Strassenmagazin Nr. 429 13. bis 26. Juli 2018
CHF 6.–
davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden
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Literaturausgabe
Status quo
Ein Lesesommer mit Kurzgeschichten von Yael Inokai, Ralf Schlatter, Tanja Kummer, Big Zis, Christoph Simon, Dominic Oppliger, Donat Blum und Catalin Dorian Florescu
GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN
Porträts der Surprise Verkaufenden in Buchform
Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung.
156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO 2
Surprise 429/18
TITELBILD: JULIA MARTI
Editorial
Gedankenwelten In manch einer Firmen-Strategiesitzung wird gerne breitbeinig innovatives Denken gefordert. Manchmal denke ich, es ist paradox: Viele Surprise-Verkaufende – die in diesen Firmen keinen Platz bekämen – bringen genau das mit, was in den verglasten Bürotürmen an Mut und Originalität gefordert wird. Sie leben ihr ganzes Leben innovativ. Damit haben sie auch viel mit Literaten gemeinsam. Ungewöhnliche Ideen und alternative Lebensentwürfe etwa. Die einen probieren sie auf Papier aus, die anderen in der Realität. Schweizer Autorinnen und Autoren haben uns ein riesiges Geschenk gemacht. Sie haben honorarfrei für uns geschrieben oder passende Werke aus ihren Schubladen und Büchern hervorgesucht. Wir möchten uns an dieser Stelle ganz herzlich bei ihnen für ihr Engagement bedanken.
andere Welten, andere Lebensumstände und Gedankenräume hineindenken können. Es sind Erzählungen, die das Leben unter anderen Vorzeichen vorstellbar machen. Wir möchten daher mit dieser und der folgenden Sommer-Lesenummer den Wert der Literatur sichtbar machen. Und übrigens: Auch Surprise und die Verkaufenden werden in Zukunft noch sichtbarer. Ab sofort sind die Geschäftsstelle, die Redaktion und die Basler Heftausgabe am Rümelinsplatz mitten in der Stadt zu finden. Denn alternative Lebensentwürfe gehören ins Zentrum, damit sie Teil des täglichen Lebens und Denkens werden. Die Themenvorgabe für das vorliegende Heft war «Status quo». Am 27. Juli geht es weiter mit dem zweiten Literaturheft «Utopie».
Ohne Literatur wären auch die alternativen Lebensentwürfe weniger denkbar. Denn um sie gelten zu lassen, muss man sich in
Illustrationen
4 Yael Inokai
Die gesprungene Fliese 7 Ralf Schlatter
DIANA FREI Redaktorin
14 Christoph Simon
Prognose: Veränderlich, vereinzelt etwas Sonne
26 Rätsel 28 SurPlus Positive Firmen
Fosbury Flop 17 Dominic Oppliger 9 Tanja Kummer
Barblin, Bastian und der Einbuchstabentag Julia Marti, *1984, arbeitet als Zeichnerin und Grafikerin in Zürich. Sie ist unter anderem Dozentin an der F+F Schule für Kunst und Design und Mitherausgeberin des Comicmagazins Strapazin. juliamarti.com
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12 Big Zis
waari gröössi
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
18 Donat Blum
Tín En la pendiente
Status Quo an Utopia
30 Surprise-Porträt
«Meine Eltern wären stolz auf mich»
21 Catalin Dorian Florescu
Der Nabel der Welt 25 Veranstaltungen
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Die gesprungene Fliese TEXT YAEL INOKAI
Die Spaziergänger kehren verlässlich wieder. Sie fluten die Strassen, die sie einen ganzen Winter lang vernachlässigt haben. Nur lästiger Weg waren sie ihnen. Jetzt haben sie die Gehsteige eingenommen, für die wenigen Läufer ist kein Durchkommen mehr. Kurz bin ich einer von ihnen, dann schere ich aus und gehe zum Haus hoch, stecke meinen Schlüssel ins Schloss, und ehe ich ihn drehe, klingle ich. «Ich bin’s.» «Weiss ich doch.» In der Wohnung im ersten Stock bin ich aufgewachsen. Hufeisenförmig zieht sich ein schmaler, langer Gang um einen kleinen Innenhof und wirft zu beiden Seiten Zimmer ab. Gegen die Strasse hin ist es laut. Das Laute hat hier immer seinen Weg hergefunden. Erst war es die Bahn, dann hoben sie das Gleisbett aus dem Boden und teerten, und was eine beruhigte Gegend werden sollte, wurde von Cafés erobert. Statt Müttern und Vätern sassen dort die Jungen, und wenn man die Jungen am frühen Abend auf die Gehsteige beförderte, blieben sie einfach dort und tranken weiter, bis man nachgab und ihnen Bars eröffnete, aber irgendwie hatten sie sich unterdessen an den freien Himmel gewöhnt und bevölkerten die Strassen weiterhin. Als sie selbst Mütter und Väter wurden, machten sie aus den Bars wieder Cafés. Ihre Kinder liefen so 4
oft vor Autos, die ohnehin nur im Kriechtempo fahren durften, bis man den motorisierten Verkehr ganz verbot. Jetzt gehören die Tage den Kindern und die Nächte den kleinsten von ihnen, Säuglingsgeschrei dringt durch jedes Doppelglasfenster und alle Gemäuer. Den frühen Abend reklamieren die Rebellen für sich, die mit ihren Klapperkisten durch die Strasse brausen, als zettelten sie eine Revolution an. Und die Spaziergänger. Die Spaziergänger! Mein Vater hat über nichts geschimpft. Kein Lärm hat ihn je zu einem bösen Wort verleitet. Achtundfünfzig Jahre Frieden, während über uns Eier aus dem Fenster flogen. «Aber das ist zu viel. Wie kommen die denn alle her? Und wo gehen die hin?» Zum Innenhof hin ist es ruhig. Die Wohnung im ersten Stock ist die einzige, die sich über das gesamte Gebäude erstreckt. In den Seitenflügeln wohnten stets Studenten, und ich hab fast mein ganzes Leben lang gerätselt, warum sie den Lärm nicht mitgebracht haben, warum man höchstens hörte, wie ein Glas zerbrach, oder einmal ein Lustschrei, der kurz die Luft zerriss. Üblicherweise zogen die Studenten irgendwann weiter, in Vorderhäuser, in ganze Häuser, es kamen neue Studenten, die Gläser fallen liessen. Aber seit einigen Jahren will keiner mehr gehen, plötzlich ist der Hinterhof mit Paaren und Kindern gefüllt, Surprise 429/18
und nur in den Räumen im Erdgeschoss gibt es noch so etwas wie Fluktuation. Man bleibt. Aus einem jungen Mann, der über acht Zimmer verfügt, weil es in der Stadt kaum etwas gibt ausser Platz, werden ein Mann und eine Frau, die in sechs Zimmern eine Familie grossziehen wollen. Aus zwei Zimmern, die darauf warten, dass Kinder sie abwohnen, wird ein Zimmer, dessen Wände gelb, grün, blau und schliesslich schwarz gestrichen werden, eine Diele wird aus dem Boden gehebelt, darunter verschwindet eine kleine Büchse mit Murmeln, dessen Besitzer sie nie vermissen wird, werden vierzehn Quadratmeter, die durch eine Kindheit und Jugend gezogen werden, während das Zimmer daneben immer noch auf seinen Bewohner wartet. Und wartet. Und wartet. Wir sollten eine Mutter, ein Vater, ein Sohn und eine Tochter sein, und andere Familien wuchsen wie Unkraut, aber wir blieben unfertig. Ich war beleidigt. Hier lebt ein alter Mann, der über acht Zimmer verfügt, aber nur in einem wohnt. Die anderen sind zu kleinen Museen geworden. Mein Vater sagt oft, wenn er könnte, würde er umziehen. Es gibt eine einfache Wohnung im Erdgeschoss, ein Zimmer, an das eine kleine Küchennische anschliesst, eine Toilette, eine Dusche. Es ist dunkel, aber es zieht nicht. Über viele Jahre stand sie leer. Die Kälte, die vom unbewohnten Raum zu uns hochstieg, war an den Schuhsohlen zu spüren. Aber nun ist sie zu teuer geworden. Zweiunddreissig Quadratmeter, die sich ein alter Mann auf hundertfünfzig Quadratmetern nicht leisten kann. Und deshalb auf einer Insel lebt, einundzwanzig Quadratmeter, das Zimmer eines Ehepaares, ich wurde hier gezeugt und geboren, und es liegt direkt neben dem Badezimmer. «Ich bin hier.» «Ich hör’s.» Ich ziehe mir die Schuhe im Gang aus, stelle sie auf das Regal, hänge meinen Mantel auf einen Bügel und nehme den Hut vom Kopf. Die Tür fällt mit einem lauten Knall ins Schloss, sie kann ja nicht anders, alles in diesem Haus hat den Lärm angenommen, jede Leitung, jeder Kühlschrank, jeder Tritt aufs Parkett ein Konzert. Ich sehe ihn auf dem Sessel vor dem Fenster sitzen. «Papa», sage ich, gehe auf ihn zu und küsse ihn auf seine Stirn. Er neigt seinen Kopf mir zu und ich bleibe einen Moment, ziehe mich von meiner Geste noch nicht gerade zurück. Auf dem Tisch steht ein Strauss frischer Blumen. Ich lehne mich über die Vase und rieche daran. Von draussen kommt warmes Licht. Durch die halb gezogenen Vorhänge wirft es Schatten in den Raum. Ich rücke den Aschenbecher neben der Vase, bis die Sonne sein Kristallglas trifft, und drehe ihn dann, sage, «schau Papa», und seine Augen fangen an, das Lichtspiel durch den Raum zu verfolgen. «Was du immer machst», sagt er. «Lasst mich!», habe ich manchmal gebrüllt, das ganze arme Haus zusammengebrüllt, wenn meine Eltern mir einen Abschiedskuss geben wollten, wenn meine Mutter mir unter den Rippenbogen kniff, um mich zu ärgern, Surprise 429/18
wenn mein Vater meinen Kopf zwischen seine Hände nahm und etwas sprach, was wie ein Gebet klang, aber was sollte das sein, Gott wohnte nie bei uns. Keine meiner Kameraden mussten so was erdulden, deren Eltern langten ihnen höchstens ein paar, das war’s. Aber ausgerechnet Mira, die am lautesten über mich gelacht hatte, «HAHAHAHA» quer über den Schulhof, nachdem mein Vater einen Kuss zwischen meine Augen platziert hatte, stand eines Abends vor der Tür und schlug ihr Nachtlager bei uns auf. Sie stand vom Sofa auf, das sie nach einem gemeinsamen Fernsehabend einfach nicht mehr verlassen hatte, zog erst mich aus dem Bett und ging mit mir an der Hand zu meinen Eltern, damit wir alle zusammen schlafen konnten. Weil es in meiner Familie traumtechnisch wild zu und her ging, wurde geschlagen und getreten, und trotzdem schlief sie so tief, ich linste einmal zu ihr hinüber, die unfreiwillig im Schwitzkasten meiner Mutter lag, so zufrieden hab ich sie in den vierzehn Jahren danach, wenn ich sie nachts im Arm hielt, nie wieder gesehen.
«Nur das macht mir Angst.» «Sonst nichts?» «Sonst nichts.» «Tee?» «Aber nicht den in der grünen Box.» Es steht fast nichts mehr in der Küche, mit dem man kochen könnte. Mein Vater hat Geschirr und Küchengeräte verschenkt, die Paare aus den Seitenflügeln kamen, junge Väter von den Cafés unten, auch die Rebellen haben mit ihren Rollern eine Vollbremsung hingelegt, um etwas Porzellan ergattern zu können. Nur ein paar Teller gibt es noch, für das Essen, das mittags und abends geliefert wird. Brot, das mein Vater hart werden lässt. Und Schokolade, dunkle, helle, Vollmilch, mit ganzen Nüssen, mit Pistazien, mit Kirschfüllung, es ist kein Problem, sich von Schokolade zu ernähren, ich wusste das als Kind schon, und das Wissen ist mit dem Alter zu meinem Vater zurückgekehrt. Von meinem Zimmer aus sah ich auf den Balkon, der von der Küche abgeht. Wenn meine Mutter dort Wäsche aufhängte, setzte sie sich nach getaner Arbeit manchmal zwischen die Laken auf einen Stuhl und rauchte. Rauchte eine. Rauchte zwei. Rauchte drei. Drückte mit dem nackten Zeh die Kippen aus und warf sie in den Innenhof. So war sie mir ein Rätsel. Meine Eltern boten mir mehrmals an, das Zimmer zu wechseln, ob es mir denn nicht zu klein geworden sei. Jedes Mal lehnte ich ab. Diese Momente meiner Mutter waren, als hätte jemand die Tür zu einer geheimen Welt geöffnet, in die ich zwar nicht eintreten durfte, aber in die man mir zumindest einen Blick gestattete. «Was magst du schauen?» «Wollen wir einen Spaziergang machen?» «Was du schauen magst, hab ich dich gefragt.» Nur der Fernseher ist umgezogen. Vom Wohnzimmer, 5
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geben hatte, weil er glaubte, sie bedeute mir so viel. In alle Richtungen kullerten sie die unebenen Böden hinab. «Scheisse!», rief ich aus, «Scheisse, Scheisse, Scheisse!», und stürzte diesen unbedeutenden Murmeln nach, die sich wie verängstigte Tiere davonmachten. Mein Vater ist eitel geworden. Er hat ein Zimmer geräumt für einen Musikstudenten. Er habe ja so viele davon. Dann ist er gestürzt. Keiner sollte ihn so sehen. Kein Musikstudent und kein Sohn. Dass er sterblich ist, wie wir anderen auch, war immer sein bestgehütetes Geheimnis gewesen. «Wiedersehen Papa», sage ich, «bis übermorgen», und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. «Noch einen», verlangt er, und ich küsse ihn auch rechts, und noch einmal links, und noch einmal rechts, und noch einmal links … Ich drücke ihm beide Hände, dann steige ich in meine Schuhe und verlasse die Wohnung. Beim Rausgehen fällt mir der Spazierstock auf, angelehnt am Schuhregal. Weil er sie alle so gehasst hat, hat er es selbst probieren wollen, ist mit dem Spazierstock seines Vaters einmal runter und ein paar Mal die Strassen auf und ab, bis ihm völlig fad geworden ist und er sich in einem Café niedergelassen hat. Drinnen. Beim Blick aus dem Fenster sei ihm klargeworden, warum ihm der Tod keine Angst mache. Er brauche sich um die Stadt nicht zu sorgen, der immer neuer Quatsch einfällt. Sie wird ihn nicht vermissen. Als er ein junger Mann war, hat sie ihn gebraucht, aber wie ein Kind ist sie irgendwann in ein Leben ohne ihn aufgebrochen. Auch dieses Haus würde sich von seinem langjährigen Bewohner erholen. Für ihn sei es seine Haut geworden, ein Teil von ihm. Dass dieser Teil mit ihm geht und die Wohnung frei wird für andere Geschichten, ist nur vernünftig. Tröstlich, eigentlich. «Aber es scheint dich traurig zu machen.» «Ein bisschen.» «Warum?» «Weil ich manchmal an die gesprungene Fliese im Badezimmer denke. Da wird einer kommen und sie ersetzen. Aber eigentlich ist nichts verkehrt an ihr.» YAEL INOK AI, wurde 1989 als Tochter einer Deutschen und eines Ungarn in Basel geboren. Philosophiestudium in Basel und Wien, Drehbuchstudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. 2012 erschien ihr Debüt «Storchenbiss». Für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» wurde sie 2018 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
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FOTO: CONSTANTIN CAMPEAN
in dem nun ein Loch klafft, ins Schlafzimmer, wo seit dem Tod meiner Mutter auch eins klafft. Die quadratische Kiste schneidet dem Bild die Ecken ab. Manchmal läuft sie Tag und Nacht, manchmal über Wochen gar nicht. Man musste nichts für meinen Vater organisieren, als es geschah, er hat sich geduscht und gepflegt, den Haushalt geschmissen, gut gegessen. Aber die Stunden zu füllen, in denen alles erledigt war, eine einzige Minute auf diesem Bett, das nie das Bett einer Einzelperson gewesen war, sogar im Möbelhaus hatten sich immer nur Paare zum Probeliegen draufgelegt ... meinem Vater fehlten selten die Worte. Er liebt den Fernseher, das gibt er offen zu. «An das Fehlen kannst du dich nicht gewöhnen.» «Nein.» «Aber du kannst dir einen Fernseher anschaffen.» «Findest du das nicht traurig?» «Sei doch nicht so neumodisch. Was ist da traurig dran. Hast du bisschen Gesellschaft, und wenn du Ruhe willst, machst du die Flimmerkiste aus. Ausserdem machen die jeden Tag neues Programm. Nicht wie bei Martin. Bei dem läuft seit zwanzig Jahren konsequent die gleiche Sendung. Hält doch keiner aus.» Mein Vater ist eitel geworden mit fortschreitendem Alter. Er hat seine ausgebeulten Pullover und Jeans gegen feine Hemden und teure Stoffhosen ausgetauscht. Zur Hautpflege ist er gegangen, er hat die Haare in Nase und Ohr gestutzt, er kaufte sich Wachs zum Modellieren seines Schnauzes und Wachs zum Polieren seiner neuen englischen Lederschuhe. Diese Dinge haben mich beruhigt. Der Vater meines alten Schulfreundes Paul liess sich gehen, kaum lag der letzte Arbeitstag seines Lebens hinter ihm. Er rasierte sich nicht mehr, mit den Jahren wusch er sich seltener und roch unangenehm. Er trug an vielen aufeinanderfolgenden Tagen dieselbe Kleidung, und Haare wuchsen ihm, am Schlüsselbein, auf den Schultern, sie sprossen aus den Nasen- und Ohrenlöchern. Der Kopf senkte sich tief in den Hals hinein, der Hals in den Nacken und der Nacken drückte seinen Rumpf zusammen. Irgendwann ist der verschwunden. Verschwinden. Manche sind so eitel wie mein Vater, manche spazieren, manche treiben Sport, gehen zum Vereinstreffen, zum Chor. Aber wenn sie ihre Wohnung verlieren, fliegt die Welt auseinander. Wie ein Gewächs, das man umpflanzt und das dann eingeht. «Nur das macht mir Angst.» «Sonst nichts?» «Sonst nichts.» «Der Tod?» «Ich freu mich drauf.» «...» «Dein Gesicht!» Ich zerteile die Schokolade in kleine Brocken, schätze zusammen mit meinem Vater, wie viel wohl der Plunder wert ist, der im Fernsehen vor einem Händler ausgebreitet wird. Wir haben uns häufig gestritten in den vergangenen Monaten. Wohin mit einem Berg von Erinnerungen? Mein Vater hat schon einen Entrümpler organisiert, «für Tag X». Als ich das hörte, fiel mir die Büchse mit den Murmeln aus der Hand, die er mir eben feierlich über-
Fosbury Flop TEXT RALF SCHLATTER
Jetzt erst, als Lukas um sich schaute, wurde ihm bewusst, wo er stand. An einem Unort, direkt an der Hauptstrasse, ausserhalb vom Dorf. Ein Lastwagen brauste vorüber. Auf seiner Seite stand «Mal besser, Malbuner». Hinter ihm Wiesen, Äcker. Er drehte sich um. Ein Mäusebussard kreiste, stiess sehnsüchtige Laute aus. Von fern ein paar Kuhglocken. Hinter der Hauptstrasse, an den Hang geklebt, das Dorf. In dem er aufgewachsen war, gross geworden, in dem er lebte. Von hier aus sah man all die Einfamilienhäuschen, an der Halde, bis hoch zum Waldrand. Die Halde, über die sie früher geschlittelt waren, wo er sich zwei Vorderzähne ausschlug, als er im Temporausch die Herrschaft über seinen Davoser-Schlitten verlor, ausgerechnet am Weihnachtsmorgen, was ihm im Nachhinein wie ein Wunder vorkam, denn die ausgeschlagenen Zähne bewahrten ihn vor der stillen und heiligen Nacht auf der Blockflöte. Rechts vom Dorf das Schulhaus. Inzwischen mit aufeinandergestapelten Pavillons für zusätzliche Klassenzimmer. Dort, wo die Pavillons standen, war früher die Weitsprunggrube. Wo er nach der Schule im Sand gedankenverloren nach Haifischzähnen grub, bis es dunkel wurde, und sich vorstellte, er sitze am Strand und hinter der Grube beginnt das Meer. Der steinerne Tischtennistisch, mit dem Netz aus massivem Metall, das ihm immer auf eigenartige Weise brutal vorkam, so kompromisslos, wie es den harmlosen Pingpongball abprallen liess. Und dann natürlich die Hochsprungmatte. Auf der er Sabine zum ersten Mal küsste. Das heisst, Sabine küsste ihn. Denn sie wusste schon ziemlich genau, wie das ging. Sie war ja vorher mit Pascal zusammen gewesen. Bis zu den Dorfmeisterschaften. Hochsprung. Als Sabine neben der Matte auf der Wiese sass und Pascal dreimal auf der Anfangshöhe riss. Und er, Lukas, im perfekten Fosbury Flop über die Einsvierzig segelte und sich überlegen den Titel holte. Und am selben Abend Sabine. Die Matte war noch brandheiss vom Sommertag, der Kunststoff roch atemberaubend. Sabine steckte ihre Zunge in seinen Mund. Ein Meter vierzig. Persönlicher Rekord. Noch Jahre später, sobald er Sabines Zunge im Mund hatte, dachte er an diesen formvollendeten Hochsprung, und jedesmal stand für einen Augenblick die Zeit still, im toten Punkt über der Latte, der Körper im fliegenden Halbkreis durchgebogen, scheinbar schwerelos. Ein Lastwagen brauste vorüber. «Holenstein, Logistik … die bewegt». Sabine. Surprise 429/18
Seine erste grosse Liebe. Seine Jugendliebe. Die dann irgendwie nahtlos überging in die Erwachsenenliebe. Was immer das genau war. Vielleicht einfach nur die Macht der Gewohnheit. Oder die Angst vor deren Ende. «schöni, Yes we can!». Er hatte nur das Nötigste in seinen «Freitag»-Rucksack gepackt, völlig mechanisch. Er war sich vorgekommen wie in einem schlechten Film. Er hatte sein Handy auf dem Nachttischchen liegen lassen. Er musste nach Hause, um es zu holen. Zehn Minuten zu Fuss, vom Treuhandbüro zur Wohnung, einmal durchs Dorf. Bis um halb elf hatte er Sitzungen gehabt. Und Sabine wollte er nicht stören, sie stand kurz vor den Abschlussprüfungen als Physiotherapeutin und lernte zuhause von morgens bis abends. Dachte er zumindest. Denn als er um elf in die Wohnung kam und Richtung Schlafzimmer ging, da hörte er daraus Geräusche, nun ja, wie aus einem sehr schlechten Film. Und einem sehr vulgären obendrauf. Dann tat er etwas Lustiges: Er ging ganz einfach noch einmal aus der Wohnung hinaus und schloss die Tür. Als wollte er den Film zurückspulen, um zu schauen, ob es nicht vielleicht ein Fehler gewesen war auf der Tonspur. Dann öffnete er die Tür noch einmal und ging noch einmal Richtung Schlafzimmer. Allein, die Tonspur war nicht nur noch da, sie hatte sich, nun ja, inzwischen quasi verdoppelt. Er holte tief Luft und öffnete die Tür. Es war wirklich ein saumässig schlechter Film. Es war Pascal. Die beiden waren dermassen in ihre Handlung vertieft, dass sie ihn nicht einmal wahrnahmen. Er liess das Handy liegen, wo es war, schloss leise die Tür und packte das Nötigste zusammen, völlig mechanisch. Fühlte sich seltsam frei, als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel. Es war ein Sommertag, die Mauersegler sirrten um die Hausecken. Dann ging er einfach weg. Zu Fuss. Ohne zu überlegen. Die Dorfstrasse hinunter, beim Kreisel nach links in die Hauptstrasse, zum Dorf hinaus. Dort stellte er sich hin. Dort stand er jetzt. «Trink lieber Eptinger». Und dann machte der Film einen Freeze, und die Kamera ging einmal rundum, zeigte ihn von allen Seiten, gestochen scharf, im grellen Sonnenlicht. Die Zeit stand still im toten Punkt. Fosbury Flop. Jetzt war alles möglich. Jetzt konnte alles geschehen. Morgen erst würde die Landung kommen, die Wut, die Trauer, die Reue, die Anschuldigungen, das Geschrei, die endlosen Diskussionen, die vermeintlichen Versöhnungen, die erneuten Verletzungen, die Rachefeldzüge, der ganze 7
R ALF SCHL AT TER, geboren 1971, lebt in Zürich. Diverse Romane und Erzählungen. Fürs Schweizer Radio schreibt er Hörspiele und Morgengeschichten. Kabarett mit Anna-Katharina Rickert im Duo «schön&gut», ausgezeichnet mit dem Salzburger Stier 2004, dem Schweizer Kabarettpreis 2014 und dem Schweizer Kleinkunstpreis 2017.
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FOTO: CHRISTOPH HOIGNÉ
Rattenschwanz. Aber jetzt, fuhr es von unten durch Lukas hindurch, jetzt bin ich in der Luft. Jetzt strecke ich den Arm aus und hebe den Daumen in die Höhe, und was immer jetzt kommt, es trägt mich fort. Noch bin ich schwerelos. Und ohne dass er es gewollt hätte, machte sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit, abgründig, verwegen. Ich hebe meinen Daumen in die Höhe, und eine Frau hält an, sie ist gerade verlassen worden, hat das Nötigste ins Auto gepackt und ist losgefahren, auf der Gotthard-Raststätte küssen wir uns zum ersten Mal, im Tessin fallen wir in der erstbesten Pension über uns her, trinken einen Liter Chianti aus dieser Korbflasche und fallen wieder über uns her, im Morgengrauen schlafen wir komatös ein. Ich hebe den Daumen in die Höhe, und ein alter Mann hält an, er ist unterwegs nach Spanien, er will seine Olivenölplantage verkaufen, es ist sein Lebenswerk, der Käufer ist völlig überraschend abgesprungen, der Mann ist verzweifelt, ich muss nicht lange überlegen, kurz nach Lyon besiegeln wir bei einem Glas Pastis den Kauf. Ich hebe den Daumen in die Höhe, und ein Typ hält an, kräftig und irgendwie sanft zugleich, ich schaue ihm zu, wie er an der nächsten Tankstelle tankt, und ein noch nie gespürtes Begehren ergreift mich, kurz vor Feldkirch lege ich meine Hand auf seinen Oberschenkel, er lächelt, als ob er darauf gewartet hätte, und gibt unmerklich Gas. «Rundum einzigartig. Das Schweizer Ei.» Der Lastwagen braust vorüber. Stille. Hoch oben der Mäusebussard. Dann, von weitem, Motorengeräusch. Das Auto kommt um die langgezogene Kurve. Es ist ein feuerroter Fiat 500. Er kommt näher. Es ist nicht auszumachen, wer drin sitzt. Lukas holt tief Luft. Streckt den Arm aus. Und hebt den Daumen in die Höhe.
Barblin, Bastian und der Einbuchstabentag TEXT TANJA KUMMER
Es ist so: Die Haare von Barblin sind zu lang. «Du musst zum Coiffeur. Deine Haare sind so lang, dass sie in die Suppe hängen!», sagt Frau Bass zu ihrer Tochter Barblin. Und gibt ihr Geld, damit sie zum Gwafzgi gehen kann. Barblin macht sich auf den Weg. Sie kommt am Kreisel vorbei, und wie immer, wenn sie dort vorbeikommt, denkt sie an ihren besten Freund Bastian. Er trägt nämlich immer ein Stirnband, wie ein Sportler, im Sommer wie im Winter, das rund um den Kopf geht. Rund um den Kopf, so wie die Strasse rund um den Kreisel läuft. Er wohnt auch in der Nähe des Kreisels. Barblin klingelt. Bastian öffnet. «Ich gehe zum Gwafzgi. Kommst du mit?» «Oh, zum Gwafzgi! Soll ich, soll ich nicht? Oder soll ich nicht, oder soll ich doch?» Bastian tut sich wie immer schwer damit, sich zu entscheiden. Er fragt sich, ob das, was er tut, Sinn macht oder nicht. Wie weit ist der Weg zum Coiffeur, ist ihm das nicht zu weit, und was soll er dort tun, wenn sich Barblin die Haare schneiden lässt, wie soll er die Wartezeit verbringen? Gäbe es zuhause nicht etwas, das er stattdessen tun könnte, die Hausaufgaben, nur so als Beispiel? «Bastian», sagt Barblin, «wir müssen doch in der Schule über verschiedene Berufe schreiben. Warum kommst du nicht mit, damit du nachher über einen Coiffeur schreiben kannst?» Das überzeugt Bastian. Da macht es doch Sinn, dass er mitgeht, dann hat er Stoff für die Schule! Sie gehen durch die Stadt, und Bastian schaut Barblin von der Seite an: «Es ist gut, dass du deine Haare abschneidest. Sie sehen aus wie Schnittlauch, lang und gerade. Nicht wie grüner Schnittlauch, sondern brauner Schnittlauch.» Barblin bleibt stehen: «Und deine Haare, die unter dem Stirnband hervorgucken, sehen aus, als hättest du eine Maus im Bett, die dir in der Nacht daran herumknabbert!» «He, ich habe die coolste Frisur der Welt!», sagt Bastian. Er braucht keinen Coiffeur, denn seine grosse Schwester Franzi schneidet ihm die Haare. Allerdings sieht das, was Surprise 429/18
man unter dem Stirnband von seiner Frisur hervorgucken sieht, ziemlich wild aus. «Cool finde ich», entgegnet Barblin, «dass Franzi dir die Haare schneidet. Schade, dass ich keine Geschwister habe!» Sie stehen vor der Glastür des Coiffeurs, an der ein Schild baumelt. Darauf steht: «Höörlifresser Schneider – chömed Sie nume ie!» Herr Schneider sieht die Kinder vor dem Geschäft stehen und winkt ihnen zu. «Wenn du das cool findest, kann dir ja auch Franzi die Haare schneiden», sagt Bastian, «dann kannst du das Geld sparen, das dir deine Mutter für den Coiffeur gegeben hat. Mit dem Geld kaufen wir im Buchladen das GuinnessBuch der Rekorde, darin hat es sicher ein Foto vom grössten Mann der Welt!» Barblin braucht nicht lange zu überlegen: «Au ja, das machen wir!», jubelt sie. «Aber dann hast du keinen Beruf, über den du schreiben kannst!» «Das macht nichts. Dann schreibe ich über den grössten Mann der Welt oder die Frau mit den längsten Haaren!»
«Es ist gut, dass du deine Haare abschneidest. Sie sehen aus wie Schnittlauch, lang und gerade.» Als Herr Schneider wieder nach draussen schaut, sind Barblin und Bastian nicht mehr da. Sie gehen schnurstracks zu Bastian. Sein Vater ist bei der Arbeit. Und seine Mutter beim Kafiklatsch mit Frau Caprez. Schwester Franzi ist im Garten. «Sie muss noch alle Schafgarben und Löwenmäulchen zählen», behauptet Bastian. Barblin weiss, dass das nicht stimmt, Bastian erfindet gerne Sachen. Seine Schwester ist im Garten auf dem Liegestuhl und hört Musik. «Was?», ruft sie darum auch viel zu laut, als Barblin und Bastian vor ihr stehen und auf Barblins Haare deuten, denn Franzi hat Kopfhörer auf und man hört den 9
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Bass ihre Tochter sieht, sagt sie auch nur einen Buchstaben: «Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa!» Dann atmet sie tief ein und aus und fragt langsam: «Was. Hast. Du. Mit. Deinen. Haaren. Gemacht? ?????????» Voller Freude erzählt Barblin, dass Franzi ihr die Haare geschnitten hat. «So haben wir das Geld für den Coiffeur gespart und ein Buch gekauft.» Frau Bass sieht nicht so aus, als sei sie sehr glücklich. Noch einmal ganz langsam sagt sie: «Das. Darfst. Du. Nie. Wieder. Machen!» Komisch, denkt Barblin. Ihre Mutter sagt doch sonst immer, dass Bücher eine gute Sache seien. Und sie sagt auch, dass man sich überlegen solle, wofür man sein Geld ausgibt. Wenn Barblin diese Aussagen kombiniert, findet sie, dass sie alles richtig gemacht hat. Sie hatte lange Haare und sollte sie schneiden lassen; jetzt hat sie kurze Haare und ein Buch. Das ist doch fabelhaft! TANJA KUMMER ist Autorin und wohnt in Zürich. Von ihr sind Bücher mit Gedichten, Erzählungen und ein Roman erhältlich. Im August 2018 erscheint ihr Kinderroman *Cat Cat* im Arisverlag.
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FOTO: ANITA AFFENTRANGER
Takt der Musik dröhnen, pa-damm, pa-damm, pa-damm. Als die Kinder ihr erklärt haben, was es zu tun gibt, fragt sie zweifelnd: «Und deine Mutter findet es gut, wenn ich dir die Haare schneide?» «Sie hat gesagt, dass sich Barblin die Haare schneiden lassen soll», sagt Bastian schnell. Das ist ja keine Lüge. Einfach nur nicht die ganze Wahrheit. «Also gut. Ich mache dir eine Frisur wie die von Mia Pink Pink. Kennst du die? Ich liebe ihre Musik!!» Barblin und Bastian sehen sich an und schütteln den Kopf. Sie kennen keine Mia Pink Pink. Aber wenn sie gute Musik macht, hat sie sicher auch eine gute Frisur. «Barblin, setz dich auf den Küchenstuhl», sagt Franzi. «Bastian, hol ein Badetuch.» Als er mit dem Tüchli wieder in der Küche steht, bittet ihn Franzi, es Barblin um die Schulter zu legen. Es sieht richtig professionell aus, findet Bastian. Als Franzi zu schnippeln beginnt, hält Barblin die Augen an und macht den Atem zu. Oder umgekehrt. Sie weiss es gar nicht, denn sie ist ziemlich nervös. Hoffentlich schneidet ihr Franzi nicht ins Ohr! Schnippschnapp, schnippschnapp, schnippschnapp, tönt die Schere. Barblin merkt, wie es ihr um den Kopf immer leichter wird. «Fertig!» sagt Franzi mit einem Mal. Barblin macht die Augen auf. Als sie zu Boden schaut, sieht sie dort verdächtig viele Haare liegen. Sie springt vom Stuhl und düst ins Badezimmer. Dort schaut sie in den Spiegel. Und da fällt ihr sofort ein, dass sie Mia Pink Pink doch schon einmal gesehen hat: Es ist die Sängerin, deren Haare an den Seiten raspelkurz sind und oben auf dem Kopf sind die Haare etwas länger; irgendwie sieht es aus wie der Kamm eines Hahns. Erst jetzt denkt Barblin, dass sie Franzi hätte sagen müssen, wie kurz sie ihre Haare hatte haben wollen. Und vor allem: Dass sie sie nie und nimmer so kurz hatte haben wollen. Aber gut: Mia Pink Pink ist eine bekannte Musikerin und die Frisur einer bekannten Musikerin MUSS ja toll sein, oder etwa nicht? Nun hat sie die tolle Frisur einer guten Musikerin. Als sie zurück in die Küche kommt, hat Franzi die geschnittenen Schnittlauchhaare schon im Staubsauger verschwinden lassen. «Gefällt dir die neue Frise?», fragt Franzi. Das «Ja?» von Barblin klingt eher wie eine Frage als wie eine Antwort. «Super!», sagt Franzi. «Ich gehe wieder in den Garten, tschüss zäme!» Barblin und Bastian gehen zu Frau Wörtlich, um mit dem gesparten Geld das Guinness-Buch der Rekorde zu kaufen. Als die Buchhändlerin die neue Frisur von Barblin sieht, sagt sie nur einen Buchstaben, sie sagt ihn aber sehr lange: «Ooooooooooooooooooooooo» und Barblin bestellt: «Grüezi Frau Wörtlich, wir hätten gerne das Guinness-Buch der Rekorde mit dem grössten Mann der Welt!» Als Barblin nach Hause kommt, stellt sie fest, dass heute der hochheilige Einbuchstabentag sein muss. (Sie denkt sich noch, dass sie sich das aufschreiben muss: «7. Juli: Hochheiliger Einbuchstabentag»), denn als Frau
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Status Quo an Utopia TEXT BIG ZIS
Inere vernünftige Wält wäremer nöd so verschide Du und ich, mer hetted bäidi äinerläi Läbenserhaltendi Organ, de gliich Waretsverlauf Chum, für diich nim ich jedi Waret in Chauf Hauptsach du bisch Da Jetzt Ich lan si dich nöd hänke, nöd finde Si sölled dänke und finde was wänd All Hänker und Finde Ich grabe i dine Wunde und finde Gold Chum da hindere In hinderschte Ruum Chum Chum Glaubsch mer, wänn ich dir säg, Ich lieb alles a dir. Und alles, wonich a dir liebe, Macht dich unerreichbar für mich. Und jetzt stani da und stell Frage Han gmeint, verstöch mich nur uf Uussage Jedi Frag isch es Wunder Du bisch So frei Frei vom Sii Chöntsch da sii Jetzt sii Mit mir Da bisch De Nacke betrachtet isch din Nacke D Bagge berüert isch dini Bagge De Finger a dine Lippe isch mine Er suecht nach Wort, eis wo gseht, wo findet Wo ghört wird und lindred E noii Wält umriisst s Mindescht Die Wält suech ich a dim grosse Zeche Det chanimi dra hebe bi jedem Bebä Suech si i dinre Nackefalte I dine verschidene tuusig Gschtalte I dim Uurwinkel, ich wott säe und ärnte Dini uh und oh Schänkel dini Gärte Suech i dim hohle Zah Alles wonich han wele ische Zahl
Bring mers bi hüt Nacht Alles was ich söll sii hüt Nacht Gseh mich hüt Nacht Alles was i mir wottsch gseh hüt Nacht La mich sii hüt nacht Alles wonich wott si hüt Nacht Erchänn mich hüt Nacht Verbränn mich hüt Nacht Als wär nüt gsi hüt Nacht Wott gnüege, wott lange Wott üebe, wott aafange hüt Nacht Irgendwo mömer aafange hüt Nacht Irgendwo hämmer scho hüt Nacht Ich berüer dich fascht hüt Nacht Dini Perle chugelet, du lachsch E noi wält und du lachsch E nois O und du krachsch I all dini Ideal, verwach Jedi Idee jedi Schlacht Jedes Weh jedes Ach hät dich gmacht Wäm du au immer vertrausch Ich mach dis Gwitter himmelblau Und wänn dich verlüürsch find ich dich Wänn nöd näbed bini hinder dir Wäm du au immer vertrausch Ich mach dis Gwitter himmelblau Und wänn dich verlüürsch find ich dich Wänn nöd näbed bini inedrin Bring mers bi hüt Nacht Alles was ich söll sii hüt Nacht Gseh mich hüt Nacht Alles was i mir wottsch gseh hüt Nacht La mich sii hüt Nacht Alles wonich wott si hüt Nacht Erchänn mich hüt Nacht Verbränn mich hüt Nacht Als wär nüt gsi hüt Nacht
Grösser als O Nöd so perfäkt, nöd so rund, nöd so O
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FOTO: ONA PINKUS
Berüer en Hals Berüer en Zah Berüer es Haar hüt Nacht
Berüer e Rippe Berüer en Rugge Berüer e Lippe Hüt Nacht
Berüer e Hand Berüer es Aug Berüer es Blatt hüt Nacht
Berüer en Zeche Berüer e Chehle Berüer e Elle hüt Nacht
Berüer es Ohr Berüer en Fers Berüer en Chopf hüt Nacht
Berüer en Nabel Berüer e Nase Berüer en Nagel hüt Nacht
Berüer en Buch Berüer es Chnü Berüer en Fuess hüt Nacht
Berüer en Wirbel Berüer e Schultere Berüer en Finger hüt Nacht
Berüer e Bagge Berüer e Falte Berüer en Nacke hüt Nacht
Berüer en Flügel Berüer e Schläfe Berüer en Süüleboge hüt Nacht Du heilsch dich, wänn allei bisch, allei liisch Jedi Nacht isch hell, wänn du s willsch heimlich Chaschs nöd verstecke nöd vor mir Dass schtrahlsch und schiinsch Ich berüer e noi Wält hüt Nacht. En Nacht voll Stunde En Nacht voll Sekunde En Nacht en Momänt Jedi Nacht gaht z Änd Und du gahsch under En Nacht voll Stunde En Nacht voll Sekunde En Nacht en Momänt Jedi Nacht gaht z Änd Und du gahsch under En Nacht voll Stunde En Nacht voll Sekunde En Nacht en Momänt Jedi Nacht gaht z Änd Und du gahsch under BIG ZIS ist Rapperin und Musikerin und Mutter von drei Kindern. Diesen Winter (2018/2019) erscheint ihre neue EP «beyond».
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Prognose: Veränderlich, vereinzelt etwas Sonne TEXT CHRISTOPH SIMON
Bundesrat Liechti ist im Elend. Das Parlament hat eine von ihm in jahrelanger Hege und Pflege gereifte Gesetzesänderung abgelehnt. Die Nation scheint einfach nicht parat für Hochbegabte wie ihn. Geschlagen entfernt er sich aus dem Nationalratssaal und empfindet Leben und Amt als schwere Bürde. Über die Niederlage darf nicht gesprochen werden. Seine Taschentelefone versteckt Liechti in der Jackentasche des persönlichen Mitarbeiters, des Pressechefs und des Chauffeurs, die sich um die schadenfreudige Presse, die enttäuschten Mitarbeitenden im Departement und um trostsuchende Bevölkerungsminderheiten kümmern sollen. Nein, man spricht nicht über eine Niederlage, man versucht auch, nicht darüber nachzudenken. Liechti mag dieses Wort weder hören noch benutzen noch soll es überhaupt existieren: Niederlage. Er mag es so wenig wie den Rattenschwanz an Bedeutungen, den es nach sich zieht: Schlappe, Misserfolg, Versagen, Desillusionierung, Schmerz, Siechtum, Freitod. «Es verleidet mir», sagt er daheim bei seiner Frau, nachdem sich seit der Abstimmung im Parlament ein Debakel ans andere gereiht hat: Erst hat er sein auf dem Waisenhausplatz geparktes E-Bike nicht wiedergefunden, und jetzt scheitern er und seine Frau beim Verschrauben des neuen Kinderhochbetts. «Wieso hast du’s nicht im Laden montieren lassen?», fragt Bundesrat Liechti und versucht eine 22-005-Schraube von einer 22-252-Schraube zu unterscheiden. «Weil wir sowas noch selber schaffen», sagt seine Frau und erinnert ihn daran, dass fertig montierte Möbel für Menschen seien, die nie eine Seifenkiste gebaut hätten und statt mit Schuhebinden mit Klettverschlüssen aufgezogen worden seien. Falls das Leben tatsächlich den Jahreszeiten folge, klagt Liechti seiner Frau, dem Blühen im Frühling, dem Wachsen im Sommer, der Ernte im Herbst, dem Vergehen im Winter und wie sich der Kreis schliesse im nächsten Frühling, dann habe er erhebliche Schwierigkeiten, eine solche natürliche Abfolge in seinem beruflichen Alltag wiederzufinden. Er habe Frosteinbrüche im Juni, Dürre im September und überhaupt einen schonungslosen Übergang vom Spriessen zum Verfaulen. «Als Bundesrat hörst du nie: Gute Idee, das machen wir! Sondern immer nur: Los, zurück auf Feld eins!» Liechtis Hochbegabung manifestiert sich unter anderem in seiner Fähigkeit, die Gedanken anderer vorherzusagen. Und jetzt, als er mit dem 2-Millimeter-Akku-Bohrer-Aufsatz in der 4-MillimeterKreuz-Schlitz-Schraube in der Hochbettleiter herumrattert, spürt er, dass seine Frau genug gehört hat von seiner tristen Lagebeurteilung. Er holt den Prosecco aus dem 14
Kühlschrank, setzt sich auf die gestapelten Latten des ClassicWhite-Hochbetts und schlägt vor, das Bett der Schweizer Flüchtlingshilfe zu geben, die Kinder von jetzt an im Gartenhaus aufzubewahren und im eigenen Heim nur noch freikörperkulturell herumzulaufen. Aber das ist aber gar nicht so leicht umsetzbar, wie’s auf den ersten Blick scheinen mag. Die Kinder übernachten zwar bei der Tante und das Frösteln der nackten Haut lässt sich mit Manipulationen am Radiator auffangen, aber die bilaterale Freizügigkeit gesellt sich rasch in die heutige Abfolge von Niederlagen und Missvergnügen. Liechti und seine Frau machen es sich mit dem Prosecco auf dem Simmentaler Kuhfell vor dem Cheminée gemütlich, die primären Geschlechtsmerkmale einzig noch vom eigenen Intimhaar-Naturgarten bedeckt. Aber schon wird Liechti wieder einmal schmerzlich bewusst, dass ihn nur Erfolgserlebnisse so richtig in Fahrt bringen. Seine Frau streichelt ihren Gatten und füttert ihn mit Gurkenscheiben, die sie sonst als Gesichtsmaske verwendet, aber in schiefen Bildern gesprochen erinnert ihr Liebesleben auf dem Kuhfell weniger an die Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg als an die unlösbare Jura-Frage in den Siebzigern. «Macht nichts», tröstet ihn seine Frau, und bei einer zweiten Flasche Prosecco schauen sie sich «Alexis Sorbas» auf Netflix an. Wir erinnern uns: Am Ende hat Sorbas sein ehrgeiziges Projekt gebaut – eine Seilbahn, vom Berg hinunter zum Meer. Das ganze Dorf hat sich am Strand versammelt und sogar die Mönche des Klosters kommen auf ihren Eseln herangeritten. Die erste Bahn rast schon das Tal abwärts, da gibt plötzlich einer der Pfosten nach und die Konstruktion bricht zusammen. Ein Pfeiler reisst den nächsten mit, und wie ein riesiges Dominospiel fallen die Pfosten um und den Berg hinunter. Die Dorfbewohner stieben in Panik auseinander, und Sorbas und ein Freund bleiben allein zurück. Der Traum ist zerplatzt, die Enttäuschung überwältigend, und als gälte es, in diesem Augenblick nur noch an die unsinnigsten Sachen zu denken, bittet der Freund Zorbas, ihn tanzen zu lehren. Zorbas beginnt zu tanzen, wendet sich plötzlich dem Berg zu und ruft aus: «Hey Chef, hast du jemals etwas so wunderschön zusammenbrechen sehen?», und beide beginnen wie irr zu lachen. «Keine Angst vor Chaos», sagt sich Bundesrat Liechti. Am nächsten Tag stellt er sich ans Rednerpult im Nationalratssaal und verkündet, seinen Gesetzesänderungsvorschlag nicht aufzugeben und höchstpersönlich ein Abstimmungskomitee zu gründen, um den Artikel via Volksinitiative von Volk und Ständen in die Verfassung schreiben zu lassen. Alles, was zu seinem Gesetz habe Surprise 429/18
FOTO: ULRIKE MEUTZNER
gesagt werden müssen, habe er gesagt. Aber weil noch niemand zugehört habe, werde er halt alles noch einmal sagen. Unter den Kollegen löst er damit keine Triumphstürme aus. Aber seine Frau schickt ihm eine vor Stolz überschäumende SMS, und das Cheminée, der RössliZigarillo und der Calvados sind nicht das Einzige, was heute Abend bei Liechtis daheim brennen wird. Liechti liegt schon zu allem bereit auf dem Kuhfell. Seine Frau kommt zur Tür rein, ruft Hallo, nimmt die Autoschlüssel, ruft Tschüss und ist wieder weg, ohne die Tatsache angemessen zu würdigen, dass ihr BundesratUnplugged den zweiten Abend in Folge daheim ist und die Kinder zum zweiten Mal in Folge fremdbetreut sind. Der Raclette-Stand der Quartierkommission am Schulfest ist auch wichtig.
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Und so nimmt Liechti eine Handvoll Achtkanthohlschrauben und stapft ins Kinderzimmer. «Komm her, du Drecksbett», ruft er siegessicher. «Mit der einen Hand setze ich dich zusammen, mit der anderen gibt’s eins auf die Rübe.» CHRISTOPH SIMON ist Schriftsteller und Kabarettist, Gewinner des Salzburger Stiers 2018 und zweifacher Schweizer Meister im Poetry Slam. Zurzeit ist er unterwegs mit seinen Solo-Programmen «Zweite Chance» und «Der Richtige für fast alles». Es geht ihm gut – auch wenn er von sich behauptet: «Ich habe keine Ideen. Ich habe Probleme.»
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waari gröössi TEXT DOMINIC OPPLIGER
sipfoifehalb schtund jez scho. das chalte bei fodem tike ma a mim blutte bei. wi wakumfepakti würschtli anenandpresst. hajascho fasch nüme gwüsst wis oni isch. oni di chelti fodem bei. fodem chalte fleisch wodur dä fini sideschtoff fo sim gwand ufmis blutte bei trukt hät. dä bluetleeri abeküelti schpäkgürtel ums bei fodem tike ma. dem koloss. dem uusladende fleischberg ufem plaz näbe mir. forher tänksch filicht a schreyendi chind. oder a psoffni follaffe. a nerfösi schwizer pärli. tänksch a all di idiote wo meined si müsed bim iischtiige minutelang de gang feschtopfe untumm im wäg umeschtaa welsno dringend iri chopfhörer zundersch im ruksak mümpfüregrüble. oder das filferschprächende buech wostänn am schtrand doch nöggläse händ. tänksch a turbulänze. ooredruk. schlächti film wotniä häsch wele luege. tänksch a sones chlises briäfli mizalz umpfäffer drin. aber a sonen fleischberg. a sonen übergrosse meerschnägg. sonen jabba the hutt. so eine wo ussim siz usekuillt. sonen wabblige wasserballon ufem plaz näbediär. a sone uusuferndi masse mänsch wo mindeschtens ein fiärtel fo dim siz psezt. a so öppis tänksch natürli nöd. hanen ja scho im geyt xee. winer mizuenenauge for sich hi meditiärt und debi lokker drü sizpläz psezt hätt. hanaber mee angscht gha das rentnerpäärli wodi ganz ziit im flüschterton mittenand gschumpfe hätt hoki dänn näbe mir. aber woni bi minere sizreie aacho bin hokt döt tazächlich dä riisigi mänsch. ha zerschno de naifi gedanke gha er werdi sicher irgendwiä nochli plaz für mich mache. aber er häpmer nur früntlich zuegnikt und glächlet. und schpötischtens woni dänn realisärt han dases illusorisch wär zmeine ich chönti tarmleene zwüschenoisne siz abeklappe. schpötischtens dänn hani gwüsst dasimi miknap drüfiärtel sizplaz wirpmüse zfridegä. hetti doch e langi hosenaagleit. aber a so öppis tänksch nöd im traum wämpi fiäredriisg graad im hotelschattl an flughafe farsch. dänn leisch eifach so wenig a wi möglich. aber mittere lange hose hetti ez wenigschtens nötti ganz zit di chelti so diräkt ufmim bei gschpüürt. oder wänn de ander wenigschtens e tschiins oderso aagha hetti. aber dä hättesones zweiteilix sidegwand aagha. isomene hellrosa. sonen huuchtünne sideschtoff. sone luftigi hose unzones langs hämp. so öppis zwüscheme pischema undemene forhang. Surprise 429/18
sis xicht häpmi irgendwiä anen baum erinneret. sonen grosse baum mizonere aadüütig fomene xicht im schtamm. so mitteme ascht als nase. sone liächt gwölpti flächi mitteme xicht drin. sonen baum wi imene märli. wi imene fäntäsifilm. sonen schtille und schtumme ziitgenoss wo eifach deet schtaat mizuene auge. wi en baum halt. untänn plözli wänn alli hoffnige gschwunde sind unte helpfom märli scho wott uufgä ertönt plözli e schtimm. unte held treyzich um unte baum hättaugenoffe und isch plözli de grossi retter ide noot. aber de baum näbmir hätt glaub nöpfil fosinere umgäbig mitübercho. de hätt nämmli en riisige chopfhörer uftenoore gha. ufem displey fo sim händi isch gschtande chakra mountain flow II. mitteme bilpfonere schwebende fädere unedra. unti einzig schtimm wo ertönt isch hätt em fatter ide hindere sizreie ghört. de hätt nämli sim bueb grad erklärt dasst puppe hüt widermal buchwee heg untrum ebe nüüt weli ässe. und ufem biltschirm über oisne chöpf isch gschtande estimated delay: 20 minutes. und öppe genau so ziillos wine schwebendi fädere simmer jez über züri oder was weis ich wo kreist. und im zääminutetakt hänzois irgendwelchi zältli und schöggeli ferbipraacht. immer mittem gliiche schiisslächle. als wär alles ganz normal. debi wärs normal xi dasmer fedampnomal pünktlich in züri landed. normal wär xi dasi scho bald ide essbaan wür hoke. untscho bald dihei ide tuschi wür schtaa ummis underchüelte bei mitte tuschbrause wür uufwärme. aber schtattesse nuschlet zum ixte mal de keptn irgendöppis fo wätterlaag umpischte fom schnee freyruume. unte bueb ide reie hinder mir faat wider afangenumenöörze und wott umbedingzin nuggi. unte fatter seit er wüssi ebe nöd wo de nuggi seg. abert puppe chemi jez dänn grapfom weezee zrugg. und langsam wirpmer klar daser fo sinere frau rett wänner puppe seit. hami fesuecht echli apzlänke und ha usem fänschter is tunklenuse gluegt. ha fesuecht di chelti fodem tike bei untas tumme gschnurr fo hine chli zfegässe. aber genau idem momänt trukt plözli de tiki maa sis bei no feschter a miis. und ich luegenübere und irgende uufxezt griinsendi frässi fode kabinekruu sänkzich zu sim chopf und entschuldigt sich für irgendöppis. und er nikt. nacher machter tauge zue. sizt wider da wi en baum. churztrufabe riibter sin rächtenarm. waschinli hänzem de rolli gägede arm grammt. sisch immer sgliich. am 17
DOMINIC OPPLIGER, geboren 1983, Studium der Sozialen Arbeit in Luzern und der Transdisziplinarität in den Künsten in Zürich. Gärtner und Musiker. Erste Buchveröffentlichung «acht schtumpfo züri empfernt» 2018. Weil man Texte nie alleine schreibt, dankt der Autor Laurin Jäggi, Delphine Chapuis-Schmitz, Lisa Lee, Anna Lehr, Martin Frank, Lukas Müller und Urs Widmer.
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Tín En la pendiente TEXT DONAT BLUM
Als Kind wünschte ich mir einen Erwachsenen, der mich überallhin begleiten sollte, damit ich jemandem all die Fragen stellen konnte, die mir am Tag so begegneten. Kurz nachdem ich dreissig geworden war, wurde ich an das zehrende Gefühl dieses Wunsches erinnert. Meine Grossmutter war gestorben und ich verbrachte einige Tage mit Onkel Tín in ihrer Wohnung. Beiden waren wir für die Beerdigung angereist – er aus Lima und ich aus Berlin – und hatten keine andere Bleibe in der Schweiz. Wir kamen aber auch gerne in diese Wohnung mit Blick über einen See. Aus jedem Fenster sah man einen anderen Winkel des zwischen zwei Hügelketten in die Länge gezogenen Gewässers, das mit den Wolken die Blau- und Grautöne wechselte. Wind mischte den schillernden Wasserfarben mehr Weiss bei. Und bei Sturm blinkte schräg gegenüber ein oranges Sturmwarnlicht. Beobachtungen, auf die man zu sprechen kam, wenn man im Erker zu Mittag ass: mit meinem Grossvater bis vor einem knappen Jahrzehnt, mit meiner Grossmutter bis vor wenigen Tagen, und nun mit Onkel Tín. Für mich war die Wohnung der vertrauteste Ort überhaupt. Kein anderer war mit dieser Konstanz Teil meines Lebens gewesen. Meine Eltern, meine Geschwister und ich hatten alle mehrfach den Wohnort gewechselt. Nur meine Grosseltern hatten immer in dieser einen Wohnung gelebt. In jeder Ecke der Wohnung fand sich irgendetwas, das ich mit Grossmutter verband und das jetzt im Kontrast ihrer Abwesenheit besonders hervorstach: Kreuzworträtselbücher, die sie nicht mehr ausfüllen würde, Hefte mit meinen ersten Schreibversuchen, die ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, einen Aschenbecher, den sie in einem Engadiner Hotel als Souvenir hatte mitgehen lassen, und eine Uhr, die jede Viertelstunde mit einem hellen Schlag Erinnerungen an die Nächte weckte, die ich als Kind oft bei ihr verbracht hatte. Die Vertrautheit machte es aber auch weit weniger merkwürdig, mich ohne Grossmutter in der Wohnung aufzuhalten, als ich es mir vorgestellt hatte. Es war ja eigentlich alles noch genau so wie vor wenigen Tagen. Merkwürdig waren andere Dinge. Kleine Veränderungen. Und die hatten meistens mit Tín zu tun. Tín hatte, obwohl er schon siebzig war, zwar graues aber dichtes Haar. Er musste unablässig durch die Wohnung wirbeln. Das stellte ich mir so vor, denn gesehen habe ich es nie. Meistens war es das Wasserglas, das verschwunden war, bevor ich überhaupt bemerkte, dass ich es irgendwo stehen gelassen hatte. Ich streifte dann durch die Wohnung und murmelte sehnsüchtig «Wasserglas». Einerseits, weil ich es wirklich suchte, und andererseits, um das schlechte Surprise 429/18
FOTO: DANIEL DROGNITZ
schluss hoketoch alli nur da und regezich uf. so wi ich sipfoifehalb schtund. regmi uf über dä tiki maa. und regmi mittlerwiile scho drüber uf dasimi über inn ufrege. ischja schliässlich nöpfebotte dasme tik isch. ischja schliässlich ä für tiki nöpfebotte dasme sich isonen follgschtopfte blächfogel iäzwängt. untas nachdem me sich wines schaaf ide herde durd gatter am flughafe hätt la durepferche. nacher luegpmer hundert mal sini plaznummere ufsim billet nache unzuechzin plaz. bindezich döt dänn bereipwilig sälber mizim gurt a. fesslezich. wartet schtill druf dasme winen koffer transportiärt wird. wine waar. und wämmer halt nöd itnorm passt. wämmer halt echli mee plaz brüüchti. was söllme da mache? schliässlich isch mer ä nur ein mänsch. hätt eis herz. ein darm. eis hirni. ein pass. hätt eis billeet. ein plaz. filicht hokpme dänn halt eifach da ummachtauge zue. schwept isim chakra mountain flow umwartet dases febi gaat. untasme no halb ufem siz fom nachber hokt isch eim ja waschinli ä nöd aagnäm. aber ischja ä klar dass genau näbe mir de grööschti mänsch fom ganze flug mus size. eine wo leider gottes niä im läbe ufeim sizplaz plaz hätt. dini nachbere chasch der halt ä im flugzüg nöd uussueche. untrum hokt ja ä genau hinder mir sones arschloch wo sinere frau puppe seit. und genau dä unmöglichi tüp seit ez zu sinere frau daser ires buchweegjammer nüme chöni ghöre. umpfrögzi schpöttisch öb nözii liäber mal chli de nuggi weli nä. untschprichzi tazächlich diräkt mit puppe a. umplözli gschpüri e bewegig a mim bei. ha plözli plaz. plözli min siz für mich. de tiki maa isch uufgschtande untreyzich flinker alsems i hundert jaar zutraut hetti inere elegante piruette um hundertachzgrad. er leizini händ uft chopfläne. usem augewinkel xeeni sini wiitoffene auge gförlich blizze und inere luutenund klare baritonschtimm seitter zum fatter hinedra ez langz aber. iri frau isch en mänsch und kä puppe. merk der das, chline maa, dini muetter isch kä puppe. aber din fatter ischen follidiot. dänn wirbleter wider i sin siz zrugg. sis luftige gwand schtreift mi am arm. mis bei trukz wider ufziite. mis herz chlopft im hals. de paatos fo sinere schtimm hallt i mim oor. s chunt e durchsaag dasmer ez dänn grad landed. was hätt de maa xeit bapa? frögt de bueb. ich hetti gern öppis zum maa näbmir xeit. hettem gern anerkännend zuegnikt. hettem am liäpschte sini hand gno und em xeit das das sakschtarch xi seg fo imm. aber er hätt scho wider kopfhörer uftenoore gha und isch da ghokt winen baum mizuenenauge. und inere mischig us bewunderig umpfrämtschäme hanis plözli gnosse di chelti fo sim bei a mim zgschpüre. bizli hani fesuecht mis bei echli feschter a sis ztruke. und ha ghofft er ferschtöchi winis meine.
Gewissen zu überdecken, dass ich Tín schon wieder Arbeit aufgehalst hatte. Ich müsse mir deswegen keine Sorgen machen, sagte Tín, als ich mich entschuldigte, schon wieder ein Glas stehen gelassen zu haben. Was er denn sonst tun solle, wo er doch sonst nichts zu tun habe hier in der Schweiz. Er lächelte schelmisch. Oder vielleicht lächelte er nicht. Das war bei ihm so wenig zu erkennen, wie man wissen konnte, was er über jemanden dachte. Gewisse Dinge behielt Tín für sich. Was nicht hiess, dass er schweigsam gewesen wäre. Im Gegenteil, er reihte Sätze so rasant aneinander, wie es die spanischen Touristen in der Berliner S-Bahn taten, bei denen ich mir ein Spiel daraus gemacht hatte, die Lücken zwischen den Worten zu finden, die doch auch sie irgendwann mal brauchten, um Luft zu holen. Bei einer meiner Suchen nach dem Wasserglas traf ich Tín in der Küche an. Ich hatte nachschauen wollen, ob er das Glas vielleicht im Geschirrspüler abgestellt hatte. Aber der Spüler war leer, und auch der schmutzige Teller vom Morgen war verschwunden. Ich schaute zu Tín, der neben mir die Chromstahloberfläche polierte: «Spülst du etwa alles von Hand ab, was ich in die Maschine räume?» Meine Frage irritierte Tín genauso sehr, wie mich die leere Spülmaschine irritiert hatte. Er schaute nachdenklich zur Decke. Eine der Gesten, die er mit zurückhaltender Eleganz beherrschte, als stünde er auf der Bühne, und doch so, dass es beiläufig wirkte. «In Peru haben wir keine Spülmaschine», sagte er, hielt für eine knappe Sekunde die Hand ans Kinn, legte den Finger über die Lippen und schüttelte in Zeitlupe den Kopf: «¿Da bräuchte man ja eine dieser Nischen?», er zeigte auf die Unterteilungen der Einbauküche, «die haben wir schon, aber da steht der Chatchübel, ¿no?» Schon immer hatte Tín in Peru gewohnt. Oder zumindest so lange, wie ich denken konnte. Und ein wenig länger. Er beendete Sätze mit einem fragenden, spanischen «¿no?» und Schweizerdeutsch schien für ihn vor allem eine Erinnerung zu sein. Er sagte Dinge, die man heute kaum mehr sagte: «Ich mues ufs Hüsli», «Batze», «Bänkler» und «Chatchübel». «Natürlich könnte man den Chatchübel, den Mülleimer, rausnehmen», fuhr er fort, während wir aus der Küche auf die Terrasse gingen, um uns in die Sonne zu setzen, «claro. Aber dann müsste man ja für diesen einen anderen Platz finden. Und manchmal haben wir gar kein fliessend Wasser im Haus, weil der administrador die Rechnung nicht bezahlt hat. Das Wasser wird über die comunidad hogar, die Hausgemeinschaft abgerechnet, no? Es sind alles Eigentumswohnungen im Haus. Und da bezahlen von 26 Parteien höchstens zehn ihren Beitrag, ¿no?» Er streckte mir die Handinnenfläche entgegen. «Die sagen einfach: no quiero – kei Lust, ¿no?» Er spitzte die Lippen, schwer zu sagen, ob aus Resignation, oder weil es ihn amüsierte: «Und dann schicken sie Diego los, den Portier, der unten in der Lobby sitzt, oder irgendeinen anderen Hund, oder wie sagt man das auf Deutsch? Der muss dann an allen Türen klingeln und fragen, ob man nicht noch etwas bezahlen könnte, damit das Wasser wieder angestellt wird. ¿110 Pesos, 30 Franken, no? Das Surprise 429/18
ist in Peru nicht gerade wenig, aber für meine Nachbarn auch nicht viel, wenn man zum Beispiel die Autos anschaut, die sie gleich zweifach auf dem Parkplatz vor dem Block parkieren. Und die Kinder schicken sie in Privatschulen. Bueno, aber ich halte mich da raus. Nelly versucht mich manchmal mit reinzuziehen. Das ist die Nachbarin, die wie wir seit Beginn im Haus wohnt und die wir manchmal zum Essen einladen. Die ist jetzt auch schon», Tín rechnete nach, «80. Sie sagt dann zu den Nachbarn so Dinge wie: Tín finde auch, dass man den Müll nicht vor die Tür stellen solle. Solche Sachen. Aber das stelle ich schnell wieder ab, ¿no? Ich halte mich da raus. Das sage ich zu Nelly und zu Camilo. Ich bin siebzig. Meine letzten Jahre möchte ich in Frieden verbringen und ohne Gschwätz.» Als ob er die Unverhandelbarkeit dieser Aussage unterstreichen wollte, war Tín aufgestanden, nahm mein leeres Wasserglas vom Tisch und verabschiedete sich lächelnd – oder vielleicht lächelte er auch nicht – in den Schatten. Ich kippte den Liegestuhl nach hinten und träumte, als ich bald darauf wegdämmerte, von einem Geschirrspüler, der überhitzte und Feuer fing. Statt nach verbranntem Plastik roch es nach warmem, feuchtem Sandboden. Es roch so, wie die Pakete rochen, die uns Tín zu Weihnachten geschickt hatte; die Geschenke, die sie enthielten, die Sorgenpüppchen, die Strohsterne und die Alpacapullover. Und auch Tín roch so. Ganz Peru musste so riechen, stellte ich mir vor. Wohl auch das Haus, in dem er und Camilo wohnten. Von Fotos hatte ich eine ungefähre Vorstellung davon, wie es aussah. Ein gänzlich rechteckiger Block aus Rohbeton, dessen Fassade, so glaubte ich mich zu erinnern, leicht geweisst war. Auf alle Fälle sah ich die Balkone aus roten Stahlrohren vor mir, von denen man bis zur steil abfallenden Felsküste blicken konnte, wenn der Smog die Sicht nicht verdeckte. Es war eines von fünf Hochhäusern, die man vor fünfundzwanzig Jahren in einem neuen Quartier errichtet hatte. Rundherum waren die Gebäude wesentlich niedriger. Das Nationalstadion belegte eine beträchtliche Fläche und eine grosse Markthalle, die die Händler von der Strasse locken sollten. Einzelheiten, die mir meine Grossmutter erzählte, wenn wir auf Tín zu sprechen kamen, mit dem sie täglich fünfzeilige Emails hin und her schickte – und manchmal ein paar Fotos vom Balkon, dem Ausblick oder von Camilo, der mit einem schwarzen Service-Portemonnaie, das sie ihm auf seinen Wunsch hin aus der Schweiz geschickt hatte, an einer Supermarktkasse bezahlte. Ich musste nachhaken, bis mir Tín erzählte, wie sich Camilo und er kennengelernt hatten. Es schien keine Frage zu sein, die man einem älteren schwulen Mann stellte. Er schmückte die Geschichte aus und blieb doch vage. Sie hatten sich auf einem Platz getroffen, in den die eine der beiden Strassen, «¿in der man sich traf, no?», mündete. Mann, die Schwulen, oder «die Gays», wie er das englische Wort mit spanischem Akzent verwendete. Das Publikum bildete Kreise um die Musikanten oder Feuerschlucker, die auf dem Platz auftraten, und «die Gays» schwirrten durch die Reihen und warfen sich verführerische Blicke 19
zu oder liessen die Hände beiläufig über Hüften streifen. Die Mutigsten erlaubten sich ein Küsschen. «Und einige, die in der Nähe wohnten, gingen dann zusammen nach Hause oder übernachteten in einem der Hostels in der Nähe.» Tín gestikulierte mit den Händen und blinzelte mit den Augen: «Camilo war damals frisch aus den Anden nach Lima gezogen. Er träumte von einer Tortenbäckerei, die er in der Stadt eröffnen wollte. Und ich kam von Zeit zu Zeit aus dem kleinen Dorf, in dem ich für diese Schweizer Organisation arbeitete, nach Lima», sagte Tín, «¿no?» «Wissen eigentlich eure Nachbarn von euch?», fragte ich Tín. Er schaute auf den See, als müsste er anhand der Ausrichtung der an Bojen vertäuten Segelboote zuerst die Windrichtung bestimmen. In Peru gebe es eine Umschreibung für «gay», sagte er schliesslich: Wie hier warme Brüder, würden sie in Peru «der schwitzt am Rücken» sagen: «Das hat vor ein paar Jahren mal ein Nachbarsjunge im Fahrstuhl zu Camilo gesagt, und er hat ihn am Ohr gepackt und zu dessen Vater gebracht: Ihr Sohn war frech!, ¿no?» Tín lächelte: «Sie wissen es vermutlich. Aber darüber reden wir nicht. Peru ist ein informelles Land. Für alles gibt es Regeln und Gesetze, aber alle machen, was sie wollen, ¿no?» Während der Zeit in der Schweiz skypte Tín täglich kurz nach Mittag mit Camilo. Sie sagten nicht viel. Sie sagten «hola», «abrazos», «tesoro», und was sie gegessen hatten. In Peru lebten Tín und Camilo Tür an Tür. Also nicht in ein und derselben Wohnung, sondern in zwei Wohnungen nebeneinander, die Schlafzimmer Wand an Wand, sodass sie sich abends vor dem Einschlafen «gute Nacht» klopfen konnten und morgens, kurz nachdem sie derselbe Wecker geweckt hatte, «guten Morgen». Die getrennten Wohnungen waren ihre Art der Exklusivität. Das sagte Tín nicht so. Aber mir gefiel die Vorstellung, dass sie nicht nur aus Gewohnheit teilten, sondern seit dreissig Jahren nur das, wozu beide Lust hatten – zum Beispiel noch vor dem Frühstück, solange die Stadt noch ohne Smog war, zusammen am Meer spazieren zu gehen. «Und warum bist du damals», ich rechnete nach, «vor einundvierzig Jahren, eigentlich aus der Schweiz weggezogen?», fragte ich. Natürlich hatte ich Hintergedanken. Natürlich dachte ich, dass es mit seinem Schwulsein zusammenhängen würde. Er kniff die Augen zusammen. «Ich wollte die Welt sehen», sagte er, «¿no?» Und erst jetzt wurde mir bewusst, wie das «¿no?» nicht nur Frage, sondern auch abschliessende Antwort sein konnte. Das Haus in Lima verfügte über eine Gegensprechanlage, die, wenn man sie oben in einer der Wohnungen drückte, unten an der Hauseingangstüre surrte. Surrte es mehrfach, hiess das für Diego, dass jemand seinen Hund in den Fahrstuhl stellte und er ihn dann aus der Lobby lassen sollte. «Und die haben Kampfhunde, Pitbulls», sagte Tin. «Die stehen dann plötzlich vor dir, wenn sich die Fahrstuhltür öffnet, weil der Besitzer sie dort vergessen hat. Das sind grosse Dinger. Die würden mich einfach umwerfen, wenn sie gegen mich rennen. Mein Stand ist nicht mehr der beste mit siebzig, ¿no? Wir haben schon daran gedacht, ein Schloss am Fahrstuhl anzubringen, 20
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FOTO: ROBERT BEYER
damit nur noch Zugang hat, wer sich an die Regeln hält. Aber das wäre teuer geworden. Nun gilt: Es darf nur auf die Dachterrasse und dort die Wäsche aufhängen, wer seinen Beitrag an die Wasserkosten bezahlt hat.» Abends, wenn man durch das Viertel geht oder von der Dachterrasse auf die Strassen schaut, sieht man die Hunde überall. Schöne Hunde, gepflegte Hunde, die sich im Licht der wenigen Strassenlaternen in Rudeln sammeln, durch die Strassen ziehen, Staub aufwirbeln und die Stadt von den Menschen übernehmen, denen sie am Tag gehören. Ich lag lange wach nach dem letzten Tag zu zweit und schrieb einige Nachrichten mit Joel und Yuri hin und her, meinen Partnern, die am nächsten Tag zur Beerdigung anreisen würden. Beim letzten Mal, dass ich meine Grossmutter bei Bewusstsein erlebt hatte, rief sie mich, als ich an ihrem Zimmer vorbeikam, zu sich rein, um sich für die drei Pfingstrosen zu bedanken. Ich hatte sie ihr neben das Bett gestellt, als sie in fiebriger Agonie abgetaucht war. Sie habe es immer wieder vergessen, entschuldigte sie sich jetzt und zeigte mit den Augen auf die Blumen. Dabei seien sie doch so schön, und man könne zuschauen, wie sich die kugelrunden, prallen Blüten langsam öffneten. Sie lächelte, soweit man das in ihrem mageren faltigen Gesicht noch erkennen konnte: «Grüsst du Joel von mir?» Ich hatte immer das Gefühl, dass sie mich und Joel, meinen langjährigeren Partner, wohlwollender behandelt hatte als die Partner meiner Geschwister. Yuri kannte sie nicht. Dass sie fürchte, dass Tín ihretwegen ausgewandert sei, hatte sie mir einmal erzählt. Dass sie fürchte, ihm nicht genügend deutlich gezeigt zu haben, dass sie ihn so akzeptierte, wie er war. Ich wälzte mich im Bett. Die Laken klebten am Körper. Ich hörte jeden der Züge, die im Viertelstundentakt zwischen See und Wohnung vorüberfuhren. Als sich die ersten Träume eingeschlichen hatten, hörte ich das Knurren von Hunden, die mit vor Erwartung grossen Augen durch die Strassen zogen, und ich realisierte, dass es nicht der fehlende Erwachsene an meiner Seite war, der zehrte, sondern die Fragen, auf die es keine Antworten gab. DONAT BLUM hat am Schweizerischen und Deutschen Literaturinstitut studiert. In seinem Schreiben arbeitet er sich oft an der Wirklichkeit ab: Was macht sie mit Menschen? Wie steht sie zur Fiktion? Im Sommer erscheint sein Debüt-Roman «OPOE» bei Ullstein Fünf. Er ist Mit-Herausgeber der Literaturzeitschrift «Glitter», in der «Tín» erstmals abgedruckt wurde.
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Der Nabel der Welt TEXT CATALIN DORIAN FLORESCU
Vater bekreuzigt sich und sagt: «Wir haben Glück gehabt.» Vater träumt oft vom Grossvater und wie dieser auf ihn zugeht, durch Mauern hindurch. Manchmal taucht er so plötzlich auf, dass Vater erschrickt und verschwitzt aufwacht. Überhaupt erhalte er an solchen Tagen schlechte Nachrichten, behauptet Vater. An solchen Tagen bleiben die Briefe auf dem Flur liegen, und er schaut sie nur von Weitem an. Einen Tag später, Grossvater hin oder her, werden sie geöffnet, als ob die Mitteilungen nun andere wären als am Tag zuvor. Vater hat den Tick mit dem Aberglauben. Wenn er so redet, erwacht in ihm der Bauernsohn wieder zum Leben, und gemeinsam mit dem Bauernsohn auch die anderen Dorfbewohner, Lebende und Tote, die weite, trockene Donauebene, die Tierherden und die Sonne seiner Kindheit. Vor allem aber auch der Aberglaube und damit scharenweise Vampire, Hexen, Geister, Untote. «Nach Sonnenuntergang war keine Christenseele mehr im Freien», erzählt er. «Vampirzeit. Alle in den Häusern und Dracula auf der Strasse.» Vater übertreibt gelegentlich. Dracula war einer mit langen Zähnen, der üppigen viktorianischen Frauen Angst einflösste. Er verliess Transsilvanien, als es ihm dort zu langweilig wurde. Dracula war der erste Emigrant aus meiner Heimat. 1982 folgten wir, Vater, Mutter und ich, doch man braucht keine Angst zu haben: Wir stehen nicht in direkter Abstammung. «Wir haben Glück gehabt», sagt Vater und atmet laut aus, um uns seine Erleichterung zu zeigen. «Wir haben den letzten Zug genommen», meint Mutter und wirkt schwermütig. Nachdem sich Vater bekreuzigt hat, schaltet er das Radio ein. Radio Freies Europa. Seit achtzehn Jahren den gleichen Sender, täglich um achtzehn Uhr. Vater hört sich Heimat an. Wenn ich zu Besuch bin, höre ich mit. Ich bin dann wieder klein, winzig klein, und sehe uns beide zu Hause. Zu Hause an der Strasse mit dem Bahnhof, wo Züge noch richtige Züge waren, mit qualmenden Lokomotiven, ächzenden Geräuschen und so 21
weiter. Wo es keinen Grund gab, nostalgisch zu sein, weil Nostalgie einfach kein Teil des Plans war. Sie ist der Preis, der erst hinzukommt, wenn man festsitzt. In der Schweiz zum Beispiel. Wenn Vater und ich Radio hören, glänzen unsere Augen und jeder sagt abwechselnd «Psst! Psst!», wenn der andere zu laut redet. Vater kommentiert am besten, er kennt die Radiostimmen sogar mit Namen. Er kennt die Zusammenhänge. Weil ich ihm gern zuhöre, frage ich nach. Er gibt gern Antworten und baut sie zu wahren Geschichten aus. Von Vater habe ich das Geschichtenerfinden geerbt. Von Mutter die Schwere. Doch nicht zu viel, bloss genug für die Bodenhaftung. Bodenhaftung braucht man, wenn man nicht wie ein Wetterballon in die Luft steigen und zusammen mit all den Radiostimmen heimwärts fliegen möchte. An einem Augustmorgen, 1982, wurde alles anders als zuvor. Als ich erwachte, war in der Wohnung nichts verändert. Sie war ordentlicher als sonst, denn Mutter hatte sich besondere Mühe gegeben, sie wollte nicht, dass man sie nach unserem Abgang für eine schlechte Hausfrau hielt. Vater hatte gemeint, dass ihre Arbeit vergeblich sei. Bis man gemerkt hätte, dass wir nicht mehr zurückkommen, hätte sich der Staub längst wieder gesetzt. Mutter liess sich nicht verunsichern, und so lebten wir den letzten Tag zu Hause wie in einem Museum. Nur in den Schränken fehlten bereits die Kleider, und überall lagen kleine weisse Zettel mit den Namen derjenigen, die unsere Sachen erhalten sollten. Ich dachte: «So kommt ein bisschen von uns überallhin.»
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Wenn ich mich anstrengte, fielen mir die Zettel gar nicht auf. Nur nicht hinschauen, ins Badezimmer gehen – zettelfreier Raum – sich waschen, sich anziehen und abreisen. Wir nahmen das Frühstück schnell zu uns, Mutter wischte danach den Küchentisch ab, wusch und trocknete das Geschirr und stellte es wieder in den Schrank zurück. Vater überprüfte die Fenster, die Wasserhähne, den Gasherd, dann verliess er als Letzter die Wohnung, schloss die Tür zweimal ab, stieg zu uns in den Fahrstuhl, und so fuhren wir schweigend acht Stockwerke hinunter. Später wurde alles entsprechend unseren Wünschen verteilt. In meiner Vorstellung aber steht heute noch alles an seinem alten Platz, mit weissen Zetteln versehen. Nicht einmal der Staub hat sich gesetzt. Es ist still und schattig. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich unsere Abreise bedauerte oder sie mir wünschte. Ob ich mich fürchtete. Ob ich selber wählte. Es war eine Abfolge von Ereignissen, nichts weiter, und an dieser Stelle versagt das Gedächtnis. Vielleicht war es sogar ein bisschen aufregend. Ein kleiner Mitläufer. Ich. Die Schweiz fiel uns zu wie ein Lotteriegewinn. Vater hatte einen guten Riecher. Vor einem bescheidenen Hotel in Zürich, nach mehreren Tagen Fahrt durch Europa und bereit für die Weiterreise, fragte Vater einen feinen Herrn auf der Strasse um Rat. Dreissig Sekunden Inspiration haben gereicht gegen die Verzweiflung. Es war wie beim Fussball, wenn man mit einem Tor in der 90. Minute alles klar macht. Ob der feine Herr Gott war, wissen wir nicht. Das Einzige, an das wir uns erinnern, ist, dass er eine dunkle Limousine fuhr.
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Um es klar zu stellen: Wir blieben an diesem Ort, weil irgendjemand – Gott zum Beispiel – uns den Namen einer Person aufschrieb, die uns weiterhalf. Binnen Sekunden war es beschlossene Sache. Jahrelang schmiedet man Pläne, doch das Wesentliche ereignet sich blitzschnell. Es hätte Patagonien sein können. Dass es aber die Schweiz wurde, freut uns heute noch ganz besonders. «Der Nabel der Welt, Junge», sagt Vater, «der Nabel der Welt. Wir haben eben Glück gehabt.» Lotterieheimat. Wir haben nicht zu denken gewagt, dass es die Schweiz sein könnte. Sie ist eher ein Spielzeug für die Phantasie gewesen. Eines Tages steht man mittendrin, trifft womöglich Gott, und achtzehn Jahre später wundert man sich, dass so viel Zeit vergangen ist. Heute schaut sich Vater Afrika im Fernsehen an und nimmt Tierfilme auf Video auf. Wenn Jagdszenen gezeigt werden und die Löwinnen im hohen Savannengras umherstreifen, ruft er uns alle zusammen. Das ist fast so schön, wie gemeinsam Heimatsprache im Radio zu hören. Manchmal überlebt sogar ein Gnu. Vater spult den Film zurück, um nachzuprüfen, ob die Aufnahme in Ordnung ist. Dann ist die Löwin erneut hinter dem Gnu her, und das Gnu kriegt eine zweite Chance. Doch auch diesmal stirbt es genauso erbärmlich wie zuvor. Als das Tier umknickt, drückt Vater die Stopptaste. Er beschriftet das Band und sagt: «Ich kenne einen Film, in dem das Gnu es schafft. Es stellt sich einfach tot und läuft davon, sobald die Löwin unaufmerksam ist. Gnuschläue.» In Vaters Videosammlung sterben Gnus, landen Ausserirdische, verunglückt Lady Di, und es fallen Unmengen an Fussballtoren. Aber am meisten vertreten sind Berichte von zu Hause. Kurze Ausschnitte, oft nur die letzten Minuten. Doch um das Zuhause zu erkennen, braucht man nicht mehr als einige Sekunden. Noch bevor ein Wort gesprochen worden ist, fällt dem Auge irgendwas auf, und der Atem wird schneller. Das Wesentliche ist dann sichtbar. Die besondere Art des Innenraums eines Bauernhauses zum Beispiel. Wandteppich, Holzofen, besticktes Tischtuch, ein Jesusbild. Dicke Bettdecken und Kissen im Hintergrund. Die Bekleidung der Bäuerin: strapazierfähiger Stoff wegen der harten Arbeit, geblümter Rock, Kopftuch. Ein Schulterzucken, ein Kopfnicken, ein Lächeln. Der Hof mit dem Ziehbrunnen und dem Pferdekarren für die tägliche Fahrt aufs Feld. Dahinter die Dorfkneipe: ein Zimmer, drei Tische, fünf Besoffene. Kaum eine Auswahl in den Gestellen: Schnaps in dunklen und hellen Flaschen. Da kommt der Rausch von selbst. Schokolade Marke Ost, hart und bitter. Dann dringt die Fernsehkamera in einen anderen Hof ein, dort wird Hochzeit gefeiert. Die Braut tanzt mit ihrem Vater und weint. Der Bräutigam leert ein Glas Schnaps in einem Zug. Die Generalprobe für den späteren täglichen Gang in die Kneipe. Aber solche Details interessieren uns nicht. Wir sitzen wie verzaubert da, bis der Film zu Ende ist. Danach überprüft Vater die Qualität der Aufnahme. Wie bei den Gnus. Wir waren von Anfang an gute Emigranten. Angepasst an die Sitten, weiss und auch sonst ganz europäisch. Glück gehabt. Das Fremdsein sieht man uns nicht an. Man hört Surprise 429/18
es höchstens. Rollende Rs, falsche Wortstellungen, falsche Artikel, falscher Fall, falsche Betonungen, lange ÄhReihen, bis einem das richtige Wort einfällt, Zuhilfenahme des Wortes «Dingsda» oder der Frage: «Wie sagt man gleich?», immer ein bisschen überschwänglich im Tonfall. Aber die Schweizer nehmen uns so etwas nicht übel, manche lieben die rollenden Rs sogar. Das Problem ist, dass man selber nicht auffallen möchte. Jedes Auffallen ein Nichtdazugehören. Ein permanenter Aufenthalt in einer fremden Zone. Illegalität auf Dauer. Bereits achtzehn Jahre lang. Die Denkpausen haben abgenommen, die Worte legen sich schneller auf die Zunge, und man wird öfter für einen «von hier» gehalten. Nun gut, nicht ganz «von hier», aber immer seltener «von dort». Aus den Bergen zum Beispiel. Aus Gegenden, wo auch Schweizer die Rs rollen. Uns zuliebe etwas Weiches einfügen, gut für Emigrantenzungen, für Vaters Zunge zum Beispiel. Vater sagt: «Diese Zungenbrecher bereiten mir Kopfzerbrechen.» Dabei könnte er zufrieden sein. Die Sprache hier «bei uns» – da sage ich endlich «bei uns» – ist im Allgemeinen weich. Fast keine Kraftausdrücke. Da könnte man die Zungenbrecher glatt übersehen. Da könnte man buchstäblich glücklich sein, ganz ohne Kraft auszukommen. Jedenfalls nicht mehr Kraft, als fürs Ausharren notwendig ist. Nach achtzehn Jahren lege ich mir die Worte im Mund immer noch zurecht, wie Perlen, die ich gleich ausspucke. Wenn ich unsicher bin, rede ich undeutlich und bilde mir ein, dass es niemand merkt. Man sagt: «Ich liebe dich» und fühlt nichts. Man sagt: «Ich hasse dich» und fühlt nichts. Man fühlt erst, wenn man es nach innen übersetzt. In die Sprache der Kindheit. In die Sprache, in der Vater fluchte und das erste Mädchen nach mir verlangte. Wenn man auch dann nichts mehr fühlt, ist man verloren. Flüchtlingspass. Blau mit zwei grauen Strichen in der rechten oberen Ecke. Wenn man solch einen Pass besitzt oder einen anderen mit der falschen Farbe, fangen die Probleme bereits auf dem Konsulat an. «Ausländerausweis, Arbeitsbestätigung, Bestätigungsschein über die Krankenversicherung. Bestätigungsschreiben der Zimmerreservierung für die Gesamtzeit des Aufenthaltes, ansonsten eine durch die Gastfamilie auf dem Bürgermeisteramt abzuholende und von dieser zu unterschreibende Erklärung betreffs der Übernahme aller zusätzlichen Kosten während Ihres Aufenthaltes in Frankreich. Spital, Sachschaden bei Unfällen und so weiter. Ein aktualisierter Auszug Ihres Bankkontos. Ein Monat Wartezeit, vielleicht kürzer. Was? Sie haben noch Fragen? Ich kann nicht darauf antworten, Monsieur. Gehen Sie bitte auf die Seite. Der Nächste bitte. Nein, Monsieur, beschaffen
Jahrelang schmiedet man Pläne, doch das Wesentliche ereignet sich blitzschnell.
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Dieses besondere Empfinden für Grenzen. Als Orte, an denen man in Erscheinung tritt, persönlich und mit einem breiten Rücken für den Gummiknüppel. Wo man nicht mehr sagen kann: «Ich komme schon heil heraus. Ich bin doch einer von vielen.» Wo IndieHosePissen eine der letzten verbliebenen Freiheiten ist. Ein Gnu ohne zweite Chance. Menschen in Uniform sagen: «Kommen Sie mal mit.» Menschen in Uniform nehmen den ganzen Wagen auseinander. Menschen in Uniform lassen andere Menschen sich ausziehen. Ich schrumpfe hinter dem Steuerrad zu einem kleinen Jungen, der die Augen schliessen und sich wegdenken möchte. Oder sich totstellen. Das wäre was. Der Emigrant hat es ähnlich schwer wie die unglückliche Tochter im Märchen. Sie ist auf den ersten Blick unscheinbar und wird ausgestossen. Bis sie ihren Prinzen findet und sich verwandelt, muss man viele Seiten lesen. Beim Emigranten weiss keiner genau, wie viele Seiten es bis zur Verwandlung sind und er angstfrei wird. Inzwischen aber gilt es, mutig zu sein und es ein einziges Mal auszusprechen: «Mein Land». Bereits achtzehn Jahre lang «mein Land» gewesen. Bin im Ausland nach meinem Land gefragt worden. Selten eine Antwort gewusst. Vorläufige Antworten. So etwas wie Antworten in Entwicklung. Aber ich werde üben, Antworten zu geben. Bestimmt werde ich das. Ich stehe mitten im Leben, inmitten von mir, und dreiunddreissig ist ein gutes Alter. Für irgendwas ist bestimmt auch dreiunddreissig ein gutes Alter. Der Text entstammt Catalin Dorian Florescus Erzählband «Der Nabel der Welt». Er ist 2017 im Verlag C.H. Beck, München erschienen.
CATALIN DORIAN FLORESCU wurde 1967 in Timisoara, Rumänien geboren. Im Sommer 1982 Flucht mit den Eltern in den Westen. Studium der Psychologie und Psychopathologie in Zürich. Zahlreiche Erzählungen und Romane und Preise, unter anderem Schweizer Buchpreis 2011.
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FOTO: SABINE ROCK
Sie sich zuerst die auf dem Formular angekreuzten Unterlagen und dann kommen Sie wieder. Holen Sie sich eine Nummer im Erdgeschoss und warten Sie, bis man Sie ruft. Wie bitte? Zwei Fotos, Monsieur, nicht vier. Wie bitte? Jawohl, achtzig Franken für ein einmaliges Visum. Und jetzt gehen Sie auf die Seite, Monsieur, Sie stehen im Weg. Was meinen Sie? Wieso ich den Kopf nicht hebe, wenn ich Ihnen antworte? Gehen Sie bitte auf die Seite, Monsieur.» Ich fragte die Madame am Schalter, ob sie nicht auch die Länge meines Schwanzes wissen wolle. Vielleicht wär’s wichtig, für Frankreich. Ganz mit rollendem R und auf Französisch gefragt. Sie hob den Kopf und stockte. «Wie bitte, Monsieur?» Höflich bleiben, Madame. Mit allen Mitteln höflich bleiben. Kaum hatte ich die Frage gestellt, schon lachten alle anderen Wartenden. Im Haus des französischen Konsulats in Zürich breitete sich ein befreiendes Lachen aus. Wer nur ein bisschen Französisch verstand, der lachte. Sie warfen mich hinaus und schlossen die dicke Tür hinter mir. Ich trat mit dem Fuss dagegen. Die Tür öffnete sich wieder einen Spalt weit, und ein Glatzkopf tauchte auf. Er sagte: «Sie werde ich mir merken, Monsieur. Sie kriegen kein Visum mehr für Frankreich, Monsieur. Kein Anstand, Monsieur.» «Wer hat hier keinen Anstand?», erwiderte ich und sah hinter ihm alle, die zuvor gelacht hatten, den Kopf einziehen. «Chauvinisten», rief ich aus, «alle haarlos und chauvinistisch», wobei es nützlich zu wissen ist, dass Glatzköpfigkeit und Nationalismus in Frankreich sich sprachlich nahestehen: chauve, chauvin. Mitten in Zürich war ich also an eine Grenze gestossen, unsichtbar versteckt im zweiten Stock eines unauffälligen Hauses. Da geht man umher und glaubt sich in Freiheit, und plötzlich ist sie nicht mehr da. Plötzlich tut es weh, und man schäumt vor Wut. Ich lebe glücklich hier. Es ist kein exzessives Glück. Es ist das Glück, eine Geliebte auf Nummer sicher zu haben. Leicht pedantisch, leicht langweilig, leicht biegsam. An den Mundgeruch hat man sich gewöhnt. Den Sex spart man sich für eine andere auf. Für später, wenn das richtige Leben beginnt. Aber, wann genau fängt das richtige Leben an? Und was für Entscheidungen muss man treffen, damit dies geschieht? Vater ist zufrieden hier. «Die Schweizer waren unsere Rettung», sagt er und fügt dann all das hinzu, wovor wir gerettet worden sind. Und doch hat Vater Sehnsucht. Wissen Sie, woran ich es erkenne? An den Radionachrichten um achtzehn Uhr. An Vaters Aufmerksamkeit, seinem Lauschen. An seinem Gedächtnis, das keine Sendung überspringt. Ich erkenne es an der Art, wie er über seine Heimat flucht, um dann jährlich dorthin zurückzukehren. Gerade ist er wieder unterwegs. Jetzt hat er ein Handy dabei, um die Verbindung aufrechtzuerhalten. In Grenznähe hat er angehalten und angerufen. Die Grenze zwischen Ungarn und Rumänien. Wer hätte das gedacht: Dass man dort eines Tages ruhig aus seinem Wagen aussteigen, ausatmen und seinen Sohn anrufen kann. Früher gab es in Grenznähe nur eines zu tun: Angsthaben und in die Hose pissen.
Kanton Graubünden «Arte Albigna», Freiluft-Kunst, bis So, 30. September, Albigna-Region, Bregaglia GR. arte-albigna.ch
Im Bergell kann man der Kunst nachwandern. Arte Albigna ist ein Kunstraum, der sich von der Talstation in Pranzaira hinauf zur Staumauer bis zur SACHütte Capanna da l’Albigna über die Wanderwege hin erstreckt. Das hat natürlich etwas Eventhaftes, und im Rahmenprogramm sind auch der Autor Tim Krohn und der Kulturwissenschaftler Johannes Binotto anzutreffen. Aber man muss sagen: Das sind nette Leute, erdverbunden und mit Bodenhaftung, und das ist immer gut beim Wandern. Zudem wusste Roman Signer (der nebst Pipilotti Rist und vielen anderen mit einem Werk vertreten ist) schon immer, dass Kunst und Landschaft zusammengehören. DIF
Schaffhausen «Schaffhauser Wolle – Eine Marke macht Geschichte», Ausstellung, bis So, 19. August, Di bis So, 11 bis 17 Uhr, Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, Klosterstrasse 16. allerheiligen.ch
heiligen zeigt über 100 Werbeplakate, die zwischen 1924 und 1989 von Schweizer Grafikern und Künstlern gestaltet wurden. Die farbenfrohen Werke spiegeln den damaligen Zeitgeist und erzählen von den gesellschaftlichen, ökonomischen und ästhetischen Strömungen ihrer Zeit. Zudem wird dieses Kapitel der Schweizer Industriegeschichte mittels Zeitzeugen-Interviews, Filme und Fotos neu aufgerollt. DIF
Aarau «Su-Mei Tse: Nested», Ausstellung, bis So, 12. August, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do 10 bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch
Dank ihrer Qualität, aber – wie man sieht – auch dank der innovativen Werbestrategie entwickelte sich die Marke «Schaffhauser Wolle» zu einer Legende der Schweizer Alltagskultur. Das Museum zu Aller-
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Die luxemburgische Künstlerin Su-Mei Tse ist ausgebildete Cellistin. Entsprechend treten in den Ausstellungsräumen Musik, Geräusche und Stille in ein Wechselspiel, das einen die Zeit in verändertem Rhythmus erleben lässt. Su-Mei Tse schafft kontemplative Werke, seien es Fotografien oder Video- und Objektkunst. Immer wieder tauchen Mineralien und Elemente aus der Pflanzenwelt auf. Im Kern liegen Su-Mei Tses Kunst Fragen nach der menschlichen Existenz – ans «In-der-WeltSein» – zugrunde. DIF
Fotografien als dreidimensionale Modelle nach und fotografierten sie neu. Das Resultat kommt der ursprünglichen, realen Szene verDIF blüffend nahe.
Pratteln «Autokino Pratteln», bis Sa, 28. Juli, Lohagstrasse 14, für Fussgänger mit Londonbus-Ticket: Haltestelle Pratteln Hardwasser oder Haltestelle Salina Raurica. cinema-drive-in.ch Zürich «Saffa 58 – Die Landi der Frauen», Ausstellung, bis So, 9. September, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Mi 10 bis 20 Uhr, Museum für Gestaltung Zürich, Ausstellungsstrasse 60, Vestibül 1. OG. museum-gestaltung.ch Im Autokino Pratteln gibt’s Midnight-Movies und Filmklassiker wie «A Clockwork Orange» (E/D), «Rocky» (D) oder «Smokey and the Bandit» (E/D) zu sehen. Ansonsten kommt das Autokino sehr amerikanisch daher und tut so, als ob wir in den Fünfzigern wären. Mit Hamburgern, Popcorn und allem anderen, was Gott verboten hat. Rollergirl- und Popcornboy-Service direkt am Auto zum Beispiel. DIF
Winterthur «Jojakim Cortis & Adrian Sonderegger – Double Take», Ausstellung, bis 9. September, Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Mi 11 bis 20 Uhr, Mi 17 bis 20 Uhr freier Eintritt, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45. fotostiftung.ch «Double Take» ist ein Spiel mit Bildern der Fotogeschichte, die sich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt haben. Das Zürcher Künstlerduo Jojakim Cortis & Adrian Sonderegger bauten ikonische
1958, im Vorfeld der Abstimmung zum Frauenstimmrecht, fand am linken Seeufer in Zürich die zweite Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit statt. Unter dem Titel «Die Schweizerfrau, ihr Leben, ihre Arbeit» liessen Architektinnen, Ingenieurinnen und Gestalterinnen die legendäre Gondelbahn der Landi neu aufleben, richteten moderne Pavillons ein und schütteten die kleine, noch heute existierende Saffa-Insel auf. Es war ein Ausstellungsereignis, das vor 60 Jahren das Zürichseeufer nachhaltig veränderte. Die kleine Schau, «Saffa 58 – Die Landi der Frauen», lässt das Motto «von Frauen für Frauen» mit Fotos, Film-Ausschnitten und Planzeichnungen noch einmal aufleben. DIF
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BILD(1): RALPH FEINER, BILD(2): JÜRG FAUSCH, MUSEUM ZU ALLERHEILIGEN, BILD(3): RENÉ ROETHELI, BILD(4): INNOVATIVE EYE, BILD(5): JOAKIM CORTIS & ADRIAN SONDEREGGER, BILD(6): ARCHIV FAMILIE HUBACHER
Veranstaltungen
Kreuzworträtsel 1. Preis Das Surprise Strassenmagazin ein Jahr im Abo 2. Preis Zwei Mal Teilnahme für zwei Personen am Sozialen
Stadtrundgang, wahlweise in Bern, Basel oder Zürich 3. Preis Drei Mal wahlweise ein Surprise Etui oder ein Surprise
Gym Bag
Finden Sie das Lösungswort und schicken es zusammen mit Ihrer Postadresse an: Surprise Strassenmagazin, Münzgasse 16, 4051 Basel oder per E-Mail mit Betreff «Rätsel 429» an info@surprise.ngo Einsendeschluss ist der 27. Juli 2018. Viel Glück! Tipp: Das Lösungswort kommt in einem der Texte dieser Ausgabe vor. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden unter den richtigen Einsendungen ausgelost und persönlich benachrichtigt. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt.
darüberstehend
Vater
Abk.:
und
latei-
Mutter
nisch
Altersfreigabe von Filmen
von hier
was
zum
heilig b.
gesund
Verzehr
portug.
werden:
geeignet
Städten
sich ...
schweiz. Bundesbahnen (ital.)
Arbeitsmittel d. Aquarellmalerei
elektr. Schaltanlage eh. schweiz. Tennisspieler
fassung (engl.) Filmfigur von Sylvester Stallone
zweisprachige Stadt im Kt. BE
8 T Tessin
Hirtenlied
Menschen
Anfangsform,
7
Urbild engl. Gasthof
Rufname von Guevara † 1967
fälscht, rein
vogel
(jmdm.
Autor v.:
etwas)
Das
Männer-
17 4
Hingabe
Gerbstoff
6
Stammmannschaft b. Sport
12
dt.-
sehr
frz. TV-
trocken
Sender
(Sekt)
Ort
Pflanzen-
Bräu-
faser-
nungs-
arten
studios
Wasserlebewe-
10 10 16
frz. Wort der Zustimmung
chen
5 Filmlichtempfindlichkeit
Monat des jüd. Kalenders
14
Platzknapp-
im AT
heit Abscheu-
3
gefühl
Gefühl, Empfindung (engl.) Vorn. v. Schauspielerin Meysel †
Gemeinde am Zürichsee
9
sen Mz. Prophet
erfolgreicher Schlager
beglei-
Stadt an
ge-
bankrott
brühe
Halbaffe
stimmter
benheit,
Ausdruck d. Überraschung
Abkoch-
be-
Erge-
strafen
Parfum USFilmkomiker (Stan) †
förml. kleidung
be-
farben
zufügen
finger
in Nyon
himmels-
Mose
im Kt. BE Hühner-
Lang-
festival
poet.:
Buch
chen
zeug
2
viertes
Städt-
Fahr-
datenschreiber
Musik-
Computermausunterlage
betagte
Flug-
unver-
Märchen
USWesternlegende † (Wyatt)
Fluss im
der
achtet
Limmat
1
26
2
3
4
grafie
poet.:
mutung
15
nachahmend wiederholen
eigenschaft
1
gerade richtig gebraten (2 W.)
Wein-
Ozeano-
eh. europ. Rechenwährung
urbane Gemeinde im Kt. Genf Ver-
Sitzwaschbecken (frz.)
flacher Nordseeküstenstreifen
brit. PopMusiker (Chris)
13 Entdecker d. Photosynthese
Neu-
11
USNewsSender (Abk.)
engl.:
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
42 429 29 rae raetse aetsel tsel.c ch
15
16
17
Surprise 429/18
Sudoku Füllen Sie die leeren Felder mit den Zahlen von 1 bis 9. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile, in jeder Spalte und jedem der neun 3 × 3-Blöcke nur ein Mal vorkommen. Die Lösungen finden Sie in der nächsten Surprise-Ausgabe.
Leicht
Mittelschwer
5 6 4 3 2 6 7 4 5 9 2 7 4 8 7 3 8 9 5 1 9 8 5 1 8 3 4 9 raetsel.ch 50239
Surprise 429/18
2 7 9
3 7 5 5 9 9 8
1 7 6 1 8 5 3
7
1 3 3 4 1
8 9
Teuflisch schwer
2 4 9
5 8 2 7 3 2 9 3 4 4 2 8 9 6 8 9 5 1 3 1 5 7 raetsel.ch 58369
1 3
raetsel.ch 58367
Mittelschwer
1 6 8
9 5
8 8
7
4 6 9 6 8
1 3 1 7 5 1
9 2
5 6 5
2 7 5 4
8
2
raetsel.ch 131455
27
IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
02
SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich
03
Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
04
Anyweb AG, Zürich
05
Leadership LP3 AG, Biel
06
Echtzeit Verlag, Basel
07
Maya-Recordings, Oberstammheim
08
Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau
09
Scherrer & Partner GmbH, Basel
10
Madlen Blösch, GELD & SO, Basel
11
Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar
12
Lotte’s Fussstube, Winterthur
13
Cantienica AG, Zürich
14
Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich
15
Brother (Schweiz) AG, Dättwil
16
Kaiser Software GmbH, Bern
17
Coop Genossenschaft, Basel
18
Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
19
Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel
20
Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern
21
VXL gestaltung und werbung AG, Binningen
22
Burckhardt & Partner AG, Basel
23
Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern
24
SM Consulting, Basel
25
Holzpunkt AG, Wila
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo
SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm
Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?
Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.
Eine von vielen Geschichten Roger Meier hat in seinem Berufsleben schon den Beton des AKW Mühleberg saniert und am Berner Münsterspitz Gerüste gebaut. Seit einem Unfall kann er nicht mehr voll arbeiten. Der 56-jährige Vater von vier Kindern erlitt nach dem Auseinanderbrechen der Familie einen Nervenzusammenbruch und musste die Fremdplatzierung der Kinder verkraften. Heute lebt er fast vollständig vom Surprise-Verkauf in der Berner Marktgasse. SurPlus ermöglicht Roger ab und zu Ferien vom anstrengenden Alltag. «Als Obdachloser war auch das ÖV-Abo elementar», sagt der Überlebenskünstler: «Wenn es zu kalt wurde, drehte ich zwei Runden im Tram und war wieder aufgewärmt.»
Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus
Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.
Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.
Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!
Wir alle sind Surprise #425: Reich durch Gott
Sozialer Stadtrundgang
«Bock zum Gärtner»
«Eindrücklich sensibilisiert»
Mit dem Theologen A. Heuser haben Sie gleichsam den Bock zum Gärtner gemacht, denn auch er braucht offenbar die Religion als Tröstung im Jammertal, sonst wäre nicht auch er ein Gottesmann. Viele christliche Kirchen sind ja nicht nur wahre Geldmaschinen, sondern auch eine negative Ansammlung von pädophilen Straftätern. Beide Fraktionen nützen den Wunsch der verzweifelten Menschen nach einem würdigen Leben schamlos aus. Aber gut, dass Sie diese Seite thematisiert haben.
Ich habe heute in Bern einen wunderbaren Stadtrundgang mit Roger Meier genossen und ihm am Ende gern ein Heft abgekauft. Ein riesiges Lob sowohl an euch, aber vor allem an euren Stadtführer Roger Meier.
Einen herzlichen Dank an die Stadtführer Markus Christen, Heiko Schmitz und die Stadtführerin Lilian Senn. Ihnen ist es sogar in einer verkürzten Führung gelungen, die teilnehmenden Staatsrechtsprofessoren und -professorinnen eindrücklich für das Leben in Armut in unserer Gesellschaft zu sensibilisieren. Wir haben ausschliesslich positive Rückmeldungen zu den Führungen erhalten. Einige haben schon Interesse bekundet, mal an einer längeren Führung in Basel, Bern oder Zürich teilzunehmen. Sehr geschätzt und geachtet wurde die Offenheit der Stadtführerinnen und Stadtführer, ihre eigene Geschichte zu teilen. Aus erster Hand zu erfahren, wie wenig es braucht, um aus dem Netz der Gesellschaft herauszufallen, hat viele nachdenklich gemacht; desgleichen wie schwierig es ist, wieder in das System hineinzukommen, wenn man einmal rausgefallen ist. Wir sind sicher, dass der Einblick, den die Stadtführer gewährt haben, von den Teilnehmenden weitergetragen wird.
L . SCHMID, Oberdorf NW
S.-M. SHIN, Juristische Fakultät, Basel
P. JUD, Stühlingen
#426: Die erfundene Geschichte des Schmarotzens
Sozialer Stadtrundgang
«Genossen»
«Keine Versicherung» Ich möchte Sie darum bitten, in Zukunft die Wörter Sozialhilfe und Versicherung nicht mehr in Zusammenhang zu bringen, denn dies ist eine falsche Formulierung. Die Sozialhilfe ist keine Versicherung, sondern als Überbrückung für Notsituationen gedacht. Die Verfassung sichert dies so zu. F. FANKHAUSER, Bern
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Sara Winter Sayilir (win), Georg Gindely (gg)
Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
Surprise 429/18
Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Donat Blum, Catalin Dorian Florescu, Yael Inokai, Tanja Kummer, Dominic Oppliger, Ralf Schlatter, Christoph Simon, Big Zis
Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name
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429/18
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FOTO: BODARA
Surprise-Porträt
«Meine Eltern wären stolz auf mich» «Ich bin dem Tod schon ein paar Mal vom Karren gesprungen, zum letzten Mal vor viereinhalb Jahren. Ich hatte so starkes Übergewicht, dass meine Organe ohne eine Operation zu versagen drohten. Der Eingriff war so massiv, dass nicht sicher war, ob ich ihn überstehen würde. Die Ärzte gaben mir 30 Prozent Überlebenschance, bevor sie mir 20 Kilogramm Fett wegschnitten und meinen Magen verkleinerten. Nicht viel besser sah es vor elf Jahren aus, als sie mich am Herz operierten. Ich habe beides überstanden und fühle mich heute so gut wie lange nicht mehr. Ich hatte eine schöne Kindheit. Aufgewachsen bin ich zusammen mit drei Geschwistern in Wollishofen. Meine Eltern führten ein Taxiunternehmen, und die Sommerferien verbrachten wir immer auf einem Bauernhof am Aegerisee. Wir wanderten, schwammen und waren glücklich. Eigentlich wollte ich Bauer werden, entschied mich dann aber für eine Lehre als Automechaniker. Das lag nahe, weil mein Vater seine Taxis soweit es ging selber instand hielt und ich ihm oft dabei half. Mitten in der Lehre verschob es mir einen Wirbel, und ich musste operiert werden. Zum Glück erholte ich mich schnell, und nach dem Lehrabschluss arbeitete ich noch eineinhalb Jahre im Lehrbetrieb am Albisriederplatz weiter. Dann wechselte ich zu den VBZ und wurde Wagenwärter. Ich reinigte die Trams, füllte neue Kohlen in die Heizung ein und schaute, dass in den Wägen alles in Ordnung war. 26 Jahre war ich bei den VBZ angestellt. Daneben machte ich immer auch viel anderes: Ich war in der Jungwacht, spielte Saxophon in der Harmonie Wollishofen oder besuchte Samariterkurse. Mit dem Übergewicht hatte ich schon als Kind zu kämpfen. Als ich 36 Jahre alt war, starb mein Vater, zu dem ich ein sehr enges Verhältnis hatte. Ein halbes Jahr später kam es zur Scheidung von meiner Frau. Mein Sohn war vier Jahre alt, und aus Frust und Trauer begann ich immer mehr zu essen. Das hatte gravierende Folgen: Ich bekam Diabetes und musste mich mehrmals operieren lassen, drei Mal am Meniskus, fünf Mal wegen Leistenbrüchen. Bis heute komme ich auf über 20 Operationen. Wegen meiner gesundheitlichen Probleme häuften sich die Abwesenheiten am Arbeitsplatz. Als die VBZ sparen mussten, verlor ich die Stelle. Ich hielt mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, bezog auch einmal 30
Richard Zünd, 64, verkauft Surprise vor der Migros in Zürich-Wollishofen. Im Haus vis-à-vis ist er aufgewachsen.
Sozialhilfe und später IV, zuerst eine halbe, dann eine ganze Rente. Vor neun Jahren begann ich, Surprise zu verkaufen. Ein Freund hatte mir davon erzählt, und ich war froh, wieder etwas zu tun zu haben. Seither sitze ich auf meinem Klappstuhl vor der Migros Wollishofen und verkaufe Hefte. Schräg gegenüber liegt das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, und ich wohne eine Bushaltestelle entfernt in einer Genossenschaftswohnung. Seit der letzten Operation bin ich wieder viel selbständiger, kann den Haushalt alleine schmeissen und komme mit meinem Rollator überall hin. Ich kenne viele Menschen im Quartier, auch noch von früher, und wir plaudern oft miteinander. Für viele bin ich immer noch der Sohn vom Taxi-Zünd. Ich habe fast immer positive Erlebnisse bei der Arbeit, aber ab und zu auch mal ein negatives. Eines davon ist mir besonders geblieben. Die Mutter eines früheren Arbeitskollegen von mir kam wie eine Furie auf mich zu und begann mit mir zu schimpfen. ‹Was soll das?›, fragte sie. ‹Was würden deine Eltern dazu sagen, dass du bettelst?› ‹Gute Frau›, sagte ich, ‹jetzt reicht es aber. Ich bettle nicht, sondern verdiene mein Geld mit ehrlicher Arbeit, und meine Eltern wären stolz auf mich. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.›» Aufgezeichnet von GEORG GINDELY
Surprise 429/18
Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BERATUNG
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Erlebnis
Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
Information
Perspektivenwechsel
SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
BETEILIGTE CAFÉS
Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.
IN BASEL BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbar Volière, Inseli Park IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47
Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise
Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.
Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden