschiedenen Ecken von Brooklyn auftauchten. Im letzten Herbst dann bekam dieses Fotografieren plötzlich eine neue Bedeutung für den Künstler: Mit dem Velo auf dem Weg von seiner Wohnung zu seinem Fotostudio erwischte es Hargreaves selbst. Nur knapp schrammte der Fotograf daran vorbei, sein eigenes Geistervelo zu bekommen. Ein falsch parkierender Autofahrer öffnete ohne zu schauen die Fahrertür, als Hargreaves angefahren kam. Hargreaves wurde über den Lenker geschleudert und landete mit dem Hals auf der Kante der geöffneten Tür. Stark blutend bestand er darauf, von dem Autofahrer ins Krankenhaus gebracht zu werden. Dieser setzte den Verletzten zwar ab, fuhr dann aber schnell weg. «Die Tür hatte mich genau zwischen Halsvene und Luftröhre erwischt. Ein paar Millimeter weiter oben oder unten und es wäre noch schlimmer gekommen», sagt Henry Hargreaves. «Ich wurde mit einem Dutzend Stichen genäht und bekam eine Rechnung über 1500 Dollar.» Viele Unfälle auch in der Schweiz Hargreaves wollte etwas tun. «Ich hatte ja schon vor meinem Unfall an dem Projekt mit den Geistervelos gearbeitet», sagt er. Doch plötzlich ging es ihm mit seinen Fotografien auch darum, die Leute für den Veloverkehr zu sensibilisieren und den Velofahrern mehr Bewusstsein für die Gefahren im Strassenverkehr zu vermitteln. «Velofahrer haben einen so kleinen Fussabdruck – oder auch Reifenabdruck –, dass wir auf der Strasse leicht ignoriert werden. Wenn mehr Verkehrsteilnehmer über Velofahrer nachdenken und ein bisschen vorsichtiger sind, hat es sich schon gelohnt, diese Fotoserie zu machen», so der Künstler. Surprise 427/18

Auch in der Schweiz standen einmal Geistervelos: 2013 sorgten die Jungen Grünen mit einer entsprechenden Aktion für Aufsehen. An 16 besonders heiklen Verkehrspunkten in Zürich stellten sie weiss gestrichene Velos mit Grabkerzen auf, die an konkrete, vor Ort tödlich verunglückte Velofahrerinnen und Velofahrer erinnerten. Die Aktion war jedoch von kurzer Dauer und lokal begrenzt. Heute erinnern keine Mahnmale mehr an die Unfallopfer. Dabei gibt es jedes Jahr tödliche Unfälle von Velofahrerinnen und E-Bikern im Schweizer Strassenverkehr, allein im letzten Jahr traf es 37 Menschen. 1042 wurden schwer verletzt. Seit Jahren sorgt die fehlende Sicherheit von Velofahrerinnen und Velofahrern deshalb auch in der Politik für Diskussionen. Dies bewog verschiedene Lobbyverbände, Organisationen und Parteien 2015 dazu, die Velo-Initiative zu lancieren. Sie orientierten sich am Vorbild der dänischen Hauptstadt Kopenhagen, die als weltweit führend im Veloverkehr gilt, und an den Niederlanden. Die VeloInitiative fordert eine stärkere staatliche Förderung des Velofahrens und einen Ausbau der landesweiten Infrastruktur. Im März dieses Jahres nun hat der Nationalrat den Gegenvorschlag des Bundesrats angenommen. Dieser soll – wie auch im Initiativtext gefordert – das Velofahren in der Verfassung dem Wandern und dem Zu-Fuss-Gehen gleichstellen und kommt am 23. September zur Abstimmung. Mittlerweile wurde die Initiative zurückgezogen, da die hauptsächlichen Forderungen auch durch den «Bundesbeschluss Velo» erfüllt werden. Im Falle einer Annahme ist vorgesehen, dass Bund, Kantone und Städte künftig mehr in eine sichere und gute Infrastruktur für den Veloverkehr investieren.

Teils übersetzt aus dem Englischen von Birgit Puttock. Courtesy of The Curbside Chronicle/insp.ngo

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Allein auf der Bühne Theaterfestival Zuerst war es die Blitz Theatre Group, die sich der Einsamkeit

annahm. Dann fand das Festival Belluard International in Fribourg: Schauen wir mal, was andere Künstler zu diesem Thema zu sagen haben.

FOTO: ZVG

TEXT MONIKA BETTSCHEN

War Wittgenstein selbstgewählt allein oder einsam?

Obwohl jeder Mensch in seinem Leben schon Phasen durchlebt hat, in denen er ganz auf sich allein gestellt war, fällt es den meisten schwer, dazu zu stehen. Das Theaterfestival Belluard in Fribourg hat es sich in diesem Jahr zum Ziel gesetzt, den Zustand der Einsamkeit zu enttabuisieren. In 22 Projekten aus dem Inund Ausland wird von 28. Juni bis 7. Juli Einsamkeit als weltumspannendes Phänomen erfasst und in unterschiedlichsten Ausprägungen gezeigt. So überkommt etwa den Südkoreaner Jaha Koo während seiner Performance «Cuckoo» beim Reiskochen ein Gefühl, das seine Landsleute als «Golibmuwon» bezeichnen, als einen Zustand hilfloser Isolation. Koo beginnt, sich mit seinen gesprächigen Reiskochern über die jüngere Geschichte seines Landes zu unterhalten, das vor 20 Jahren von einer schweren Wirtschaftskrise überschattet wurde, die viele Menschen ihren Halt verlieren liess und bis heute nachwirkt. «Einsamkeit ist ein Thema, das wirklich niemanden kalt lässt. Dies wurde uns klar, als wir mit der Blitz Theatre Group aus Griechenland ihr Projekt besprachen», sagt Anja Dirks, Direktorin des Belluard Festivals. Im Austausch mit dem Kollektiv habe sich die Komplexität dieses Themenfeldes offenbart, und deshalb habe man es auf das ganze Festival ausgeweitet. Der Wert des Alleinseins Die Blitz Theatre Group präsentiert am Belluard das «Institute of Global Solitude IGS». Das fiktive Institut zur Erforschung und Förderung des Alleinseins, zu dessen ersten Mitgliedern laut der Theatergruppe Ludwig Wittgenstein und Fernando Pessoa gehörten, wird jeweils am Ort des Geschehens in Zusammenarbeit mit lokalen Kunstschaffenden gestaltet. In einem formellen Ablauf, der einem strengen Protokoll folgt, werden dem Publikum die Eigenheiten der Einsamkeit nähergebracht. Als Höhepunkt gibt es ein einmütiges Abendessen für die Anwesenden. Vorgänger dieses Projekts war das «Institute of Global Loneliness» derselben Theatergruppe. Inspiriert von Thomas Manns «Zauberberg» ging 24

es darin um eine Gruppe Menschen, die sich isoliert von der Welt Heilung von der Krankheit Einsamkeit erhofften. «Einsamkeit gemäss dem englischen Begriff Loneliness beschreibt ein Gefühl, während Alleinsein – also Solitude – eine Entscheidung, eine selbstgewählte Art zu leben meint», sagt Christos Passalis, Mitbegründer des Kollektivs Blitz. «Das bewusste Alleinsein öffnet einen Raum, in dem man sich mit Themen auseinandersetzen kann, die für die eigene Existenz entscheidend sind. Wenn Selbstbewusstsein der Grundstein jedes philosophischen Systems ist, dann ist Alleinsein der einzige Weg, um es zu erreichen.» «Nutzen und Notwendigkeit von einsamen Phasen erschliessen sich einem erst rückblickend», sagt Anja Dirks. «Das Institute of Global Solitude stellt den Wert des Alleinseins heraus und regt dazu an, sich mit Fragen auseinanderzusetzen. Zum Beispiel, ob man sich in einer Gemeinschaft erst sicher aufgehoben wissen muss, bevor man sich ab und zu auch Einsamkeit leisten kann. Denn wer ungewollt einsam ist, ist auf die Solidarität anderer angewiesen, und ein bewusster Rückzug hätte bedrohliche Folgen.» Das Thema habe bei den Kunstschaffenden eine ungeheure Resonanz ausgelöst – als hätte es für sie etwas Befreiendes gehabt, sich damit auseinanderzusetzen. Auf der Bühne ist man auf sich allein gestellt, aber gleichzeitig auch immer im Kontakt mit dem Publikum und den anderen Schauspielern. «Und dann funkt manchmal das Bewusstsein mit der Frage ‹Was mache ich hier?› dazwischen. Daher ist es immer eine Herausforderung, auf der Bühne zu stehen», sagt Yiorgos Valais – auch er ein Gründungsmitglied der Blitz Theatre Group – über diese Gleichzeitigkeit von Alleinsein und Verbundenheit, wie sie Bühnenkünstler erleben. Und bald auch die Besucher des Belluard, die am Festival gemeinsam einsam sein dürfen.

Festival Belluard Bollwerk International, Fribourg, Do, 28. Juni bis Sa, 7. Juli 2018. belluard.ch

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FOTO: ZVG

Doppelgänger Buch In seinem neusten Roman treibt Peter Stamm ein

Verwirrspiel mit der Unausweichlichkeit des Schicksals. Wer hat das nicht schon mal gedacht? Wie es gewesen wäre, wenn man sich damals anders entschieden hätte, einen anderen Weg eingeschlagen, Ja statt Nein gesagt hätte. Wäre dann alles anders gekommen? Und wie wäre es, wenn man sein Leben nochmal leben könnte, sei es auch nur einen einzigen Tag? Das Kino hat dies schon verschiedentlich durchexerziert. Etwa in «Und täglich grüsst das Murmeltier» mit Bill Murray. Oder auch in so manchem Science-Fiction-Film, bei denen meist das Paradox droht, dass man seine Existenz gefährdet, wenn man sich selbst begegnet. Solche Gedankenspiele haben Tradition. Peter Stamm fügt ihnen nun eine ganz eigene und eigenwillige Variante hinzu. Der Schriftsteller Christoph, der mit einem Roman über die Trennung von seiner Freundin Magdalena Erfolge feiert, begegnet auf einer Lesereise in seinen Heimatort seinem Doppelgänger Chris, seinem sechzehn Jahre jüngeren Ich. Er folgt ihm, getrieben von der Sehnsucht, seinem Leben vielleicht eine Wendung geben zu können. Schliesslich trifft er sogar dessen Freundin Lena, um ihr seine und damit auch ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte seiner in der Vergangenheit gescheiterten und Lenas in der Zukunft scheiternden Liebe. Denn auch wenn es Abweichungen zwischen ihren Leben gibt, so bleibt, ist Christoph überzeugt, das «Stück» unterm Strich immer dasselbe.

Die todkranke Fabienne Roth Duss mit Erinnerungsstücken.

Was bleibt, wenn wir gehen? Kino Der Dokumentarfilm «Apfel und Vulkan»

Der Film beginnt mit einem alltäglichen Sehtest. Nathalie Oestreicher versucht blinzelnd, Buchstaben zu erkennen. Sie sei überrascht gewesen, als sie als Neunjährige eine Brille erhalten habe. So normal schien ihr vorher die verschwommene Sicht auf die Welt. Fabienne Roth Duss sitzt in ihrer Küche. Sie habe vor ein paar Tagen Sterne gesehen, erzählt sie. «Es war eigentlich ziemlich schön – wie bei einem Kaleidoskop», fügt sie an. «Doch wenn die Sehstörungen bei einem Krebs auftauchen, denkst du: Scheisse.» Die Illustratorin Fabienne Roth Duss und die Dokumentarfilmerin Nathalie Oestreicher sind Freundinnen. Eigentlich wollten sie gemeinsam einen Film über das Muttersein drehen. Darum geht es bei «Apfel und Vulkan» schliesslich auch, doch anders als geplant. Denn Roth Duss erkrankte an Krebs. Die Mutter erzählt gefasst, wie ihre zwei Töchter sie in Erinnerung behalten sollen. Und dass sie wissen möchte, wie ihr Tod die jetzt noch kleinen Kinder prägen wird. «Auf dich projiziere ich meine Mädchen als Erwachsene», sagt sie zu Oestreicher. «Das gefällt mir sehr.» Denn Oestreicher ist ebenfalls Halbwaise, ihr Vater starb, als sie noch ein Mädchen war. Oestreicher stellt sich ihrer verdrängten Familiengeschichte. Sie spricht mit ihrer Mutter und ihrer Schwester über den alkoholkranken Vater. Erfährt, wie sich ihr älterer Halbbruder das Leben genommen hat. Roth Duss erzählt, was sie sich für ihre Familie wünscht. Dann, wenn sie nicht mehr da ist. Und jetzt, da sie noch Erinnerungen sammeln können. Dazwischen zeigt Oestreicher den Familienalltag. Das Leben geht weiter. Doch wie? Antworten kann «Apfel und Vulkan» nicht geben. Das muss der Film auch nicht. Denn er zeigt, dass wir das wichtigste Erbe – die Erinnerung – nicht mit einem Testament regeln können. EVA HEDIGER

BILD: ZVG

von Regisseurin Nathalie Oestreicher handelt vom Tod geliebter Menschen.

Dabei hat er bereits ein Paradox heraufbeschworen, weil er Chris von dem, was erst in dessen Zukunft geschehen wird, erzählt hat. Doch dieser glaubt ihm nicht und kann beweisen, dass Christophs Lebens-Roman nie erschienen ist, also vermutlich auch nie geschrieben wurde. Ist also alles nur eine Lüge, eine Einbildung? Ist Christoph verrückt? Das bisher Geschilderte gibt nur einen Auszug wieder aus diesem Verwirrspiel mit der Unausweichlichkeit des Schicksals. Vieles, was anfänglich sicher scheint, wird infrage gestellt. Immer wieder geschieht Unerwartetes, Widersprüchliches. Einmal fragt sich Christoph sogar, ob er selber nicht auch nur ein Doppelgänger ist, Teil einer endlosen Kette von immer gleichen Leben. Und unweigerlich fällt einem das Lied «Bim Coiffeur» von Mani Matter ein, in dem ein Mann, der sich in Spiegeln vor und hinter sich endlos wiederholt sieht, von einem metaphysischen Gruseln überwältigt wird. Auch in Peter Stamms Roman, der schon nach wenigen Worten gefangen nimmt wie ein Traum (oder Albtraum?) und der von den Bildern handelt, die wir uns voneinander machen, und von der Macht, die diese Bilder über uns haben, trägt die Melancholie mitunter eine Gänsehaut. Nicht jeder mag schliesslich – wie Lena – die Vorstellung, dass die Zukunft festgeschrieben ist, als wäre das Leben eine Geschichte. CHRISTOPHER ZIMMER

Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. Roman. S. Fischer 2018. CHF 29.90

Nathalie Oestreicher: «Apfel und Vulkan», CH 2017, 81 Min. Läuft zurzeit im Kino.

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BILD(1): LINDA POLLARI, BILD(2): ULLMANN.PHOTOGRAPHY, BILD(3): ZVG, BILD(4): J. PAUL GETTY TRUST/BALTHASAR BURKHARD

Veranstaltungen Zürich «Enjoy Racism – Ein performatives Experiment», Theater, 28. bis 30. Juni, 20 Uhr, Fabriktheater Rote Fabrik, Seestrasse 395, Eintritt gratis für Personen des Asylbereichs. rotefabrik.ch

Es gibt keinerlei Zugangsvoraussetzungen, die Regeln sind schnell erklärt, Fairness wird hochgehalten, und wer immer schon mal mit der ganzen Familie inklusive Oma auf den Platz wollte: Hier ist die Chance. WIN

Bern «Harald Szeemann: Museum der Obsessionen & Grossvater: Ein Pionier wie wir», Ausstellung, Di bis Fr, 11 bis 18 Uhr, Sa/So, 10 bis 18 Uhr, bis 2. September, Kunsthalle Bern, Helvetiaplatz 1. kunsthalle-bern.ch

Plötzlich ist es allein die Augenfarbe, die über Zugang und gesellschaftliche Position entscheidet. Blau ist privilegiert, braun, grün und grau sind untergeordnet. 1968 machte die US-Lehrerin Jane Elliot in einem Experiment mit Schülern vor, wie man auf einfache Weise allen spürbar vermitteln kann, was Rassismus für die Betroffenen bedeutet. Das Künstler-Duo Thom Truong macht es nach und teilt das Publikum anhand der Augenfarbe auf. Weil Rassismus so absurd ist wie diese Erfahrung. Nur WIN nicht so vorübergehend.

Koch, die sich auf Plakaten vor dem Kunsthaus auch typografisch maDIF terialisiert.

Aarau «On the Road: 10 Jahre Caravan – Ausstellungsreihe für junge Kunst», Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do, 10 bis 20 Uhr, bis 23. September, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch «Caravan» ist die Förderungsplattform für junge Kunst, die das Aargauer Kunsthaus drei Mal im Jahr einer oder einem aufstrebenden Kunstschaffenden widmet. Zum Jubiläum gibt’s gleich einen ganzen «Parcours de Caravan» mit zehn verschiedenen Einzelkünstlern oder Duos. Darunter Robert Steinbergers Installation zur Kommunikation in Paarbeziehungen oder eine Sprechperformance von Sarina Scheidegger und Ariane

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Basel Offener StrassenfussballTreff, jeden Mittwoch, 19 Uhr, Zentrale Pratteln, Gallenweg 8, Pratteln, Treffen am Eingang, bitte pünktlich sein. surprise.ngo/strassenfussball Frisch eröffnet unter dem Motto «SchaffeLäbeGniesse» bietet die ehemalige Verteilzentrale von Coop in Pratteln allerhand spannenden Projekten ein vorübergehendes Zuhause. Auch der Surprise Strassenfussball hat hier sein Feld abgesteckt und offeriert nun endlich wieder einen Offenen Streetsoccer-Treff für jederfrau und -mann.

Harald Szeemann war so etwas wie der Erfinder des modernen Kuratierens. In den Sechzigerjahren war er Direktor der Kunsthalle Bern, danach Leiter der documenta 5, und in der Kunsthalle Bern zeigte er Kunst auf eine Art, die die Tradition massgeblich veränderte. Er interessierte sich für radikale Pioniere, für Happening und Fluxus. 2011 erwarb das Getty Research Institute in Los Angeles seinen immensen Nachlass und stellte zwei Ausstellungen (wieder) auf die Beine: «Museum der Obsessionen» und «Grossvater: Ein Pionier wie wir». Letztere kuratierte Szeemann 1974 in seiner Wohnung über dem Berner Café du Commerce. Er widmete die Schau seinem Grossvater, Etienne Szeemann, einem berühmten Coiffeur, der an Königshäuser bestellt wurde und einen Dauerwellenautomaten erfand. Harald Szeemann inszenierte in Feinarbeit über 1200 Gegenstände aus dem Nachlass des ungarischen Migranten und liess die Installation so zur Biografie werden. DIF

Sins AG «Kunst im Garten», Sa, 16. Juni bis So, 22. Juli, Mi, Fr bis So, 15 bis 21 Uhr, gARTen, Kirchstrasse 17. Sins hat eine Kirche, ein paar Schulhäuser und einen verwunschenen Garten, der den Sommer über zum Kunstraum wird. Sins liegt zwar im Aargau, aber es werden zu einem grossen Teil Zentralschweizer Künstler zu Gast sein. Die Idee entstand bei einem Essen in ebendiesem Garten der Sinser Künstlerin Annemie Lieder. Der Zuger Galerist Beat O. Iten war zugegen, ebenso Urs Sibler, ehemaliger Museumsleiter in Sachseln. So geht es nun um einen Brückenschlag der Kulturräume, die die drei Veranstalter prägen. Plastiken des Luzerners Paul Louis Meier sind dabei und des Zugers Norbert Stocker, die Luzernerin Johanna Wüest-Peter und der Nidwaldner Rochus Lussi sind vertreten. Die ganze Welt in Sins, fast. Oder doch immerhin viel Schweiz von überall her. DIF

Zürich «Nachspielzeit», Theater, Premiere Di, 12. Juni, 20.45 Uhr, weitere Vorstellungen Do, 14. Juni, Mo bis Mi, 18. bis 20. Juni, So, 24. Juni, Do bis Sa, 28. bis 30. Juni, jeweils 20.30 Uhr, Schauspielhaus Zürich/Schiffbau, Schiffbaustrasse 4. schauspielhaus.ch Erstens: Das Thema Einsamkeit hält im Theater Einzug, siehe dazu auch die Vorschau auf das Fribourger Belluard Festival auf Seite 24 dieses Hefts. Zweitens ein paar Fakten: Einsamkeit ist in vielen europäischen Ländern weit verbreitet. Fühlten sich 2007 noch 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung «manchmal bis sehr häufig» einsam, waren es 2012 schon 36,1 Prozent. Man fühlt sich am Arbeitsplatz einsam, man fühlt sich im Alter einsam, und im Januar ernannte die britische Regierung sogar eine Ministerin der Einsamkeit. Auch der Belgier Jan Sobrie nahm sich des Themas an und bringt nun ein poetisches, skurriles Stück über einen Kellner (Urs Bihler) auf die Bühne, der in und von den Geschichten seiner Gäste lebt. Mit Nicolas Batthyany und Larissa Keat. DIF

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 12

Glück im Spiel Was bisher geschah: Vera Brandstetter, unfreiwillig in der Agglomeration gestrandete Kriminalpolizistin, wird mit dem Fall eines ermordeten Joggers betreut. Es gelingt ihr, die schweigsame ukrainische Ehefrau, die sie auf den Posten bestellt hat, aus der Reserve zu locken. «Mein Mann hat das Geld gewonnen», rückte Olena Schwander endlich heraus. «Gewonnen? Was soll das heissen, gewonnen?», fragte Vera Brandstetter erstaunt. «Beim Pokern.» Äusserlich zeigte sich Brandsteter unbeeindruckt, innerlich grinste sie. Endlich hatte sie den Riss in der Fassade gefunden. «Ihr Mann war spielsüchtig. Er hatte Schulden bei Leuten, die nicht zimperlich sind. Jetzt müssen Sie mir nur noch sagen, bei wem, und wir sind einen grossen Schritt weitergekommen.» Frau Schwander schüttelte energisch den Kopf. «Er hatte keine Schulden, er hat nicht verloren, er hat gewonnen.» «Das ist mitunter noch gefährlicher.» Brandstetter ging um den Tisch herum. «Wo hat er gespielt und mit wem?» Sie legte ihr die Hand auf die Schulter. «‹Ich weiss nicht› wäre eine ganz schlechte Antwort. Schlecht für Sie. Sie haben die Polizei angelogen, als Sie sagten, Sie wüssten nicht, woher das Geld stammt. Das war sehr dumm von Ihnen.» «Er hat im Happy Valley Salon gespielt, am Donnerstagabend.» Olena Schwander hielt den Blick starr auf ihr Täschchen gerichtet. Der Riss wurde vor Brandstetters geistigem Auge breiter. Das Happy Valley war nämlich kein Spielsalon, sondern ein Bordell im Industriegebiet von Hemlikon. «Ihr Mann ist also einmal die Woche in den Puff gegangen?» Sie musste lachen. «Das hat er nicht nötig gehabt», zischte Olena empört. «Haben Sie sich dort kennengelernt?» Wieder eine unfaire, aber wirksame Frage. Schwanders Augen funkelten derart, dass Brandstetter sich daran erinnerte, die Frau nicht vorzeitig als Verdächtige auszuschliessen. «Der Puff ist vorne, gespielt wird hinten. Ich war sogar einmal da und er hat es mir gezeigt. Wir haben uns vertraut. In der Schweiz gibt es Nachbarn, die einen auf einmal anrufen und fragen, ob man wisse, wo sich der Mann am Donnerstagabend herumtreibt.» Surprise 427/18

«Sie hatten Probleme mit den Nachbarn?» «Nein. Ich will damit nur sagen, dass es Menschen gibt, die anderen ihr Glück nicht gönnen.» «Haben Sie ihn dort eingeführt? Es gibt osteuropäische Banden, die auf illegales Glücksspiel spezialisiert sind. Haben Sie Kontakt zu solchen Kriminellen?» Schwander sprang auf und schleuderte ihre Handtasche mit gewaltiger Kraft an die Wand. Brandstetter ging instinktiv in Deckung. «Ich bin keine Prostituierte und keine Kriminelle. Ich habe einen Masterabschluss in Germanistik!», schrie Olena Schwander. «Was glauben Sie, warum ich so gut Deutsch kann?» Brandstetter hob die Tasche auf und legte sie vor Schwander auf den Schreibtisch. «Hat er das ganze Geld an einem Abend gewonnen?» Die Frau setzte sich, ihre Hände zitterten leicht. «Nein, immer ein bisschen. Er war sehr gut.» Sie fasste sich wieder, in ihrer Stimme schwang Stolz mit. «Nochmal, mit wem hat er gespielt?» «Ich weiss nicht.» Brandstetter trommelte mit den Fingern auf den Tisch, doch diesmal glaubte sie ihr. Wie sich die Pokerrunde zusammensetzte, müsste sie selber herausfinden. Einen Moment lang überlegte sie, die Frau dazubehalten. Ein paar Stunden Untersuchungshaft wirkten oft Wunder. Vor allem bei unbescholtenen Bürgern, die einen Fehler gemacht hatten und nun meinten, mit Patzigkeit und ausführlichen Darlegungen ihrer Staatsverdrossenheit den Eindruck erwecken zu können, sie seien hart und unbeugsam, nur ihren Prinzipien verpflichtet und in der Lage, das System mit blosser Kaltschnäuzigkeit zu ihren Gunsten zu manipulieren. Wie die Gangster in den Serien. Nur hiessen sie eben Paul und nicht Pablo, Aeschbacher und nicht Escobar, und darum kamen sie nach ein paar Stunden in der Zelle, spätestens nach einer Nacht, lammfromm angekrochen, bereit, alles zuzugeben. Olena Schwander hingegen wäre damit nicht zu beeindrucken. Also liess Brandstetter sie laufen. Sie musste sich vorbereiten, es war Donnerstag, am Abend würde die Pokerrunde zusammenkommen. Sie zog verschiedene Vorgehensweisen in Betracht und atmete tief durch, ehe sie zum Telefon griff. STEPHAN PÖRTNER schreibt Romane und Theaterstücke. Wer eine oder mehrere Folgen seines Krimis «Agglo-Blues» verpasst hat, kann sie auf unserer Webseite nachlesen oder auch hören: www.surprise.ngo|krimi

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Leadership LP3 AG, Biel

02

Echtzeit Verlag, Basel

03

Maya-Recordings, Oberstammheim

04

Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

05

Scherrer & Partner GmbH, Basel

06

Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

07

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

08

Lotte’s Fussstube, Winterthur

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Cantienica AG, Zürich

10

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

11

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Kaiser Software GmbH, Bern

13

Coop Genossenschaft, Basel

14

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel

16

Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

17

VXL gestaltung und werbung AG, Binningen

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Burckhardt & Partner AG, Basel

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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

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SM Consulting, Basel

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Holzpunkt AG, Wila

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Praxis Colibri, Murten

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Sozialer Stadtrundgang

#424: Sozialzahl: Sparen im Sozialstaat

«Sicher ist niemand»

«Millionen und Milliarden»

Ich möchte mich nochmals herzlich bei Herrn Christen und Ihrem Team für die Führung an diesem regnerischen Nachmittag bedanken. Die Mischung aus Institutionen und eigenen Erlebnissen macht den guten Mix aus. So konnte sich die Gruppe besser in die Situation von Randständigen hineindenken. Die Tour hat beim Nachtessen danach unter den Teilnehmern zu verschiedenen Gesprächen geführt und sicherlich alle zum Nachdenken angeregt. Sicher, dass man nie in eine solche Situation kommt, ist ja niemand. T. GL ARNER, Frick

#424: Würden Sie Ihrem Kind zwölf Löffel Zucker geben?

«Ewig gefördert und entwickelt» Bald gehen unsere Kleinen auf die Strasse: Wann können wir endlich einmal in Ruhe umesürmle und gfätterle? Ewig müssen wir gefördert, entwickelt und sozial eingebunden werden! Und das alles neben der Schule: Montag Schach, Dienstag Geburtstagsfeier, Mittwoch Piccolo spielen, Donnerstag Herbstmesse, Freitag Quartierfest. Was für ein Aufsteller dagegen die Seite 4. Super.

Impressum

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12

Mitarbeitende dieser Ausgabe Jan Baumgartner, Henry Hargreaves, Lucian Hunziker, Kostas Maros, Whitley O'Connor, Mara Wirthlin, Christian Zeier

Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Georg Gindely (gg) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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P. HÄSLER, Bubikon Wir bitten für die Verwechslung um Entschuldigung. Die Redaktion

S. FREY WERLEN/DIENG, Basel

Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel

Bei der Illustration der Kolumne Sozialzahl ist Ihnen ein Missgeschick passiert. Während die Zahlen im Text vom Autor richtig angegeben sind, sind sie in der Grafik tausendfach zu hoch angeschrieben. Die Kosten für die IV betragen dort nicht 9304 Millionen, sondern 9304 Milliarden. In Gesprächen mit Freunden stelle ich fest, dass viele sich des Unterschieds zwischen Million und Milliarde gar nicht bewusst sind. Beides – sagen viele – sei einfach sehr viel Geld. Ich versuche dann jeweils, den Unterschied optisch klarzumachen: 1 000 Tausendernoten sind eine Million, aufeinandergeschichtet ergeben sie ein «Beigelchen» von 17 Zentimeter Höhe. Wie hoch ist nun das «Beigelchen» bei einer Milliarde? 1,70 Meter sagen viele, stutzen, und kommen vielleicht auf 17 Meter. Wenn ich dann sage, es ist ein Turm von 170 Meter Höhe, werden die meisten sprachlos. Es gibt viele Milliardäre in unserem Land, einige davon sind Besitzer mehrerer solcher Türme.

Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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FOTO: KOSTAS MAROS

Surprise-Porträt

«Ich liebe alles Lebendige» «Was mir der Surprise Strassenchor bedeutet? In erster Linie ist es einfach Freude an der Musik. Es ist für mich sehr erfüllend und ein grosses Geschenk, dass ich meine Leidenschaft für Perkussion und Gesang auf meine Art einbringen und mit anderen Menschen teilen kann. Ich spiele seit 25 Jahren Congas, kubanische Fasstrommeln. Früher begleitete ich westafrikanische Tanzkurse, doch als die Nachfrage abnahm, hatte ich immer seltener die Möglichkeit, mit Leuten zusammen Musik zu machen. Vor zwei Jahren wurde ich dann als musikalische Begleitung zum Strassenchor eingeladen. Seit Beginn singe ich die Lieder mit, die ich nicht begleite – und wenn es koordinativ geht, singe ich auch zum Trommeln. Ich war schon immer sozial engagiert, arbeitete zum Beispiel lange im Behindertensport. Wenn ich mich heute in grossen Städten wie Hamburg umschaue und sehe, wie viele auch junge Leute auf der Strasse leben, bin ich froh, dass es Organisationen wie Surprise gibt, welche die Menschen wieder zurück ins Leben holen. Es ist toll, Teil eines solchen Projekts zu sein. Unabhängigkeit war mir immer sehr wichtig. Ich habe bereits mit 16 Jahren begonnen zu arbeiten, war Au-pair in Lausanne und Florenz und machte Ausbildungen in den unterschiedlichsten Bereichen: Ich liess mich als Teleoperatrice, Sportmasseurin, Bewegungspädagogin, Erwachsenenbildnerin und Qi-Gong-Lehrerin ausbilden; zudem machte ich den Vorkurs an der Schule für Gestaltung, absolvierte ein Malstudium und mehrere sozialpädagogische Weiterbildungen. Was sich durchzieht, ist meine Liebe für alles Lebendige. Und mich interessieren einfach Menschen und Biografien. Zurzeit bin ich hauptberuflich als agogische Gruppenleiterin für Körperbeeinträchtigte tätig und nebenher als Bewegungspädagogin. Eigentlich hätte ich nie gedacht, dass ich einmal im sozialen Bereich arbeiten würde. Erst durch meine musische Fachrichtung fand ich einen Zugang dazu und merkte, dass mir das liegt. Ich glaube, ich habe die Fähigkeit, Menschen offen zu begegnen und mit meiner Begeisterung anzustecken, sei es nun fürs Tanzen, Gestalten oder Musik machen. Wenn ich im Chor bin, lege ich meine berufliche Rolle völlig ab. Es ist mir überhaupt bei allem, was ich tue, wichtig, dass ich keine Sonderrolle habe und den Menschen auf Augenhöhe begegne. Bei Surprise werden die Menschen ernst genommen. Die Unterstützung ist sehr positiv und ermächtigend. Jemand, der vorher vielleicht einen Schicksalsschlag erlitten hat, steht nun bei uns auf der Bühne und bringt Freude in das Leben anderer. Da stehen wir dann als bunte Gruppe vor dem 30

Katharina Holzer, 50, lebt in Basel und singt und spielt Congas im Surprise Strassenchor.

Publikum und transportieren so viel Lebensfreude, dass man fast vergisst, dass einige aus dem Chor ja eigentlich selbst mit dem Leben zu kämpfen haben. Ich finde es immer wieder bemerkenswert, wie mutig die Chorleute sind. Bei Sologesängen musste ich auch schon die eine oder andere Träne wegdrücken, denn diese authentische Schönheit berührt mich einfach. Der Chor bedeutet uns allen sehr viel, es ist ein Herzensprojekt, und ich glaube, dass wir das auch nach aussen vermitteln. Die Atmosphäre ist freundschaftlich und familiär, es gibt eine richtige Chor-Familie, in die auch ich mit offenen Armen aufgenommen wurde. In den Proben geht es immer lebendig zu und her, wir lachen viel, bei der letzten Probe haben wir uns erst gerade wieder ausgeschüttet vor Lachen. Alle haben ihren Platz. Auch ich kann einfach so sein, wie ich bin, und dadurch erlebt man einander so intensiv. Das bedeutet in unserer Gesellschaft sehr viel, denn das kann man nicht überall.» Aufgezeichnet von MAR A WIRTHLIN Auftritt des Surprise Strassenchors am Dienstag, 26. Juni, 18.30 Uhr, im Probelokal am Aeschenplatz 2 in Basel. Eintritt frei/Kollekte.

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GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN

Porträts der Surprise Verkaufenden in Buchform

Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung.

156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO Surprise 427/18

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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbar Volière, Inseli Park IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


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