Strassenmagazin Nr. 431 10. bis 23. August 2018
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Auswanderer
Urs bricht auf Der dienstälteste Surprise-Verkäufer beschliesst, sein Glück in Kamerun zu suchen Seite 8
HAUPTSPONSOR DER SURPRISE STRASSENFUSSBALLLIGA
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Ein attraktives und erfolgreiches Fussballspiel braucht eine geschickt zusammengesetzte Mannschaft. Die Vielfalt prägt die Stärke einer Mannschaft massgeblich mit. Ausgrenzung schwächt ein Team. Surprise unterstützt Menschen in sozialen Schwierigkeiten und will mit der Kraft des Strassen-Fussballs ihr Selbstvertrauen stärken. Die Swiss Football League trägt dieses Engagement gerne mit. Claudius Schäfer
“ Foto: Ruben Hollinger
CEO SFL
GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO
TITELBILD: BIRGIT LANG
Editorial
Gestrandet Urs Saurer ist unser treuster Mitarbeiter: Seit 20 Jahren verkauft er Surprise in Basel. Nun bereitet er sich langsam auf die Pension vor und denkt: In der Schweiz dürfte es mit der AHV-Rente knapp werden, aber im Ausland könnte ich gut davon leben. Er beschliesst, nach Kamerun auszuwandern. Meine Kollegin Sara Winter Sayilir hat seine Geschichte aufgeschrieben. Es ist eine Geschichte vom Mut, vom Scheitern und vom Wiederaufstehen; es ist eine Geschichte, wie sie zu Urs’ Leben passt. So prallvoll, dass sie nicht in einem Heft allein Platz hat, sondern in drei Teilen erzählt wird. Der erste Teil führt von Basel nach Istanbul, wo Urs auf seinem Weg nach Kamerun strandet, ab Seite 8. Viele Menschen wandern in die andere Richtung, von Afrika nach Europa, auch in die Schweiz. Wenn ihr Asylgesuch abgewiesen wird, droht ihnen, im Ausschaffungsgefängnis zu stranden. 18 Monate lang dürfen die Behörden die abgewiesenen Menschen einsperren, ohne dass diese
4 Aufgelesen 5 Vor Gericht
14 Ausschaffungsgefängnis
Bund verdoppelt Haftplätze
straffällig geworden wären, und zwar unter Bedingungen, die «grundrechtlich unhaltbar sind», wie der Präsident der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter sagt. Dennoch droht dieses Schicksal in Zukunft viel mehr Menschen als bisher. Denn der Bund ist unbemerkt von der Öffentlichkeit daran, die Zahl der Haftplätze in Ausschaffungsgefängnissen nahezu zu verdoppeln, wie unser Reporter Simon Jäggi herausgefunden hat, ab Seite 14 Nicht etwa gestrandet, sondern freiwillig auf eine kleine Insel zurückgezogen haben sich die Nonnen vom Kloster St. Johann im Val Müstair GR. Im Moment sind sie nur noch zu neunt. Unser Mitarbeiter Florian Wüstholz hat sie besucht und mutige Frauen getroffen, die trotz des Wandels der Zeit zuversichtlich in die Zukunft blicken, ab Seite 20.
GEORG GINDELY Redaktor
26 Veranstaltungen
30 Surprise-Porträt
«Ich, ein Stadtführer?» 27 Fortsetzungsroman
Lost in Translation 20 Glaube 6 Challenge League
Sozialismus heisst Zusammenleben 7 All Inclusive
Die letzten Nonnen vom Val Müstair
28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
Seismografen 8 Aufbruch
Von einem, der auswandern will
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Aufgelesen
BILD: MARIO ALBERTO REYES ZAMORA
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
L’ITINÉRAIRE, QUÉBEC
2,2 Milliarden kanadische Dollar: So viel Geld will Premierminister Justin Trudeau in den nächsten zehn Jahren ausgeben, um die Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Damit sollen bezahlbarer Wohnraum und Notunterkünfte gebaut werden. Dies sagte Trudeau im Interview mit Isabelle Raymond, Jean-Claude Nault und Mostapha Lotfi, drei Verkaufenden des Strassenmagazins L’Itinéraire.
Zwangsgeräumt
Mit Käse zum Erfolg
In den Vereinigten Staaten haben Zwangsräumungen stark zugenommen: Wurden im Jahr 2000 noch deren 520 000 durchgeführt, waren es 2016 fast 900 000. Eine Studie zeigt, dass 80 Prozent der Betroffenen Afroamerikaner sind. Die meisten Zwangsräumungen finden in den Südstaaten statt. Den Rekord hält North Charleston im Bundesstaat South Carolina, wo 2016 16,5 von 100 Haushalten zwangsgeräumt wurden. In Seattle im Bundesstaat Washington waren 0,63 von 100 Haushalten betroffen.
Razan Alsous flüchtete vor sechs Jahren mit ihrem Mann Raghid und den drei Kindern von Syrien nach Yorkshire. Da die Pharmazeutin keine Stelle fand, suchte sie andere Geschäftsideen. «Die Milch in Nordengland ist so gut, dass ich fand, ich könnte Käse daraus machen.» Alsous begann, Halloumi herzustellen und nannte ihn «Dama», kurz für Damaskus. Kurz darauf wurde Dama am World Cheese Award in London ausgezeichnet. Seither kamen etliche Preise dazu, und bei der Einweihung des neuen und grösseren Betriebs war Prinzessin Anne vor Ort.
REAL CHANGE, SEAT TLE
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BIG ISSUE NORTH, MANCHESTER
BILD: ROGER RATCLIFFE
ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Jeder vierte Flüchtling arbeitet
Jeder vierte Geflüchtete, der seit 2015 aus Kriegs- und Krisenländern nach Deutschland gekommen ist, geht heute einer bezahlten Arbeit nach. Das sind derzeit 190 000 Menschen, so die Bundesagentur für Arbeit. Rund 25 000 junge Flüchtlinge machen eine Lehre. Monatlich finden im Moment bis zu 10 000 Geflüchtete eine Stelle. Das ist auch der grösste Wunsch der Flüchtlinge: Sie wollen arbeiten, um finanziell unabhängig zu werden, soziale Kontakte aufzubauen und die deutsche Sprache zu lernen.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
Aufwachsen bei den Grosseltern
Rumänien gehört mit Bulgarien zu den ärmsten Ländern Europas. Im letzten Jahrzehnt sind deshalb drei bis vier Millionen Rumäninnen und Rumänen ausgewandert, um im Ausland zu arbeiten. Viele Eltern lassen ihre Kinder in der Heimat zurück, wo sich Grosseltern oder andere Verwandte um sie kümmern. Wie viele Kinder genau betroffen sind, ist nicht bekannt. Die Schätzungen gehen von mehreren Hunderttausend bis über eine Million Kinder aus.
AUGUSTIN, WIEN
Gerhard Richters Geschenk
Das Düsseldorfer Strassenmagazin fiftyfifty hat bis heute 48 Wohnungen für Obdachlose erworben. Das Geld dazu nimmt sie über den Verkauf gespendeter Kunst ein. Ein Geschenk des Künstlers Gerhard Richter macht nun weitere Käufe von Wohnungen möglich: 18 seiner Werke werden versteigert, und 20 Prozent des Verkaufserlöses fliessen an den «Housing-FirstFonds» von fiftyfifty. 1,2 Millionen Euro sollen so zusammenkommen.
FIFTYFIFTY, DÜSSELDORF
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Vor Gericht
Lost in Translation Auch zum zweiten Termin erscheint der Beschuldigte nicht. Der 29-jährige Algerier ist wieder in Deutschland, dort hatte er seinen Asylantrag ursprünglich gestellt. Eine legale Einreise in die Schweiz wäre nur unter Einbezug diverser Behörden bei Kantonen und Bund möglich, sagt sein Anwalt. Also aufwendig und teuer. Ausser Spesen nichts gewesen, sagt der Arabisch-Dolmetscher, als er sich freundlich lächelnd verabschiedet. Die Staatsanwaltschaft fordert wegen mehrfacher Drohung eine bedingte Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 30 und eine Busse von 800 Franken. Der Beschuldige habe eine Sicherheitsangestellte des Bundesasylzentrums Embrach in Todesangst versetzt. Anlass war eine Personenkontrolle. Eine Dreiergruppe Araber war ihr verdächtig vorgekommen. Eine Schikane, fand der Beschuldigte. Er schimpfte auf Arabisch und fuhr dabei mit der Hand dem Hals entlang. Ein Pfleger des Zentrums, gebürtiger Saudi, beobachtete die Szene aus der Distanz. Ihn fragte die Geschädigte, was der Algerier gesagt hatte. Der Pfleger hatte «köpfen» verstanden. Der Strafverteidiger räumt ein: Der Beschuldigte ist ein Hitzkopf. Aber der Umgangston in Asylzentren sei allgemein grob, Drohungen üblich. So zitiert der Anwalt einen Zeugen, auch er ein Sicherheitsangestellter der Institution. Viele Menschen in Notlagen lebten dort zusammen, gestresst von Enge und Unsicherheit. Aufgabe des Sicherheitspersonals sei deshalb, zu beruhigen, Ordnung durchzusetzen.
Vielleicht war das auch der Gedanke der Geschädigten, als sie eine Stunde später beim Beschuldigten eine Zimmerdurchsuchung machte. Wieder kam es zum Disput. In einem wilden Gemisch aus Englisch und Französisch, mit Händen und Füssen. Auf einer imaginären Computertastatur habe er die Worte «Internet» getippt und «Barbar». Oder «Berber». Dann wieder eine Geste: Der Algerier winkte mit der Hand und sagte: «Barcelona». Sofort dachte die Geschädigte an die Terroranschläge von Barcelona und Paris. Für sie war klar: Das ist ein Gefährder. Der Beschuldigte sei kein Terrorist, sagt der Verteidiger. Genau das habe er der Frau auch sagen wollen: Er sei Berber, nicht Araber. Berber verübten eben keine Terroranschläge. Googeln Sie’s im Internet! Bei der ersten Kontrolle habe er gesagt: In Algerien würde sie dafür geköpft. Zu seinen Kollegen, nicht zu ihr. Der Verteidiger ist nicht überzeugt, dass die Geschädigte, «eine taffe Helvetia», wirklich Angst hatte. Hier werde ein Exempel statuiert. Für mehr Ruhe im Asylzentrum. Er fordert Freispruch und Entschädigung für die drei Monate U-Haft. Die Terrordrohung, sagt dann der Richter, sei aus der Luft gegriffen, und spricht den Beschuldigten in diesem Punkt frei. Doch mit der Kopfabschneidegeste habe der Beschuldigte eine Grenze überschritten – gereiztes Umfeld hin oder her. Er reduziert die Geldstrafe auf 100 Tagessätze à 10 Franken, für die zu Unrecht erstandene Haft wird der Beschuldigte entschädigt. Insgesamt summieren sich damit Kosten von weit über 20 000 Franken. Und es werden noch mehr, der Anwalt meldet Berufung an. Vielleicht sollte man den netten Übersetzer trotz der Spesen schon im Bundesasylzentrum aufbieten, nicht erst vor dem Strafrichter. Es wäre billiger. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich
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FOTO: ZVG
Challenge League
Sozialismus heisst Zusammenleben Ende Juni war ich in Genf, um an einem Treffen der Sozialistischen Internationale teilzunehmen. Alle zwei Jahre versammeln sich dort Parteien aus der ganzen Welt, von Mitte bis Links, in den Räumen der Vereinten Nationen. Viele Parteien sind Mitglieder der Sozialistischen Internationale, manche nur Zuschauer oder Gäste. Ich war für die Demokratische Partei Kurdistan-Iran dort, eine Partei mit sozialdemokratischer Ausrichtung und ein Mitglied des Zusammenschlusses. Am Anfang sprach Giorgos Papandreou, der ehemalige griechische Staatschef und aktuelle Präsident der Sozialistischen Internationale. Er redete nicht nur über Migration, sondern auch über die Gefahr eines neuen Faschismus in Europa und in den USA. Auch Generalsekretär Luis Ayala sprach über Faschismus, und nach ihm viele andere Parteien aus Europa. Die Vertreter der Länder, aus denen die meisten Migranten stammen, sprachen nicht darüber. Es waren Vertreter ärmerer Länder – viele von ihnen Zuschauer, die Mitglieder werden wollten, statt über diese Art von Veränderungen zu sprechen. Vor sechs Jahren gab es eine Spaltung unter den Sozialisten. Damals waren viele europäische sozialistische Parteien in ihren jeweiligen Ländern an der Macht und traten aus der Sozialistischen Internationale aus. Nun gibt es die Tendenz zu einer weiteren Spaltung. Und zwar zwischen Radikalsozialisten und Sozialdemokraten. Sie verstehen einander nicht und wollen sich auch nicht verstehen, sondern sich einfach durchsetzen. Sie wollen nicht, dass der heutige Sozialismus Leerstellen hat. Diese finden sich bei den Themen Migration und Asyl, die eng verbunden sind mit dem Wiedererstarken von Faschismus und Rassismus. So ziehen sich die Probleme wie eine Kette von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent. Viele Migranten sind als Asylsuchende in die Schweiz und nach Europa gekommen. Der Öffentlichkeit wird manchmal das Bild vermittelt, es seien mehr radikale Muslime aufgenommen worden als verfolgte Asylsuchende. Man sieht täglich Nachrichten über Islamisten in Europa statt über die Asylsuchenden, die vor ebenjenen Islamisten geflüchtet sind. Ich bin selber vor dem islamischen Regime im Iran geflüchtet. Manchmal traue ich mich nicht, in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen aus Angst vor Islamisten. Dabei wäre es ja lächerlich, wenn vor den Islamisten Geflüchtete aus Afghanistan, Irak und Syrien weniger Chancen auf Asyl hätten als die Islamisten selbst. Weil dies aber das Bild ist, das verbreitet wird, ist die Gesellschaft einen Schritt nach rechts gerutscht. Sozialismus heisst Zusammenleben, das war ein Motto der Sozialistischen Internationale. Das kam mir in den Sinn, als am Ende des Kongresses angekündigt wurde, dass am nächsten Tag die Versammlung der «SI Frauen» stattfände. Mein erster 6
Es droht eine weitere Spaltung: Teilnehmende der Sozialistischen Internationale in Genf, in der Mitte unser Kolumnist.
Gedanke war: Deswegen waren nur so wenige Frauen unter den Teilnehmenden. Danach dachte ich weiter darüber nach und fragte mich, ob nun die Frauen die Gesellschaft spalten wollten. Schliesslich fragte ich einen Verantwortlichen: «Warum halten die Frauen eine eigene Versammlung ab, wenn Sozialismus doch Zusammenleben heisst?» Nach einer Weile antwortete er: «Ehrlich gesagt, du hast recht, aber sie wollen unter sich sein.» Ich finde das falsch. Gruppierungen sind ein grosses Problem im Sozialismus und im Zusammenleben. Menschen sollten in der Politik wie Menschen behandelt werden, und eine Trennung in Sozialistische Internationale auf der einen Seite und Sozialistische Frauen auf der anderen Seite widerspricht dem. Denn wenn Sozialismus Zusammenleben heisst, muss das, was das Zusammenleben bedroht, reformiert werden.
Der kurdische Journalist KHUSRAW MOSTAFANEJAD floh aus seiner Heimat Iran und lebt seit 2014 in der Schweiz. Sein Besuch der Sozialistischen Internationale liess ihn mit Fragen zurück.
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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
Sozialhilfe erbrachten Leistungen sowie der davon begünstigten Personen. Heisst: Die Namen der Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, sollen veröffentlich werden. Wie Bahar in der Türkei hatte auch die jüdische Philosophin Hannah Arendt bereits vor 60 Jahren aus ihren Untersuchungen – und ihrer persönlichen Erfahrung – des Totalitarismus den Schluss gezogen, dass die Missachtung der Grundrechte in einer ersten Phase an schutzlosen Minderheiten «ausprobiert» wird, bevor in einer zweiten Phase dann die gesamte Bevölkerung miteinbezogen wird. Dass die SVP mit ihrer «Selbstbestimmungsinitiative» auch die Kündigung der Menschenrechtskonvention (EMRK) anstrebt, verheisst nichts Gutes.
All Inclusive
Seismografen 2014 erschien in dieser Zeitschrift eine Langzeit-Reportage von Christof Moser über die Widerstandsbewegung in der Türkei. Bahar, eine junge Prostituierte aus Istanbul, sagte damals: «Wir Randständigen, wir Huren und Transvestiten, aber auch andere Minderheiten wie Schwule, Ausländer, Künstler, überhaupt die Freaks in einer Gesellschaft, sind wie Seismografen, die als Erste spüren, wenn der Staat die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger angreift. Erst wenn auch der Mainstream betroffen ist von staatlichen Repressalien, entsteht eine Bewegung. Manchmal ist es dann für Gegenwehr schon zu spät. Ich glaube, für die Türkei ist es noch nicht zu spät. Wir werden für unsere Freiheit kämpfen und wir werden gewinnen.»
dustrie stoppen» mehrere Male das Wort «arbeitsscheu». Die Wortwahl ist bei der SVP stets genau kalkuliert. Ein bisschen Provokation, ein bisschen Grenzüberschreitung – und Stück für Stück verschiebt sich nicht nur die Grenze des Sag-, sondern auch die des Machbaren.
Vier Jahre später hat sich nicht nur die politische Situation in der Türkei drastisch zugespitzt. In vielen Ländern Europas wie auch in den USA sind nationalistische und totalitäre Kräfte im Aufwind – oder bereits an der Macht.
So weit geht die SVP nicht. Sie zielt erst einmal darauf ab, dass Leistungen eingestellt werden können, wenn eine «zumutbare» Arbeit verweigert wird. Im gleichen Positionspapier schreibt sie aber auch: «Unzumutbare Arbeit» gebe es in diesem Zusammenhang nicht. Ausserdem sei den Steuerzahlern gegenüber volle Transparenz zu gewährleisten bezüglich der im Rahmen der
Und in der Schweiz? Die SVP verwendete schon 2015 in ihrem Positionspapier «Missbrauch und ausufernde SozialinSurprise 431/18
Im Rahmen der Aktion «Arbeitsscheu Reich» wurden 1938 in Deutschland mehr als 10 000 Menschen als «Asoziale» in Konzentrationslager verschleppt. Betroffen waren Männer im arbeitsfähigen Alter, die zweimal einen angebotenen Arbeitsplatz abgelehnt oder nach kurzer Zeit aufgegeben hatten. Die Gestapo besorgte sich die benötigten Informationen über die Arbeitsämter.
Solche gefährlichen Entwicklungen können nur aufgehalten werden, wenn sich viele Menschen engagieren, bevor es sie selbst betrifft: gegen die willkürliche Überwachung von Versicherten, gegen drastische Verschärfungen bei der Sozialhilfe. Und gegen Medien, die regelmässig Hetzern eine Plattform bieten, aber nicht denen, die verunglimpft werden. Minderheiten müssen für sich selbst sprechen können. Ihr Bild darf nicht von Hetzern gezeichnet werden, die sie als andersartig oder minderwertig darstellen. Die diesjährige Kampagne von Pro Infirmis zeigt Menschen mit Behinderungen humorvoll in unterschiedlichen Situationen, die jeder kennt: Zwei Frauen tragen auf einer Party das gleiche Kleid, das Handy klingelt im unpassenden Moment – ein bisschen peinlich, aber auch sehr menschlich. Das Gegenüber nicht als fremd wahrnehmen, sondern sich selbst darin wiedererkennen – das verbindet. Das Gemeinsame ist die grösste Stärke gegen Kräfte, die eine Gesellschaft in «die» und «wir» spalten wollen.
MARIE BAUMANN schreibt unter ivinfo.wordpress.com über Behinderung und die Invalidenversicherung. Sie hofft, dass es für die Schweiz noch nicht zu spät ist.
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Teil I
Von einem, der auswandern will Aufbruch Urs Saurer ist dienstältester Surprise-Verkäufer in Basel. Weil er sich das Altwerden in der
Schweiz nicht vorstellen kann, plant er, nach Kamerun auszuwandern. Ein gewagtes Vorhaben. TEXT SARA WINTER SAYILIR
ILLLUSTRATIONEN BIRGIT LANG
Vollbart, Arbeitskleidung, grauer Tirolerhut, in dessen Band ein kleiner Gamsbart und ein Fisch stecken. So kennt ganz Basel Urs Saurer. Am Bahnhof verkauft der Mann mit dem verschmitztem Lächeln Surprise, daneben verdient er etwas Geld als Taglöhner, hilft jemandem beim Zügeln, begrünt einen Vorgarten. Urs ist ein Stadtoriginal. Seit 20 Jahren lebt er in Basel, und doch ist er in der Stadt eher hängengeblieben als angekommen. Eigentlich ist er ein Landkind. Seine Kindheit verbrachte Urs als eines von fünf Geschwistern auf einem Bauernhof in Ringoldswil, einem 125-Personen-Dorf der Gemeinde Sigriswil im Berner Oberland. Die Familie Saurer besass ein paar Kühe und Ziegen, mit Viehwirtschaft kennt Urs sich deshalb aus. In seinem Lehrberuf als Autolackierer hielt er es nicht lange aus. Lieber fing er auf dem Bau an, kam in der ganzen Schweiz herum. Urs arbeitet gern draussen, er mag das Ungebundene. Am liebsten als Gärtner. Er arbeitet 8
FOTOS ROLAND SCHMID
viel, nur selten ist er auf Sozialhilfe angewiesen. Und in der Weihnachtszeit sieht man Urs als Santiklaus mit Blinkemütze durch die Strassen spazieren. Oft trinkt Urs ein paar Bier zu viel, dann führt er laute Streitgespräche auf der Strasse, schreit herum oder schläft. Als Alkoholiker sieht er sich nicht. Er kann jederzeit aufhören, davon ist er überzeugt. Abhängig ist er nur von Zigaretten, zwei Päckchen am Tag. Langsam spürt er auch das Alter. 60 Jahre ist er jetzt. Und befürchtet, dass er zu wenig Geld haben wird, wenn er pensioniert wird. Eine folgenreiche Idee Im Spätherbst 2017 bringen ihn zwei Kolleginnen auf eine Idee. Er trifft sie im Schwarzen Peter, dem Verein für Gassenarbeit an der Elsässerstrasse. Carole Erlemann Mengue und Kathrin Witschi leben in Kamerun, wo sie unter anderem ein Strassenfussball-Projekt betreiben. Surprise 431/18
Carole war einmal Goalie beim Team Multicolor Basel. Die eine ist eine grosse, scheinbar alterslose Kamerunerin mit einem einnehmenden Lächeln, die andere ist kleiner und zarter, eine gebürtige Baslerin mit kritischem Blick und braunen Locken. Gerade sind sie zu Besuch in Basel. In Kamerun sind sie in einem Verein engagiert, dem Conseil de la diaspora africaine de Suisse – Branche Cameroun, kurz CDAS-BC. Gemeinsam trinken die drei Kaffee und überlegen, ob ihr Vereinsdomizil auf dem Land bei Yaoundé nicht was wäre für Urs. Seine magere AHV könnte er sich doch gut ins Ausland auszahlen lassen, wo er deutlich besser davon leben könnte als in der Schweiz. Das interessiert den Bergler sehr. Seit seine Eltern, die er immer regelmässig besucht hat, und seine Freundin verstorben sind, hält ihn nichts mehr in der Schweiz. Ihn lockt die Aussicht auf mehr Ruhe und Arbeit im Grünen, die Rückkehr in die Landwirtschaft, vielleicht eine Ziegenherde. Und er macht sogleich Pläne: Einfache landwirtschaftliche Maschinen will er mitnehmen und den Leuten in Kamerun den Umgang damit zeigen. Vielleicht könnte man sogar einen kleinen Landwirtschaftsmaschinen-Import-Export aufziehen, stellt er sich vor. Sparen auf den Flug Wo genau Kamerun liegt und was es alles braucht, um dorthin auszuwandern, hat sich Urs bereits von Kathrin und Carole im Detail erklären lassen. Er spricht keine andere Sprache als Deutsch, in Kamerun müsste er sich auf die beiden als Übersetzerinnen verlassen. Aber das schreckt ihn nicht. Er kommt schon zurecht. Urs hat einen starken Willen. In jungen Jahren war er Waffenläufer, und zwanzig Mal ist er den Swissalpine in Davos gelaufen, seinerzeit 78 Kilometer bis auf 3000 Meter Höhe. Er ist ein zäher Kerl. Bei Surprise, wo Urs wöchentlich seine Hefte bezieht, sind wir überrascht und erstaunt. In erster Linie aber freuen sich alle. Kamerun: Was für ein kühner Plan! Und was für eine Energie Urs plötzlich ausstrahlt, jetzt, wo er einen Plan für die Zukunft hat. Aber kennt er sich denn aus, weiss er, was ihn erwartet? «In Kamerun kosten Zigaretten nur einen Franken, im Gegensatz zu mehr als acht Stutz hier», rechnet Urs vor. Kaum jemand glaubt, dass er es wirklich bis nach Kamerun schafft. Unterschätzen wir ihn? Er geht es bedächtig an: Zunächst will er für drei Wochen nach Yaoundé reisen, um sich vor Ort ein Bild zu machen, ob das Auswandern in die zentralafrikanischen Tropen wirklich eine Perspektive für ihn wäre. Drei Wochen verreisen: Schon das ist ein Abenteuer für jemanden, der das letzte Mal in den Achtzigerjahren geflogen ist. Schein für Schein spart Urs sich das Geld für den Flug zusammen. Ursprünglich hatten sie geplant, dass alle drei gemeinsam fliegen: Carole, Kathrin und Urs. Doch weil Surprise 431/18
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Urs am Bahnhof gerade seine Tasche geklaut worden ist und er deshalb erst einen neuen Pass beantragen muss, fliegen Carole und Kathrin schon mal voraus. Als er seinen neuen Pass endlich bekommt, muss Urs für das Visum nach Bern zur Kameruner Botschaft. Am Berner Hauptbahnhof steht alles: Es ist Zibelemärit, ein Berner Feiertag. «So eine Scheisse», stellt er fest, lässt sich aber nicht aufhalten. Eine Dreiviertelstunde geht er zu Fuss bis zur Botschaft. Dort angekommen, setzt Urs Saurer sich ins Wartezimmer und wartet. Stundenlang. Keiner nimmt Notiz von ihm, er versteht nicht, warum, «die reden ja Französisch in Afrika». Als andere, die lang nach ihm gekommen sind, ihre Anliegen innerhalb weniger Minuten erledigen, wird er stutzig. «Die legten 150 Franken auf den Tisch, bekamen ihre Stempel und gingen wieder.» Erst um Viertel vor eins, gerade noch kurz vor der Mittagspause, bekommt auch Urs endlich seine Papiere. Das Visum kostet 140 Franken. Mit offenem Reissverschluss In den folgenden Tagen frischt Urs im Tropeninstitut seine Impfungen auf und erhält Malaria-Prophylaxe-Tabletten. Kamerun ist Hochrisikogebiet. Der Tag der Abreise rückt näher. Nur wenn man online bucht, bekommt man bei Turkish Airlines den günstigsten Tarif. Kathrins Mutter Susanne leiht Urs netterweise ihre Kreditkarte. Wenn ihre Tochter und deren Freundin sagen, der Urs sei ein guter 12
Typ, glaubt sie ihnen. Tatsächlich drückt Urs Susanne das Geld sofort bar in die Hand, ihm ist wichtig, möglichst wenigen etwas schuldig zu sein. Sie verabreden ausserdem, dass die 64-Jährige den Kamerun-Reisenden am Donnerstag, dem Tag seiner Abreise, mit dem Auto zum Bahnhof fährt, damit er seine schweren Koffer nicht allein durch die Gegend schleppen muss. Urs verspricht ihr einen Kaffee als Dank. Anfang Dezember am Tag der Abreise, steht Susanne um halb sechs Uhr morgens vor der Haustür an der Vogesenstrasse, wo Urs bei der Tochter einer guten Bekannten wohnt. Doch dort ist niemand. Klingeln will Susanne auch nicht, ist ja noch so früh. Nach einer Weile ruft sie Urs auf dem Natel an. Eine verschlafene Stimme meldet sich. Urs hat am Abend zuvor mit viel Alkohol gefeiert, «wer weiss, wann es wieder was gibt», und ist weder zuhause noch parat. Susanne und er einigen sich auf einen Treffpunkt: die Margarethenbrücke. Sie fährt dorthin. Wieder kein Urs. Den direkten Zug zum Flughafen Kloten kann er bereits nicht mehr erreichen, mit dem nächsten muss er dann in Zürich umsteigen, allein mit den Koffern. Susanne hat einen Knoten im Magen. Als Urs endlich auftaucht, müssen sie mit dem Auto nochmal zurück in die Vogesenstrasse: Das Gepäck ist noch dort. Gemeinsames Packen im Eiltempo. Mit Mühe überzeugt Susanne Urs, eine offene Tragetasche mit 2,5 Kilo Vogelfutter doch lieber dazulassen. Dann bemerken sie, dass der ReissverSurprise 431/18
schluss von Urs’ Hose nicht schliesst, zum Umziehen bleibt jedoch keine Zeit mehr. Wenn er den nächsten Zug nicht nimmt, kann er seinen Flug vergessen. Er werde die Hose dann im Zug wechseln, sagt er. In einem dieser vollbesetzten Pendlerzüge. Susanne ist froh, dass sie nicht dabei sein muss. Zehn Minuten vor Abfahrt des Zuges sind sie mit den zwei Koffern am Bahnhof. Für einen Kaffee bleiben weder Zeit noch Nerven. Anderthalb Stunden später bekommt Susanne eine SMS. Der Transfer hat geklappt, Urs ist am Flughafen. Aufatmen. Auch Urs in Kloten denkt zunächst, alles sei nun «piccobello». Dann bemerkt er, dass der Stress am Morgen doch seinen Tribut gezollt hat: Er hat die Malariatabletten zuhause vergessen. Ist schon nicht so schlimm, sagt er sich. Kathrin wird schon eine Lösung wissen, sie hat sicher auch noch Tabletten. Die verbleibende Zeit am Flughafen verbringt Urs bei Kaffee und Bier. Dann fliegt er los in Richtung Istanbul. Zwischenlandung auf dem Atatürk-Airport. Es ist Donnerstagnachmittag. Der Mega-Flughafen macht Urs schon nach den ersten Minuten Kopfschmerzen: «Überall Leute mit Waffen im Anschlag, im ganzen Flughafen nur Polizei». Mit einem Blick auf seine Armbanduhr stellt er fest, dass er bis zum nächsten Abflug noch fast drei Stunden hat: genug Zeit für ein weiteres Bier und einen Kaffee. Als er schliesslich eine halbe Stunde vor Abflug ans Gate kommt, warten dort nur ein paar vereinzelte Personen. Urs wundert sich, «da stimmt doch etwas nicht, wir waren doch vorher etwa 100 Personen im Flugzeug», da kann der nächste Flieger nicht ganz allein für ihn fliegen? «Da bin ich retour gelaufen und sehe, dass eine Uhr zwei Stunden mehr als meine hat. Ich habe immer nur stur auf meine geschaut.» Zwei Stunden Zeitverschiebung, von der Urs nichts wusste. Das Flugzeug ist weg.
vor. Ihren Laptop hat sie nicht dabei. Helfen will sie trotzdem: Am nächsten Morgen, Samstag, klemmt sie sich in ihrem Hotel ans Telefon und erfährt über die Wochenend-Hotline der Fluggesellschaft, dass Urs das Ticket entweder bar bezahlen oder erneut per Kreditkarte buchen müsse. Susanne probiert mit ihrer Kreditkarte im Hotel, das neue Ticket zu buchen. Es klappt nicht. Die Rezeptionistin ist hilfsbereit und geduldig. Als es nach mehreren Versuchen immer noch nicht funktioniert, holt die Rezeptionistin den Hoteldirektor. Der lässt Susanne seine private Kreditkarte ausprobieren. Offenbar spürt er die Dringlichkeit. Doch auch seine Karte wird nicht akzeptiert. Kreditkartenbuchungen für Flugtickets brauchen eine gewisse Vorlaufzeit, die Zeitspanne bis zum Abflug am Sonntag ist wohl zu kurz. Der Hoteldirektor schlägt vor,
Urs sieht, dass die Uhr am Flughafen in Istanbul zwei Stunden mehr anzeigt als seine. Das Flugzeug ist weg.
Gestrandet in Istanbul Wie kommt er jetzt nach Kamerun? Urs ist ratlos, findet nur mit Mühe jemanden, der deutsch spricht und den schweren Berner Dialekt des Gestrandeten auch versteht. Ein Angestellter der Fluggesellschaft erklärt ihm schliesslich, dass der nächste Flug nach Yaoundé erst in drei Tagen gehe und er zudem ein neues Ticket brauche. Das soll 970 Franken kosten. Urs kann es kaum glauben. Das Hinund Rückreiseticket Zürich–Yaoundé hatte ihn 1170 Franken gekostet, wie kann dieser einzelne Flug nun fast noch einmal so teuer sein? Zudem besitzt er weder eine Kreditkarte noch hat er Bargeld in dieser Menge dabei. Urs, der wenig Erfahrungen mit Reisen hat, geschweige denn mit dem Ausland, weiss erst einmal nicht weiter. Freitagnacht, anderthalb Tage später, bekommt Susanne eine Nachricht: «Bin in Istanbul gestrandet. Brauche ein neues Ticket.» Susanne ist zu dem Zeitpunkt in Chur, sie bereitet dort eine Ausstellung mit Bildern ihres Vaters Surprise 431/18
einen befreundeten Reisebüroinhaber zu Hilfe zu ziehen. Der könne sicher helfen. Eine halbe Stunde vor Ladenschluss rennt Susanne am Samstagmittag durch Chur zum Reisebüro. Es lohnt sich: Sie bekommt das Ticket. Aus Rücksicht auf die Roaminggebühren und Urs’ angeschlagenen Akku kann sie ihm aber nur noch eine SMS schicken. Eine Bestätigung bleibt aus. Urs verbringt derweil seine Zeit am Flughafen. Man lässt ihn auf den Bänken schlafen. Aber die Riesenstadt lässt seinen Kopf platzen, jeder zupft ihn am Ärmel, «Taxi, Taxi»-Rufe zerren an seinen Nerven, und überall sieht er Polizei. Zwei Tage und Nächte Ungewissheit. Nun ist es Sonntagmorgen. Mittlerweile ist sein Guthaben auf dem Natel aufgebraucht, eine Status-Nachricht nach der anderen hat ihm das Schmelzen seines Guthabens dokumentiert. Da erreicht ihn eine letzte SMS: eine Ticketnummer, Abflug in vier Stunden. «Wenn du diesen Flug verpasst, wünsche ich dir einen guten Winterschlaf in Istanbul», schreibt Susanne. Sonntagnacht um 23:55 Uhr landet Urs auf dem Flughafen von Yaoundé. Er lacht: Nun stimmt die Zeit wieder. Auch auf seiner Armbanduhr ist es fünf vor zwölf. Mit einer losen Abfolge besonderer Geschichten feiert das Strassenmagazin das 20-jährige Bestehen von Surprise. Was Urs Saurer in Kamerun erlebte, erfahren Sie in der nächsten Ausgabe.
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Endstation: Im Basler Ausschaffungsgefängnis Bässlergut landen jene Menschen, die in der Schweiz unerwünscht sind.
Bund verdoppelt Haftplätze für abgewiesene Asylsuchende Asylverfahren Von der Öffentlichkeit unbeachtet, planen Bund und Kantone
einen massiven Ausbau der Ausschaffungsgefängnisse. In Zukunft könnten mehr Asylsuchende inhaftiert und ausgeschafft werden als je zuvor. TEXT SIMON JÄGGI
Das Ausschaffungsgefängnis Bässlergut liegt dort, wo die Schweiz endet. Am äussersten Stadtrand von Basel, 100 Meter von der Landesgrenze entfernt. Wenn die Insassen aus den Fenstern blicken, sehen sie die Schnellstrasse und die dahinterliegenden Geleise, wo der Fernverkehr in Richtung Deutschland rollt. Für die Menschen im Bässlergut hat der freie Personenverkehr keine Gültigkeit. In den Zellen sitzen jene, die in der Schweiz unerwünscht sind: Personen mit Landesverweis oder ohne gültige Aufenthaltsbewilligung, zum allergrössten Teil abgewiesene Asylsuchende. Manche von ihnen bleiben nur für wenige Wochen in Haft, andere warten hier länger als ein Jahr auf ihre Ausschaffung. Die Ausschaffungshaft, auf Amtsdeutsch auch Administrativhaft genannt, dient der Wegweisung einer Person aus der Schweiz und soll deren Untertauchen verhindern. Die Kantone können damit Menschen bis zu 18 Monate in Haft nehmen, ohne dass diese eine Straftat begangen haben. Das ist in den Bestimmungen über Zwangsmassnahmen im Ausländergesetz festgehalten. Statistisch wird schweizweit jede fünfte Person mit einem negativen Asylentscheid zu einem gewissen Zeitpunkt inhaftiert. Im Schnitt wurden in den letzten sieben Jahren jährlich 5700 Personen in Administrativhaft genommen. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, planen Bund und Kantone nun eine massive Aufstockung und Surprise 431/18
FOTOS ROLAND SCHMID
wollen die bestehenden rund 400 Haftplätze in den nächsten Jahren knapp verdoppeln. Über die Hintergründe und die Folgen des Ausbaus informieren Bund und Kantone äusserst zurückhaltend. Klar ist: Geplant sind 320 zusätzliche Plätze für Ausschaffungshaft. Bestehende Haftanstalten sollen umgenutzt, neue gebaut werden. Voraussichtliche Kosten: Mehr als 120 Millionen Franken. Teilweise laufen die Bauarbeiten bereits. Die Aufstockung ist eine direkte Folge der Asylreform, die das Stimmvolk im Sommer 2016 deutlich angenommen hat. Ab Frühjahr 2019 tritt das reformierte Asylverfahren in Kraft. Mehr inhaftieren, mehr ausschaffen Dazu gehört, dass Asylsuchende neu in sogenannten Bundeszentren untergebracht werden. Etwa 60 Prozent aller Gesuche sollen dort innerhalb von 140 Tagen rechtskräftig entschieden und abgewiesene Asylsuchende direkt zurückgeführt werden. Deshalb entstehen die neuen Haftplätze alle in unmittelbarer Nähe der Bundeszentren. SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, auf deren Initiative hin das neue Asylverfahren ausgearbeitet wurde, bezeichnete dieses als «schneller, fairer und günstiger». Wem Asyl gewährt wird, der soll mit dem neuen Verfahren rascher eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung erhalten als heute, wem das Asyl verweigert wird, der soll die Schweiz so rasch wie möglich wieder verlassen.
Auf Nachfragen zum geplanten Ausbau reagieren die Behörden ausweichend. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) teilt mit, der Ausbau sei notwendig, um «eine gewisse Schwankungstauglichkeit» zu gewährleisten für den Fall, dass die Zahl der Asylgesuche steige. In den vergangenen Jahren klagten einzelne Kantone immer wieder über fehlende Administrativhaftplätze und forderten eine Erhöhung der Kapazitäten. Zudem seien insgesamt mehr Plätze notwendig, um «die angeordneten Wegweisungen» zu vollziehen, schreibt das SEM. Welche Strategie tatsächlich hinter dem Ausbau steckt, zeigt ein Bericht aus dem Jahr 2014, verfasst vom Bundesamt für Migration, der Vorgängerbehörde des Staatssekretariats für Migration. Titel: «Erläuternder Bericht. Verordnungsanpassungen zur Haftplatzfinanzierung auf der Grundlage von Artikel 82 des Ausländergesetzes». Das Bundesamt erklärt darin unmissverständlich die Absichten hinter dem Ausbau: Die Behörde rechnet damit, dass die Kantone durch die zusätzlichen Haftplätze «vermehrt und zu einem früheren Zeitpunkt» Ausschaffungshaft gegen Personen anordnen können als heute. Davon verspricht sich der Bund eine «Erhöhung der zwangsweisen Ausreisen» – sprich Ausschaffungen – und eine Zunahme von freiwilligen Ausreisen. Die Motivation dahinter ist eine finanzielle. Die Schweiz unterstützt abgewiesene Asylsuchende über die Nothilfe mit bis 15
zu 70 Millionen Franken im Jahr. Wie aus dem Bericht hervorgeht, erhoffen sich Bund und Kantone eine Senkung dieser Kosten, wenn mehr Menschen ausgeschafft werden oder die Schweiz freiwillig verlassen. Zudem soll die Verschärfung der Praxis weitere Asylsuchende abschrecken. Es sei davon auszugehen, schreibt das Bundesamt, «dass sich durch einen konsequenten Wegweisungsvollzug die Attraktivität der Schweiz für Personen mindern lässt, deren Asylgesuch von vornherein aussichtslos ist» und die «lediglich auf eine lange Aufenthaltsdauer bzw. die Inanspruchnahme der damit verbundenen Leistungen zielen». An der Grenze zur Legalität Mehr Inhaftierungen, mehr Ausschaffungen, Abschreckung. Damit folgt die Schweiz einer Lesart von Migration, die – befeuert von Rechtspopulisten – seit einiger Zeit die europäische Politik prägt: Geflüchtete werden als sogenannte «Sozialschmarotzer» dargestellt, die von weither den Einfall in unsere Sozialsysteme planen. Die wahren Ursachen von Flucht sowie ihre immensen Risiken werden dabei ausgeblendet. Die Pläne der Behörden drängen weitere Fragen auf: Mit welcher Zunahme bei den Inhaftierungen muss in Zukunft gerechnet werden? In welchen Fällen soll vermehrt Haft angeordnet werden? Werden in Zukunft abgewiesene Asylsuchende direkt ab den Bundeszentren in
Der Bundesrat will strengere Kantone belohnen: Wer viele Flüchtlinge ausschafft, soll weniger aufnehmen müssen. Haft genommen? Und wie stark soll die Zahl der Ausschaffungen steigen? Konzise Antworten auf diese Fragen liefern die Behörden keine. Obwohl der Bericht von 2014 die geplante Strategieänderung klar belegt, sagt das SEM auf Anfrage: «An der Praxis ändert sich nichts. Die Anordnung von Administrativhaft erfolgt dort, wo dies das Gesetz vorsieht.» Ähnlich formuliert es auch die Kantonale Justizdirektorenkonferenz, welche den Ausbau der Haftplätze aufseiten der Kantone koordiniert. «Es gibt 16
eine gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichts für Administrativhaft. An dieser wird sich in Zukunft nichts ändern», sagr Generalsekretär Roland Schneeberger. Was die Behörden unerwähnt lassen: Die Kantone haben einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Anordnung von Ausschaffungshaft und nutzen diesen äusserst unterschiedlich. Das zeigt ein Bericht zur Administrativhaft im Asylbereich, den die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats (GPK) im Juni veröffentlicht hat. Wie daraus hervorgeht, ordnet ein Kanton wie Genf beispielsweise nur zurückhaltend Administrativhaft an, während ein Kanton wie Obwalden den gesetzlichen Spielraum konsequent ausschöpft und überdurchschnittlich oft abgewiesene Asylsuchende inhaftiert. Grosse Unterschiede bestehen auch im Umgang mit Minderjährigen. Während manche Kantone grundsätzlich keine minderjährigen Asylsuchenden inhaftieren, geschieht das unter anderem im Kanton Bern häufig. Der Bericht der GPK kommt zum Schluss, dass manche Kantone öfter Haft anordnen, als erforderlich wäre. Etwa dann, wenn eine Ausschaffung nicht umsetzbar ist oder eine Person auch freiwillig ausgereist wäre. «Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob diese kantonalen Unterschiede rechtmässig sind», sagt SVP-Nationalrat Alfred Heer, der die zuständige Subkommission geleitet hat. Die Kommission vermutet, dass gewisse Kantone mit der unverhältnismässigen Anordnung von Haft gegen geltendes Recht verstossen. Die GPK fordert den Bundesrat deshalb auf, eine Vereinheitlichung der Praxis zu prüfen. Damit die Administrativhaft überall «zweckmässig» und «unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben» eingesetzt wird. Dass also Ausschaffungshaft nur dann angeordnet wird, wenn diese aus rechtlicher Sicht tatsächlich erforderlich und legitim ist. Während einerseits die GPK eine weniger restriktive Anordnung von Administrativhaft fordert, will der Bundesrat andererseits strengere Kantone in Zukunft belohnen. Der Bund will die Kantone dazu animieren, mehr kontrollierte Wegweisungen zu vollziehen als bisher, auch das ist Teil der Asylreform. Als kontrollierte Wegweisungen gelten sowohl Ausreisen, bei denen Personen von der Polizei bis zum Flughafen begleitet werden und selbständig zurückfliegen, wie auch Ausschaffungen unter Zwang und im Sonderflug. Solche kontrollierten Ausreisen erfolgen in
Kritik an Haftbedingungen Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter äussert seit Jahren Kritik an den Haftbedingungen in Schweizer Ausschaffungsgefängnissen. Die unabhängige Kommission besucht im Auftrag des Bundes regelmässig Haftanstalten in der Schweiz. In ihrem jüngsten Bericht beschreibt die Kommission die Bedingungen in den Schweizer Ausschaffungsgefängnissen insgesamt als «grundrechtlich unhaltbar». Die Kritik betrifft insbesondere die fehlende Trennung zwischen Administrativhaft und Strafvollzug, wie sie die Rückführungsrichtlinie der EU vorschreibt. Diese ist als Teil des Schengen-Rechts für die Schweiz verbindlich. Gemäss dieser Vorgabe muss das Regime in Administrativhaftanstalten liberal gestaltet sein und sich deutlich von jenem in Strafanstalten unterscheiden. In den allermeisten Fällen würden diese Vorgaben jedoch nicht eingehalten. Weiter bemängelt die Kommission die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, in einem Fall betrugen die Einschlusszeiten bis zu 23 Stunden. Alberto Achermann ist Präsident der Kommission und Professor für Migrationsrecht an der Universität Bern. Er sagt: «Die Schweiz hat in Westeuropa die restriktivsten Haftbedingungen für Migranten und ist weit von den europäischen Standards entfernt.»
Eine Mehrbett-Zelle im Ausschaffungsgefängnis Bässlergut.
Bis zu 18 Monate können abgewiesene Asylsuchende inhaftiert werden.
Der Sportplatz im Bässlergut.
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Unübersichtlich Die Administrativhaftanstalten befinden sich über die gesamte Schweiz verteilt. Zur Frage, wie viele Haftanstalten aktuell in Betrieb sind, können die Behörden keine Angaben machen. «Viele Plätze befinden sich in regulären Strafanstalten und werden nur bei Bedarf für Administrativhaft genutzt», sagt Roger Schneeberger von der Kantonalen Justizdirektorenkonferenz KKJPD. Genaue Angaben zur Zahl der Anstalten mit Administrativhaftplätzen gäbe es keine. Insgesamt geht die KKJPD von mehreren Dutzend aus. Die meisten Plätze befinden sich aktuell im Flughafengefängnis Zürich, im Basler Bässlergut sowie im Gefängnis La Brenaz im Kanton Genf.
Eine Partie Pingpong im vergitterten Innenhof.
Waschmaschine für Inhaftierte.
Einzelzelle im Gefängnis Bässlergut, das gerade ausgebaut wird.
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der Regel direkt ab einem Ausschaffungsgefängnis. Führt ein Kanton in Zukunft 100 kontrollierte Ausreisen durch, erhält er 15 Asylsuchende weniger aus dem sogenannt erweiterten Verfahren. Das sind Asylsuchende mit guten Aussichten auf eine langfristige Aufenthaltsbewilligung. So kann ein Kanton pro Person und Jahr mehrere zehntausend Franken sparen. Damit die Kantone sich nicht von den hohen Haftkosten abschrecken lassen, hat der Bundesrat zudem bereits vor vier Jahren
«Anders als Asylsuchende haben Abgewiesene so gut wie keine Lobby.» ANNI L ANZ, MENSCHENRECHTS-AK TIVISTIN
eine deutliche Erhöhung der Haftkostenpauschale beschlossen. Ausschaffen statt integrieren – so lautet also das neue Anreizmodell des Bundes. In der Öffentlichkeit wie in der Politik sind Ausbau und Strategiewechsel kaum ein Thema. Juristen und Menschenrechtsorganisationen wissen nur vage über die Ausbaupläne Bescheid. «Wir haben keine genauere Kenntnis darüber, wie sich der Ausbau auf die Asylverfahren auswirken wird», sagt etwa Denise Graf, Asylrechtsexpertin bei Amnesty International. Angefragte Rechtsberater befürchten, die Kantone könnten in Zukunft vermehrt sogenannte Beugehaft anordnen oder verstärkt Asylsuchende inhaftieren, welche unter die Dublin-Verordnung fallen – Personen also, die bereits in einem anderen Dublin-Staat registriert wurden und folglich dort ihr Asylgesuch stellen müssten. Sämtliche angefragten Politikerinnen und Politiker waren über den Ausbau der Haftplätze nicht im Bild, darunter SP-Nationalrätin Mattea Meyer, ansonsten in Sachen Asylbereich gut informiert. «Dieses Projekt war in den letzten Jahren politisch kaum ein Thema», sagt sie. Brandanschläge gegen Baufirmen Diskutiert wurde der Ausbau der Haftplätze in der Debatte über das neue Asylgesetz nur kurz im Dezember 2012. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, in welchem Umfang sich der Bund an den BauSurprise 431/18
kosten beteiligen solle. «Wenn wir wollen, dass weniger Asylsuchende untertauchen, dann brauchen wir in den Kantonen mehr Haftplätze», sagte Bundesrätin Simonetta Sommaruga damals vor dem Parlament. Widerstand gegen die Pläne kommt in der Deutschschweiz nur aus linksautonomen Kreisen. Im Raum Basel haben Unbekannte vergangenes Jahr mehrere Fahrzeuge von Baufirmen angezündet, die den Ausbau durchführen, Ziel der Aktionen waren auch Wagen der Basler Polizei. Zu den Aktionen äussern will sich niemand. In den vergangenen Monaten fanden auch mehrere Kundgebungen gegen den Ausbau statt. Ein anonymes Kollektiv publiziert zudem ein Magazin mit dem Titel «Fiasko», das die Asylpolitik und den Ausbau angeprangert. Gesellschaftlich breiter abgestützt ist der Widerstand in der Westschweiz, wo sich das Bündnis «Stop Exclusion» gegen den Ausbau der Haftplätze wehrt und eine Petition mit 3000 Unterschriften eingereicht hat. Aussicht auf Erfolg hat sie keine. Was Ausschaffungshaft für die Betroffenen bedeutet, weiss Anni Lanz. Die 72-Jährige gilt als wichtige Fürsprecherin von abgewiesenen Asylsuchenden und besucht seit über zwölf Jahren schweizweit Menschen in Ausschaffungshaft. 2004 erhielt sie von der Universität Basel für ihr Engagement die Ehrendoktorwürde, sie präsidiert auch das Solidaritätsnetz der Region Basel. Lanz berichtet vom hohen Leidensdruck der Inhaftierten. Ein Mann, den sie regelmässig besucht, wird seit zwölf Monaten im Basler Bässlergut festgehalten. Er ist im Senegal geboren, besitzt aber gemäss seinen Anwälten die französische Staatsbürgerschaft. Weil Frankreich nicht zu einer Rückübernahme bereit ist, muss er weiter ausharren. Bis die Behörden ihn ausschaffen oder nach spätestens 18 Monaten wieder auf freien Fuss setzen. Zweimal am Tag darf er im engen Innenhof spazieren. Von 17 Uhr bis um 7 Uhr bleibt er in seiner kleinen Zelle eingeschlossen, die er mit drei weiteren Personen teilt. Die Insassen dürfen keinen Computer benützen, nicht muszieren und haben keinen Internetzugang. «Die Haftbedingungen sind zermürbend», sagt Lanz. Dass die Ausbaupläne des Bundes in der Öffentlichkeit kaum ein Thema sind, erstaunt sie nicht. «Anders als Asylsuchende haben Abgewiesene so gut wie keine Lobby.» Die Menschen in Administrativhaft, sagt sie, seien den Behörden ausgeliefert. 19
Die letzten Nonnen vom Val Müstair Glaube Im östlichsten Dorf der Schweiz leben seit Jahrhunderten Benediktinerinnen
des Klosters Sankt Johann. Doch der letzte Eintritt liegt bereits Jahre zurück. TEXT FLORIAN WÜSTHOLZ
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Kloster Sankt Johann
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Hinter dem Klosterfriedhof beginnen die Berge. Das Kloster liegt inmitten wilder Natur.
Morgen früh um halb sechs in der Klosterkappelle, kurz vor Beginn des ersten Gebets.
Es klopft zweimal wie aus dem Nichts, und die Nonnen des Val Müstair erheben sich. «Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde», beten die neun Schwestern, während sie mit ihrem Daumen ein Kreuz auf die Lippen zeichnen. Es sind die ersten Worte, die ersten Klänge des Tages. Es ist halb sechs Uhr morgens. Dunkelheit umhüllt das Val Müstair, ein abgelegenes Bündner Tal. Schweigend verbrachten die Benediktinerinnen des Klosters die vergangenen zehn Stunden in ihren Zimmern. So schreibt es die Regel des heiligen Benedikt vor – festgehalten in einem dünnen Buch mit 73 Kapiteln. Es ist eine 1500-jährige Betriebsanleitung für ein spirituelles, klösterliches Leben. Daran halten sich die Schwestern von Müstair strikt. «Ora et labora» – bete und arbeite. Das ist seit mehr als 1200 Jahren die Devise im Kloster Sankt Johann. Der Legende nach war Karl der Grosse für den Bau verantwortlich. Als er nach seiner Krönung aus der Lombardei nach Norden zog, geriet er auf dem nahe gelegenen Umbrailpass in ein Unwetter. Dass er unversehrt im Tal ankam, glaubte er der Hilfe Gottes schuldig zu sein und stiftete als Dank das Kloster. Anfangs lebten hier Mönche einen minutiös durchgeplanten Alltag mit fünf gemeinsamen Gebeten und der heiligen Messe. Dazwischen wurde geputzt, gekocht, gegärtnert, gestickt, gebacken, gesammelt, geturnt oder gelesen. Gäste wurden freundlich Surprise 431/18
bewirtet. Doch im 12. Jahrhundert zogen die wenigen verbliebenen Mönche aus und Benediktinerinnen übernahmen das Zepter. Bis heute. In der kleinen Eckkapelle rezitieren die Schwestern nun einen Psalm nach dem anderen. Sie sprechen wie aus einem Mund. Das rhythmische Gebet wird zum Tonteppich; die Stimmen verlieren sich. Hier werden die Schwestern eins. Mit sich und Gott. Genau eine halbe Stunde lang. Dann läutet die Kirchglocke sechsmal und die Schwestern schreiten der Reihe nach zur Statue der Jungfrau Maria, knien nieder und verlassen die Kapelle in Stille. Als Letzte geht Schwester Pia. Seit 60 Jahren ist dieses Labyrinth von Heiligenstatuen, Klostergängen, Treppen, Winkeln und Zimmern ihr Zuhause. «Ich spürte schon immer den Zug ins Kloster», erinnert sich die gebürtige Zürcherin. Doch als sie mit 18 den Schritt wagen wollte, riet ihr eine damalige Ordensschwester, erst einmal die Welt zu erleben. Klosterleben als Ersatz fürs Martyrium So wurde die Tochter eines Arztes stattdessen wissenschaftliche Zeichnerin, reiste nach Paris, illustrierte Bücher, lernte von bekannten Künstlern. Nur ging ihr das Kloster nicht aus dem Herz. Nicht einmal ein Heiratsantrag konnte sie umstimmen. Sicher war sie sich trotzdem nicht. Zwar spürte sie die Berufung zur 21
Die Klosterkleider waschen und glätten die Nonnen selber. Beim Kochen helfen ihnen Frauen aus dem Dorf.
Schwester Pia illustrierte einst Bücher und reiste nach Paris. Seit sechzig Jahren ist das Kloster nun ihr Zuhause.
Das zweite Gebet des Tages. Die Nonnen rezitieren in der Kappelle einen Psalm.
Nonne, doch ihr fehlte ein eindeutiges Zeichen. «In den Sommerferien besuchte ich das Männerkloster in Disentis und betete dort zur Mutter Gottes. Ich bat sie, mir zu zeigen, was ich tun soll. In Erwartung auf ein Zeichen trat ich mit pochendem Herzen aus der Kirche», erzählt Schwester Pia. «Da stand ich prompt vor einer Klosterfrau, die mich freundlich grüsste. Im selben Moment sah ich im Hintergrund, wie mein Freund gerade ins Dorf davonrannte.» Ein Ausflug nach Müstair besiegelte das Zeichen. «Ich ging in die Kirche und wusste: Hierhin gehöre ich.» Da war sie 26 Jahre alt. Während die Nonnen im Erdgeschoss ihr Frühstück einnehmen, schiebt sich die Sonne aus dem nahen Südtirol über den Piz Chavalatsch. Aus dem Engadin kurvt ein paar Mal pro Tag das Postauto über den Ofenpass ins Tal. Es gondelt durch den Nationalpark an Gämsen und Lärchenwäldern vorbei, bis sich die Weite des Val Müstair öffnet. 1538 Menschen wohnen hier auf einem Gebiet so gross wie der Kanton Zug. Schwester Pia streift in ihrem schwarzen Gewand durch den Klostergarten und streichelt eine der vier Klosterkatzen. Umringt von den Mauern und Trakten des Klosters wachsen hier Kräuter für Tee, Kräutersalz und Salben, Gemüse für die Küche sowie Beeren und an knorrigen Bäumen Äpfel. «Das Kloster soll wenn
möglich so angelegt werden, dass sich alles Notwendige innerhalb des Klosters befindet.» So bräuchten die Mönche nicht nach draussen zu gehen. Das verlangt eine weitere 1500-jährige benediktinische Regel, um weltliche Ablenkungen einzudämmen. Und so wird es auch in Müstair gehandhabt. Denn die Nonnen leben in Klausur – ihre Räumlichkeiten sind der Ordensgemeinschaft vorbehalten und werden nur selten verlassen. Früher durften die Schwestern einzig durch ein zwei Meter breites Gitter mit ihren nahen Verwandten sprechen oder die Füsschen eines neugeborenen Neffen streicheln. Hinzu kommt die strenge benediktinische Hierarchie. «Am Anfang spürte man die Klausur», erinnert sich Schwester Pia. «Es war ein Schock. Ich merkte, dass ich nicht mehr schreiben, nicht mehr telefonieren, meine Familie nicht mehr sehen darf. Das war sehr schwer für mich.» Nicht einmal zur Beerdigung
Auf kleinen Zetteln oder per E-Mail bringen die Leute ihre Sorgen und Bitten ins Kloster.
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ihrer Eltern ging die heute 86-Jährige. Und die Abgeschiedenheit war nur ein Teil der strengen Prüfung, die das Klosterleben mit sich brachte. Jahrelang wurde sie von der Novizenmeisterin gedemütigt. In benediktinischen Klöstern ist diese Strenge keine Seltenheit, denn viele verstehen das Klosterleben auch als Ersatz fürs Martyrium. Und trotzdem dachte sie nie daran, das Kloster zu verlassen. «Wäre ich fortgegangen, wäre ich untreu gewesen», erklärt sie. Seit Jahren keine Neueintritte mehr 1985 wurde Schwester Pia zur Priorin gewählt. Nun hatte sie das Sagen und wollte vieles anders machen. In ihren Augen ist die strenge Klausur ungesund – und auch mit Blick in die Zukunft aus ihrer Sicht nicht der richtige Weg. Vielleicht war es die eigene Erfahrung, vielleicht der rasante Wandel der Welt, mit der man trotz dicken Mauern und eisernen Gittern immer wieder in Kontakt kommt. Als Erstes liess sie das Gitter – das Symbol der strengen Klausur – zumauern. Heute dient es als Halterung für Olivenzweige und Blumen und erinnert an längst vergangene Zeiten. Mit dem Angebot von geistlichen Übungen und Kräuterworkshops wird zusätzlich Kontakt mit der Aussenwelt gepflegt. Auch neue Schwestern wären gern gesehen, seit vielen Jahren gibt es keine neuen Eintritte mehr ins Kloster. «Wenn heute überhaupt jemand Surprise 431/18
den Gedanken hat, ins Kloster zu gehen, muss man der Person sehr Sorge tragen», weiss auch Schwester Pia. Man spürt die Resignation in den Worten der feinfühligen und bescheidenen Frau. «Ich glaube nicht mehr daran, dass noch jemand eintritt», gesteht sie und lächelt. In einem der vielen Gänge stehen die Zügelkisten einer Anwärterin, die wieder abreist. «Sie wäre für uns eine grosse Hoffnung gewesen.» Aber für eine radikale Erneuerung bieten die starren benediktinischen Regeln wohl zu wenig Spielraum. Der Klosterfriedhof liegt gepflegt und still neben der Kirche. Eine Holzbank umschlingt eine grosse Linde und lädt zum Verweilen ein. Während Angehörige die Gräber pflegen und verwelkte Blumen entfernen, kümmert sich Schwester Birgitta um die Gräber ihrer verstorbenen Mitschwestern. Nebeneinander liegen sie an der Nordmauer, gekrönt von filigranen, schwarzen Metallkreuzen. Schwester Birgitta ist mit 55 die jüngste Benediktinerin in Müstair. Eine welterfahrene Frau, die viel und gerne gereist ist. Sie habe als Kinderbetreuerin in Shanghai gearbeitet und liebe den Moment, wenn ein Flugzeug abhebt, erzählt sie. Mit 38 spürt sie zum ersten Mal den Ruf ins Kloster. Doch sie traut ihren schwer zu beschreibenden Gefühlen nicht. «Ich sagte zu Gott: Das kann ich nicht. Du hast dich getäuscht.» Dann mehren sich die Zeichen. Eine längere Krankheit mischt sich mit religiösen 23
Dieser Teil der Klausur ist nur für die Nonnen zugänglich.
Als Älteste begrüsst Schwester Pia die Nonnen zur Messe. Das Klosterleben folgt einer strengen Hierachie.
Erlebnissen. Sie erinnert sich an eine Wallfahrt nach Sheshan in China. «Die Menschen gingen den Kreuzweg auf den Knien, haben gesungen und gebetet.» Sie besucht mehrere benediktinische Gemeinschaften. Müstair berührt ihr Herz und bestätigt für sie ihre Entscheidung. Erst vor Kurzem mussten zwei Klöster schliessen Anfangs gingen die Mitschwestern auf ihre Bedürfnisse ein. Vielleicht wollte man sie nicht abschrecken, vielleicht war ihre Offenherzigkeit so einnehmend. «Ich hatte so viele Freiheiten, wie ich benötigte. Ich bekam sehr viel Besuch.» Doch jede Schwester kennt auch die Prüfungen, das Martyrium. «Nach einem Jahr nahm mir Gott alles, was ich lieb hatte.» Plötzlich war es aus mit den alten Freiheiten. «Ich haderte damals oft mit Gott.» Doch sie hielt durch. Andere junge Schwestern gaben auf und verliessen das Kloster. Die starren Regeln, die strenge Hierarchie, der Mangel an Freiheit waren zu viel. Für Schwester Birgitta war das keine Option: «Wäre ich aus dem Kloster gegangen, hätte ich doch die genau gleichen Probleme gehabt.» Welche Zukunft bleibt dem Kloster? Schwester Birgitta legt die Antwort in Gottes Hände. Das kleine, auf 30 Nonnen ausgelegte Kloster hat auch schon härtere
Zeiten erlebt. Im 16. Jahrhundert wohnten zwei Schwestern hinter diesen Mauern, Anfang des 19. Jahrhunderts nur sechs. Würde sie zur nächsten Priorin gewählt, schwebte ihr vieles vor. Der Kontakt zur Aussenwelt ist ihr wichtig. Regelmässig liest sie Zeitung und freut sich auf Besucherinnen. Denn alte Freundschaften dürften mit dem Eintritt ins Kloster nicht begraben werden. Schwester Birgitta empfindet zwar ihren Mitschwestern gegenüber eine enge Gemeinschaft, doch Freundinnen unter den Schwestern möchte sie keine haben. Das bringe die innere Freiheit und Unabhängigkeit der Meinungsbildung in Gefahr. Elf benediktinische Frauenklöster gibt es noch in der Schweiz. Alle kämpfen mit der gleichen Sorge. Die Schwestern werden älter, können nicht mehr arbeiten, das Gehen fällt ihnen schwer, und irgendwann werden sie pflegebedürftig. Und weil der Nach-
Das Kloster ging Pia nicht aus dem Herz. Nicht einmal ein Heiratsantrag konnte sie umstimmen.
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Schwester Clara im Besuchszimmer. In der Hand eine Sickerei für ein engadiner Trachtenkleid.
Kruzifix und Marienstatue – sie bleiben an Ort und Stelle, während die Nonnen kommen und wieder gehen.
wuchs ausbleibt, gibt es immer weniger Menschen, die sich rund um die Uhr um das leibliche und seelische Wohl der kranken, alten Schwestern kümmern können. Erst vor Kurzem mussten zwei Klöster schliessen. Im Kloster Sarnen entsteht zurzeit ein Zusammenschluss von mehreren Gemeinschaften. Früher lebten dort über 60 Nonnen; heute sind nur noch wenige übriggeblieben. Nun ziehen die Schwestern aus Melchtal und Wikon ein. «Wir wären auch willkommen», sagt Schwester Pia. Beten für die Anliegen anderer Mit einer angefangenen Stickerei sitzt Schwester Clara im Besuchszimmer. Hinter ihr das besagte zugemauerte Gitter, links davon die Tür zur Klausur, wo den Besuchern der Zutritt verboten ist. Ihren Gehstock hat sie lässig an die Wand gelehnt. «Die Zukunft ist nicht rosig», gibt die 85-Jährige zu. Mit zarten 18 Jahren trat sie ins Kloster Müstair ein, als fünfzehntes von 17 Geschwistern einer Familie aus einem Dorf bei Ilanz. Weil sie schon am längsten im Kloster lebt, steht sie in der benediktinischen Hierarchie ganz zuoberst und darf zum Beispiel als Erste die Kommunion empfangen. Von einem Umzug will Schwester Clara nichts wissen. «Ich bleibe in Müstair und will auch hier begraben werden.» Die Bündner Berge, die Einsamkeit und den gemeinschaftlichen Frieden würde sie vermissen. Auch ein Transfer ins Surprise 431/18
Spital des Nachbardorfes Santa Maria kommt für sie nicht infrage. Denn seit der Reformation ist Müstair als einziges Dorf im Tal katholisch geblieben. Das Kloster liegt so im doppelten Sinn an der Grenze, in fünf Minuten ist man zu Fuss im Südtirol. Täglich beten Schwester Pia und ihre Mitschwestern mehrere Stunden für die Anliegen anderer. Auf kleinen Zetteln oder per E-Mail bringen diese ihre Sorgen und Bitten ins Kloster. Auch in ihren spärlich eingerichteten Zimmern – ein Bett, ein Lavabo und ein Schrank – beten sie für andere. «Die Schwester meines Vaters betete zehn Jahre lang, dass ich ebenfalls ins Kloster gehe», erinnert sich Schwester Pia. Das Kloster Sankt Johann beherbergt ein viele Jahrhunderte altes Erbe. In der Kirche finden sich karolingische Fresken aus dem 9. Jahrhundert und weitere kulturelle Schätze. Nicht umsonst gehört es seit 1983 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Ist es das, was zurückbleibt, wenn die Schwestern nicht mehr da sind? «Hier würde alles zu einem Museum werden», meint Schwester Birgitta. Zu einem leblosen Museum allerdings. Denn ohne praktizierende Nonnen ginge auch der spezielle Geist verloren, der jedes Jahr Besucherinnen und Pilger anlockt. Die letzten Strahlen blinzeln hinter dem weissen Piz Turettas hervor. Es ist Zeit für die Komplet, das letzte Gebet des Tages. Die Priorin klopft. Die Nonnen erheben sich. 25
Basel Einweihungsparty Surprise, Sa, 1. September, ab 9.30 Uhr, Münzgasse 16. Eine Anmeldung für den Brunch, für’s Suppen-Zmittag und die Feier ab 14.30 ist erwünscht, für den Sozialen Stadtrundgang um 11 Uhr (Treffpunkt Offene Kirche Elisabethen) ist sie erforderlich: bis 22. August an marketing@surprise.ngo oder auf 061 564 90 90. surprise.ngo
Seit Mitte Juli haben wir ein neues Zuhause: Die Geschäftsstelle von Surprise, die Redaktion des Strassenmagazins und der Vertrieb Basel sind an den Rümelinsplatz gezogen. Gegen aussen hin sichtbar sind wir mit dem Eingang an der Schnabelgasse, wo die Heftausgabe für die Verkaufenden ist. Dies war denn auch ein wichtiger Grund für den Umzug mitten in die Stadt: Nicht nur soll Surprise als Organisation mit all ihren sozialen Angeboten sichtbarer werden. Auch die Leute, die das Strassenmagazin verkaufen, sollen Teil des Alltags sein und zur Stadt gehören. Mit dem Fest am neuen Standort feiern wir auch Geburtstag: Surprise wird 20 Jahre alt. Am Morgen dürfen Sie ab 9.30 Uhr mit uns und unseren Surprise-Verkaufenden brunchen und sich mit Informationen zu ihrer Arbeit eindecken. Um 11 Uhr starten ab der Elisabethenkirche Spezialtouren des Sozialen Stadtrundgangs, danach gibt es Suppe und Brot. Die offiziellen Ansprachen finden von 14.30 bis 15 Uhr statt: Neben unserer Geschäftsführerin Paola Gallo dürfen wir Nadine Gembler, Leiterin Personal/Ausbildung national bei Coop, begrüssen. Sie ist unsere Ansprechperson für die Verkaufsorte vor den Coop-Filialen. Coop ist neben Migros und den SBB ein wichtiger Partner für Surprise, denn ohne die gute Zusammenarbeit mit den Unternehmen könnte Surprise an den für uns bedeutendsten Standorten nicht verkauft werden. Die grosse Unterstützung dieser Unternehmen ist gleichzeitig ein starkes Zeichen gegen soziale Ausgrenzung. Von 15 bis 15.30 Uhr tritt der Surprise Strassenchor auf, ab 15.30 Uhr lesen wir eine Stunde lang Surprise-Texte vor, und in den Abend begleitet uns das Acoustic Jazz Trio. Das internationale Buffet, das ab 17 Uhr bereitsteht, stammt vom Restaurant du Coeur, einem Beschäftigungsprogramm des Soup & Chill – einer sozialen Institution, die wiederum eine Station auf einem unserer Sozialen Stadtrundgänge ist. Sie sehen: Wir haben Freude an der Vernetzung und freuen uns auf Tortillas de Patatas aus Spanien, Hummus und Babaganoush aus Ägypten und Bakhlava aus Syrien – und auf ein schönes Fest. DIF
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Bern 7. Berner Literaturfest, Mi bis So, 22. bis 26. August, Bern und Agglomeration. berner-literaturfest.ch Rund 40 Autorinnen und Autoren aus der Region, der Schweiz und ganz Europa lesen während vier Tagen aus ihren Werken, diskutieren und würdigen Schätze der Literatur. Am Abend des Festival-Freitag geht’s in die Region: Peter Stamm tritt in Langnau auf, Matto Kämpf in Thun, Melinda Nadj Abonji in Burgdorf, und viele andere Orte werden prominent belesen. Am Samstag zieht die Literatur von 13 bis 18 Uhr in die Berner Altstadt, wo Ruth Schweikert, Arno Camenisch (Bild) und viele mehr aus ihren Werken lesen. Nebenher wird der Schauspieler Marcus Signer zwischen den verschiedenen Leseorten in der Berner Altstadt nomadisieren, um Texte von Robert Walser einzuflechten und die eine odere andere Walser-Frage aufzuwerfen. DIF
man die königliche Schweizerreise reinszenieren. Queen Victoria erzählt selbst aus ihrem Tagebuch, begleitet von Hofdame, Konzert und was zu essen. Ein Highlight wird die Dampferfahrt mit der Queen auf dem Vierwaldstättersee sein (Anmeldung: lakelucerne.ch, Feierabend-Dampfer). DIF
Warth (TG) «Wasser – Lebensader des Klosters», Ausstellung, bis So, 16. Dezember, Ittinger Museum, Kartause Ittingen ittingermuseum.tg.ch
Luzern «Queen Victoria in der Schweiz», Ausstellung und Theatertouren, bis So, 16. September, Dampferfahrt, Fr, 17. August und 7. September, Historisches Museum Luzern, Pfistergasse 24, und ganze Zentralschweiz. historischesmuseum.lu.ch
Ohne Wasser kein Kloster. Es wird Wasser benötigt für: Mönche, Laienbrüder, Angestellte, für die Mühlen. Auch die Nutztiere, die im Kloster leben, müssen trinken. Und der Fisch braucht Wasser, damit er frisch bleibt. (Die Kartause hat eine moderne Fischzucht: Kartäuser essen kein Fleisch, dafür umso mehr Fisch.) Mit einem Kanalsystem wird Nutz- und Dachwasser abgeführt und die entstehende Wasserkraft für die Mühlen genutzt. Bis im Dezember kann man hier also alles über die klösterliche Wasserwirtschaft und auch über die liturgische Bedeutung des Wassers erfahren. Und hoffentlich entspannt dem Plätschern lauschen. DIF
Im Sommer 1868 besuchte Queen Victoria während fünf Wochen von Luzern aus inkognito die Zentralschweiz, es war für sie eine Zeit der persönlichen Krise. Zum Glück hat sie Tagebuch geschrieben, so kann
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BILD(1): DIANA FREI, BILD(2): FRANZISKA ROTHENBÜHLER, BILD(3): PRIVATBESITZ ANDERMATT, BILD(4): ITTINGER MUSEUM
Veranstaltungen
ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT
Agglo-Blues
Folge 14
Das Hinterzimmer Was bisher geschah: Die Ermittlungen im Fall eines ermordeten Joggers führen die Kriminalpolizistin Vera Brandstetter ins Industriegebiet einer Agglomerationsgemeinde. Neben Spenglereien zählen hier auch Prostitution und Glücksspiel zum lokalen Gewerbe. «Hast du einen Durchsuchungsbefehl, Baby?», fragte Jackie, der Chef des Happy Valley Salons. Brandstetter reichte ihm das Dokument. Er zog eine rote Lesebrille aus seiner Weste und studierte es. «Der gilt nur für den Salon.» Er deutete auf die Tür des Hinterzimmers. «Dieser Bereich ist privat, Baby.» «Zum letzten Mal: Nenn mich nicht Baby. Und mach die Tür auf.» «Vergiss es, Baby.» Brandstetter wandte sich ab, zog die Dienstwaffe aus dem Schulterholster und packte sie am Lauf. Jackie stand genau hinter ihr. Sie drehte sich blitzschnell um und schlug ihm den Pistolengriff ins Gesicht. Ein hässliches Knacken, der grosse Rocker schrie auf und griff sich entsetzt an die Nase, aus der das Blut schoss. Brandstetter trat ihm zwischen die Beine, er sackte auf die Knie. Sie holte mit dem Pistolengriff aus. «Ich habe dir gesagt, du sollst mich nicht Baby nennen! Du musst lernen, den Frauen zuzuhören, Alter!», schnaubte sie. «Mach endlich die Tür auf, sonst wende ich Gewalt an.» «Bift du total befeuert?», heulte Jackie auf. Brandstetter zog ein Paket Taschentücher aus der Jacke, warf es ihm zu. Er hielt sich eines unter die Nase, um das Blut zu stoppen. Fluchend stand er auf, gab den Code ein, und die Tür sprang auf. Brandstetter drängte sich an ihm vorbei. In der Mitte des Raumes stand ein grosser runder Tisch, darauf verstreut Plastik-Chips, Spielkarten und halbvolle Getränke. Die Stühle waren umgekippt, die Spieler ausgeflogen. Eine Tür, über der vorschriftsgemäss der grüne Notausgang-Kleber angebracht war, stand offen. Brandstetter drehte sich zu Jackie um. Das Taschentuch, dass er sich unter die Nase hielt, war blutgetränkt. Trotzdem versuchte er zu grinsen und mit den Schultern zu zucken. «Das ist der Aufenthaltsraum für die Angestellten.» Surprise 431/18
«Und die mussten ihren Jass unterbrechen oder wie?» Brandstetter trat durch den Notausgang in ein graues, enges Betontreppenhaus. «Alles in Ordnung?», rief sie hinunter. «Ja, sie sind uns alle ins Netz gegangen. Super Planung, Frau Brandstetter», antwortete Fischer von unten. Sie hatte die Dorfpolizisten am Hinterausgang des Gebäudes postiert, weil sie damit gerechnet hatte, dass die Spieler verduften würden. «Bring sie hoch!» Schritte und Stimmen schallten durchs Treppenhaus. «Kann ich mich mal waschen?», fragte Jackie. «Von mir aus. Warte in deinem Büro auf mich. Wir beide sind noch nicht fertig miteinander. Aufenthaltsraum, du lernst es wohl nie, was?» Der Rocker grunzte und verliess das Hinterzimmer. Fischer und sein Kollege brachten die Zocker herein. Brandstetter wies sie an, ihre Plätze am Tisch wieder einzunehmen. Die Dorfpolizisten stellten sich neben den Notausgang. Brandstetter musste lächeln. «Danke für euren Einsatz, von hier an komm ich alleine zurecht. Ihr könnt nach Hause gehen.» Sie gab Fischer, der enttäuscht dreinschaute, die Hand. Sein Kollege hingegen nickte zufrieden und unterdrückte ein Gähnen. Normalerweise machten die Beamten um halb sechs Uhr Feierabend. «Nun zu Ihnen, meine Herren.» Brandstetter schaute in die Runde. Ein dünner Mann von etwa fünfzig Jahren, dessen Motto wahrscheinlich Sex, Drogen und Rock’n’Roll war. Er hatte lange dünne Haare und trug eines dieser ausgewaschenen Heavy-MetalShirts, für die modebewusste Menschen, die von dieser Musik keine Ahnung hatten, Höchstpreise bezahlten. Neben ihm ein dicker Mann Mitte dreissig mit Brille und einem schütteren Bärtchen, der aussah und dreinschaute wie ein überdimensionierter Fünftklässler, der beim Naschen erwischt worden war. Ein braungebrannter Vierzigjähriger in einem roten Lacoste-T-Shirt, obwohl Winter war, und schliesslich ein kleiner, quadratischer Typ mit Halbglatze, dem die Brusthaare aus dem halboffenen Kaufhaushemd quollen. Brandstetter fragte sich, ob das Auto des Malergeschäftes zu ihm gehörte. Sie stützte sich auf die Tischplatte. «Euer Mitspieler ist gestern umgebracht worden.» Die Männer schauten sie stumm an.
STEPHAN PÖRTNER schreibt Romane und Theaterstücke. Wer eine oder mehrere Folgen seines Krimis «Agglo-Blues» verpasst hat, kann sie auf unserer Webseite nachlesen oder auch hören: www.surprise.ngo/krimi
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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm
Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?
Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.
Eine von vielen Geschichten 01
Praxis Colibri, Murten
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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
03
SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich
04
Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
05
Anyweb AG, Zürich
06
Leadership LP3 AG, Biel
07
Echtzeit Verlag, Basel
08
Maya-Recordings, Oberstammheim
09
Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Madlen Blösch, GELD & SO, Basel
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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar
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Lotte’s Fussstube, Winterthur
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Cantienica AG, Zürich
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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich
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Brother (Schweiz) AG, Dättwil
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Kaiser Software GmbH, Bern
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Coop Genossenschaft, Basel
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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel
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Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern
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VXL gestaltung und werbung AG, Binningen
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Burckhardt & Partner AG, Basel
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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern
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SM Consulting, Basel
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo
Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.
Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus
Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.
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Wir alle sind Surprise BILD: LUCIAN HUNZIKER
#427: Und plötzlich keimt da was
Ein Danke reicht nicht!
#426: Moumouni ... und Schwarzer
«Lange und leidvolle Erfahrung»
Wir sind zutiefst berührt und überwältigt über all die Hilfe, die uns entgegengebracht wurde. Danke an alle.
Ich habe Alice Schwarzer in den heftigen Zeiten der Siebzigerjahre persönlich kennengelernt. Sie war eine sehr pointierte Journalistin, die oft kein Blatt vor den Mund nahm, manchmal auch übers Ziel hinausschoss, ja sogar ungerecht war. Sie wurde unglaublich angefeindet, weil sie sich gegen das Patriarchat und seine unheilvolle Rolle vor allem bei uns und in der christlichen Gesellschaft stellte. Wir haben in unserem Land ein Minimum an Frauenrechten erkämpft, und die werden wir verteidigen. Nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht sollten jene, die sich daran nicht erinnern können, einen Moment innehalten, bevor sie anderen üble Motive – zum Beispiel Rassismus – unterstellen.
LILIAN UND HEIKO, Basel
L . STIBLER, Basel
#425: Halleluja!
#428: Auf der Lauer
«Keine Überraschung mehr»
«Wo der Schuh drückt»
Mit den grossen Themen verschwindet die Vielfalt. Die kleineren Berichte, das alte Chrüsimüsi war ein guter Mix, erfrischend. Jetzt ist das alles sehr stylisch, zu viele Kolumnen und andere feste Bestandteile füllen das Heft. Keine Überraschung mehr, was eigentlich von Surprise zu erwarten wäre.
Surprise scheint in letzter Zeit noch an Format zugelegt zu haben, Respekt. Eigentlich müssten die anderen Medien (auch die Republik) mehr von Surprise aufnehmen, denn es ist sehr nah bei den Leuten und dort, wo der Schuh wirklich drückt.
I. WANNER, Baden
D. EL, über Facebook
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Georg Gindely (gg) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Birgit Lang, Klaus Petrus, Roland Schmid, Florian Wüstholz Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach
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FOTO: RUBEN HOLLINGER
Surprise-Porträt
«Ich, ein Stadtführer?» «Zu Surprise bin ich letzten Herbst gekommen, weil mir eine Mitarbeiterin der Kirchgemeinde in meinem Quartier in Bern so ein Zetteli-Inserat gezeigt hat. Darauf stand, dass Surprise für die Sozialen Stadtrundgänge Stadtführer sucht. Doch später mehr dazu. Ich komme aus dem Bündnerland und habe nach der Schule die Lehre zum Zugbegleiter absolviert. Ich dachte nach ein paar Jahren im Dienst der SBB, ich würde, wie das früher üblich war, wohl später auch bei diesem Arbeitgeber in Pension gehen. Doch nach zehn Jahren war Endstation – ‹Umstrukturierung und Stellenabbau› hiess es Ende der Achtzigerjahre. Für mich als stolzer Bähnler war das ein Schock. Ich musste mich neu orientieren und nahm in der Folge Arbeiten auf dem Bau an. Aber dann kam die Immobilienkrise und die Jobs auf den Baustellen wurden rarer. Als wäre der Frust im beruflichen Bereich nicht genug gewesen, ging auch noch meine Ehe in die Brüche, und ich fiel in ein Loch. Es folgte bald der Gang zum RAV, später zum Sozialamt. Nach längerer Zeit in Arbeitsintegrationsprojekten wie zum Beispiel der Bauteilbörse Bern fand ich vor zwei Jahren eine Teilzeitstelle als Zeitungsverträger. Mit meinem anderen Nebenjob als Hauswart hatte ich schliesslich keinen Anspruch mehr auf Sozialhilfe. Natürlich war ich im ersten Moment erleichtert darüber, aber da mein Einkommen sehr bescheiden ist, braucht es wenig, dass etwa eine Zahnarztrechnung mein Budget wieder aus dem Lot bringt. So geschehen letzten Herbst. Deshalb suchte ich Rat bei der Kirchgemeinde in meinem Quartier. Deren Mitarbeiterin konnte mir in vielerlei Hinsicht helfen: Zuerst wurden die Rechnungen unbürokratisch aus einem Fonds bezahlt, damit ich nicht in finanzielle Schieflage geriet. Dann empfahl sie mir, Rücksprache mit dem Sozialamt zu nehmen – mit dem Ergebnis, dass mir die Krankenkasse wieder bezahlt wurde. Zudem verliess ich das Büro der Kirchgemeinde mit dem kleinen Zettel, den ich vom Surprise-Inserat abgerissen hatte. Mehrere Male ging ich in den folgenden Wochen am Büro von Surprise vorbei und schaute durchs Schaufenster hinein. ‹Ich, ein Stadtführer?›, fragte ich mich immer wieder. Es reizte mich schon, denn insgeheim wäre ich schon länger gern als Reiseleiter oder Touristenführer tätig gewesen. Als ich schliesslich den Schritt wagte und vor der verantwortlichen Mitarbeiterin stand, sagte sie spontan: ‹Auf dich haben wir gewartet!› 30
Hanspeter Deflorin (59) ist Surprise-Stadtführer in Bern, arbeitet als Zeitungsverträger und als Hauswart und verkauft neu auch Surprise vor der Migros Marktgasse.
Nach einer längeren Vorbereitungszeit konnte ich diesen Februar mit den Sozialen Stadtrundgängen mit dem Titel ‹In der Armutsfalle› loslegen. Zuerst hatte ich Bedenken, vor vielen Leuten meine Geschichte preiszugeben. Zum Glück war meine Angst unbegründet. Ich habe auf meinen ein bis zwei Rundgängen pro Woche sehr viele interessante Begegnungen mit Menschen und erlebe genau das, was ich mir im Vorfeld gewünscht habe. Der Kontakt zu den Leuten, der war für mich schon als Zugbegleiter sehr bereichernd. Surprise-Hefte an einem fixen Standort verkaufen wollte ich am Anfang eigentlich gar nicht. Aber dann habe ich immer wieder meinen Rundgang-Kollegen Ändu von seinen Erlebnissen beim Heftverkauf erzählen gehört und habe mich nun vor Kurzem entschieden, ebenfalls als Verkäufer zu starten. Viel Zeit für den Heftverkauf bleibt mir jedoch nicht. Einerseits bin ich mit meinen verschiedenen Jobs ziemlich beschäftigt, andererseits will ich mir neben der Arbeit auch den nötigen Ausgleich gönnen: Ich bin ein begeisterter Rennvelofahrer und unternehme ab und zu längere Touren wie etwa von Bern über den Brünigpass und übers Entlebuch zurück.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN
Surprise 431/18
Lösungen der Rätsel aus Ausgabe 430 Kreuzworträtsel
Sudoku
Lösungswort: SHRIMPSCOCKTAIL Die Gewinner werden benachrichtigt.
Leicht
7 2 4 3 9 1 5 6 8
1 3 6 8 7 5 2 9 4
Mittelschwer
5 9 8 4 6 2 1 3 7
4 8 3 1 2 6 7 5 9
2 5 9 7 8 4 3 1 6
6 1 7 5 3 9 8 4 2
8 7 5 6 4 3 9 2 1
9 4 1 2 5 7 6 8 3
3 6 2 9 1 8 4 7 5
raetsel.ch 50336
9 3 8 2 4 6 7 1 5
2 6 5 7 1 8 4 3 9
1 7 9 8 3 4 5 6 2
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN Information
3 1 5 4 9 7 6 8 2
8 7 6 5 1 2 4 3 9
4 5 3 9 2 6 1 7 8
7 6 8 1 3 4 2 9 5
2 9 1 7 5 8 3 4 6
6 8 4 5 7 2 3 9 1
3 5 2 9 6 1 8 4 7
4 2 6 1 8 5 9 7 3
5 1 7 4 9 3 6 2 8
8 9 3 6 2 7 1 5 4
5 6 2 3 9 8 4 7 1
9 4 8 6 1 7 2 5 3
1 7 3 5 4 2 6 9 8
3 1 7 4 5 6 9 8 2
2 8 9 7 3 1 5 6 4
4 5 6 8 2 9 1 3 7
6 3 1 2 8 5 7 4 9
7 2 4 9 6 3 8 1 5
8 9 5 1 7 4 3 2 6
raetsel.ch 69497
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
BEGLEITUNG UND BERATUNG
9 2 4 6 8 3 7 5 1
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
Entlastung Sozialwerke
5 3 7 8 6 1 9 2 4
Teuflisch schwer
raetsel.ch 58377
Kultur
6 4 9 2 7 5 8 1 3
raetsel.ch 58376
Mittelschwer
7 4 1 3 5 9 2 8 6
1 8 2 3 4 9 5 6 7
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel
SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 Sommerbar Volière, Inseli Park IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47
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