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Vertonung eines Lebens
Audiofestival «Sonohr» zei g t mit Tonex p erimenten, Klan gerfahrun gen und den Hörstücken im nationalen Wettbewerb, wie vielfältig Audioschaffen sein kann. Nominiert ist auch der Surprise-Podcast «Tito – vom Obdachlosen zum Stadtführer».
Irgendwie muss man sich ja kategorisieren, und so nennt sich Sonohr fast bescheiden «Radio & Podcast Festival», obwohl es Audio aller Art vereinigt: Hier entstehen Hörerlebnisse auch live anlässlich von Performances, es gibt Soundwalks durch die Stadt, und der Glasgower Künstler Mark Vernon steigt in sein persönliches Archiv gefundener und gesammelter Tonbandkassetten. In einer audiovisuellen Performance wird eine magnetische Flüssigkeit mittels Live-Electronica in Wallung gebracht, während Tim Shaw auf einem Stadtspaziergang akustische und elektromagnetische Signale aus der Umgebung sammelt und sie auf die Funkkopfhörer des Publikums überträgt.
Dazu konkurrieren im nationalen Wettbewerb zwölf fiktionale und dokumentarische Audiowerke. «Das denkende Herz – nach den Tagebüchern von Etty Hillesum» etwa, ein Hörstück aus elektronisch-musikalischen Textund Stimmlandschaften, die auf den Tagebüchern der 1943 in Auschwitz ermordeten Etty Hillesum basieren. Oder «Züriwasser», das den von den Gewässern des Kantons Zürich erzeugten Klanglandschaften folgt. Der Sechsteiler «La Gaythé» begegnet alternden LGBTQ+-Personen und erzählt unter anderem von der 78-jährigen Marie-Claire aus Genf, die über ihre Kindheit, die Beziehung zu ihren Eltern und zur Religion spricht: Das Per- sönliche wird zu einem Gesellschaftsporträt und Zeitzeugnis. Weiter im Wettbewerb wird unser Verhältnis zu Fleisch zum Klangerlebnis und die Geschichte eines Herz-Kreislauf-Zusammenbruchs zur Audio-Doku.
Ebenfalls im Wettbewerb steht «Tito – vom Obdachlosen zum Stadtführer», ein Auftragswerk von Surprise, das die Audioproduzenten This Wachter und Simon Meyer umgesetzt haben. Der Fünfteiler zeichnet den Weg von Tersito «Tito» Ries nach, der für den Verein Surprise seit 2021 Soziale Stadtrundgänge macht. Als Guide zeigt er die Stadt Basel aus der Sicht eines zeitweilig Abgestürzten und erzählt dabei aus seiner Biografie. Tito war in seiner Vergangenheit nicht nur obdachlos, sondern auch Unternehmer. Nachdem er seine zweite Firma aufgebaut hatte, ging er nach Neuseeland, um Englisch zu studieren, er machte das Höhere Wirtschaftsdiplom und zog Kinder gross. Er war aber auch Gefängnisinsasse aus Gründen, die er nicht detailliert ausführen mag. Abwärts ging es, nachdem er mit seiner dritten Firma Konkurs ging, weil mehrere Kunden gleichzeitig zahlungsunfähig wurden. Heute ist er in einer Mehrfachrolle für seine vor 25 Jahren an MS erkrankte Freundin: als Partner, Pfleger und «Case Manager» – wie er es selbst nennt – zugleich. Tito kennt die Abgründe des Lebens, die Schwellen, über die man stolpern kann, die äusseren Weichenstellungen, die einen entgleisen lassen, ebenso wie die folgenreichen Fehler, die man selber im Leben machen kann.
Der Erzähler wird zum Schatten
Als er 2020 bei Surprise die Ausbildung zum Stadtführer begann, sollte This Wachter ihn mit Mikrofon begleiten. Doch dann kam die Pandemie. «Wir hatten uns davor einmal kurz getroffen», sagt Tito, «und This meinte da schon, ich solle doch mal selbst ein bisschen etwas auf mein Handy aufnehmen.» Lebensgeschichte, Alltag, Gedanken, Erinnerungen. «Ich lachte erst mal und sagte: ‹Zuerst musst du mir erklären, was das heisst, Podcast.› Das mag seltsam klingen, aber ich wusste nicht genau, was das ist. Wie man das macht, worauf es dabei ankommt – das war mir alles überhaupt nicht klar.» Er sollte es schnell lernen, weil This Wachter aufgrund der Pandemie entschied: Tito sollte nicht nur ein bisschen etwas, sondern ziemlich viel selbst aufnehmen. Wachter sagt dazu: «Ich habe die Methode auch in anderen Audiostücken schon verwendet, um Momente einzufangen, zu denen ich selbst nicht Zugang habe. Aber dass jemand wirklich fast sein ganzes Leben erzählt, das haben wir zum ersten Mal so gemacht.» Dreieinhalb Monate lang belieferte Tito den Audioproduzenten mit Tonaufnahmen, es wurden 17 Stunden daraus.
Tito gab seine Biografie – nach einem einzigen kurzen Treffen mit Wachter – damit in fremde Hände. «Das war für mich ungewöhnlich. Als Unternehmer war ich es gewohnt, dass ich Einfluss nehmen kann und derjenige bin, der erstmal eine Idee haben und sie umsetzen musste. Ich empfand es aber als entlastend.» Und noch ein anderer Aspekt kam dazu: «Es ging mir 25 Jahre lang mies, aber ich habe immer versucht, dabei zu lachen und habe es mit viel Humor überspielt. Und dann kommt plötzlich ein Moment, in dem endlich mal jemand zuhört, was denn hier gelaufen ist und was vielleicht dazu geführt hat, dass ich so abgestürzt bin.» Für den Audiomacher ist es eine spezielle Verantwortung, mit dem Leben eines anderen Menschen umzugehen. Es stellen sich ethische Fragen. «Man muss sehr bewusst entscheiden: Was will ich von dieser Person veröffentlichen? Muss man jemanden auch ein Stück weit vor sich selbst schützen? Weiss er oder sie, wozu sie wirklich bereit ist? Wem gehört eigentlich die Geschichte?», sagt Wachter. Und auch die eigene Rolle muss reflektiert werden. «Ich habe entschieden, dass es mich als Erzähler nicht braucht. Auch das habe ich noch nie gemacht. Ich bin eher Titos Schatten, und mit der Zeit werde ich auch zu einem Gegenüber. Manchmal hört man, dass ich anwesend bin, dass er zu mir redet oder auch über mich redet. Ich als Erzähler komme aber erst in der allerletzten Episode vor.»
1 Tim Shaw, «Ambulation»: Aus Umgebungsgeräuschen entsteht eine Performance.
2 Mark Vernon, Künstler aus Glasgow, bei der Arbeit.
3 Stationen einer Lebensgeschichte: Tito Ries auf der Probetour des Sozialen Stadtrundgangs.
Spät kamen im Produktionsprozess auch die Ortstermine dazu. So fügen sich die unterschiedlichsten Erzählebenen, Audioelemente, Tonsituationen zusammen und verbinden sich mit Cellomusik. Wachter beschreibt seine Arbeit als «Kunsthandwerk»: ein journalistischer Ansatz mit künstlerischer Komponente. Etwa, indem das Cello keine Melodie spielt, sondern Klänge produziert, die die Brüche und Wendungen in der Biografie hörbar machen.
«Sonohr – Radio und Podcast Festival», 24. bis 26. Februar, Hauptspielort Kino Rex, Schwanengasse 9, Bern. Keine Tageskasse am Veranstaltungsort, Ticketbestellung online oder Tel. 0900 441 441 und TicketinoVorverkaufsstellen (z. B. Post-Filialen, BLS-Reisezentrum). www.sonohr.ch