Surprise Nr. 430

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Strassenmagazin Nr. 430 27. Juli bis 9. August 2018

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Literaturausgabe

Utopie

Der Lesesommer geht weiter: Kurzgeschichten von Simone Lappert, Charles Lewinsky, Nora Zukker, Seraina Kobler, Jens Nielsen, Julia Weber, Ruth Loosli, Matto Kämpf, Romana Ganzoni


GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN

Porträts der Surprise Verkaufenden in Buchform

Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung.

156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO


TITELBILD: PRISKA WENGER

Editorial

Realität für vier Wochen Eigentlich stammt die Idee vom Interna­ tionalen Netzwerk der Strassenzeitungen, zu dem auch Surprise gehört: Seit vielen Jahren schon schenken renommierte Auto­ rinnen und Autoren den Strassenzeitungen in aller Welt ihre Geschichten. Texte des gesellschaftskritischen schottischen Schrift­ stellers Irvine Welsh («Trainspotting») oder eine Weihnachtsgeschichte von Paulo Coelho waren schon dabei. Und Joanne K. Rowling hat uns 2003 den Vorabdruck von Auszügen aus dem fünften HarryPotter-Band ermöglicht: Aus Solidarität mit sozial Benachteiligten, denn vor ihrem Erfolg war Rowling selbst von der Sozialhilfe abhängig. Dass wir auch Schweizer Autorinnen und Autoren um Geschichten anfragen, ist zur Sommer­Tradition geworden. Wir sind jedesmal tief beeindruckt von der Unter­ stützung der Schreibenden. Einen Text bei­ zusteuern, ist ja nicht einfach nur eine nette Geste, sondern Arbeit. Die Schrift­ stellerinnen und Schriftsteller haben honorarfrei für uns geschrieben oder pas­ sende Geschichten aus ihren Schubladen hervorgesucht.

Illustrationen

4 Simone Lappert

Goldkopfnymphen 8 Charles Lewinsky

Die Begegnung 10 Nora Zukker

Man müsste, sagt er. Man würde schon wollen, sagt sie. Die Zeichnungen in dieser Ausgabe stammen von Priska Wenger, die bereits mehrere Sonderhefte von Surprise illustriert hat. Sie lebt und arbeitet in New York und Biel.

12 Seraina Kobler

Niemandsland 14 Jens Nielsen

Habitat B Surprise 430/18

«Utopie» ist das Thema dieser Ausgabe. Und was Sie in den Händen halten, ist an sich eine Art wahrgewordene Utopie: Stellen Sie sich eine Gesellschaftsord­ nung vor, in der es normal wäre, dass die einen sich ab und zu ein paar Tage Zeit freischaufeln, um eine Arbeit zu leisten, die anderen hilft, sich einen Monat lang ihr Leben zu finanzieren. Genau das ist hier geschehen. Die Autorinnen und Autoren haben geschrieben, damit die Verkaufenden sich auch im Sommer – ferienbedingt wäre es ohne Sondernummern eine verkaufsarme Zeit – über Wasser halten können. Insgesamt 17 Schreibende haben es möglich gemacht, mit dieser und der vorherigen Literaturnummer vier Wochen lang Utopie zu Realität werden zu lassen: Wir bedanken uns ganz herzlich bei ihnen.

DIANA FREI Redaktorin

17 Julia Weber

Unsere Stadt, sagen sie oft 19 Ruth Loosli

Wie Giraffen in den Himmel kommen 20 Matto Kämpf

Tiergeschichten 23 Romana Ganzoni

Utopie am Utoquai 25 Veranstaltungen

26 Rätsel 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise­Porträt

«Man glaubt mir nicht, dass sie meine Tochter ist» 31 Lösungen der Rätsel aus Ausgabe 429 3


Goldkopfnymphen TEXT SIMONE LAPPERT

Heute würde er früher gehen. Kleeber tastete nach der Fasanenfeder in seiner Manteltasche und umschloss sie mit der Hand wie den Griff eines Messers. «Am Montag werde ich wieder da sein», hatte Carla gesagt, «weiter unten, in der Biegung, wo die Forellen stehen, dort, wo die Krautbetten bei Sunk aus dem Wasser ragen.» Kleeber schaute auf seine Armbanduhr. Noch zwanzig Sekunden. Um Punkt halb fünf schaltete er den giftgrünen Ventilator auf der Fensterbank ab und fuhr den Rechner herunter. Er schwitzte, ein Schweisstropfen löste sich aus seiner Kniekehle, rann die Wade entlang und versickerte im Bund seiner feingerippten Socke. Kleeber entfluste das Polster seines Bürostuhls, nahm den Mantel von der Lehne, knipste die Schreibtischlampe aus und verbrannte sich dabei ein wenig die Kuppen von Daumen und Mittelfinger am heissen Blech. Sein Kopf dröhnte, aus 4

allen Ecken drängelte Telefongeklingel, und hinter jedem Klingeln schien ein nörgelnder Anrufer zu warten, der sich eine Versicherung gegen jegliche Zufälle wünschte. «Schon Feierabend?» Emmenegger deutete auf den Rucksack, den Kleeber unter dem Schreibtisch verstaut hatte. «Was Besonderes vor?» Kurz war Kleeber versucht, die Wahrheit zu sagen. Er hätte Lust gehabt, von Carla zu erzählen und ein bisschen anzugeben, nur um Emmen egger vor den Kopf zu stossen. Er griff in die Manteltasche, drehte die Garnrolle zwischen den Fingern, die er aus dem Nähkasten seiner Frau gestohlen hatte, und sagte stattdessen: «Ich habe mein Telefon zu dir rübergeschaltet. Falls die Entenfrau wieder anruft. Ich habe ihr heute mehrmals erklärt, dass es bei Entenbissen an öffentlichen Gewässern sehr schwer ist, jemanden für die beschädigte Kleidung haftbar zu machen. Sie ruft aber bestimmt nochmal an.» Surprise 430/18


Emmenegger öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da war Kleeber schon halb zur Tür hinaus. Auf dem Weg zum Lift öffnete er das Fenster im Flur und hielt seinen Kopf hinaus. Es kam ihm nur warme Luft entgegen. Die Frühsommerhitze flimmerte über den Dächern, wie ein Bremsklotz schob sie sich ins Getriebe der Stadt, zwischen die Vorhaben der Bewohner und zwischen ihre Gedanken. Erst als er von der Autobahn abzweigte, löste sich sein Griff ums Lenkrad. Er fuhr viel zu schnell, aber das war ihm egal, links schob sich schon die Birs ins Blickfeld, später die Sorne, kühl und blau. Kalkfelswände zogen vorbei, die ersten jurassischen Tannen warfen ihre Schatten auf die Strasse, und die Luft, die durchs Fenster kam, wurde allmählich kühler. Kleeber begann zu pfeifen, im Fahren löste er einhändig die Schnürsenkel seiner Lederschuhe, zog sie aus, streifte die Socken ab und warf alles auf den Rücksitz. Kurz vor Ortseingang machte er an einem Rastplatz halt, um sich umzuziehen. Der kleine Holzkiosk, in dem ein alter Mann manchmal Konfitüre, Käse und Früchte verkaufte, war geschlossen. Kleeber faltete seine Kleidung zusammen, stieg in die Fischerhose, zog frische Socken und die hüfthohen Watstiefel an, bei Carla wusste man nie. Die Weste hatte er schon Surprise 430/18

in der Mittagspause bestückt, unten in der Tiefgarage, mit Arterienklemme, Schwimmmittel und Fliegenbüchse, die Polaroidbrille baumelte an einer Schnur um seinen Hals. Den Rest seiner Ausrüstung packte er in den Rucksack. Er schloss den Wagen ab und ging das letzte Stück zu Fuss. Der Doubs hob sich spiegelnd gegen das grüne Ufer ab, stand stellenweise fast still, schlängelte sich dann wieder um Felsen, schäumte über Kiesbänke, unterströmte Büsche und Trauerweiden oder floss dem kniehohen Ufergras entlang. Kleeber kniff die Augen zusammen und suchte das Ufer in der Nähe der Flussbiegung ab, aber Carla war nirgends zu sehen. Durch das mittelalterliche Tor betrat er nach einer guten Viertelstunde den kleinen Ort, ein schwerer Lindenblütengeruch hing in der Luft. Nur der Kirchbrunnen war zu hören und weit weg ein Rasenmäher. Am geschlossenen Hôtel du Cerf bewegte sich das Drei-Sterne-Schild quietschend hin und her, ansonsten war es still. Kleeber ging an weiteren geschlossenen Hotels und Herbergen vorbei. In einem Café sass eine Frau in Schluppenbluse und drehte eine Flasche Rivella Blau in den Händen, als wollte sie die Zukunft daraus lesen. Vor fast allen Fenster5


brettern hingen Blumenkästen mit fetten Geranien, Petunien und Vergissmeinnicht, vor dem Imbiss neben der Post versprach ein Schild hausgemachtes Zitroneneis. Kleeber begann zu zweifeln, dass heute ein guter Tag zum Fischen war. Er hatte schon erlebt, dass alle fünfzig Meter ein Fischer im Wasser stand und man Angst haben musste, von einem fremden Haken getroffen zu werden. Er hoffte, dass wenigstens das Hôtel du Sanglier geöffnet war, wo man die Tagespässe zum Fischen kaufen konnte. Er stiess die Tür auf, drinnen roch es nach Kaffee und Frittierfett. Die einzige Lichtquelle war der Fernseher neben der Kasse, der eine dicke Kellnerin beleuchtete, die mit dem Rücken zur Tür am Tresen lehnte, sich gedankenversunken am Oberarm kratzte und in die Quizshow auf dem Bildschirm vertieft war. Kleeber räusperte sich, die Kellnerin fuhr herum. «Ja», sagte sie, mehr nicht. Kleeber verlangte einen Tagespass und bestellte das Stück Aprikosenwähe, das unter der Plastikglocke neben den eingepackten Nussgipfeln und Spitzbuben lag, dazu einen Apfelsaft. Die Kellnerin schaufelte das Wähenstück auf einen Teller, schenkte ungeduldig den Saft ein, hielt ihm den Taschenrechner mit dem Gesamtbetrag vor die Nase und kassierte schweigend ein, eine Gabel bekam er nicht. Draussen setzte sich Kleeber an einen der Gartentische im Schatten. Er packte den Bindestock aus, spannte einen Fischerhaken mit Goldkopf ein, trennte mit der Schere ein paar Fibern von der Fasanenfeder, montierte das Bindegarn im Spulenhalter und begann, die Fibern auf den Hakenschenkel zu binden. In wenigen Minuten hatte er eine hübsche Goldkopfnymphe gefertigt, die er zu den anderen Fliegen in die Büchse legte. Damit würde er heute kaum einen Fisch fangen, trotzdem war es sein wichtigster Köder. Er spannte einen kleineren, dünndrahtigen Haken ein und präparierte ihn mit Fasanenfedern, wie einen Kragen legte er am Ende die letzten Fibern um den Hakenkopf und hielt nach kurzer Zeit eine täuschend echte Eintagsfliege in der Hand. Aus dem Supermarkt an der Ecke trat eine Verkäuferin auf die Strasse und räumte das Schild mit der Kalbswurstaktion hinter die Glasschiebetür. Kleeber stand auf und verstaute seine Sachen, in wenigen Schlucken trank er den Saft aus, die Wähe liess er stehen. Am Ufer tanzten Mücken im Gras, auch auf Bremsen musste er aufpassen. Kleeber holte eine Petflasche mit kaltem Kamillentee aus seiner Tasche und rieb sich damit Gesicht und Arme ein, ein Trick, den er von Carla abgeschaut hatte. Der Rucksack wurde ihm jetzt schwer auf dem Rücken, bis zur Flussbiegung hinunter war es weiter, als er gedacht hatte. Die Sonne brannte, und er schwitze unter seinem Hut. Kleeber ging weiter, vorbei an säuberlich angelegten Gemüsegärten, verwilderten Wiesen-

stücken und grasenden Kühen, hin und wieder traf er zwischen den Böschungen auf einen Graureiher oder eine Katze, sonst begleiteten ihn nur der Fluss und die Insekten, mal laut, mal leise. Hinter einem Brombeerbusch, der die Sicht auf den Doubs verdeckte, blieb er stehen. Er hörte etwas, das klang wie das Quaken eines kleinen Froschs. Carlas Fischerschnur. Er lief den Brombeerbusch entlang und fand eine lichte Stelle, durch die er hindurchsteigen konnte. Unten im Fluss sah er Carla auf einer Kiesbank stehen, das Wasser bis zu den Knien. Wie ein Reiher auf Pirsch stand sie da, schwang die Schnur über den Kopf und liess ihre Fliege übers Wasser tanzen. Ein paar Forellen befanden sich bereits im Abendsprung, für Sekundenbruchteile blitzten ihre hellen Bäuche auf, eine kunstvolle Choreografie allein für Carla. Sie warf ihre Fliege immer wieder in Richtung einer Weide auf der anderen Uferseite aus, interessierte sich nicht für die leicht zu täuschenden Fische. Vermutlich befand sich unter den herabhängenden Zweigen ein misstrauischer älterer, den sie aus der Reserve locken wollte. Kleeber versuchte leise aufzutreten, er wollte sie nicht stören, noch nicht. Er ging gute fünfzig Meter flussabwärts, legte seine Ausrüstung ins Gras und setzte seine Rute zusammen. Die Insekten flogen dicht übers Wasser, am Horizont zogen die ersten Gewitterwolken herauf, die besten Bedingungen, um mit Trockenfliegen den Tiefflug zu simulieren. Stattdessen aber klaubte Kleeber die Goldkopfnymphe aus der Büchse, die er im Hôtel du Sanglier gebunden hatte, ein Köder, der nach dem Auswerfen absank. Vor einigen Wochen hatte Carla plötzlich hinter ihm gestanden, die Hände in die Hüften gestützt, die Augen gegen die Sonne zusammengekniffen. Kleeber hatte vor Schreck die Rute fallen lassen. «Durchsichtige Schnüre sind etwas für Fischer, die denken wie Menschen. Ein Fischer aber sollte denken wie ein Fisch. Bei den Lichtreflexionen, die das Ding da über dem Wasser erzeugt, kannst du den Döbeln auch gleich mit blossen Händen und einer Taschenlampe nachstellen.» Sie zog eine Rolle mit kobaltblauer Schnur aus der Westentasche. «Nimm die, dann weisst du auch, wo deine Fliege treibt. Für die Fische ist deine Schnur nichts als ein Schatten. Schatten haben immer dieselbe Farbe.» Kleeber spähte hinüber zu Carla, die gerade dabei war, eine grosse Bachforelle vom Haken zu trennen. Sie nahm keine Notiz von ihm. Sie hielt den Fisch hoch wie ein Haustier, küsste ihn auf die Rückenflosse und setzte ihn zurück ins Wasser, sah zu, wie er davonzog. Kleeber fragte sich, wie oft er wohl in seinem Leben schon aus dem Wasser gezogen worden war. Vielleicht, dachte er, war ihm schon einmal dieselbe Forelle auf den Haken gestiegen wie Carla. Nichts wusste er über diese Frau, ausser dass

Er rieb sich Gesicht und Arme mit Kamillentee ein. Ein Trick, den er von Carla abgeschaut hatte.

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FOTO: BJÖRN GREVE

sie hier war, jeden Tag, dass sie gern Apfelbier trank und lieber schwieg als redete, es sei denn über Fische, Krautbetten, Kiesbänke und Laichplätze. Allerdings kam sie nur, wenn er etwas fing. Oder einen Fehler machte. Kleeber befestigte die Nymphe und liess sie in der Nähe eines Krautbetts ins Wasser sinken. Es dauerte nicht lange, da hörte er Carla hinter sich die Böschung hinunterklettern. «So kannst du auch warten, bis sie von alleine an Land kriechen, gib her.» Sie deutete auf Kleebers Rute. Flink holte Carla die Schnur ein, löste die Goldkopfnymphe und steckte sie in die Hosentasche. Sie öffnete Kleebers Fliegenbüchse, die auf dem Felsen neben seiner Ausrüstung lag. «Die da», sagte sie und zeigte auf die Eintagsfliege, die er im Hôtel du Sanglier gebunden hatte, «mit der wird’s klappen.» Kleeber sah ihr zu, wie sie die Rute umrüstete. Alles an ihr, was sie zum Fischen brauchte, war gross geraten, die Ohren, die Augen, die Hände, bestimmt auch die Füsse. Sonst war sie zierlich, fast zerbrechlich in ihrer grünen Wathose und den schweren Stiefeln. Das rote Haar hatte sie unter die Werbemütze eines örtlichen Stromanbieters gestopft, die Haut im Schatten der Hutkrempe war hell wie der Bauch einer Forelle. Kleeber stellte sich vor, wie sie in einem der windschiefen Häuser lebte, Petunien goss und über einem alten Keramikwaschbecken Fische putzte, während ihr Mann in der Postbar Schnaps trank. Bestimmt hatte sie einen Mann. «Wie heisst du?», fragte Carla und drückte ihm die Rute in die Hand. «Walter», sagte Kleeber. Der Name kam ihm fremd vor, fast verwegen. Seine Frau nannte ihn Walli oder Hase, selbst im Streit, und im Büro wurde er nur mit Nachnamen angesprochen. Carla nickte. «Im Winter werde ich weiter oben fischen, bei La Goule, im Hechtwasser.» Das war alles, was sie an diesem Abend noch sagte. Als Kleeber gegen neun zusammenpackte, hob sie bloss schweigend die Hand zum Gruss. Es begann einzudunkeln, als Carla sich auf den Weg machte. Kurz nach Ortsausgang fuhr sie auf den Rastplatz und zog sich um, bis auf ein paar frühe Grillen war sie allein. Einen Moment lang stand sie nur da und atmete die Dämmerung ein. Dann legte sie Wathose, Stiefel, Weste und Hut fein säuberlich auf den Rücksitz, der hellblaue Kittel und die Turnschuhe lagen daneben schon bereit. Ein bisschen wehmütig blickte sie hinunter auf die Lichter des kleinen Orts und den Fluss, der sich stellenweise schaumhell gegen die Felsen abhob. Bestimmt sass Walter irgendwo hinter einem der Fenster und goss Geranien, weil seine Frau ihn darum bat. Bestimmt hatte er eine Frau, und trotzdem stellte Carla sich vor, wie es wäre, mit Walter auf einem der knarrenden Holzbalkone zu sitzen und Reizfliegen zu binden, und wie er sie ins Bett tragen würde, sobald sie über dem Binden zu gähnen begann.

Solange sie beim Fischen auf Walter traf, kam es ihr vor, als gäbe es in der eingeschworenen Friedlichkeit dieses Städtchens eine Tür, zu der sie den Schlüssel hatte. Zurück in der Stadt war es laut und heiss, die Anhänger einer Fussballmannschaft drängten hupend und kreischend durch die Strassen, ein Hubschrauber kreiste über dem Landeplatz des Krankenhauses und vor der Einfahrt zum Versicherungsgebäude kickten angetrunkene Jugendliche leergetrunkene Bierflaschen gegen die Wand. Carla parkte in der Tiefgarage. Die anderen warteten bereits am Eingang zum Lift. «Auch schon da», sagte die Beringer und schob ihr einen Putzwagen zu, «zwölfter Stock, zuerst die Büros, dann die Toiletten, aber bisschen mit Hummeln, wenn ich bitten darf.» Das Büro im Zwölften war stickig und schlecht beleuchtet, eine der Neonröhren gab flackernd den Geist auf, als Carla den Lichtschalter drückte. Sie steckte den Staubsauger ein und entdeckte auf der Fensterbank einen giftgrünen Ventilator. Als sie sich über den Schreibtisch zum Einschaltknopf bückte, klang es, als wäre ihr etwas Metallisches aus der Tasche gefallen. Sie knipste die Schreibtischlampe an und sah sich um, entdeckte aber nichts, weder auf dem Tisch noch am Boden. Sie nahm den Staubsauger auf und saugte die Krümel ein, die unter dem Bürostuhl des Nachbarschreibtischs lagen. Beim Verlassen des Büros knipste sie die Schreibtischlampe wieder aus und verbrannte sich dabei ein wenig die Kuppen an Daumen und Mittelfinger. Am nächsten Morgen fand Kleeber in der obersten Schreibtischschublade zwischen Heftklammern und Gummibändern eine Goldkopfnymphe, die genauso aussah wie jene, die er am Vortag im Hôtel du Sanglier gebunden hatte. Er legte sie in einen Briefumschlag mit Firmenaufdruck und steckte sie in die Hosentasche. Wenn es irgendwie ging, würde er heute wieder früher gehen.

Nichts wusste er über diese Frau, ausser dass sie gern Apfelbier trank und lieber schwieg als redete.

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Dieser Text ist erstmals in der Zeitschrift Transhelvetica erschienen. SIMONE L APPERT (*1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut. 2014 erschien ihr Debüt «Wurfschatten» (Metrolit). Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit Werkbeiträgen der Pro Helvetia. Lappert ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel.

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Die Begegnung TEXT CHARLES LEWINSKY

Der Fels wechselte immer wieder die Farbe, das war ihm hier auf dem Gipfel schon ein paar Mal aufgefallen. Oft geschah das ganz plötzlich; was eben noch rötlich geschimmert hatte, wurde von einem Moment auf den anderen grau, aber manchmal blühte die neue Farbe auch ganz allmählich auf, mit zahllosen Zwischentönen, für die er keine Namen hatte. Es muss etwas mit dem Licht zu tun haben, dachte er. Dabei blieb es, solang die Sonne schien, doch immer gleichbleibend hell, und Wolken gab es auch keine. Ich hätte besser im Herbst hierherfahren sollen, dachte er, oder im Frühjahr, da wäre es weniger heiss gewesen. Ich hätte mir den Reiseführer früher besorgen sollen, dachte er, ihn nicht erst im Flugzeug nach Athen studieren. Gut, dass der Platz neben mir frei geblieben war, dachte er, so war die Reise doch bequem, fast wie in der Business Class. Dort zahlt man das Doppelte oder das Dreifache, und die Sitze sind auch nicht breiter. Das sind die falschen Gedanken, dachte er, ich bin nicht nach Athos gefahren, um über Flugzeugsitze nachzudenken.

Die Muskeln in seinem Oberschenkel verkrampften sich schon wieder. Er war es nicht gewohnt, auf dem Boden zu hocken. Im Kloster, wo er seine Zelle gemietet hatte – teuer eigentlich, wo es noch nicht einmal fliessendes Wasser gab –, im Kloster hatte er einen alten Mönch gesehen, der konnte stundenlang in der Hocke bleiben, scheinbar ohne jede Anstrengung. Vielleicht genügten ein paar Wochen eben doch nicht, um das Gleichgewicht wieder zu finden, das äussere und das innere. Magnesium hätte ich mitnehmen müssen, dachte er, und wollte solche Sachen doch gar nicht denken, das ist gut gegen Muskelkrämpfe. Er hatte die Reise nicht gemacht, um über Muskelkrämpfe nachzudenken, verdammt nochmal. Dafür hatte er seinen kostbaren Urlaub nicht geopfert. Es müsste einen Reboot-Schalter für den Denkapparat geben, dachte er, man müsste sein Hirn regelmässig neu starten können, wie einen Computer. Alles herunterfahren und neu anfangen. Vielleicht würden dann die Erkenntnisse kommen, nach denen er sich so sehr sehnte. Viel-


FOTO: CLAUDIA GERRITS

leicht würde sich dann nicht mehr dieser Alltagsdreck über allem ausbreiten, diese aufgewirbelten Gedankenfetzen. Wie in einem Hinterhof, wo alles liegen bleibt, was längst in den Müll gehört hätte. Wo schaffen die Mönche eigentlich ihren Müll hin?, fragte er sich. Es musste doch möglich sein, solche Gedanken nicht zu denken. Vielleicht hatten die Buddhisten recht mit ihren Mantras. Oder waren das die Hindus? Er beschloss, sich auf die Farbe der Felsen um ihn herum zu konzentrieren. Wir kennen so viele Wörter für rot, dachte er, und nur ganz wenige für braun, obwohl sich doch in der Natur sehr viel mehr Brauntöne finden. Warum ist das so? Er schloss die Augen und versuchte sich ein Braun vorzustellen, das anders war als alle, die ihm je begegnet waren, versuchte im Kopf eine neue Farbe zu erschaffen. Vielleicht würde ihm das helfen, die Welt neu zu sehen. Aber jedes Braun, das ihm einfiel, war eines, das es schon gab. Braun wie Leder, braun wie ein Baumstamm, braun wie ein Teddybär. «So funktioniert das nicht», sagte eine Stimme. Ein alter Mann stand vor ihm, das Urbild eines alten Mannes. Weisse Haare, weisser Bart. «Farben sind schwierig», sagte der alte Mann. «Ich habe oft selber Mühe damit.» «Ich habe Sie nicht kommen hören.» «Das passiert mir oft.» «Woher wussten Sie, dass ich deutsch spreche?» «Ach», sagte der alte Mann, «war das deutsch? Ich muss besser auf diese Dinge achten. Manchmal bin ich ein bisschen zerstreut.» Er hatte sich hingesetzt, so bequem wie dieser Mönch im Kloster. Aber er war kein Mönch, die trugen alle dieselben schwarzen Gewänder. Ein Bauer vielleicht, ganz einfache Kleidung. Jemand, der sein ganzes Leben mit den Händen gearbeitet hat. Der seine Weisheit nicht aus Büchern bezog. «Ach, wissen Sie», sagte der alte Mann, «Weisheit … Ich bin mir da schon lang nicht mehr so sicher.» Das kam vom vielen Alleinsein hier oben: Er hatte das laut gesagt, ohne es zu merken. «Verzeihen Sie.» «Aber natürlich», sagte der Alte. «Das kann ich gut. Wenn ich auch nicht immer Lust dazu habe.» Sprach Deutsch ganz ohne Akzent. Wohl doch kein Bauer. Jemand, der in Deutschland studiert hatte. «Und anderswo», sagte der alte Mann. Hatte er schon wieder laut gedacht? Besser, man stellte seine Fragen direkt. «Stammen Sie hier aus der Gegend?» «Ursprünglich ein bisschen weiter südlich. Südöstlich, um genau zu sein.» «Und – wenn ich fragen darf – was waren Sie von Beruf?» «Ich war nicht, ich bin. Immer noch aktiv, hoffe ich doch.» Dort, wo der alte Mann sass, leuchtete der Fels in einer ganz neuen Farbe. Surprise 430/18

«Aktiv als was?» «Darüber wird viel gestritten.» Der alte Mann lächelte. Perfekte Zähne. Ganz anders, als man es bei seinem Alter erwarten würde. «Dauernd wird darüber gestritten», wiederholte er. Nun ja, wenn er es nicht sagen wollte … Es war ja nicht so, dass ihn der Beruf seines neuen Bekannten brennend interessiert hätte. Besser ein bisschen harmlose Konversation machen. «Ganz schön steil, der Weg hier hinauf, nicht?» «Ja», sagte der alte Mann, «ich kann mir vorstellen, dass er einem steil vorkommt.» «Wie lang haben Sie gebraucht?» «Tausende von Jahren. Und bin immer noch nicht angekommen.» Wahrscheinlich wirkte er so mild, weil er nicht mehr klar im Kopf war. «Ich bin aus Deutschland hierhergereist, nur um nachzudenken.» «Ich bin auch zum Nachdenken hier», sagte der alte Mann. «Es ist ein guter Ort dafür.» Das Leuchten um ihn herum hatte sich noch einmal verstärkt. «Um zu mir zu kommen.» «Oder zu mir», sagte der alte Mann. Definitiv verwirrt. Aber vielleicht unterhielt man sich gerade deshalb so gern mit ihm. Weil es keine Folgen hatte. «Ich suche nach Antworten und habe noch nicht einmal die richtigen Fragen gefunden.» «Das kann ich gut verstehen», sagte der alte Mann. «Am schwierigsten ist es mit den Fragen, die man sich erst stellt, wenn man schon geantwortet hat. Früher habe ich jedes Mal, wenn ich etwas geschaffen hatte, gedacht, dass es gut sei. Unterdessen habe ich meine Zweifel.» «Geschaffen?» «Ein altmodisches Wort, ich weiss. Aber ich bin nun mal nicht mehr der Jüngste. Obwohl ich natürlich der Jüngste bin.» «Ist das ein Rätsel?» «Ja», sagte der alte Mann, «das ist ein Rätsel. Sie sollten die Augen schliessen und darüber nachdenken.» Sie sassen dann noch lange schweigend nebeneinander, bis der alte Mann nicht mehr da war und die Felsen nicht mehr leuchteten. CHARLES LEWINSK Y ist Autor. Er arbeitete an verschiedenen Bühnen als Dramaturg und Regisseur und war Redaktor beim Schweizer Fernsehen. Er schrieb zahlreiche Bücher, Theaterstücke und Fernsehsendungen, darunter die Fernsehreihe «Fascht e Familie» und der Roman «Melnitz».

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Man müsste, sagt er. Man würde schon wollen, sagt sie. TEXT NORA ZUKKER

Er sei nicht müde, er sei erschöpft. Ab einem gewissen Alter sei man nicht mehr müde. Er fühle sich seit Tagen nicht gut. In sich gefangen, sagt er und zieht sich eine Locke ins Gesicht, wartet und lässt sie los, bis sie sich wieder am Kopf kraust. So ein unerfüllter Schmerz. Ein zuverlässiges Ziehen. Nein, es sei nicht der Wein von gestern und auch nicht das MDMA vom letzten Wochenende. Aber ja, das würde er so schnell nicht wieder nehmen. So einen Kater halte er mit vierzig einfach nicht mehr gleich gut aus. Die kühnen Ideen seien dann ja auch dramatisch schnell wieder weg, und trotzdem mache ihn die Ernüchterung traurig. Er habe gedacht, radikal ökonomisch in einer Kommune zu leben sei sein Lebensentwurf für die nächsten Jahre. Wenn der innere Kritiker dann zu Sinnen komme, sei er wieder der Käfer auf dem Rücken, der mit den Beinchen zapple und paranoid werde, weil er die Krankenkasse noch nicht bezahlt habe. Sie sei auch traurig und vor allem nüchtern. Sie habe heute erst eine Nudelsuppe gegessen. Eine aus der Tüte. Und sich dabei die Zunge verbrannt. Sie habe damals keinen rosaroten Pussyhat gestrickt und leide heute noch am schlechten Gewissen. Auf brigitte.de habe es die Strickanleitung zum Runterladen gegeben. Letzte Woche sei ein Mann Mitte fünfzig neben ihr in der Bahn gesessen. Strickend. Da habe auch niemand applaudiert. Ein Verrückter, ein Spinner hätten die Frauen bei ihr im Abteil gesagt und auf ein zustimmendes Nicken gehofft. Aufgestanden sei sie und habe so böse geschaut, dass sie kurz Angst bekommen habe, ihr platze gleich die Hauptschlagader. 10

Ob man als Frau denn überhaupt sagen dürfe, dass man sich von einem Sternchen im Lesefluss gestört fühle, habe sie sich heute gefragt. Jetzt müsse ja wirklich konsequent gegendert werden, lacht er und bestellt eine Karaffe mit Wein. Das generische Maskulinum. Dabei verteidige sie tapfer den Genitiv vor dem Dativ. Aber das würde wieder keine*r honorieren. Sie sei eine unzuverlässige Feministin. Nein, sie hoffe nicht mehr auf eine gerechtere Welt zwischen Mann und Frau. Was könne ein Sternchen ausrichten, wenn sie ständig aufpassen müsse, nicht angefasst zu werden? Er unterrichtet in einem kleinen Pensum als Deutschlehrer. Wenn es gerade mit der Kunst nicht so klappe, sei das Unterrichten ganz gut. Und da habe ihm ein Schüler einen Aufsatz abgegeben, in dem stand: «Die Krieger*innen im Bauch des trojanischen Pferdes ...» Wie absurd, lacht sie. Er habe den Satz rot unterstrichen, weil es sachlich schlicht falsch sei. Für einmal hätten die Frauen das mit den Bäuchen den Männern überlassen. Und dann habe er den Fehler gemacht, auf einem Geburtstag davon zu erzählen, und die Frauen am Tisch hätten rote Stressflecken unter ihren Blusen bekommen. Er würde die Debatte nicht fördern, hätten sie sich empört. Eine Sprache, die nur Männer meine, könne keine gerechte sein, hätten sie aus einem Artikel zitiert. Er sei nicht bereit für den gesellschaftlichen Wandel, der notabene durch einen Wandel in der Sprache erst beginne. So viel Meinung, so viel Ungenauigkeit an einem einzigen Tisch. Keine habe ihm mehr zugehört, dass das Sternchen Surprise 430/18


FOTO: NINA BÜHLMANN

im Bauch des trojanischen Pferdes nichts verloren habe. Und dann habe er Trost im Wein gefunden. Der einen sei ein ganzer Shrimpscocktail zu viel gewesen. Er ässe ihn gerne auf, habe er gesagt, und sich von einem Freund etwas MDMA drüberstreuen lassen. Eine halbe Stunde später habe er gelächelt und sich privilegiert gefühlt. Er sei gut ausgebildet, da habe er immer nur nach seiner Lust entschieden, was er damit anstelle. Aber wer privilegiert ist, ist auch verantwortlich, seufzt sie. Er habe immer viel zu früh aufgegeben. Ob sie wissen wolle, warum er sich dem nie richtig gestellt habe? Nein, wollte sie nicht. Obwohl. Vielleicht. Nein, lieber nicht. Es sei noch sehr viel zu tun, hätten die Frauen am Tisch gesagt und die Hände herausfordernd in die Hüften gestemmt. Schliesslich würden sie erst seit 1971 abstimmen können, hätten sie am Abstimmungssonntag um 7:00 gesagt. Und keine hatte brieflich abgestimmt, stimmt‘s? Keine. Und für die Urne an ebendiesem Sonntag waren alle zu besoffen. Sie müsse heute Abend eine Temesta nehmen. Dann ginge es wieder. Depressiv, nervös und verletzlich sei sie heute. Und gefährlich aggressiv würden sie diese Frauen machen, sagt sie. Was sie sich von den vielen Namen für die Störungen erhoffe, fragt er. Sie habe keine konkreten Störungen, verteidigt sie sich. Sie fühle sich auf sich zurückgeworfen und treffe ständig körperlose Entscheidungen. Heute habe sie wieder irgendwo gelesen, die Vergewaltigung in der Ehe sei erst seit 2004 ein Offizialdelikt. Sie trinkt ihr Glas in grossen Schlucken leer. Das ist einfach furchtbar, sagt sie und wird still. Und dieses Betroffenheitsgefühl sei widerlich. Alle meinten, sie seien Opfer, und natürlich könne so keiner Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen, geschweige denn für eine gerechtere Welt. Gewalterfahrungen seien nichts, was uns mit anderen verbinde. Da sitzt jeder mit seinen persönlichen Katastrophen, die ihm*ihr widerfahren sind, und heult, sagt sie. Und jeder ist Opfer. Mimimi. Folglich verdrehen sich die Vorstellungen, und aus dieser Betroffenheitstheatralik sagt sich jede*r, das Beste ist gerade einmal gut genug für mich. Wir haben es verdient, es steht uns zu, wir sind doch so versehrt. Aber was war am 1. Mai? Da wollten sie doch aufstehen. Sich zusammentun. Sich organisieren. Und dann habe es doch geregnet und alle seien liegen geblieben. Aber sie habe doch Kleider nach Griechenland geschickt und Binden und Tampons. Immerhin. Du Gute du, er ist betrunken. Das dürfe man auch nicht mehr sagen, ohne zynisch zu werden. Die Utopisten wurden zu Gutmenschen und Gutmensch wurde zum Unwort des Jahres 2016. Egal, wie man‘s macht, ist’s nicht recht, lachen beide, und in diesem Moment ist da dieser Blick, der zwischen den Weingläsern an der Karaffe vorbeihuscht. Wir haben uns, sagt er pathetisch. Jetzt nur nicht sentimental werden, lacht sie, und trotzdem fühlt sie sich aufgehoben. Und dann habe er vom MDMA nachgelegt. Ja, sehr dumm. Gerechter, freier, lustvoller – besser halt habe er sich gefühlt und zu den Frauen am Tisch gesagt, auch er hätte gerne drei Monate Vaterschaftsurlaub. Teilzeit würde er ja bereits arbeiten, lacht er und krault sich seine BrustSurprise 430/18

haare. Das sei utopisch, hätten sie entgegnet. Aber das seien ja jetzt die Drogen. Der kühne Rausch. Er habe einfach nicht aufgehört und gesagt, dass mit einer gerechten Verteilung auf Mutter und Vater der Risikofaktor «Kinderkriegen» plastisch werden würde. Das sei zu viel gewesen. Kinder seien kein Risikofaktor, sondern die letzte Hoffnung für eine gerechtere Zukunft. Nur gebe es keine Gerechtigkeit bei Wohlstand, Gesundheit und Bildung, gab er klein bei. Ungleichheit erfahren schon Kinder. Und ein Kind finde sich gefährlich schnell damit ab, kein Teil des Fortschritts zu sein, wenn die Umstände es eben nicht ermöglichten.

Keine hatte brieflich abgestimmt, stimmt’s? Und für die Urne an diesem Sonntag waren alle zu besoffen. Sie denkt an ihren Vater. Er ist Theologe und hat in den 80er und 90ern die Bibel übersetzt. Während er übrigens jeden Morgen aufgestanden sei und sich um seine kleine Tochter gekümmert habe, die damals gerade zur Welt gekommen war und deren Mutter nach vierzehn Wochen wieder arbeiten ging. Wegen des Rechts auf Muttermilch pumpte sie sich wund in der Nacht, damit Mann und Tochter durch den Tag kamen. Und dann seien andere um die Ecke gekommen und hätten die Bibelübersetzung durchleuchtet. Und sehr recht hätten sie gehabt, wie der Vater fand, dass aus «Söhne Gottes» dann «Kinder Gottes» wurde. Vor 2000 Jahren hat man eben Söhne geschrieben, auch wenn alle gemeint waren. Und selbstverständlich gab es auch Jüngerinnen. Man wisse aus der historischen Forschung, dass da Frauen dabei waren. Die haben auch Namen, waren zwar nicht in der 12er-Gang dabei, aber Maria Magdalena – hallo? Sein Handy vibriert. Ob der kleine Bruder immer noch in dieser Phase sei, will der Vater wissen. Ja, sein einer Sohn sei immer noch schwul und sein anderer Sohn sei schon wieder betrunken an einem Montag. Der Vater schreibt zurück, dass es ganz gut sei, dass sich auf Facebook gerade wieder die Profilbilder regenbogenfarbig färben würden. «Same Love. Same Rights. Weil das Gesetz noch immer unterscheidet.» Der Kellner fragt, ob er die Weinkaraffe noch einmal füllen darf. Er zögert. Sie auch. Nein, sagt er. Heute nicht. Schliesslich müsse man morgen wieder aufstehen. NOR A ZUKKER ist Autorin aus Zürich. Ins Schreiben ist sie eigentlich einfach so reingerutscht. Sie arbeitet für die NZZ, für SRF und das Migros Magazin und gibt ihren Kakteen Namen statt Wasser.

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Niemandsland TEXT SERAINA KOBLER

Im Oberlauf floss er brausend, mit weissem Wasser und schaumigen Wellen. Es schien, als wolle er mit den Leuten tanzen, die am Ufer sassen. Und mit Ballschuhen an den Füssen Palatschinken assen. Doch der hübsche Schein trügt, liebe Leser. Denn schon in der Unterstadt schossen braune Kanäle in den Fluss. Sie spülten weg, was fort sollte. Faulige Ausflüsse, die Produkte der Menstruation, Schweiss, von Drogen und Hormonen geschwängerter Urin und Fäkalstoffe. Und manchmal ein missratenes Neugeborenes. Mal verband der Strom die Menschen. Mal trennte er durch seinen unerbittlichen Lauf. In oben und unten. Bel Étage und Gosse. Mundgeblasenes Fensterglas und Wellblech. Palatschinken und dünner Haferbrei. Wer viele Tage nach unten stromte, der kam in eine Gegend, die nach dem Krieg vergessen worden war. Der Fluss verästelte sich. Die Abwasser bildeten Sümpfe, aus deren Mitte kleine Seen müde hervorlugten. Hier nun, an diesem vergessenen Ort, sollte sich bald Bedeutsames zutragen. Es war der heisseste Tag des Jahres. Während die Hitze wie Blei über dem Fluss lag, stand Despina im Nachthemd in der Küche ihrer alten Jagdhütte. Vor ihr blubberte der Brei auf dem Herd. Im Hintergrund rauschte eine Tanzshow im Fernsehen. Quer durch den Raum hatte sie eine Leine gespannt. Auf ihr hingen, in der Reihenfolge, in der sie sich morgens seit Jahrzehnten anzog: eine wollene Hose, ein Unterleibchen, das Kleid aus geblümten Stoff und eine abgetragene Schürze. Gerade als die Sonne durch die Wolken brach und der Geruch von Gärung und Fäulnis, von Schlick, vermoderten Pflanzen und fremden Exkrementen nach oben drückte,

hörte Despina das Brummen eines Wagens. Zwar klaffte seit vielen Jahren ein Loch in ihrer linken Gesichtshälfte, aber ihre Ohren funktionierten tadellos. Das Knattern des Geländewagens des Bauern, der ihr einmal im Monat ihre Vorräte brachte, kannte sie. Doch das Geräusch klang anders. Despina stellte sich hinter die Spitzenvorhänge. Alsbald kam eine Limousine den zerklüfteten Weg entlang. Despina machte einen Schritt zurück. Sie beobachtete, wie ein Mann und eine Frau ausstiegen. Die Dame hielt sich die Nase zu und setzte sich wieder zurück in den Wagen. Der Unbekannte stapfte hinunter zum Fluss. Was Despina nicht wissen konnte war, dass er gerade dabei war, den freisten Staat der Erde zu gründen. Darum versuchte er seinem Gang etwas Feierliches zu verleihen. Als ihm die First Lady schliesslich folgte, blieben ihre Absätze im Morast stecken und das kleine Hütchen auf ihrem Kopf verrutschte. Auf einer Sandbank an der Flussbiegung hielt der Präsident an und holte die Fahne aus seiner Tasche. Er winkte seiner Frau, die gerade ihre Schuhe sauber wischte. Nachdem er die First Lady und den gelb-schwarzen Stoff drapiert hatte, fotografierte er sie. Immer wieder zupfte er ihre Bluse zurecht, schob sie umher und streckte ihre Schultern gerade. Sie warf nur gelegentlich die Arme in die Luft und sang die Nationalhymne in das Smartphone. Ganz so, wie sie es zuhause vor dem Spiegel einstudiert hatte. Die beiden trieben das Schauspiel noch eine ganze Weile lang weiter. Als der Präsident schliesslich mit seinem Werk zufrieden war und in Despinas Richtung blickte, stellten sich die feinen Härchen auf ihren fleckigen Unterarmen auf. Und ihr stieg der Geruch von ver-


FOTO: KARIN HOFER

branntem Haferbrei in die Nase. Sie zog ihn vom Feuer, goss Wasser in den Topf und warf den Brei in den Abfalleimer. Der heisse Dampf trieb ihr den Schweiss ins Gesicht. Da hörte sie schon das Klopfen. «Dürften wir Ihre Toilette benutzen?», rief er. Despina zerrte hastig das nasse Kleid über den Kopf. «Kommen Sie herein», sagte sie und öffnete die Türe. Der Präsident starrte sie an. Er blickte nicht wie die meisten Menschen woanders hin, auf die Füsse, die Finger, einfach nur weg. Sondern er fragte: «Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?» «Das ist eine lange Geschichte», sagte sie. «Das Bad ist da hinten.» Die First Lady blieb unter der Tür stehen und schaute sich in dem Raum um. Das speckige Laken, das aus dem Bett hing, der säuerlich-süsse Geruch des Alters. Sie wäre am liebsten sofort zurück in ihre klimatisierte Wohnung. Dort hätte sie lange geduscht und sich mit Vanilleschaum eingeseift, bis sie die ganze verdammte Gegend wieder vergessen hätte. Jetzt hatten sie ja die Bilder fürs Netz, mehr brauchten sie nicht. Die Spülung rauschte. Der Präsident kam den Gang entlang. Den augenrollenden Blick seiner Frau ignorierend, zog er eine Flasche Champagner aus seiner Tasche. «Heute feiern wir.» Despina, die nie Besuch bekam, brachte ein paar Becher. «Leben und leben lassen!», prostete er ihr zu und trank. «Alles das hier», er zeigte aus dem Fenster «ist nun der drittkleinste Staat der Welt.» Er hielt Despina sein Smartphone mit Fotos unter die Nase. «Da drüben auf der Sandbank kommen die Türme hin.» Sie blickte auf Häuser, die wie geschliffene Kristalle in die Höhe ragten. Dazwischen wand sich eine Achterbahn. «Terra Nullus, Niemandsland», sagte er und schenkte sich Champagner nach. «Wurde nach dem Krieg einfach vergessen. Keiner hat darauf Anspruch erhoben. Nicht die Sieger, nicht die Verlierer. Jetzt hab ich es getan.» Er grinste. «Darf ich mich vorstellen? Ich bin der Präsident der Republik Liberland.» Despina nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte, und schüttelte sie kräftig. War der total übergeschnappt? «Bei uns gibt es keine Steuern,

keine Bürokratie. Keine Regeln. Jeder schaut für sich selbst. Dann ist am Ende für alle gesorgt.» Despina dachte an ihre schmächtige Witwenrente. An ihr von der Landmine zerfetztes Gesicht. Und an ihren Marko unter dem Apfelbaum. «Keine Bange», sagte der Präsident. «Für Leute wie Sie gibt es gewiss eine Stiftung. Der Markt findet für jedes Bedürfnis eine Lösung.» «Aber hier will doch niemand leben», stammelte sie. «Ganz im Gegenteil», sagte er und begann wieder mit seinem Gerät vor ihrem Gesicht herumzufuchteln. «Hunderttausende sind schon Bürger geworden. Wir haben Botschaften auf der ganzen Welt. Da kommen Scheiche aus Arabien, montenegrinische Richter, Banker aus Hongkong und Maharadschas aus Indien.» Die ersten Siedler würden in Hausbooten auf dem Fluss leben. Genau in diesem Moment seien die Städteplaner bereits an der Arbeit. Während er von bedingungsloser Freiheit schwärmte, rechnete Despina den Bodenpreis für ihr Land aus. Der Präsident pfiff durch die Zähne. Zählte ihr aber sogleich den genannten Betrag in grossen Noten auf den Tisch und freute sich, dass er so billig davonkam. Wir verlassen den Präsidenten hier. Leider sollte er den Aufstieg seiner Republik nicht miterleben. Ein Geisteskranker erschoss ihn an der Feier zum fünften Jahrestag der Staatsgründung mit einer Waffe, die Leute wie er in Liberland legal benutzen durften. Despina aber steckte an jenem heissen Sommertag das Geld ein, zog ein rotes Kleid an und setzte sich das Hütchen mit dem gepunkteten Schleier auf den Kopf, das die First Lady vergessen hatte. Dann schloss sie ein letztes Mal die Türe hinter sich zu. Keiner hat sie in der Gegend jemals wiedergesehen. SER AINA KOBLER Kobler wurde 1982 in Locarno geboren. Heute lebt sie mit ihrer neunköpfigen Patchworkfamilie in Zürich und versucht, ihre Neugier auf die Welt in Geschichten zu packen. Die letzten zehn Jahre arbeitete sie als Redaktorin, unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung und den Tages-Anzeiger.


Habitat B TEXT JENS NIELSEN

Der Mensch ist abhängig von seiner Umwelt Mehr als wir verstehen Das ahnte ich Aber bewusst war es mir nicht Also machte ich mich daran, es mir bewusst zu machen Und weil ich wusste alles Leben ist auf Wasser angewiesen Dachte ich am besten wäre es für mein Bewusstsein der Zusammenhänge Wenn ich selber auch im Wasser lebte Gut Ich baute meine Parterre-Wohnung um In ein 3-Zimmer-Aquarium Mit Badezimmer Küche Und Veranda Obwohl diese Muss ich zugeben Am Ende war die nicht so Aber sonst ging alles gut Als Erstes kleidete ich den Boden und die Wände aus mit wasserdichtem Wie sagt man Genau Damit die Wohnung dicht wurde Dazu musste ich die Möbel anheben und umstellen


War umständlich Aber es ging Punkt zwei des Umbaus Die Zertrümmerung der Inneneinrichtung Die würde ich nicht brauchen unter Wasser Dazu nahm ich einen Hammer Und zerschlug das was ich angesammelt hatte in der Wohnung Den Kleiderschrank Den Aktenschrank Geschirrschrank Meine Wohnwand mit den Nippes aus Gibraltar Lampedusa Mexiko Und Hergiswil Ich zertrümmerte die Küchenlappen mit dem Hammer Das Besteck Die Gläser Meine Vorräte Bananen Zwieback Trockenfleisch Den Küchentisch Die Katze Meine Kleider Die Kosmetika Das Mittel gegen Läuse Die Pillendosen mit den wirkungslosen Pillen gegen allerhand Die Zahnpasta Den Zahnseideautomat den ich erfunden hatte Das Büromaterial Die Korrespondenz die herumlag zerschlug ich Die Geschenke meiner dritten Ex-Frau Die mich sowieso bedrohten seit Ja Kurz Ich schwang den Hammer einen ganzen Morgen lang Alles lag danach in Trümmern Ich verteilte diese Brosamen meiner Vergangenheit auf alle Räume Sie würden einen guten Humus bilden für die Nahrungskette Ich hatte mich zu einem Meerwasser-Aquarium entschlossen Und kaufte daher drittens eine Menge Salz Viertens füllte ich die Wohnung auf mit Wasser aus dem Badezimmer und der Küche Das dauerte drei Wochen Inzwischen ging ich fünftens in die Zoohandlung Aquarium und kaufte alles was sie hatten Ich reiste auch ans Meer Ich schaffte alles Seegetier zusammen das ich fischen konnte mit dem Schleppnetz Weil ich gute Argumente hatte Fand ich mühelos die ökologisch engagierten Schmuggler Die mir die Ware gut nach Hause lieferten Schwämme Surprise 430/18

Muscheln Seesterne Und Quallen Alle Arten Fische Leider musste ich auf Tiefseefische ganz verzichten Mein Lebensraum war nur drei Meter tief Hinzu kamen die Wasserpflanzen Panzerglas als Fensterscheiben Eine gute Ausleuchtung Und Schleusen anstatt einer Wohnungstür Die hatte ich natürlich vorher installieren lassen Die Wohnungstrümmer machten wie gesagt den Bodensatz auf meinem Meeresgrund So war den Tieren und den Pflanzen wohl von Anfang an Ich hatte auch verschiedene gezüchtete Bakterien importiert Die konnten Haushaltgifte und den Harzleim aus den Pressspan-Möbeln verdauen In Aminosäuren Vitamine Dünger Sie produzierten dabei Sauerstoff als Abfall Der Kreislauf war geschlossen Doch Auch wenn ich einiges vergessen habe aufzuzählen Etwa das sorgfältige Verstopfen der Toilette Die Querelen mit dem Hausbesitzer Oder dass ich telefonisch nicht erreichbar war Am Gelingen meiner Aquasphäre gab es keine Zweifel Als sechster Schritt blieb noch das Thema Sicherheit Ich überlegte einen grossen Wachhund anzuschaffen Der draussen vor der Schleuse hätte wachen können Um Vandalen und Hausierer zu zerfleischen Das hatte einiges für sich Ich entschied mich aber doch für einen Zitteraal als Wache Dem brannte ich mit einem Lötkolben eine Warnung auf die Haut Auf beide Seiten Anlage unter Strom Damit man es von draussen lesen konnte Wenn er patrouillierte an den Scheiben hin und her Ich liess mir schliesslich siebtens eine Taucherausrüstung massanfertigen So setzte ich mich zur Einweihungsfeier eines Abends im Wohnzimmer auf eine Koralle Und betrachtete meine intakte Umwelt Es war Sommer Abendlicht flutete herein Eine Moräne strich mir um die Beine Die Anemonen blühten Sagt man blühen Ja ich glaube Saugschmerlen hielten meine Aussicht auf die Strasse sauber Journalisten drängten sich auf die Veranda die ich ihnen kampflos überliess Auch Schaulustige waren versammelt 15


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Setzte sich zu mir als Meerfrau Manche paarten sich mit mir Was kann ich sagen Alles wurde so wie ich es geplant hatte Ein Erfolg Ich schreibe unter Wasser jetzt ein Buch zum Thema Mit einem Kratzstift in Wachstafeln In sieben Schritten zu umfassendem Bewusstsein Zur Buchpremiere erwäge ich meine Toilette zu entstopfen Und die Wohnung wieder auszutrocknen Das Nashorn sagte mir in der Gebärdensprache Es würde diesen Schritt begrüssen Fast hat es mich schon überzeugt Trotz seiner minimalen Eloquenz Was wird danach geschehen Nun Ich habe Pläne Die zertrümmerten Mobilien sind im Wasser sicher ganz zerbröselt und verdaut Wahrscheinlich bliebe nur eine Art Brei aus Muschelkalk Toten Bakterien Zersetztem Möbelholz und kleinen Abfallstückchen übrig Wenn ich das Wasser ablaufen liesse Ich würde vorher selbstverständlich Patenschaften finden für die Meerestiere Dann würde ich den Brei aus Muschelkalk zusammenkratzen in den Zimmern Daraus rudimentär eine Chaiselongue formen Diese langsam aushärten lassen Mich in ihr niederlassen Und aus meinem Werk vortragen JENS NIELSEN studierte Schauspiel in Zürich und schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Kurzprosa und eigene Bühnenprogramme. Sein Buch «Flusspferd im Frauenbad» wurde 2017 mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Im Frühling 2018 erschien sein neues Buch «Ich und mein Plural – Bekenntnisse».

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FOTO: CHRISTIAN LANZ

Klebten mit den Nasen draussen an den Scheiben Ich liess es so geschehen Damit sie alles anschauen konnten Und sich ökologisch weiterbilden Denn ich spürte deutlich mein erwachendes Bewusstsein Für die Verbundenheit mit aller Kreatur Weil mir kalt war liess ich zudem meine Bodenheizung einfach weiterlaufen Und heizte meinen Lebensraum auf 28 Grad Einige der Meeresfrüchte lebten dadurch etwas kürzer als in freier Wildbahn Andere erblühten Eine Nachbildung klimatischer Veränderungen in der grossen Welt In kurzer Zeit war ich ein landesweites Vorbild für die neue echte Lebensharmonie Wenn Besuch hereinkam Und es kam Besuch herein Dann ging das so Draussen vor der Wohnungsschleuse stand die Garderobenkammer aus Metall Darin hingen Tauchausrüstungen bereit Masken Flossen Atemgeräte Sauerstoffflaschen Gewichtsgürtel Das alles zog man an Und kam dann durch die Schleusen zu Besuch Ich zeigte meinen Lebensraum Aber gesprochen wurde nichts Zwar drängte mich die Presse Die Behörden auch inständig Ich solle Taucherhelme anfertigen lassen Die mit Lautsprechern und Mikrofonen ausgerüstet seien Damit man sich so unterhalten könne Nein danke Man sass hier Fischen gegenüber Ich wollte Meeresruhe haben in meinem Habitat Ich verstand aber die Forderung nach einer Einbindung der Aussenwelt in mein Projekt So mietete ich zusätzlich ein Nashorn Liess ihm eine Atemausrüstung anpassen Zeigte ihm wie man in Ruhe atmet durch die Tauchermaske Und hatte so ein Landtier bei mir Gleichsam als Botschafter der ebenso bedrohten Überwasserwelt Als immer mehr Besucher sich an meine Scheiben drängten Und um dem grossen Volksbildungscharakter meiner Anlage weiter gerecht zu werden Fing ich an gewisse Tagesabläufe rituell aufzuladen Etwa die Beisetzung verstorbener Seesterne Mit Walrossgesang Und ab und zu kam eine Miss Schweiz medienwirksam zu Besuch


Unsere Stadt, sagen sie oft TEXT JULIA WEBER

Jeden Mittwochabend um 18.13 Uhr gehen Heinz und Karl zum Fluss, der durch ihre Stadt fliesst. Ihre Stadt, sagen sie gerne. Unsere Stadt, sagen sie oft. Sie gehen die Stufen hinunter, setzen sich auf die Mauer, lassen die Beine baumeln, unter ihnen das Wasser, es bewegt sich nach Norden von ihnen weg. Karl und Heinz sind Freunde. Das haben sie so benannt, weil sie gefragt wurden, mit wem sie wann warum wohin gehen würden nach Feierabend. Sie wurden das von ihren Freundinnen gefragt, die Sandra heissen, auch von Bekannten, von Mitarbeitern, vom Chef, der Würg heisst, was Karl und Heinz lustig finden. Heinz, der sehr schmächtig ist, obwohl er dreimal die Woche rennt, hat einen grossen Schädel und karottenfarbenes Haar, und Karl, der auch eher schmal ist, aber nicht ganz so schmal wie Heinz, weil Karl im Ruderklub ist, aber noch nicht lange. Das wird ja nichts, sagt Heinz manchmal, wenn er Karls Oberarm zwischen die Finger nimmt, da kannst du ja auch rennen gehen wie ich, weil das ja nichts bringt, dieses Rudern gegen die Strömung, da weiss man ja immer, in die andere Richtung würde es viel schneller gehen. Und schneller ist dann besser?, fragt Karl. Ja, würde ich schon behaupten, sagt Heinz dann, ausser beim Essen, da ist es ungesund. Ich bin mir da nicht sicher, sagt Karl, der ein wenig nachdenklicher ist als Heinz, braune Locken hat, die auf und ab springen, wenn er spricht. Jetzt geht er aber doch manchmal laufen mit Heinz, was seiner Locken wegen gut aussieht, wenn sie auf und ab springen beim Laufen, zweimal die Woche und dann am Sonntag in den Ruderclub. Auch das, findet Sandra, seine Freundin, sieht gut aus. Das Rudern. Männlich, findet sie. Karl und Heinz kaufen sich Hemden jedes halbe Jahr, einmal im Frühling und einmal im Winter ein paar neue Hemden. Braune oder gelbe oder hellblaue, weisse. Aber Surprise 430/18

nicht zu auffällig, nicht zu aufdringlich, finden sie beide. Allgemein sind sich Karl und Heinz meistens einig in Bezug auf Hemden, auf die Wichtigkeit von Bewegung, die Welt im Allgemeinen, was in ihr sein soll und was nicht. Wenn sie am Fluss sitzen, lassen sie die Beine baumeln. Wenn sie am Fluss sitzen, geniessen sie den Frühlingsabend. Wenn sie am Fluss sitzen, unterhalten sie sich über die Arbeit oder andere Dinge in ihrem Leben. Wenn sie am Fluss sitzen, zieht das Wasser träge an ihnen vorbei und sie trinken das Bier aus gekühlten Flaschen.

Weil das ja nichts bringt, dieses Rudern gegen die Strömung, da weiss man ja immer, in die andere Richtung würde es viel schneller gehen. Wenn sie am Fluss sitzen, haben sie endlich Ruhe, endlich keine Rechnungen schreiben, mit Kunden telefonieren, der Mutter schreiben, den Chef beruhigen, die Briefe formulieren, den Sandras beim Fenster putzen helfen. Sie reden über den Chef, der manchmal eine Kröte ist. Herr Würg, die Kröte, sagen sie dann und lachen, schauen sich etwas ängstlich um, ob er nicht vielleicht gerade. Herr Würg, der sagt, es müsse schneller gehen. Obwohl du schneller doch gut findest, sagt Karl. Ja, aber alles hat seine Grenzen, sagt Heinz. 17


JULIA WEBER wurde 1983 in Moshi (Tansania) geboren. 2009 bis 2012 studierte sie literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. 2012 hat sie das Projekt «Literaturdienst» ins Leben gerufen. Sie ist Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert».

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FOTO: AYŞE YAVAŞ

Da hast du nicht unrecht, sagt Karl, der im Unterschied zu Heinz die Langsamkeit nicht verachtet, aber wie gesagt, im Grossen und Ganzen sind sie sich einig. Eigentlich, so sagen sie, haben wir ein gutes Leben. Und da sitzen sie nun, Karl und Heinz, und schauen auf den Fluss, und in ihm schwimmt etwas an den beiden vorbei. Erst schauen sie hin, folgen dem Ding mit den Augen, schauen hin, trinken einen Schluck Bier. Was ist das, fragen sie dann leise. Karl mit den Locken, Heinz mit dem Karottenhaar, beide mit langen, schmalen Gesichtern. Was zum Teufel ist das, fragen sie dann lauter. Beide, gleichzeitig. Sie wissen es nicht, aber ohne es zu wissen wissen sie, sie müssen es wissen. Sie stehen auf und sprinten los, der eine rennt schneller als der andere, beide rennen so schnell sie können, ihre langen, dünnen Beine, die roten Haare an Heinz’ Beinen, Karls Locken, die springen. Was ist das? Was ist das? ruft Heinz. Ich weiss es nicht, ruft Karl. Und sie rennen. Das Ding im Wasser, dem sie nachrennen, hat sich im Geäst verfangen. Also bleiben Heinz und Karl stehen, wo sie sind. Was ist passiert?, fragen sie sich und gehen langsam auf das Ding zu. Sie klettern die Böschung zum Fluss hinunter und fallen dabei beide einmal hin. Sie haben Schürfungen an den Ellbogen und Knien. Da, rufen sie, zeigen ins Geäst und sehen nun, es ist ein toter Schwan. Was hat uns bloss geritten?, fragen sie erschrocken. Kommt es dir manchmal auch vor, fragt Karl nach einer langen, schweren Stille, in der sie den Schwan betrachtet haben, dessen Kopf unter Wasser liegt und der Körper oberhalb, auch die Schwimmfüsse, wie Blätter, die in Ästen hängen, die Äste, die das Wasser berühren, als ob die Welt gar nicht dreidimensional wäre, sondern nur aus aufeinandergeklebten Schichten bestehen würde, hinter denen gar nichts mehr ist? Nichts mehr, rein gar nichts mehr?, wiederholt Karl mit trauriger Stimme. Das habe ich mich nie gefragt, sagt Heinz, und einige Schweisstropfen haben sich in seinen orangenen Stirnhärchen verfangen. Und in seiner Hand ist das Bier jetzt warm. Und der Schwan tut ihm leid. Der Schwan tut mir sehr leid, sagt Heinz.


Wie Giraffen in den Himmel kommen TEXT RUTH LOOSLI

Albert trägt heute wieder ein ungebügeltes Hemd. Es ist sein rot kariertes Lieblingsflanellhemd. Seit seine Frau Emily gestorben ist, muss er die Hemden selber waschen. Das heisst, die Waschmaschine wäscht sie für ihn, danach nimmt er sie aus der Maschine, hängt sie an einen Bügel und zupft den Stoff zurecht. Den Kragen. Schliesst die kleinen Knöpfe einzeln zu, bis hoch zum Kragen, und streicht erneut dem Stoff entlang, versucht sich an die Hände seiner Frau zu erinnern, die dasselbe getan haben wird. Nur nicht so minutiös, weil sie später das Bügelbrett hervorgenommen hätte, um der Wäsche (und Albert, den sie sehr mochte), Genüge zu tun. Und sie duftend und warm noch in den Schränken zu versorgen. Albert war Zoodirektor gewesen bis vor wenigen Monaten, Zoodirektor Doktor Glanz. Doch der Zoo rentierte nicht mehr und die Auslagen für die nötigen Renovationen wären zu hoch gewesen. Albert vergräbt den Kopf in seinen Armen, und so bleibt er eine lange Weile am Küchentisch sitzen. Albert ist müde. Er schläft nicht mehr gut, träumt heftige Träume und schreckt hoch. Nach der langen Krankheit seiner Frau kam der Tod und holte sie und Albert hätte sich am liebsten in seiner Trauer verkrochen. Doch dann hatte er vor dem Schreibtisch gestanden und all die offenen Rechnungen gesehen; Mahnungen mit Mahngebühren hatten sich gestapelt. So war der nächste Schritt unausweichlich gewesen. Alle seine Tiere mussten verkauft oder verschenkt werden. Die Braunbären kamen nach Bern, die Wölfe ins Bruderholz nach Winterthur und der Sibirische Tiger, sein Schmuckstück, konnte zurück in seine Heimat verkauft werden. Nur für die drei Giraffengeschwister liess sich kein Platz finden. Aber vielleicht wollte Albert auch gar nicht, dass man einen Platz gefunden hätte für sie. Li, La und Lu waren nämlich wie seine eigenen Kinder. Und verschenkt man etwa die eigenen Kinder? Eben. Albert steht auf, er muss frisches Futter kaufen gehen. Die Giraffen scheinen ständig Hunger zu haben. Er hat sie bei einem Freund unterbringen können, in einer leeren Fabrikhalle mit Ausgang auf eine kleine Rasenfläche. Da gibt es nur einen einzigen Baum und seine Blätter sind längst abgefressen; innerhalb von wenigen Tagen waren die Äste kahl. Und oft sieht es so aus, als sei den Tieren langweilig. Albert kann es ihnen nicht verdenken. Albert beeilt sich und steigt in seinen grünen Camion. Er kauft vier grosse Ballen Silage, aber das ist eine neverending story, ein Tier frisst täglich etwa 30 Kilogramm Futter. Albert wird sich das nicht mehr lange leisten könSurprise 430/18

nen. Sein grosses Vorbild, der Basler Zoo, hat einen eigenen, subtil abgestimmten Plan für seine Tiere: «Auf dem Speiseplan der Giraffen steht im Winter unter anderem eine aus Laub hergestellte Silage. Giraffen mögen die Blattsilage sehr gerne. Blätterfressende Wiederkäuer können das Eiweiss in Blättern besser verwerten als jenes in Gras. Bereits im Juni zupfen deshalb freiwillige Helfer tagelang Blätter, damit im Herbst die würzige Silage bereitsteht. Dieses Jahr wurde über eine Tonne Blattsilage hergestellt. Für die empfindlichen Giraffen ist sowieso nur das Beste gut genug: Heu der Luzerne – das ist eine Kleeart – von erlesener Qualität importiert der Zoo eigens aus Spanien, und in Zusammenarbeit mit einer lokalen Futtermühle hat der Zoo Basel spezielle Pellets für Blattfresser entwickelt, ganz nach dem Geschmack der Giraffen.» Albert seufzt. Diesen leckeren Luxus würde er seinen Tieren gerne gönnen. Überhaupt muss er endlich beim Kollegen nachfragen, ob sie nicht doch noch einen Platz freimachen können für wenigstens eines seiner Tiere. Andererseits sollten sie nicht auseinandergerissen werden, die drei sind zusammen aufgewachsen, und er kann sich nicht vorstellen, welchem von den dreien ein solcher Schnitt zugemutet werden sollte.

Albert vergräbt den Kopf in seinen Armen, und so bleibt er eine lange Weile am Küchentisch sitzen. Albert lässt den Motor an und fährt zur Fabrik. Steigt aus, zerrt eines der riesigen Pakete aus dem Wagen und ruft, um sich selber Mut zu machen: Li, Lu und La, seid ihr da? Er weiss zwar, dass sie da sein müssen, doch es bereitet ihm zusätzlich Genugtuung, seine eigene Stimme, die sozusagen verstummt ist in den letzten Wochen, laut zu hören. Albert öffnet das wuchtige Fabriktor, doch heute kommen ihm die Tiere nicht wie üblich entgegen und recken ihre langen Hälse. Er bleibt stehen, schaut sich um, reibt sich die Augen. Albert spürt sein Herz immer stärker klopfen. Es trommelt und galoppiert und bricht plötzlich auseinander. Albert fällt auf den mitgebrachten Silageballen und sieht das gebrochene Herz in seinem Körper. 19


Textauszug in Schrägschrift: «Giraffen, so bleiben sie gesund», mit freundlicher Genehmigung des Zoo Basel. RUTH LOOSLI schreibt Lyrik und Kurzprosa. Man kann sie für Auftritte anfragen, am liebsten mit Oscar, dem Akkordeonisten, oder Quirin, dem Hackbrettspieler. Sie mag skurrile Geschichten und geht oft spazieren, um darüber nachzudenken. Ihr zuletzt erschienener Gedichtband heisst «Berge falten».

Tiergeschichten TEXT MATTO KÄMPF

In den Siebzigerjahren In Kalifornien existierte in den Siebzigerjahren ein antiautoritärer Zoo. Darin konnten sich Besucher und Tiere frei bewegen. Der Zoo wurde vom Staat geschlossen, als die Behörden von hippiesken Gelagen erfuhren, bei denen zu Uriah Heep Gazellen gegrillt worden waren. Im Zoo Durch Windböen abgetriebene Fallschirmsoldaten kamen im Krieg in einem Zoo zu landen. Er war in der Nacht nicht beleuchtet und die vom Himmel fallenden Soldaten realisierten erst bei der Landung, wohin es sie getrieben hatte. Unter den Soldaten brach Panik aus. Besonders bei denen, welche in ein mit dickem Eisengitter umgebenes Gehege geraten oder durch ein Glasdach hindurch in die Reptilienabteilung gefallen waren. Aus Furcht vor allem, was sich bewegt, schossen die Soldaten wild um sich und weckten so den gesamten Zoo auf. Sie schossen auch auf ihre Kameraden, die sie für entlaufene Gorillas hielten. Im Feuerhagel gingen überall die Glasscheiben zu Bruch, was vielen Tieren die Flucht ermöglichte. Die wenigen Soldaten, die das Zoomassaker überlebten, hatten ihre Magazine leergeschossen, und 29 waren mit den Nerven am Ende, sodass sie für die feindlichen Soldaten zu einer leichten Beute wurden. Mehr Probleme bereiteten diesen die Zootiere, welche sich nun mehrheitlich auf freiem Fuss befanden. Eine nichtsahnende Würgeschlage, die in einem Panzerrohr eingeschlafen war, verhinderte dadurch den Austritt des Geschosses. Es kam zu einer wüsten Explosion im Inneren des Panzers. Ein durch ein Feldlazarett marodierendes Löwenrudel konnte nur unter hohen Verlusten erlegt werden. Noch Wochen später attackierte an derselben Stelle eine ausgehungerte Hyäne eine Rotkreuz-Schwester. Gibraltar Es war an einem Samstag, als ein Elektriker aus Spiez mit seiner Schildkröte zu reden begann. Er tat das nun jeden Tag, und nach zwei Wochen versprach er der Schildkröte: Ich zeige dir die Welt. Im Sommer brachen sie zu einer langen Reise auf. Zurück in Spiez behauptete er fortan, die Schildkröte habe ihm in der Meerenge von Gibraltar das Leben gerettet. Ein grosser Schritt Allez hop, dachte das erste Amphib, bevor es Land betrat. Die Fliege in der Suppe In einem Gasthof fand ein Rentner eine Fliege in seiner Suppe. Sie zappelte und schwamm im Kreis herum. Der Rentner betrachtete die Fliege und verhalf ihr mit dem Löffel zum Ausstieg. Der Rentner kam ins Grübeln: Ist die

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FOTO: ANNE BÜRGISSER

Es sieht aus wie die offene Walnussschale bei Aschenputtel. Doch da liegt kein kostbares Kleid, sondern ein Edelstein, ein winziges Wesen, ein verborgener Schatz. Das Herz ist nicht nur das Organ, das sein Blut durch den Körper pumpt. Es leuchtet aus dieser Art Mitte heraus. Ein rötliches Licht schimmert, und er hört aus der Schale (mit Samt ausgeschlagen, mit Samt!) eine Stimme. Sie ist leise, doch klar. «Albert, schau, den Giraffen geht es gut. Sie wurden von den Luftgeistern nach Südafrika entführt und freuen sich an der Weite der Savanne. Dort ist ihre Heimat.» Albert hört zu, friert ein, ist atemlos. «Atme, Albert, atme!» Das Rubinrot lässt ihm keine Ruhe, schon gar keine zum Sterben. «Du wirst eine neue Aufgabe finden.» Albert seufzt. Er vermutet, dass sein Herz recht hat, und richtet sich langsam auf. – Er weiss nicht, wie lange er dagelegen ist, hat nichts wahrgenommen ausser der seltsamen Regung seines Herzens, doch nun hört er, wie sich eilige Schritte nähern. Es ist sein Freund Jonas, der ihm entgegenstürzt und keuchend ruft: «Albert, weisst du schon, was geschehen ist?» Nein, Albert weiss es noch nicht, ahnt aber, dass da vielleicht die neue Aufgabe auf ihn wartet. Er ist schneller auf den Beinen als er gedacht hätte, packt seinen Freund und umarmt ihn. Das hat er noch nie gemacht in seinem Leben. Er weiss nun, dass es seinen Giraffen gut geht. Er wird sie besuchen, sobald er es sich erlauben kann.



Letzter Eintrag Bevor ihm in der Nacht ein entlaufenes Frettchen die Kehle durchbiss, hatte er in sein Tagebuch geschrieben: 4. Oktober. Etwas ist im Sofa. Gedanke In einem Wald im Münstertal dachte eine vom Wanderweg abgekommene Thurgauerin bei Einbruch der Dunkelheit: Dass es den Tyrannosaurus Rex nicht mehr gibt, ist wissenschaftlich gesehen womöglich schade, praktisch aber sicher von Vorteil. In Tinte getaucht Italienische Taucher berichteten, ihnen sei es gelungen, vor den Bahamas ein ausserordentliches Schauspiel zu beobachten: Ein Krake wurde in zwanzig Metern Tiefe hinterrücks von einem Tintenfisch angefallen, was rar ist und seitens des Tintenfischs als tollkühn bezeichnet werden muss. Der Krake habe sich sogleich zur Wehr gesetzt, und die beiden hätten sich mit ihren Fangarmen gewürgt und umgarnt. Da ist plötzlich aus einem Korallenhinterhalt ein Oktopus hervorgestürzt, erzählten die italienischen Tauchfreunde. Der Krake und der Tintenfisch seien durch die kräftigen Arme des listigen Oktopus vorübergehend stark in Bedrängnis geraten. Als der Kampf sich wieder ausgeglichen habe, sei ein flanierender Kalmar in das Gewühl hineingeraten und eher wider Willen in die Sache verwickelt worden. Einem streunenden Pulpo sei die Keilerei wohl aus Langeweile und jugendlichem Übermut gerade recht gekommen. Das Ganze sei nun vollends unübersichtlich geworden, da zirka dreissig Fangarme an diesem Fünfkampf beteiligt gewesen seien. Zudem habe der Tintenfisch, um den Rückzug anzutreten, die Szenerie mit seiner Tinte verdunkelt, leider vergeblich, da er sich nicht aus dem Klüngel habe lösen können. Die Tinte habe dazu geführt, dass sich die fünf würgend und drehend in Richtung Sonnenlicht bewegt und sich schliesslich in einer Schiffsschraube verfangen hätten. Das Resultat sei ein

Bild von poetischer Schönheit gewesen: die Tentakel sich windend und entschwindend, die von der Sonne beschienenen pittoresken Färbungen der fünf Meeresbewohner sowie die ausströmende Resttinte, die das Szenario in einen sanften Schleier getaucht habe. Ein um Wahrheit bemühtes Tauchblatt zog den Bericht der Italiener in Zweifel. Da die erwähnten Tiere in verschiedenen Tiefen und Meeresgegenden lebten, seien die beschriebenen Begegnungen gar nicht möglich. Auch die Bezeichnungen der Tiere seien seltsam und die Grössenverhältnisse liessen einen solchen Kampf gar nicht zu. Es handle sich wohl um eine Vision im sogenannten Tiefenrausch. Um seiner Meinung Nachdruck zu verleihen, benutzte das Blatt das Beispiel des Pinguine fressenden Eisbären als vergleichbare Unmöglichkeit. Ein Bild, welches übrigens in zoologischen Kreisen gerne verwendet wird, wenn es jemanden zu verunglimpfen gilt. In der Steinzeit Bei den Dreharbeiten zu einem Film, der in der Steinzeit angesiedelt war, kam es im Studio durch fliehende Elefanten zu erheblichen Schäden. Dies geschah, weil die Elefanten getrennt voneinander als Mammuts verkleidet worden waren. Man hatte ihnen Felle umgehängt und Stosszähne angeklebt. In dem Moment, als die Elefanten sich so am Drehort wieder begegneten, erschraken sie derart über ihre Kameraden, dass sie in alle Richtungen flohen. Dabei rissen sie Scheinwerfer und Kameras um. Sie zerstörten auch aus Holz gesägte zweidimensionale Hintergrund-Dinosaurier. Die Elefanten wurden auf dem Studiogelände wieder eingefangen und fortan alle gleichzeitig am selben Ort umgekleidet. So konnten die Dreharbeiten am nächsten Tag wieder aufgenommen werden. Endgültig abgebrochen wurden sie, nachdem sich ein als Säbelzahntiger verkleideter Schäferhund in die Hauptdarstellerin verbissen hatte. Möglicherweise war es dem Hund unter dem umgehängten Fell zu heiss geworden. Im Wald In einem hiesigen Wald warfen sich degenerierte Rehe wiederholt in unsinniger Manier vor die Füsse von Wanderern. Dort blieben sie liegen und stellten sich tot. Wenn die erstaunten Wanderer sich daraufhin entfernten, folgten ihnen die Rehe und wiederholten den Vorgang. Die Rehe wurden schliesslich erlegt, obwohl von ihnen an sich keine Gefahr ausging. Man sei dies aber den vernünftig gebliebenen Rehen gegenüber schuldig gewesen, erläuterte ein am Abschuss beteiligter Förster. Die Texte sind eine Auswahl aus dem Band «Tiergeschichten», der im Verlag Der gesunde Menschenversand erschienen ist.

MATTO KÄMPF, 1970 geboren in Thun, lebt als Autor, Filmer und Theatermacher in Bern. Unterwegs mit dem Spoken-Word-Trio Die Gebirgspoeten und der QuasiBand Trampeltier of Love. Kämpf war Herr Schneuwly in der SFR-Serie «Experiment Schneuwly» und hat einige Kurzfilme und Videoclips gedreht.

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FOTO: JURI STEINHART

Suppe durch die Fliege eine andere geworden? Ist die Fliege durch die Suppe eine andere geworden? Werde ich durch die Suppe ein anderer werden? Wird die Suppe durch mich eine andere werden? Und was ist mit dem Teller? Das waren in etwa die Fragen, mit denen sich der Rentner vorübergehend beschäftigte, bevor er sich wieder über die Ausländer aufregte.


Utopie am Utoquai TEXT ROMANA GANZONI

Der Traum von der grossen Utopie, wer hat ihn nie geträumt? Wer träumt ihn heute? Du? Obwohl du zu wissen glaubst: An diesen Ort, der keiner ist, gelange ich weder per Zug, noch per Bus, nur per Gedanke ist die Reise möglich – ein anstrengendes Unterfangen, vielleicht sogar gefährlich. Wagst es trotzdem, ja? Ja. Erzähl mir davon! Erzähl mir deine Geschichte! Im Gegenzug sage ich dir, wo mein Nirgendwo liegt, das keine Grenze kennt. Es ist die kleine Utopie, die du zu Fuss erreichen kannst. Es ist kein Ort aus einem verrückten Fantasy-Film mit Pomp und Perücken. Er kommt nicht vor in den utopischen Texten, auch nicht in der Theorie. Es ist der Juli. Jeder Juli, dieser und der nächste. Und ein Ort dazu, in Zürich: der Utoquai. Der Utoquai heisst nicht umsonst so. Das fällt dir jetzt auch auf, oder? Dort warten die anderen Entwürfe, dort warten die neuen Ordnungen, nach denen du dich sehnst. Dort ist alles anders, besser, viel besser, sagen wir es geradeaus: Dort ist es ideal. Im Juli. Du denkst, ich übertreibe? Glaub mir, ich weiss, wovon ich schreibe. Zwei Stunden im Idealen reichen aus, um wieder in den Alltag zu steigen wie auf ein altes, treues Pferd, zwei Stunden, die befreien von Hebelgesetz, Erdanziehung, Abwasch, zwei Stunden Utopie. Die zieht nicht nur den Konjunktiv an und die Kunst, sie zieht mich an und dich, der du mir bald deine Geschichte erzählen wirst, das ist doch der Deal? Wir Sehnsüchtigen wollen die Utopie in unsern Köpfen hätscheln, wir wollen sie miteinander teilen und in unsern Herzen behalten als Hoffnung auf unfassbare Wahrheit. Deshalb flaniere ich heute am Utoquai, es ist Juli, und ich lebe die Utopie. Ein persönliches Niemandsland tut sich auf, alles passiert gleichzeitig, es herrscht dieser dynamische Stillstand, Flow heisst das wohl, modisch gesprochen. Ich mittendrin. Klingt seltsam? Egal. Andere sind auch da, sie folgen dem lockenden Klang und Duft des Wortes Utoquai bis an den Zürichsee. Einmal in seiSurprise 430/18

nem Bann, wagt niemand, früher abzuzweigen. Aus naheliegenden Gründen. Komm auch du! Ja, gleich jetzt. Ich warte. Da sind wir also. Wir promenieren entlang des bescheidenen helvetischen Quais mit weitgereisten, mondänen Utopien im Kopf. Alles Flausen? Niemals! Diese Zeit, dieser Ort, das ist kein Zufall. Im Gegenteil. Es ist ein handfestes Rendez-vous. Die Utopie und ich, wir verbinden uns mit dem Utoquai, und der verbindet den Limmatquai mit der Seegartenstrasse – Fluss, Garten, Park und See, fliessendes und stilles Gewässer. Natur, Menschengemachtes, Inselhaftes. Da ist sie, die schöne Welt in der Welt! Über allem der Himmel von Zürich als Dach dieser flirrenden Juli-Welt, wie ein Haus, nicht irgendein Haus, mein Zuhause. «Miis Dach isch dr Himmel vo Züri» sang Zarli Carigiet, als er einen Clochard gab (und die Menschen sangen das Lied für den kürzlich verstorbenen Pfarrer Sieber). Klar, wurde das zum Schweizer Ohrwurm, so liebenswürdig erzählte Zarli über sein Dach. Sein Bett stehe am Bellevue, weiter oben, an der Schipfe, finde man seine Bank, da könne der Mensch sitzen. Für Kahn und Schlag solle er wieder an den See. Dass die Limmat als Klosett diene, sang er auch – eine oft ausgelassene Passage, stört sie doch die hygienische Utopie des melancholischen, aber letztlich glücklichen Clochards, dem es an nichts fehlt. Ich höre Kiesel unter meinen Schuhen, den Ruf der Möwe, ein Violinenspiel von schlechter Qualität (aber mit viel Gefühl), Trommeln, Kinder, die einander rufen. Ich sehe ein Schiff, das ohne mich losgefahren ist. Zum Glück! Ich will nicht weg. Ich will am Utoquai sein und bleiben, spazieren, so vor mich hin, nichts zu suchen ist der Sinn, planlos ins Sich-Vergessen gleiten, an einen Ort, der zu nichts gut ist, der das gedankliche Vagabundieren, das Eintauchen in ein Anderswo bejaht und zulässt, die Zweckfreiheit unter dem Dach von Zürich feiert. 23


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Gottesmann. Die gewaltlosen Täufer waren wohl zu viel der Utopie. Utopia, ein Yin-Yang-Wort, rund wie ein Ei. Daraus schlüpft ein Paar. Sind das die zwei Verschupften, die zusammenfinden im billigen Zürcher Wasser? Sie trinken davon, sind so verknallt, die könnten den ganzen See saufen vor Glück und Unglauben, über den Utoquai tanzen, hin und zurück. Wollen wir diese Geschichte hören? Will ich sie erzählen? Eine Liebesgeschichte als Utopie? Nein. Das soll Realität sein, in die Utopie stecken wir die, die keine Chance auf Liebe haben – und trotzdem geliebt werden. Keine Utopie also: Udo und Pia sind ein Paar, sie schlüpften nicht jungfräulich aus dem Ei, die beiden hatten schon eine ganze Weile, sicher zehn Jahre, die Hoffnung auf Liebe und Glück aufgegeben. Kein Wunder! Das hatte gute Gründe. Sie waren solche Pfuscher gewesen! Selber schuld, sagte sich Udo immer wieder. Und Pia wusste: Ich heisse die Fromme, die Pflichtgetreue, deshalb habe ich mich mein halbes Leben lang völlig freiwillig und feige bis ins Mark meiner giftigen, schrillen und sackverwöhnten Mutter untergeordnet. Udo sagte Pia beim ersten Treffen, lustig, dass du das sagst, also, nein, natürlich alles andere als lustig, mein Name heisst nämlich «Besitz, Erbe», und meine Eltern sind früh gestorben, ich habe tatsächlich bereits mit 19 Jahren ihr dreistöckiges Haus am Klusplatz geerbt und fast eine Million Bargeld dazu, aber wegen der verdammten Zockerei bin ich dann an mir und an allen, die mich kannten und vielleicht mochten, gescheitert. Unglaublich, sagte Pia, du sagst mir jetzt nicht im Ernst, dass unsere doofen Namen so eine Macht über uns hatten, ja, uns praktisch verfluchten, dass ich als Pia und du als Udo das geworden sind, was diese Namen behaupten, ich eine dämliche Pflichtzicke und du ein unvorsichtiger Besitzheini und nutzloser Erbe? Hart, was du da sagst, Pia, aber, verdammt, das gefällt mir, endlich eine, die sagt, was Sache ist, ja, ich bin dieser idiotische Erbe, dabei wusste ich lange nicht, wie eingeschrieben diese Sache ist, die Bedeutung meines Namens war mir lange unbekannt. Pia sagte, jetzt, wo wir Bescheid wissen, können wir ja abhauen, ich oberschlampig, nur zwei Unterhosen dabei, du ganz ohne Stutz, ich habe Erspartes zum Verpulvern, was meinst du, Udo? Sie rissen aus und wurden glücklich, unbeschreiblich glücklich! Pia gewann Unsummen beim Glücksspiel und mehrte ihr Vermögen, Udo hingegen übte sich in Genauigkeit und Pflicht (das Beten liess er weg, er war auf seine Art fromm). Mit Pia das reinste Vergnügen. Bäm! Keine Utopie. Und auch nicht am Utoquai. Auf Mallorca. Grade jetzt. In dieser Minute. Die zwei Verliebten. Sie schauen sich in die Augen, trinken den Rest Sangria und rennen ziemlich besoffen aufs Hotelzimmer. ROMANA GANZONI (*1967) aus Scuol gibt es Essays, Kolumnen, Blog- und Radiobeiträge, Gedichte, einen Monolog und einen Schundroman. Ihr Erzählband «Granada Grischun» erschien 2017 beim Zürcher Rotpunktverlag, Edition Blau. Sie schreibt auf Deutsch und in zwei rätoromanischen Idiomen.

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FOTO: YVONNE BOLLHALDER

Als Flaneurin, als Nichtswollerin, als Tagträumerin in meiner utopischen Wolke am Utoquai könnte ich jederzeit ins Zürcher Wasser springen oder mich freundlich hineinschubsen lassen. Von dir? Gerne. Und: gratis. Einfach so. Umsonst. Umsonst heisst: ohne Bezahlung. Gebührenfrei. Klingt wie eine Utopie, besonders in der Schweiz. Ist aber möglich. Was nichts koste, schwäche die Wirkung, sagt eine Studie über Medikamente. Dasselbe Medikament wirke, aus der überteuerten Packung gelöst, besser, stärker, befriedigender als dasjenige, das günstiger angeschrieben sei. Der Preis steuert die Erwartung. Beim Gratissprung ins Wasser (beim Gratisspazieren, Träumen) gibt es keine Erwartung. Ist dieses Tun nun wirkungsfrei? Man könnte es meinen. Aber nein. Die Wirkung kommt heftig oder sanft, als Überraschung, weil die Pilotin nur vermeintlich steuert. Wie gut und frei fühlt es sich im Wasser an, schwerelos und warm. Quelle surprise! Genauso, wie wenn man das Strassenmagazin kauft am Bellevue (wo Zarlis Bett steht), sechs Franken, aus Solidarität, vom Inhalt erwartet nicht jeder etwas, und dann: Bäm! Das Surprise als «action par laquelle on prend ou l’on est pris à l’improviste», eine Überwältigung, die die Leserin in einen Zustand ausserhalb der realen Verankerung versetzt. Gelesen am Utoquai, entfaltet es die grösste Wirkung. Quai heisst schliesslich Uferstrasse, was soll man da anderes lesen als dieses Heft? Na also. Ich verschwinde im Text. Verweile. Für sechs Franken? Nein, das hat keinen Preis, it is priceless, unbezahlbar. Ach, das Unbezahlte, das, was gratis ist! Umsonst? Vergeblich? Ist diese Zweideutigkeit ein Zufall? Ist dieses Gratis darum eine Utopie, weil es kein Umsonst gibt bei uns? Kostet jedes Flanieren und Fantasieren, jeder Schwumm unter Wasser, jedes Lesen und im Text versinken, kostet jedes Geschenk, das an einen Nicht-Ort führt, etwas? Kraft, Zeit, emotionale und gedankliche Leistung? Können wir letztlich nur in Nutzen-Kosten-Logik denken? Wenn ich mich zwischen Bellevue und Zürichhorn im Seebad Utoquai ins Wasser gleiten lasse, dann kostet das etwas, es kostet Eintritt, acht Franken. Ist okay. Vieles in Zürich kostet Eintritt. Fast alles. Ins Seebad gehe ich dann auch einmal. Heute nicht. Ein paar Schritte zum See. Werde gleich springen, lange nicht mehr auftauchen. Als Kind stellte ich mir vor, wie es wäre, unter Wasser zu leben. Oder unterirdisch. Oder unsichtbar. In einer anderen Welt, weit weg, erdfern, schmerzfrei. Machst du mit? Schubst du mich hinein? Springen wir zusammen? Die zwei Stunden sind noch nicht um. Und auch der Juli nicht. Du nickst, sagst, gleich, erzähl mir noch etwas von Utopia! Dann bin ich dran. Aber sicher. Ja. Utopia. Klingt famos, darin wohnt ein Paar, Uto und Pia. Uto oder Udo lehnt sich beim Zürcher Hausberg an, dem Uetliberg, Berg des Uotilo. Deshalb steht auf dem Üetliberg das Uto Kulm, die Kulmination des Uto, eine Form von Ulrich. Die Kulmination von Ulrich ist natürlich Huldrych, der Zwingli, Reformator, der die Täufer bei der Schipfe (wo Carigiets Bank zum Ausruhen einlädt) in der Limmat ersäufen liess. Traurig, aber es sei nun mal so, soll er gesagt haben, der


BILD(1,2): ZVG, BILD(3): NOVARTIS, BILD(4): KUNST HALLE SANKT GALLEN, GUNNAR MEIER BILD (5): KARIN KARINNA BÜHLER, 2018, PRO LITTERIS ZÜRICH

Veranstaltungen Winterthur «43. Winterthurer Musikfestwochen», Mi bis So, 8. bis 19. August, verschiedene Bühnen rund um die Steinberggasse und den Kirchplatz. musikfestwochen.ch

gelegt, und Hershman Leeson dekliniert hier alle ethisch heiklen Bereiche der Wissenschaft durch – nämlich die, die an die Frage rühren, was der Mensch ist. Und was er kann und darf. Sei es mittels regenerativer Medizin, Genforschung oder Antikörperforschung. Hershman Leeson gehört zu den Pionierinnen der Medienkunst und geht schon seit den Sechzigerjahren der Frage nach, wie sich moderne Technologien auf unsere Identität und Einzigartigkeit, auf unsere Privatsphäre und unser sich veränderndes Verhältnis von realer und DIF virtueller Welt auswirken.

Das Spezielle an diesem Musikfestival: Neun Tage lang, vom 8. bis am 16. August, sind die Konzerte kostenlos, Eintritt wird nur an den letzten drei Tagen verlangt. Zu sehen und hören gibt es internationale Newcomer und Schweizer Musik, Gisbert zu Knyphausen (DE) kommt nach Winterthur, genauso wie Von Wegen Lisbeth (DE), Tocotronic (DE) oder Klangstof (NL). 70 Acts in 12 Tagen: Das reicht stilistisch vom Jazzrausch über Trip-Hop-Punk-Dichtung bis zum Singer-Songwriter-Abend. Mit Schwerpunkt auch auf Schweizer Bands: mit Johann Grobe aus Zürich/Basel, Schnellertollermeier aus Luzern, Supervisor aus Baden oder The Two aus Lausanne. DIF

Bern «Buskers Bern Strassen­ musik­Festival», Do bis Sa, 9. bis 11. August, jeweils 18 bis 24 Uhr, in der Berner Altstadt zwischen Zytglogge und Nydegg. buskersbern.ch Am bekannten StrassenmusikFestival in Bern spielen die Künstlerinnen und Künstler auf Hutgeld statt für eine fixe Gage. Dafür braucht es Publikum, aber das hat es auch: Immerhin funktioniert das Konzept schon seit 14 Jahren genau so. Es treten 36 Gruppen auf: mit Pantsula Street Dance, London Balkan Klezmer, Afro Akrobatik, Dancefloor Jazz, Folk von der britischen Insel und so weiter. In irgendeinen Hut wird man sein Eintrittsgeld ganz bestimmt werfen wollen. DIF

St. Gallen «Studio für Propositional Cinema – Scenography: Redundant as eyelids in absence of light», Ausstellung, bis So, 16. September, Kunst Halle Sankt Gallen, Davidstrasse 40. kunsthallesanktgallen.ch

Basel «Lynn Hershman Leeson: Anti­Bodies», Ausstellung, bis 5. August, Mi bis So, 12 bis 18 Uhr, Mi bis Fr 12 bis 13 Uhr freier Eintritt, Haus der elektronischen Künste Basel HeK, Freilager-Platz 9, Dreispitz. hek.ch Wäre Lynn Hershman Leeson nicht Künstlerin, sie wäre vermutlich Genforscherin. Allein die Ausstellung im HeK ist wie ein Labor an-

Surprise 430/18

«Redundant as eyelids in absence of light» ist das Libretto für eine fünfdimensionale dystopische Oper, das unter anderem als Ausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen umgesetzt wird (ein Konzert in Basel hat schon stattgefunden). Das Projekt von Studio for Propositional Cinema inszeniert das Libretto als minimalistische Installation. Das hat Methode: Studio for Propositional Cinema versucht immer wieder, gängige kulturelle Formate – also Ausstellungen, Publikationen, Kino, Theater und Oper – über traditionell konsumierbare Formen hinaus auszuweiten. Was diesmal heisst: Das Opernlibretto wird durch die Architektur der Ausstellungsräume «gespielt». DIF

Zürich «Neuer Norden Zürich», Kunst im öffentlichen Raum, bis So, 2. September, verschiedene Standorte Zürich Nord, drei verschiedene kostenlose Führungen, Anmeldung erforderlich. unterneuernorden.org/tours Nach »Art and the City» und «Art Altstetten Albisrieden» hat die Stadt Zürich nun das Kunstprojekt «Neuer Norden Zürich» erfunden. Der Fokus liegt auf der städtebaulichen Entwicklung von Schwamendingen, Oerlikon und Seebach. Hier wird ja tatsächlich viel Stadt gebaut, und das gibt was her. Die Aktion von Stefan Baltensperger und David Siepert lässt sich schon mal gut an: Sie laden die Bevölkerung ein, ihnen Alt-Aluminium vorbeizubringen, damit sie eine Leutschenbacher-Glocke daraus giessen können. DIF

Korrigendum Wir haben Ihnen im letzten Heft (#429) an dieser Stelle das Freilicht­Kunstprojekt «Arte Albigna» empfohlen. Leider haben wir uns ein ganzes Jahr im Datum geirrt: Sie werden Pipilotti Rist im Bergell dieses Jahr also nicht mehr finden. Aber wir haben gleichwertigen Ersatz anzubieten: Zürich «Arte Castasegna 2018», Kunstprojekt im Dorf Castasegna, bis So, 21. Oktober. arte-castasegna.ch Soziale, geschichtliche und politische Strukturen des Dorflebens werden in künstlerischen Werken thematisiert, es gibt Führungen, Präsentationen und Gespräche. Mit Zilla Leutenegger, Piero del Bondio, Karin Karinna Bühler und vielen anderen. Ebenfalls im Bergell, wie unser falsch angekündigter Tipp. Aber findet statt, wirklich. DIF

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Kreuzworträtsel 1. Preis Das Surprise Strassenmagazin ein Jahr im Abo 2. Preis Zwei Mal Teilnahme für zwei Personen am Sozialen

Finden Sie das Lösungswort und schicken es zusammen mit Ihrer Postadresse an: Surprise Strassenmagazin, Münzgasse 16, 4051 Basel oder per E-Mail mit Betreff «Rätsel 430» an info@surprise.ngo Einsendeschluss ist der 9. August 2018. Viel Glück!

Stadtrundgang, wahlweise in Bern, Basel oder Zürich

3. Preis Drei Mal wahlweise ein Surprise Etui oder ein Surprise

Gym Bag

Tipp: Das Lösungswort kommt in einem der Texte dieser Ausgabe vor. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden unter den richtigen Einsendungen ausgelost und persönlich benachrichtigt. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt.

offizielle Ansprüche

frz.:

engl.:

roman.:

Stern

Säure

Zürich

frz.

Grosser

Plural-

Schwert-

artikel

wal

Nahkampf beim Boxen

Ruinenstätte im Iran

frz.:

Brat-

Sommer

roste

dt.

trop.

Vorsilbe:

Wirbel-

schnell

sturm

schweiz. Eisenbahnerverband

kleiner Lachsfisch

RE T J O

Ferienbagage

8 röm.

die Ernährung betreffend

Heldin

Kaiser

den, verbandelt Spurenelement

7

eh. ital.

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Kletter-

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Geheim-

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Bauisolier-

Schöffengericht im MA

Monster

zubereiter Wintersportort im Engadin

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Nachteil

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Unterwasserortungsgerät Abk.: im

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(med.)

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6

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9

10

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Anrede und Titel in England

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Staat

kurzer

fische

Luft-

afrikan.

Anrede

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Speise-

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ind.

unbest.

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23. griech. Buchstabe

(lat.)

zufluss

3

standen

Jahre

Ganges-

2

13

gefährdet

3

1

Existenz

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5

Fluss im

6

Leben,

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musik

feindlicher Kundschafter

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SH

Kurort in

heitl.

(Marco)

T SE E R SP A P SP E

hieb Regiss. v.: Fahrraddiebe † (2 W.)

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Komiker

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jamaik.

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schweiz.

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2

Kleinst-

mehrgängiges Essen

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Schweiz

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Gebirge

Lendenstück vom Rind

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Primat Stadt in der EmiliaRomagna

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14

Strick aus natürl. Material

gebun-

L WE

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14

10 430 raetsel.ch

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Sudoku Füllen Sie die leeren Felder mit den Zahlen von 1 bis 9. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile, in jeder Spalte und jedem der neun 3 × 3-Blöcke nur ein Mal vorkommen. Die Lösungen finden Sie in der nächsten Surprise-Ausgabe.

Leicht

Mittelschwer

7 1 8 9 7

8

2 9

4 8 5 9 2

8 6

3 1 4 2

7

4 1

3

2

5 1 7

5

1

8 3 7 9

3 6

Teuflisch schwer

9 5

6 8 2 7 1

Surprise 430/18

8 6 6 8 3 9 7

6 3 5 1 2 2 6

raetsel.ch 58396

Mittelschwer

raetsel.ch 58397

4 3 2 1

3 5

raetsel.ch 50242

1 3

1

6 3 8 8 3 9 2 1

6 1

1 7 3 1 4 7 1

9 8

5

7 1

2 8

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1 3 8

6

6 7 8 9 3 5

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8 5 3 4

1 3 6

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

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02

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03

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04

Anyweb AG, Zürich

05

Leadership LP3 AG, Biel

06

Echtzeit Verlag, Basel

07

Maya-Recordings, Oberstammheim

08

Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

09

Scherrer & Partner GmbH, Basel

10

Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

11

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

12

Lotte’s Fussstube, Winterthur

13

Cantienica AG, Zürich

14

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15

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16

Kaiser Software GmbH, Bern

17

Coop Genossenschaft, Basel

18

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

19

Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel

20

Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

21

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Burckhardt & Partner AG, Basel

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Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

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Wir alle sind Surprise Sozialer Stadtrundgang

«Feinfühlige Art» Wir haben den Zürcher Stadtführer Dani Stutz vom ersten Moment an ins Herz geschlossen. Sein Mut und seine feinfühlige Art, sich einzubringen und gleichzeitig auf uns einzugehen, haben uns sehr beeindruckt. Die gute Stimmung wirkt bis heute nach und bestärkt uns auch in unserer Arbeit hier in der Beratung und Therapie.

#426: Die erfundene Geschichte des Schmarotzens

«Stimmt so nicht» Wenn ein Mann stirbt und eine Frau und ein siebenjähriges Kind hinterlässt, müssen diese Hinterlassenen in der Schweiz eben nicht zur Sozialhilfe. Es gibt die Hinterlassenenrente (Witwenrente und Halbwaisenrente). Es erstaunt mich sehr, dass Andres Eberhard und die Redaktion davon nichts zu wissen scheinen. Das zeigt auf, dass die Geschichte so nicht stimmen kann.

Anmerkung der Redaktion

Tatsächlich erhält Frau Frischknecht zusätzlich zur Sozialhilfe eine Witwenrente. Dass dies nicht erwähnt wird, führt zugegebenermassen zu Missverständnissen. Allerdings geht es in diesem Artikel in erster Linie um die Stigmatisierung von Sozialhilfebezügern und darum, aufzuzeigen, wie jeder von uns durch Schicksalsschläge in eine Notlage geraten kann. Der Tod des Mannes von Frau Frischknecht hatte ja nicht nur direkte finanzielle Folgen, sondern verschlechterte auch ihre Jobchancen als alleinerziehende Mutter. Dazu kam das Scheitern ihrer Selbständigkeit sowie der psychische Stress. Für die Gesamtsituation erschien uns die Witwenrente daher nicht entscheidend.

F. FANKHAUSER, Bern

Surprise Strassenchor

«Zutiefst berührt» Von Herzen ein grosses Dankeschön für den grandiosen Auftritt bei der diesjährigen SchappoPreisverleihung! Der Surprise Strassenchor war einfach wunderbar und viele Leute wurden durch dessen Auftritt zutiefst berührt. Ich wünsche den Mitgliedern weiterhin viel Freude beim Singen.

R. RIHS, Berner Gesundheit, Stiftung für Gesundheitsförderung und Suchtfragen, Bern

J. PERRET, Leiterin Koordinationsstelle Freiwilligenarbeit/schappo, Basel

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Sara Winter Sayilir (win), Georg Gindely (gg) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Romana Ganzoni, Matto Kämpf, Seraina Kobler, Simone Lappert, Charles Lewinsky, Ruth Loosli, Jens Nielsen, Julia Weber, Nora Zukker

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Surprise-Porträt

«Man glaubt mir nicht, dass sie meine Tochter ist» «Es macht mich sehr traurig, wenn ich an meine jüngste Tochter denke. Ich habe sie seit etwa 15 Jahren nicht gesehen. Sie lebt in Eritrea bei meiner Schwester. Wir telefonieren alle zwei Tage. Manchmal ruft sie mich in der Nacht an und sagt, sie habe Schmerzen und könne nicht schlafen. Sie sagt, ich solle nach Hause kommen. Das kann ich nicht, wegen der Politik. Wenn wir dann auflegen, sitze ich noch lange da, manchmal weine ich. Schlafen kann ich dann nicht mehr. Meine Tochter heisst Letmkael und ist 19 Jahre alt. Sie war eine Frühgeburt und lag vier Monate lang im Koma. Die ersten paar Jahre waren nicht einfach. Sie entwickelte sich nicht gleich wie die anderen Kinder, wir mussten immer wieder ins Spital mit ihr. Ab dem Alter von etwa vier Jahren ging es ihr besser, zum Glück. Wenig später flüchteten wir in den Sudan – ohne Letmkael. Für die lange, anstrengende Reise über die Berge war sie noch zu schwach. Mein Vater und meine Schwester versprachen, zu ihr zu schauen, meine Mutter war bereits vor vielen Jahren verstorben. Wir waren uns einig, dass es besser sei, wenn sie später nachkommen würde. Vier Jahre lebten wir im Sudan. Mein Mann arbeitete, und auch ich verdiente Geld, zum Beispiel als Putzfrau. Über Deutschland kamen wir in die Schweiz. Seit 12 Jahren leben wir nun in Zürich. Mein Mann hat inzwischen eine neue Familie, wir haben keinen Kontakt mehr. Seit ich hier bin, versuche ich, Letmkael zu uns zu holen. Doch es ist schwierig mit den Papieren. Man glaubt mir nicht, dass sie meine Tochter ist. Das ist schlimm für mich. Vor drei Jahren hatte Letmkael einen schweren Unfall. Sie war mit der Schule in die Berge gefahren und war kopfüber gestürzt. Man hätte sie operieren müssen. Doch in meiner Heimat gibt es keine guten Ärzte. Und Geld hatten wir auch nicht genug. Seither hat sie immer wieder grosse Schmerzen im Nacken, im Rücken und in den Armen. Seit ein paar Monaten trägt sie eine Halskrause. Bald könne sie diese wieder abnehmen, sagen die Ärzte. Ich glaube, jetzt wird es besser. Hier in der Schweiz lebe ich sehr gut. Wenn immer möglich habe ich gearbeitet. In einem Brockenhaus nähte ich Kleider und mischte Farben. Eine Zeit lang kochte ich zudem in einem eritreischen Restaurant. Seit etwa acht Jahren verkaufe ich nun Surprise vor den Migros-Filialen in Oberengstringen und beim Brunaupark Zürich. Ich 30

Tsirha Tesfankiel, 43, kam vor 12 Jahren aus Eritrea in die Schweiz. Das jüngste ihrer vier Kinder musste sie zurücklassen.

wohne in einem Zimmer am Limmatplatz. Oft bin ich auch bei meinen zwei Söhnen und meiner Tochter zu Besuch. Sie leben zu dritt in einer Dreizimmerwohnung in Dietikon. Jeden Freitag nach der Arbeit fahre ich hin, oft bleibe ich fürs Wochenende. Wir kochen, essen und trinken typisch eritreischen Kaffee. Das ist sehr schön. Nur Letmkael macht mir nach wie vor Sorgen. Vor einem Jahr starb auch noch mein Vater, der zu ihr geschaut hatte. Als er krank geworden war, kaufte ich ein Ticket, um ihn und meine Tochter im Sudan zu treffen. Doch bevor ich abreiste, war er schon tot. Ich fuhr zum Flughafen und annullierte die Reise. Wenn wir telefonieren und es ihr schlecht geht, sagt Letmkael manchmal: ‹Du bist keine gute Mama.› Das macht mich unendlich traurig. Ich kann dann tagelang an nichts anderes mehr denken, kann mich nicht konzentrieren. Einmal stieg ich gedankenlos in einen Zug und fuhr nach Wetzikon statt nach Winterthur. Fast jede Woche gehe ich in die Kirche. Und bete dafür, dass meine Tochter endlich hierher kommen darf.» Aufgezeichnet von ANDRES EBERHARD

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Lösungswort: AKKUBOHRERAUFSATZ Die Gewinner werden benachrichtigt.

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STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

BEGLEITUNG UND BERATUNG

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Entlastung Sozialwerke

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Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie.

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Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden


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