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Politik des Hungers

Somalia Am Horn von Afrika verhungern Hunderttausende. Offiziell handelt es sich trotzdem nicht um eine Hungersnot. Warum nicht?

«Der Hunger ist ein Kampf des Körpers gegen den Körper. Erst knurrt Ihr Magen, dann streikt er, er zieht sich zusammen, will nichts mehr zu sich nehmen. Das mag seltsam klingen, aber: Wer hungert, hat keinen Hunger mehr. Sie verlieren Ihre Zuckerreserven, später Ihr Fett. Sie magern ab. Ihr Immunsystem schwächelt, Viren attackieren Ihren Körper und lösen Durchfall aus. Sie verlieren grosse Mengen an Salz, Wasser und Verdauungssäften. Dann trocknen Sie langsam aus. Parasiten siedeln sich in Ihrem Mund an, Ihre Bronchien sind entzündet. Sie müssen husten und können kaum atmen. Sie röcheln. Sie bekommen Panik. Ein Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit begleitet Ihren körperlichen Zerfall. Manchmal dauert es Tage, manchmal Wochen, bis der letzte Rest Ihrer Muskelmasse aufgebraucht ist. Ist es so weit, können Sie sich nicht mehr auf den Beinen halten oder mit Ihren Händen aufstützen. Bald werden Sie sich überhaupt nicht mehr rühren. Sie kauern sich zusammen, liegen reglos da. Ihre Haut legt sich in Falten, sie wird brüchig und durchsichtig, bei jeder Bewegung könnte sie reissen wie ein dünnes Blatt Papier. Alles an Ihnen ist Schmerz. Ihr Wimmern wird zu einer Art Summen. Und dann sterben Sie.»

So in etwa hat mir der Arzt Ibrahim Liban den Hungertod beschrieben, in einem Kinderspital in Borama, einer Stadt im Norden von Somalia, am Krankenbett des kleinen Hassan. Zehn Tage war seine Mutter Malyun, eine Ziegenhirtin und Nomadin, zu Fuss unterwegs hierher, in der Hoffnung, Ibrahim Liban könne ihren Sohn noch retten. Doch der zuckt nur mit den Schultern. Hassan muss mit Schläuchen ernährt werden, sein Atem geht schnell, die Augen sind leer. Er ist, wie alle Kinder hier, am Verhungern.

Eine Sache der Definition

Da ist er also wieder, der Hunger am Horn von Afrika. 1992 starben allein in Somalia 200 000 Menschen am Hunger und an Unterernährung, 2011 war es gar eine Viertel Million, darunter 125 000 Kinder. In beiden Fällen wurde von den Vereinten Nationen (UNO) die Hungersnot ausgerufen. Jetzt, 2023, befürchtet man noch mehr Tote; von 500 000 ist beim Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) die Rede, sollte die Internationale Gemeinschaft in den kommenden Wochen und Monaten nicht handeln und abermals offiziell von einer Hungersnot sprechen. Denn dann würden Gelder und Güter fliessen, Regierungen müssten reagieren und Hilfsorganisationen hätten mehr Spielraum. Was bisher aber nicht geschah.

Aber wieso nicht? Weil der Hunger immer auch – und vielleicht zuallererst – ein Politikum ist.

Dieses Politikum beginnt bereits bei der Definition von Hunger. Gemäss der Welternährungsorganisation (WHO) hungern erwachsene Personen, wenn sie – je nach Geschlecht, Alter, Klima und Schwere der Arbeit – weniger als 2200 Kilokalorien täglich zu sich nehmen, Säuglinge, wenn sie nicht 700 Kilokalorien täglich bekommen und Kleinkinder bis zu zwei Jahren, wenn die Menge an täglichen Kilokalorien weniger als 1000 beträgt. Die internationale Hungerskala IPC unterscheidet fünf Schweregrade des Hungers, von «minimalem Hunger» (Stufe 1) über «akuten Hunger» (Stufe 3) bis zur «Hungersnot» (Stufe 5). Letztere ist als Katastrophenlage charakterisiert, in der der Zugang zu Nahrungsmitteln und anderen Grundbedürfnissen völlig fehlt. Um eine Hungersnot auszurufen, müssen weitere Kriterien erfüllt sein, wie: in einer bestimmten Region hat einer von fünf Haushalten keinen Zugang zu Nahrung; mehr als 30 Prozent der Kinder dieser Region unter fünf Jahren sind akut unterernährt; im Zeitraum von 90 Tagen sterben täglich mindestens zwei von 10 000 Menschen an Hunger.

Allerdings haben diese Kriterien ihre Tücken. So ergibt der Zeitraum von 90 Tagen zwar Sinn bei akuten Ereignissen: ein Erdbeben, eine Überschwemmung, eine Heuschreckenplage, Terroranschläge – dann haben Abertausende von Menschen plötzlich keinen Zugang mehr zu Essen und Trinken, sie müssen die Flucht ergreifen. Die UNO geht davon aus, dass weltweit bis zu 50 Millionen Menschen jedes Jahr von derlei Ausnahmesituationen betroffen sind.

Doch was ist mit dem schleichenden Hunger? Kein plötzliches Drama hat ihn verursacht, keine akute Katastrophe, sondern, wie in Somalia, die Tatsache, dass die letzten fünf Regenzeiten ausgefallen sind und das Land allmählich verdorrt oder dass die Terrormiliz al-Shabaab seit Jahren die Menschen bestiehlt, verfolgt und in Armut und Hunger treibt oder dass die eigene Regierung in Korruption versinkt. Wer deswegen hungern muss, hungert nicht akut, sondern chronisch.

Chronischer Hunger führt in fast allen Fällen zu Mangelernährung. Die WHO schätzt, dass weltweit zwei Milliarden Menschen davon betroffen sind, allein in Somalia sind von den 17 Millionen Einwohner*innen derzeit 6,7 Millionen mangelernährt. Sie haben nicht immer, aber manchmal zu essen, doch handelt es sich dabei häufig – auch das ein Nebeneffekt des chronischen Hungers – nicht um ausreichend nährstoffreiche Nahrung. Mangel- und Fehlernährung wird denn auch als «unsichtbarer Hunger» (Jean Ziegler) bezeichnet und führt bei Kindern sowie Erwachsenen nicht bloss zu Vitamin-, sondern auch zu Zink- und

17 000 000

6 700 000

3 900 000

Jodmangel. Die Folgen lassen sich beziffern: Infolge der durch Vitamin-A-Mangel ausgelösten Krankheiten wie Malaria oder Röteln sterben gemäss WHO jedes Jahr 600 000 Kinder unter fünf Jahren; infolge schwerer Durchfallerkrankungen durch Zinkmangel sind es jährlich 800 000; schliesslich kommen jedes Jahr 20 Millionen Kinder mit unterentwickelten Gehirnen auf die Welt, eine Folge des chronischen Jodmangels der Mütter.

Auch für Ibrahim Liban im Kinderspital in Borama ist dies eine der grossen, da nachhaltigen Folgen des Hungers: «Selbst wenn Hassan wieder gesund werden sollte – aus ihm wird kein Einstein, kein Ministerpräsident, Ingenieur oder Lehrer; ein Taxifahrer vielleicht oder ein Viehhirte. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber: In unserem Land kommen seit Generationen nur noch Idioten zur Welt. Wie soll das alles weitergehen?»

Weniger Zahlen, weniger Hunger?

Ein anderes Problem sind die Zahlen. Die UNO ruft nur dann eine Hungersnot aus, wenn die Faktenlage klar ist. Im Falle von Somalia ist sie das selten. So sucht man das Land auf dem Welthunger-Index von 2022 vergeblich. Die ersten drei Plätze werden vom Jemen, der Zentralafrikanischen Republik sowie Madagaskar belegt – und das, obschon Nichtregierungsorganisationen regelmässig monieren, es deute alles darauf hin, dass Somalia bereits seit Jahren Platz 1 belegt. Tatsächlich taucht das Land auf dem Index nur deswegen nicht auf, weil verlässliche Zahlen zum Hunger fehlen.

Die am Horn von Afrika tätige deutsche Hilfsorganisation Welthungerhilfe (WHH) spricht von 7,1 Millionen von Hunger Betroffenen, 6,7 Millionen seien mangelernährt, darunter 500 000

500 000

Kinder. Zudem hätten fast vier Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, und eine weitere Million Menschen – davon die meisten Viehhirten – sei infolge von Dürre und Trockenheit zu Binnenflüchtlingen geworden. Alexander Fenwick, WHH-Verantwortlicher für Somalia, räumt allerdings ein, dass es sich hier um Schätzungen handelt, die seiner Ansicht nach zu tief angesetzt sind. «Der Grund besteht darin, dass wir zu den Gebieten, wo bereits Hungersnot herrscht, kaum oder überhaupt keinen Zugang haben und auf die Angaben von Personen angewiesen sind, die aus diesen Regionen flüchten mussten.»

Fenwick spricht unter anderem von den ländlichen Regionen im Südwesten Somalias, die weitgehend von al-Shabaab kontrolliert werden. Seit dem Sturz des somalischen Diktators Mohammed Siad Barre im Jahr 1991 setzt die Miliz mit Terroranschlägen, Entführungen und Verfolgungen alles daran, am Horn von Afrika einen sogenannt Islamischen Staat zu errichten. Obschon sie in den vergangenen Jahren an Einfluss verloren hat, betrachtet sich al-Shabaab nach wie vor als Opposition zur somalischen Regierung. Insbesondere ist es der Terrorgruppe gelungen, die ländlichen Gebiete zu besetzen und aus dem Hunger Profit zu schlagen. So machen sie sich die Not der Viehhirten zunutze und rekrutieren, offenbar sehr erfolgreich, aus den Reihen der hungernden Nomaden künftige «Gotteskrieger». Auch setzen sie Hilfswerke unter Druck, indem sie ihnen die Arbeit in den Hungergebieten erschweren. Nicht wenige Organisationen sind gezwungen, mit al-Shabaab zu verhandeln; andere, wie das Welternährungsprogramm (WFP) oder UNICEF wurden von al-Shabaab aus den Hungergebieten verwiesen. Was sich, wie gesagt, auf die Faktenlage niederschlägt; oder wie Fenwick sagt:

«Eigentlich wissen wir alle, was in diesen Gebieten abgeht. Nur weil wir die Toten nicht zählen können, heisst das nicht, dass es sie nicht gibt.»

Es ist nicht das erste Mal, dass Terror und Hunger sich begünstigen; man denke bloss an den Jemen, den Südsudan, an Afghanistan oder, weiter zurück, an den Holodomor, jene Hungerkrise in der Sowjetunion Anfang der 1930er-Jahre, die Stalin gezielt für seinen Krieg gegen die Ukraine nutzte und die am Ende vier Millionen Ukrainer*innen das Leben kostete.

Angst vor Verlusten

Auch für Regierungen ist der Hunger häufig ein politisches Kalkül. Der somalische Präsident Hassan Sheikh Mohamed, seit Frühjahr 2022 im Amt, sagte vor Kurzem: «Das Risiko bei der Erklärung einer Hungersnot ist sehr hoch. So eine Erklärung kann die Entwicklung im Land lahmlegen.» Auf den ersten Blick scheint diese Aussage kontraintuitiv. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass mit einer Erklärung der Hungersnot nicht bloss die mediale Aufmerksamkeit steigt, sondern auch die internationalen Hilfsbudgets aufgestockt werden. Konkret rechnet die UNO für den Fall, dass in Somalia die Hungersnot ausgerufen würde, mit einer ersten Tranche von über einer Milliarde US-Dollar.

Allerdings handelt es sich dabei und in Übereinstimmung mit der Definition der Hungersnot als «akute Katastrophenlage» um eine kurzfristige Nothilfe. An einer solchen scheint Präsident Mohamed nur wenig Interesse zu haben. Offenbar befürchtet er, dass Entwicklungsgelder – sollte die Hungerkrise länger anhalten, was wahrscheinlich ist – von Langzeitprojekten abgezwackt würden; Gelder, welche die somalische Regierung bisher nutzt, um einen Beamtenstaat zu etablieren oder die Terrormiliz al-Shabaab in Schach zu halten. NGOs sehen noch ein anderes Motiv: Würde in Somalia schon wieder die Hungersnot ausgerufen, würde dies selbst die letzten ausländischen Investoren vertreiben. Auf deren Geld aber ist die somalische Regierung dringend angewiesen. Es erstaunt daher nicht, dass Präsident Mohamed noch vor Kurzem beteuerte, er sehe derzeit «kein unmittelbares Risiko für eine Hungersnot».

Und dann sterben sie

Definitionen, Zahlen, Terroristen und Staatsleute – wer vom Hunger redet, redet irgendwann von etwas Abstraktem. Von etwas Unpersönlichem. Als sei der Hunger nicht der Hunger derer, die daran sterben. Dabei existiert Hunger, wenigstens medizinisch gesehen, niemals ausserhalb des Menschen, der an ihm zugrunde geht. Weshalb es eigentlich nie allein um den Hunger geht, sondern immer um den hungernden Menschen.

Ob jemand dort draussen eine Hungersnot ausruft, mag denen hier im Kinderspital von Borama im Nordwesten von Somalia egal sein, so möchte man meinen. Und doch: 2011, als in Somalia letztmals offiziell eine Hungersnot erklärt wurde, zählte man am Ende 250 000 Hungertote; mehr als die Hälfte starb vor der Erklärung. Damals hiess es, man habe zu lange gewartet.

Und dieses Mal?

Für Hassan ist es zu spät. Der kleine Junge von Malyun, der einmal Pilot werden wollte, ist inzwischen am Hunger verstorben.

16 600 000

Kinder unter fünf Jahren sind schwer akut unterernährt

149 200 000

Kinder unter fünf Jahren sind zu klein für ihr Alter (unterentwickelt)

Kinder – die Verwundbarsten in Zeiten des Hungers

45 400 000

Kinder unter fünf Jahren sind zu dünn für ihr Alter (ausgezehrt)

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