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Profit zulasten der Ärmsten
Erinnern Sie sich an die Zürcher Gammelhäuser? Als 2015 ein Multimillionär aufflog, der im Langstrassenquartier lottrige Wohnungen an «Randständige» vermietete? Zu horrenden Preisen, nah am Maximum, das Sozial- und Asylbehörden Bedürftigen für Unterkunft gewähren? Dafür wurde er vom Bezirksgericht Zürich 2020 mit zwei Jahren Freiheitsstrafe bedingt bestraft.
Höher fiel die Strafe desselben Gerichts im Fall einer Vermieterin 2021 aus: 33 Monate, wovon sie 11 hätte absitzen müssen. Auch sie, eine 59-jährige Ingenieurin, war wegen gewerbsmässigem Wucher verurteilt worden. Sie habe von 2010 bis 2017 in drei Liegenschaften in Zürich und Spreitenbach möblierte Zimmer überteuert vermietet – gezielt an Menschen, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen und finanziellen Stellung auf dem Wohnungsmarkt kaum Chancen haben. Am Obergericht fordert die Frau nun resolut einen zweitinstanzlichen Freispruch. Sie weist die Vorwürfe als Unsinn zurück. «Sie haben doch Jus studiert», ermahnt sie den Gerichtsvorsitzenden keck, «Sie wollen doch keine unschuldigen Menschen ins Gefängnis stecken.»
Fest steht jedoch, dass es sich bei ihren ehemaligen Mieter*innen mehrheitlich um Ausländer*innen ohne Sprach- oder Ortskenntnisse handelte. Bis auf wenige Ausnahmen bezogen alle Sozialhilfe. Erwiesen ist auch, dass sie der Besitzerin bis zu 1100 Franken inklusive bezahlten – für ein 7,2 m2 kleines Zimmer in einer Siebenzimmerwohnung, in der sie sich Bad und Kü- che mit bis zu 11 Personen teilten. Estrich oder Keller gab es nicht, die Wäsche wuschen sie in der Wohnung und hängten sie im Flur auf. Die hygienischen Zustände in den Gemeinschaftsräumen sei wegen Schimmelbefall teils gesundheitsgefährdend gewesen, so die Anklage.
Der von den Anklagebehörden beauftragte Gutachter kam zum Schluss, dass für das oben genannte Zimmer ein Mietzins um die 600 Franken angemessen gewesen wäre. Die Staatsanwaltschaft errechnete, dass die Frau mit solchen Wucherpreisen insgesamt 660 000 Franken zu viel erwirtschaftet hat.
Davon will die aber nichts wissen. Das Problem sei nicht sie gewesen – sondern die Mieter*innen. Ratten habe es nur gehabt, weil diese ihren Müll mit Essensresten auf den Balkon gestellt hätten. Schimmel, weil sie nie lüfteten. Wieder erklärt sie den Richtern das Recht: «Begeht jemand in der Schweiz einen Mord, können Sie ja auch nicht den Bundesrat zur Rechenschaft ziehen.»
Die Oberrichter blieben unbeeindruckt. In den 43 untersuchten Fällen hätten die Betroffenen die Zustände fast einhellig als desolat beschrieben. Sie habe Menschen aus dem schwächsten sozialen Umfeld skrupellos ausgenutzt. Die von der Vorinstanz verhängte Strafe erachten die Richter allerdings als zu hoch: Sie erhält wie der eingangs erwähnte «Berufskollege» zwei Jahre bedingt. Ob das aber genügt, um künftig solche widerlichen Fälle von Abzocke zu verhindern, ist im heutigen ausgetrockneten Wohnungsmarkt mehr als fraglich.
Verkäufer*innenkolumne
Nur ein Sturz
Es war an einem Sonntag im Frühling 2004, als ich den Notfall des Universitätsspitals Zürich aufsuchte, weil sich mein Ellbogen entzündet hatte. Zunächst wurde ich dafür gerügt, dass ich erst so spät gekommen war. Es habe sich so viel Eiter angesammelt, wurde mir gesagt, dass es möglicherweise zu spät sei, den Arm noch zu retten. Ich würde gleich am nächsten Morgen als Erste operiert werden. «Okay», sagte ich, «dann komme ich morgen früh wieder.» Diese Idee wurde aber vehement abgelehnt.
Man gab mir ein Beruhigungsmittel und sagte, ich würde auf ein Zimmer verlegt. Ich schlief ein. Als ich wieder aufwachte, fragte ich mich: Wo bin ich hier?
Mir wurde bewusst, dass ich noch immer auf dem Operationstisch lag. Ja nicht bewegen, dachte ich.
Ich schaute nach rechts in den Raum, da standen drei Ärzte in langen weissen Kitteln und drehten mir den Rücken zu. Ich schaute nach links: Wieder drei Ärzte, auch die drehten mir den Rücken zu. Sie schauten Röntgenbilder an.
Nun war ich langsam so wach und auch empört, dass ich laut sagte: «He, hallo, wo bin ich hier überhaupt, was ist passiert und was machen Sie da?» Was nun geschah, behalte ich wohl bis ins hohe Alter in amüsanter Erinnerung: Alle sechs Ärzte drehten sich gleichzeitig um. Einige sogar mit offenem Mund, dann sprachen sie alle gleichzeitig und fielen einander ins Wort.
Die Informationen, die ich bekam, waren folgende:
«Es ist ein Wunder, dass Sie noch am Leben sind. Wir durften Sie ja nicht an die lebenserhaltenden Maschinen hängen, darauf hat Ihr Mann bestanden. Er ist übrigens schon lange hier mit Ihrer Tochter.»
«Sie waren während fast 20 Stunden im Koma.»
«Wir haben Sie überall geröntgt und auch durch die Röhre geschickt. Sie haben fast keine Verletzungen, unglaublicherweise. Nur Ihr rechter Fuss, die Ferse, ist in über zwölf Teile zertrümmert.»
«Sie werden nie mehr gehen können.»
Und dann die Frage: «Wollten Sie Selbstmord begehen?»
Das Universitätsspital wurde zu der Zeit renoviert, ein Rohbau wurde erstellt. Man sehe genau, aus welcher Balkontür ich gestürzt sei, sie läge im obersten Stock. Die Plastikplane sei weggerissen gewesen. Der Securitas habe mich auf seinem letzten Rundgang unter diesem Balkon auf dem Rasen gefunden. Wie ich denn überhaupt in den Rohbau gekommen sei? Diese Frage kann bis heute niemand beantworten. Ich bin aber früher schon hin und wieder Schlaf gewandelt.
Es war Herbst, ein halbes Jahr später, als ich aus dem USZ austrat.
Heute denke ich nicht mehr oft an diesen Unfall. Zum Glück habe ich körperlich alles hinter mir gelassen, denn ich gehe wieder. Das Einzige, was blieb, ist das Gefühl vom Glück, noch am Leben zu sein. Und das Wissen, dass ich das Leben ein zweites Mal geschenkt bekommen habe.
KARIN PACOZZI, 56, verkauft Surprise in Zug. Der Sturz aus dem Universitätsspital war natürlich mehr als nur ein Sturz. Aber es war nur ein Sturz – von vielen. Sie hat in ihrem Leben immer wieder Unfälle gehabt.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.