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Stadtrundgänge

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Grundbesitz

Grundbesitz

Danica Graf führt Besucher*innen auf einem Stadtrundgang durch ihr Basel und ihr Leben.

Süchtig, arm, missbraucht

Soziale Stadtrundgänge Dani Stutz nahm auf der Gasse Heroin. André Hebeisen trank und verarmte. Danica Graf wurde missbraucht. Auf Rundgängen erzählen die Surprise-Stadtführer*innen, was hinter den sauberen Fassaden unserer Städte passiert.

TEXT ANDRES EBERHARD FOTOS KLAUS PETRUS

Zürich: Ein Hinterhof zwischen Langstrasse und Industriequartier. Die Bäume rauschen im Wind. Dani Stutz kreuzt im Stehen die Beine, faltet die Hände, lächelt. «Ich freue mich auf die Reise mit euch durch mein Leben.» Rundgang durch Zürich, das Thema heute: Sucht. Im Nachbarhaus schreit ein Kleinkind. «Zahnen», vermutet einer aus der rund 20-köpfigen, sich fremden Gruppe. «Koliken», meint eine andere. Dann erzählt Stutz. Von Spielautomaten, vom Heroin, vom Leben auf der Gasse.

Bern: Haltestelle Monbijou. Die Sonne drückt. André Hebeisen steht vom Bänkli auf, trommelt die im Gras sitzenden Konfirmand*innen zusammen, marschiert samt Pfarrer los durchs Quartier, stoppt in einer Einfahrt. «Gibt es Armut in der Schweiz, was meine-t-er?» Nicken. «I-Ju.» Rundgang durch Bern, das Thema hier: Armut. Ein Audi muss durch die Einfahrt, die Schüler*innen reihen sich auf der schmalen Gehkante auf, der Fahrer hebt die Hand zum Dank. Dann erzählt Hebeisen. Vom Alkohol, von der Arbeitslosigkeit, vom Leben am Existenzminimum.

Basel: Theodorskirche. Autos dröhnen, ein Tram rasselt. Danica Graf lotst die zwölf Frauen über die Strasse in einen kleinen Park. «Ich wuchs behütet auf. Mit 12 starb meine Schwester, mit 14 wurde ich von einem Fremden missbraucht.» Rundgang durch Basel, das Thema: häusliche und sexuelle Gewalt. Nebenan ist Markt, Äpfel und Broccoli wechseln die Besitzer*innen, im Park schiebt eine Mutter einen Kinderwagen vor und zurück. Dann erzählt Danica Graf. Von der Gewalt, vom Missbrauch, vom Leben in Armut. Und davon, wieder aufzustehen.

Zürich: Der Hinterhof ist der Garten einer WG für Menschen am Rand unserer Gesellschaft. Haus Zueflucht nennt sich die Institution des Vereins Franziskanische Gassenarbeit. Hier ist man etwas geduldiger mit Suchterkrankten als anderswo. Es darf konsumiert werden. Aber nur auf dem Zimmer. Die vier Regeln: keine Gewalt, keine Waffen, keine Prostitution, keine Dealereien. Er sei ein Einzelgänger gewesen, erzählt Stutz, die Stimme laut genug, um das Kindergeschrei zu übertönen. Er wuchs etwas ausserhalb von Zürich auf, unterfordert in der Schule, aufs Gymnasium ging er in der Stadt. Daneben Pfadi-Führer. Matheprüfungen, Deutschprüfungen, Pontonier-Kurse, Segelkurse: Irgendwann wurde ihm alles zu viel. Das dritte Gymi-Jahr musste er wiederholen. Wenig später gab er ganz auf. Burnout.

Stutz fing sich wieder, verdiente mit Temporärjobs sein Geld. In der RS fing er an zu kiffen, entdeckte die Spielautomaten im Casino, das Geld war schnell weg. Die Automaten wurden 1996 per Gesetz verboten, ein Segen für Stutz, er lebte fortan in einem Bauwagen, später in besetzten Häusern. «Einfache, aber schöne Jahre.» Er hatte drei Hunde, bewegte sich viel in der Natur, sammelte Steine. Im Jahr 2000 wurde er überfallen, verlor sein Geld und einige Zähne, im Spital teilten sie ihm ausserdem mit: Schädelbruch.

Bern: Die Einfahrt, in der André Hebeisen mit den Konfirmand*innen steht, führt zu einem Hausblock, in dessen Untergeschoss sich die «Schreibstube» befindet. Acht Computer stehen dort für Arbeitslose bereit, die sich bewerben wollen. Weil das Angebot begehrt ist, hat jeder eine Dreiviertelstunde pro Tag Zeit. Das reiche für eine, zwei, vielleicht sogar drei Bewerbungen, erzählt Hebeisen. Wer Hilfe benötigt, bekommt sie. Sechs Angestellte sind hier beschäftigt.

Um seine persönliche Geschichte zu erzählen, versammelt Hebeisen die Gruppe ums Eck, wo einige Bäume Schatten spenden. «Ich habe lange nicht mehr im ersten Arbeitsmarkt ‹büglet›.» Hebeisen machte eine Lehre als Automechaniker, dann den LKW-Ausweis, wurde Disponent einer Firma und war Chef von 25 Lastwagen und 250 Autos mitsamt Fahrer*innen. Das alles wuchs ihm «über den Gring», der Alkohol wurde ihm ein Mittel gegen den Stress. Er dachte, dass es niemand merkt. «Dabei

wusste es die ganze Bude.» Schliesslich kam ein neuer Chef, ein Manager, der ihn «elegant zum Teufel jagte»: Zunächst war Hebeisen krankgeschrieben, Burnout. Doch die freie Zeit verbrachte er vor allem in Beizen. Am Tag X, als er an den Arbeitsplatz zurückkehrte, hatte er einen sitzen. Und erhielt die Kündigung.

Basel: Der Wettsteinpark war früher ein wichtiger Treffpunkt für Obdachlose. Die Notschlafstelle ist gleich nebenan. Irgendwann habe die Stadt den Park allen zugänglich machen wollen, erzählt Danica Graf den Teilnehmerinnen. Und zwar, indem sie die Sitzbänke auswechselte. Graf zeigt auf eine davon. «Die untere Latte fehlt. Wer dort einschläft, rollt seitlich hinunter.» Unten am Rhein gebe es eine automatische Sprinkleranlage, die jede Nacht ein, zwei Stunden läuft.

Durch den Tod ihrer Schwester verlor sie den Halt im Leben, erzählt Graf. Und der frühe Missbrauch führte dazu, dass sie ihr Leben lang Mühe hatte, sich zu wehren. Graf lernte Tierpflegerin, mit 25 wurde sie Mutter, zog mit ihrem Partner in ein Bauernhaus und führte darin ein Tierheim. Dort begann dieser zu trinken. Er bedrohte, würgte, vergewaltigte sie während fünf Jahren immer wieder, einmal holte er das Sturmgewehr aus dem Keller. Graf traute sich lange nicht, Hilfe zu holen. Sie wandte sich an die Opferhilfe, zeigte den Ex an. Verurteilt wurde er nie. Grafs psychische Probleme verstärkten sich, eine Therapeutin diagnostizierte eine posttraumatische Belastungsstörung. Das Mietverhältnis im Bauernhaus wurde ihr gekündigt, weswegen sie das Tierheim aufgeben musste. «Neben meiner Tochter war das mein einziger Halt im Leben.» Danica Graf kam in die stationäre Psychiatrie.

Zürich: Dani Stutz zündet sich eine Zigarette an, mit seinen langen Beinen macht er grosse, schnelle Schritte. Er überquert die Langstrasse, dann zieht er sich eine Schutzmaske über und bittet in einen Hauseingang. Es ist die Suchtfachstelle der Stadt Zürich. Stutz holt zum historischen Exkurs aus, erzählt, dass Schnaps einst Bestandteil des Lohnes war und dass es Zeiten gab, als nicht-konforme Alkoholiker auf einem Bauernhof arbeiten mussten. Dies habe jedoch nicht viel bewirkt, denn die Probleme, als die Männer zurück zu ihren Familien kamen, waren noch dieselben. Heute seien Therapien erfolgreicher, so Stutz, ein Drittel der Betroffenen werde abstinent, ein Drittel trinke kontrolliert, der Rest mache weiter wie bisher.

Bern: «Die Sozialhilfe, das ist heute keine Hängematte mehr», sagt André Hebeisen. Er hält mit seiner Gruppe vor einem unauffälligen Betonbau, in dem sich der Sozialdienst der Stadt Bern befindet. Wer Geld vom Staat wolle, müsse ein 13-seitiges Formular ausfüllen und zwanzig Kopien beifügen: Bankkonten, Mietverträge, Versicherungsnachweise. Daraufhin werde man zweimal eingeladen, und wenn sich aus den Gesprächen Ungereimtheiten ergeben, habe man ein Problem. Hebeisen selbst bezieht Sozialhilfe, das Geld von den Surprise-Stadtführungen, dem Hefte-Verkauf sowie vom Austragen von Zeitungen ist für ihn ein Zustupf (je nach Pensum darf er 200 bis 300 Franken behalten). «Anders würde es nie und nimmer reichen.» 977 Franken bekomme eine Einzelperson regulär für den Grundbedarf. «Tönt für euch vielleicht nach viel, aber da ist alles drin. Strom, Wasser, TV, Ausgang, alles.» Da draussen gebe es viele Leute, die knapp dran sind. «Aber die wollen nicht auffallen.»

Basel: Danica Graf steht auf einem Mobility-Parkplatz, vor einer besprayten Wand, zwischen dem Frauenwohnhaus der Heilsarmee, wo unter anderen Opfern häuslicher Gewalt geholfen wird, und der Notschlyfi, wo eine Nacht 7,50 Franken kostet, Nicht-Basler bezahlen 40 Franken. 75 Männer hätten hier Platz, sagt Graf, während Corona habe die Stadt ein Hotel dazumieten müssen.

Zürich: Noch eine Zigarette, weitere lange, schnelle Schritte. Vor dem Sune-Egge, Fachspital für Sozialmedizin und Abhängigkeitserkrankungen, macht Dani Stutz Halt. Er erzählt von der Drogenvergangenheit der Stadt Zürich, unweit von hier traf sich einst die Szene am Platzspitz, 18 000 Menschen pro Tag konsumierten hier Drogen. Einige von ihnen kamen auch hierher ins Quartier, suchten nach ruhigen Plätzen. «Darum die grossen Gittertore überall.» Pfarrer Sieber kam, um zu helfen, die Eigentümer überschrieben ihm das Grundstück, aus einer Garage wurde ein Spital.

Der Überfall machte Stutz lange zu schaffen. «Ich hatte Angst in grossen Menschenmengen, war schreckhaft.» Einmal habe er bei der Arbeit an einer Maschine fast die Hand verloren. «Da entdeckte ich das Kokain als vermeintlichen Helfer. Es gab mir Selbstsicherheit.» Aus unregelmässigem wird regelmässiger Konsum, wird Sucht. Schliesslich landet Stutz auf der Strasse und beim Heroin. «Meine Hunde waren das Einzige, was mir noch etwas wert war. Sie hinderten mich daran, mich ganz gehen zu lassen.»

Bern: André Hebeisen führt die Konfirmand*innen aus dem Berner Oberland in den Keller des Caritas-Markts. Kühlschränke summen, auf dem Tisch stehen Mehlpackungen. Ein Liter Milch kostet hier 90 Rappen, ein Brot von gestern 40 Rappen. Kaufen darf die Produkte nur, wer nachweislich unter dem Existenzminimum lebt. Also entweder eine Karte von Caritas oder Tischlein deck dich besitzt oder aber eine Kulturlegi hat.

Nur ein paar Schritte entfernt befindet sich der Brocki-Shop des Blauen Kreuzes. «Hier habe ich mal ein halbes Jahr gearbeitet», erzählt Hebeisen. Ein Suchtplatz, also der Versuch, abstinent zu werden und den Wiedereinstieg zu schaffen. Er habe Wohnungen geräumt, gezügelt, aber weil er immer noch einmal pro Woche abstürzte, auch mal den Keller putzen müssen. Als er eines Morgens mit 3,8 Promille ankam, war es das: «Trinken und ‹bügle›, das geht heute einfach nicht mehr.»

Basel: Vorbei an Skatepark, Spielplatz, Schule und Café, vorbei an vielen Fenstern mit geschlossenen Gardinen, steuert Danica Graf auf die Ecke zu, an der sich Gassenküche und Caritas-Kleiderladen befinden. «Was meint ihr», fragt Graf in die Runde, «wie oft rückt die Polizei in Basel wegen häuslicher Gewalt aus?» Die Zuhörerinnen überbieten sich mit Schätzungen, bis Graf sagt: «Einmal pro Tag.»

Graf musste stets schauen, dass sie und ihre Tochter über die Runden kamen. «Mein Leben war geprägt von Existenzängsten.» Heute verdiene sie zwischen 1500 und 2200 Franken pro Monat, neben dem Pensum bei Surprise arbeitet sie teilzeit in einem Sport- und Innendekorationsgeschäft sowie regelmässig auch in der Reinigung. Auf Sozialhilfe verzichtet sie. «Ich möchte auf eigenen Beinen stehen.» Im Caritas-Laden nebenan kaufe sie Kleider ein. «Man sieht mir nicht an, dass ich armutsbetroffen bin.»

Zürich: Dani Stutz läuft wie immer zügig durch die grosse Bahnhofshalle, wo sich Feierabendtrinker*innen ein Bier gönnen. Das Suchtbehandlungszentrum Arud ist die letzte Station des Rundgangs, hier erzählt Stutz seine Geschichte zu Ende. «An diesem Ort bekam ich meine erste Dosis Methadon», sagt er. Damit begann sein neues Leben, ohne Heroin von der Gasse.

Ein Jahr sei er obdachlos gewesen, sagt Stutz. «Es war sehr anstrengend, den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein.»

Unterwegs mit Armutsbetroffenen: ein anderer Blick auf die eigene Stadt.

Dann fand er eine betreute Wohnung, später eine neue Gefährtin. Sie stellte ihn vor die Wahl: Beziehung oder Sucht. Und er begann eine Substitutionstherapie. Nach zwölf Jahren nimmt er mittlerweile noch 10 Prozent der Anfangsdosis. «Ich bin weg vom Gassen-Heroin, das ist das Wichtigste.» Heute lebt er eigenständig in einer Wohnung und finanziert sich von seinem Pensum bei Surprise sowie einer halben IV-Rente.

Bern: Die Konfirmand*innen drängeln sich eine Treppe empor, am Inselspital vorbei, letzte Station des Rundgangs: Azzurro, eine Beiz. Ein Mineral kostet 1,50 Franken, ein Kafi 2 Franken, ein 3-Gänger 7 Franken. Alkohol? Gibt es nicht.

Hebeisen hörte auf zu trinken. «Nach dem 13. Entzug fiel der Groschen.» Heute habe er seine Sucht im Griff, er habe seit sechs Jahren keinen Rückfall mehr gehabt. «Ich bin sensibel und feinfühlig, nehme Schritt für Schritt.» Eine Stelle finden würde er

Expert*innen der Strasse

Seit 2013 bietet Surprise soziale Stadtrundgänge an. In Basel, Bern und Zürich erzählen Surprise-Stadtführer*innen aus ihrem Alltag und führen an Orte, an denen man sonst achtlos vorübergeht. Die Touren sollen die Stadt aus einer anderen Perspektive zeigen und Vorurteile abbauen. Sie haben aber auch Partizipation zum Ziel: Betroffene sollen ihre Geschichten selbst erzählen können. Dafür bilden sie sich bei Surprise zu Expert*innen der Strasse weiter. Soziale Stadtrundgänge gibt es auch in anderen Ländern. Surprise ist Gründungsmitglied des «International Network of Social Tours» (INST), ein Zusammenschluss aus verschiedenen Anbieterorganisationen (siehe nächste Seite). gern, doch da mache er sich keine Illusionen mehr. Er sei so lange weggewesen, habe Lücken im Lebenslauf. «Die vielen Absagen, sie drücken.» Er vergleicht seine Situation mit einem Stuhl mit vier Beinen. «Auf drei Beinen kann man sitzen, auf zweien wird es gefährlich.» Die vier Beine: Tagesstruktur, Wohnen, Familie und Freunde.

Basel: Eine Seniorin fragt: «Was tun, wenn einer ein paar Stutz von mir will?» Eine andere ruft dazwischen: «Ich sage immer Nein, das ist doch sicher für Drogen.» Nun wollen sie Danica Grafs Einschätzung hören. Diese schlägt einen Dreifranken-Gutschein der Gassenküche vor, könne man online kaufen und reiche für ein warmes Essen. Es gebe zum Glück viele, die helfen. Auch Bäckereien verschenken Gebäck oder Süssigkeiten. «Ich kenne einige Obdachlose, die zugenommen haben.» Endlich ein Lachen.

Danica Graf ist sich sicher: Wenn ihr Ex-Partner das hier liest, wird er sie erneut bedrohen. Doch sie hat sich entschieden, kein Opfer mehr zu sein. «Der Wendepunkt war eine Operation an meinen Händen.» Sie erlitt einen Kreislaufkollaps, ihr Herz blieb stehen. Die Ärzte retteten sie. Das war 2013. «Das veränderte mein Denken.» Graf half sich selbst, gründete mit Verbündeten einen Verein, der Opfer-Täter-Dialoge ermöglicht. Sie trifft sich regelmässig im Gefängnis mit Tätern. «Um Fragen zu stellen, die man sonst nie stellen kann.» Beide Seiten erzählen, einer nach dem andern. «Opfer können eher abschliessen, Täter werden seltener rückfällig», sagt sie. Und sie selbst steht hier, erzählt ihre Geschichte zu Ende, aufrecht, würdevoll, und bekommt kein Mitleid, sondern Applaus.

Weitere Infos, Termine, Anmeldung: www.surprise.ngo/angebote/stadtrundgang

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