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Europa Auf der Flucht

Was Menschen riskieren, um bei uns Schutz zu finden Seite 8

Strassenmagazin Nr. 547 31. März bis 20. April 2023 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen CHF 6.–

Entlastung

Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

STRASSENCHOR

Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl

Unterstützung

Entwicklungsmöglichkeiten

Expertenrolle Job

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

STRASSENMAGAZIN

Information

SURPRISE WIRKT

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

Perspektivenwechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2023!

Surprise nimmt im Sommer 2023 mit zwei Strassenfussball-Nationalteams am Homeless World Cup in Kalifornien teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler*innen zum Handshake handgemachte Fanschals an die gegnerischen Teams. Machen Sie mit!

Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht!

Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens 4. Juni 2023 an:

Solidaritätsgeste
Kultur
CAFÉ SURPRISE
INS Kurzportraet GzD Layout 1 09 05 17 15:43 Seite 1

Mehr als nur Zahlen

Es ist der 26. Februar, nahe der kalabrischen Küste, als ein Schlauchboot sinkt. Später werden 79 Leichen von Migrant*innen angeschwemmt, ein Drittel der Toten sind Kinder. Viele, die flüchten müssen, leben gefährlich, und wer es nicht schafft, wird statistisch erfasst: rund 3400 Migrant*innen kamen voriges Jahr allein bei der Überfahrt nach Italien ums Leben oder werden vermisst.

Dabei steckt hinter jeder dieser Zahlen ein – Mensch. Das mag banal klingen. Nur, die meisten derer, die auf der Flucht ihr Leben lassen, sterben anonym, fast so, als hätte es sie nie gegeben. Sie werden zu Statistik. Und die anderen Geflüchteten? Auch sie werden oft nur als Masse wahrgenommen, als Teil des «Flüchtlingsstroms», der sich angeblich zu einer «Welle» auftürmt und auf Europa zurollt. Als seien hier Naturkräfte am Werk, für die wir nichts können. Auch hier verschwinden die Einzelnen häufig hinter monströsen Zahlen.

Die Fluchtgeschichten in diesem Heft sind anders. Es geht darin allein um die, welche Flucht

selbst erlebt haben oder die sich haben berühren lassen von deren Schicksal: Adam Moussa Issaka, der uns seine Überfahrt übers Mittelmeer schildert, eindringlich und beklemmend; Ioannis Repapis, der aus Deutschland auf seine Heimatinsel Leros zurückkehrte, als 2015 immer mehr Geflüchtete dort ankamen – und der sofort zu helfen begann; und Zarar Ch., der in einem Chat darüber berichtet, wie er nach Monaten auf dem Balkan endlich Italien erreichte – und dort bisheute nicht richtig ankommen kann.

Mögen diese Geschichten nicht in jedem Fall von einem glücklichen Ausgang erzählen, so handeln sie doch alle von Hoffnung und damit von etwas, das in keiner Statistik jemals auftaucht: von Menschlichkeit.

Surprise 547/23 3 Editorial
4 Aufgelesen 6 Verkäufer*innenkolumne Arbeiten mit Behinderung 7 Na? Gut! Professionelles Deutsch lernen 7 Fokus Surprise Mehr als eine gute Tat 8 Migration Übers Mittelmeer 12 Zurück in die Heimat, um zu helfen 16 Endlich angekommen? 20 Fakten und Karten 22 Filmfestival Argentiniens Parallelwelten 24 Kino Die Verschmelzung des Unvereinbaren 25 Film In Gottes Abgründen 25 Film Wachsende Müllberge 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Pörtner in Zürich, Hardbrücke 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt «Als Geflüchteter bist du ausgeliefert» TITELBILD: JACOB EHRBAHN
KLAUS PETRUS Redaktor

Auf g elesen

News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Noch reicher dank Krisen

Die Krisen der letzten Jahre – Corona zum Beispiel oder jetzt der Ukrainekrieg – haben die Reichsten der Welt noch reicher gemacht, so eine neue Studie der britischen NGO Oxfam. Das betrifft insbesondere Investor*innen aus den Bereichen Rüstung, Öl, Energie und Lebensmittel. Insgesamt gingen 63 Prozent des weltweiten Vermögenszuwachses seit 2020 an das reichste Prozent der Weltbevölkerung. Umgekehrt konnten sich vergangenes Jahr weltweit 3,1 Milliarden Menschen keine ausreichende Ernährung leisten, so viele wie im vergangenen Jahrzehnt nicht. Oxfam fordert deshalb eine höhere Besteuerung der Vermögen.

Stalking von Frauen

Fast 22 Prozent aller Frauen in Österreich sind von Stalking betroffen, wie eine Studie des dortigen Bundeskanzleramts zeigt. Das Spektrum von Stalking ist weit, es geht um konkrete Verfolgung («Nachgehen») über unerwünschte Anrufe, Emails oder Briefe bis hin zu Bedrohungen, körperlicher Gewalt und sexuellen Übergriffen. In Österreich gilt seit dem 1. Juli 2006 das sogenannte Anti-Stalkinggesetz.

Verdeckte Obdachlosigkeit

Frauen über 55 waren zwischen 2011 und 2016 die am schnellsten wachsende Gruppe von Wohnungslosen in Australien. Die nationale Statistikbehörde schätzt, dass im Jahr 2030 rund 15 000 australische Frauen wohnungslos sein werden. Ältere Frauen schlafen selten auf der Strasse, leben eher in Autos, machen Couchsurfing oder nächtigen in improvisierten Bauten. Somit bleiben sie unsichtbar. Altersarmut durch unbezahlte Carearbeit und häusliche Gewalt sind die beiden Hauptursachen für Wohnungslosigkeit

Frauen

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von im Alter.
AB 6. APRIL IM KINO
HINZ & KUNZT, HAMBURG TAWFEEK BARHOM FARES FARES «Ein vielschichtiger Polit-Thriller mit atemberaubenden Bildern. » EURONEWS
DIE KAIRO VERSCHWÖRUNG EIN FILM VON TARIK SALEH ANZEIGE
CAIRO CONSPIRACY
63 %
des weltweiten Vermögenszuwachses ging seit 2020 an das reichste Prozent der Weltbevölkerung. MEGAPHON, GRAZ
THE BIG ISSUE, AUSTRALIEN

Werden wir überflüssig?

Künstliche Intelligenz (KI) scheint gerade grosse Sprünge zu machen: Es sind leicht verfügbare Programme auf dem Markt, die in Sekundenschnelle journalistische Texte schreiben, Gedichte verfassen, Bilder und Gemälde, wie die hier gezeigten, anfertigen – und das alles verblüffend ähnlich wie aus Menschenhand (manche sagen schon jetzt, die KI könne das besser als wir). Matthias Becher von der deutschen Strassenzeitung Trott-war ist diesen KI-Programmen auf den Grund gegangen und meint: «Sie können uns Menschen nicht ersetzen, denn was ihnen fehlt, ist Kreativität.» Dennoch sieht er eine Gefahr: Weil die KI-Produkte derart menschenähnlich seien, könnten Fake-News ganz einfach erstellt, geteilt und gestreut werden.

Land für Massenunterkunft mit bis zu 250 Bewohner*innen

gesucht

Im Oktober letzten Jahres beschloss die Stadtregierung von Portland im US-Bundesstaat Oregon die Einrichtung von Massenunterkünften sowie die Durchsetzung eines strikten Verbots, im öffentlichen Raum zu campieren. Nun wird nach Orten gesucht, wo solche Massenunterkünfte entstehen könnten. Landbesitzer*innen und Anwohner*innen stehen Notunterkünften auf ihrem Land und in ihrer Nachbarschaft nicht gerade offen gegenüber. In der Folge änderte der Stadtrat nun die Maximalbelegung der sechs Standorte auf je 250 Bewohner*innen, statt drei grössere Unterkünfte für bis zu 500 Personen zu bauen. Die Stadt muss jene Bürger*innen Portlands unterbringen können, die sie bei der Auflösung illegaler Zeltlager aufgreift. Zeitgleich plant Portland den Bau von 20 000 erschwinglichen Wohneinheiten bis 2033.

Weniger Leistungsbezüger*innen,

ungerechte Verteilung

2022 gab es in Québec 247 764 Sozialhilfeempfänger*innen. Eine alleinstehende Person erhält derzeit 770 kanadische Dollar Sozialhilfe pro Monat. Ein verheiratetes Paar in der gleichen Situation erhält 1167 Dollar pro Monat, das sind 375 Dollar weniger, als wenn sie ihre Ehe nicht angeben würden. Die Summe, die von den Leistungsbezüger*innen wegen falscher Angaben wieder eingezogen wird, beläuft sich laut der zuständigen Behörde für 2019/20 auf 30 Millionen kanadische Dollar. Darin sind jedoch die Einnahmen für alle Arten von falschen Angaben enthalten, nicht nur die für eheliche Lebensgemeinschaften. Es sei schwer zu sagen, wie viel Geld die Regierung für alle Programme zur Aufdeckung von Sozialhilfebetrug ausgebe, da diese im Rahmen grösserer Ermittlungen erfasst würden, gab eine Sprecherin der Behörden Auskunft.

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BILDER: MATTHIAS BECHER
TROTT-WAR, STUTTGART STREET ROOTS, PORTLAND L’ITINÉRAIRE, QUÉBEC

Arbeiten mit Behinderung

Den ersten epileptischen Anfall, an den ich mich erinnern kann, hatte ich mit vier Jahren, meine Schwester sagte mir aber, ich hätte schon mit drei Jahren einen gehabt. Später, Anfang zweite Klasse, hatte ich bis zu zwölf Anfälle pro Tag. Erst später erfuhr ich, dass die Schüler Wetten darüber abschlossen, wann ich wieder im Spital landen würde. Manchmal waren die Anfälle so heftig, dass ich Verletzungen davontrug und mit dem Krankenwagen abgeholt werden musste. Ich begann jeweils am ganzen Körper zu zittern und hatte Schaum vor dem Mund. Das ist eine der heftigsten Formen von Epilepsie. Wir waren sieben Kinder zuhause, ich bin der Zweitjüngste und war sozusagen das Sorgenkind der Familie, von Anfang an. Trotzdem geht es mir heute gut, und ich kann viele Sachen machen, die man mir eigentlich nie zugetraut hat. Früher glaubte man, dass ich nie arbeiten könnte. Neun Jahre lang habe ich bei der Behindertenwerkstatt Argo in Chur gearbeitet. Dort lernte ich einen Mann kennen, der beim Behindertensport tätig war und meinen Vater kannte. Er besass eine Damenschneiderei und fand, die Argo sei nichts für mich, ich solle doch zu ihm arbeiten kommen. So habe ich in die Privatwirtschaft gewechselt, und das war mein grosses Glück.

Nach rund anderthalb Jahren ging die Schneiderei Konkurs, doch der Chef hat mich weitervermittelt an eine RenaultGarage in Domat Ems, aber das war ein bisschen zu streng und ich bekam Schwierigkeiten mit einem Lehrling. Ich blieb vorerst in der gleichen Branche und wechselte zum Autospritzwerk. Dort sollte ich acht Autos pro Tag von Hand polieren. Ich sagte, dass das von Hand nicht möglich sei, mit einer Maschine vielleicht. Der Chef meinte, er könne das, und ich sagte ihm, dass er nicht ich sei, und so wurde das meine kürzeste Anstellung, sie dauerte etwa sechs Monate, dann war ich weitere sechs Monate arbeitslos. Danach wurde ich von der Firma Jörimann in Bonaduz angestellt, die Chefin dort ging mit meiner jüngsten Schwester in die Schule und fragte auf der Gemeinde nach, ob es jemanden gebe, der dringend eine Arbeit brauche. Ich bin mich vorstellen gegangen, und da stellte sich heraus, dass einer ihrer Brüder auch mit meinem Bruder zur Schule gegangen war. So wurde ich eingestellt und blieb 33 Jahre bei der Firma.

HEINI HASSLER, 64, verkauft Surprise in Chur. Er ist froh, dass ihm damals der Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt gelang. Und er findet, er sei da besser aufgenommen worden, als er erwartet hätte.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

Verkäufer*innenkolumne
ILLUSTRATION: PABLO BÖSCH

Professionelles Deutsch lernen

Im Asylbereich wird ausgebaut? Meldungen wie diese aus der Berner Zeitung und dem Bund sind selten: Neu bietet das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) des Kantons Bern in seinen Kollektivunterkünften professionelle – statt von Freiwilligen durchgeführte – Deutschkurse an. Auch wer ein Asylgesuch gestellt hat und im erweiterten Verfahren noch auf den definitiven Asylentscheid wartet, hat Anrecht auf fünf Stunden Deutsch- oder Französischunterricht pro Woche.

Der Kanton schreibt nicht vor, dass der Sprachunterricht professionell sein müsste. Deshalb trägt das SRK die zusätzlichen Kosten. Joel Meir, Geschäftsführer des SRK Kanton Bern, sagt: «Unser Hauptanliegen ist es, die Sprachkenntnisse möglichst früh zu fördern.»

Und so können Menschen mit N-Ausweis, die in den Kollektivunterkünften in Mühleberg, Worb, Büren an der Aare und Kirchlindach wohnen, seit Anfang März zweimal pro Woche zwei Stunden Deutschunter-richt bei ausgebildeten Erwachsenenbildner*innen besuchen und auf das Zertifikat A1 hinarbeiten.

Ergänzend führen Freiwillige ein zweistündiges Lernatelier durch. Ziel sei es, sagt Meir vom SRK Kanton Bern, dass die Menschen – sobald sie einen positiven Asylentscheid erhalten – auf den bereits erlangten Sprachkenntnissen aufbauen können. In den Kollektivunterkünften des SRK in Riggisberg und jenen im Berner Jura sind die professionellen Sprachkurse in Planung. LEA

Mehr als eine gute Tat

«Migration», der Schwerpunkt dieses Heftes, ist auch für die Verkäufer*innen des Surprise-Magazins zentral: Nur gut zehn Prozent von ihnen stammen aus der Schweiz. Die meisten tragen eine Migrationsgeschichte mit sich; glücklicherweise nicht in allen Fällen so dramatisch wie die der Personen in den Beiträgen dieser Ausgabe, aber dennoch meistens unfreiwillig –und immer damit verbunden, dass sie unser Strassenmagazin verkaufen, um ihre Situation zu verbessern. Aber wie genau verbessert sich die Situation eigentlich mit dem Verkauf von Surprise?

Offensichtlich sind die drei Franken, welche die Verkaufenden pro Heft behalten können, abzüglich der Sozialabgaben von CHF 0.20 ergibt das einen Gewinn von CHF 2.80. Für armutsbetroffene Menschen summiert sich dies schnell zu einem ernstzunehmenden finanziellen Zuschuss. Ebenfalls wichtig ist die berufliche und soziale Integration: Surprise zu verkaufen erlaubt eine selbstbestimmte Erwerbstätigkeit. Zudem schaffen Kontakt und Austausch mit Ihnen, den Käufer*innen, eine Einbindung in die Gesellschaft.

alabgaben auf dem Lohn). Einerseits, weil Surprise ohne dieses Geld nicht existieren würde und es somit auch keine Hefte zum Verkaufen gäbe. Unsere Redaktion, die Heftgestaltung, der Druck und auch der Verein könnten ohne die Einnahmen aus dem Heftverkauf nicht überleben. Zudem organisieren wir für Verkäufer*innen auch Workshops, Kulturbesuche und zusätzliche Leistungen.

Andererseits – und das ist in unseren Augen der eigentliche Mehrwert – ist Surprise eben keine «normale» Arbeitgeberin, weil sie ihre «Angestellten» zusätzlich unterstützt. Weit über 1000 Stunden standen wir im letzten Jahr unseren Verkäufer*innen beratend und begleitend zur Seite: Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, zur Verbesserung der persönlichen Situation, juristische Beratung, Unterstützung bei Behördengängen und in gesundheitlichen Fragen. All dies leisten wir tagtäglich für unsere Heftverkäufer*innen.

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.

Aber auch von den CHF 2.80, die pro Heft an Surprise gehen, profitieren die Verkäufer*innen (wie alle Arbeitgeber*innen bezahlt auch Surprise die Hälfte der Sozi-

Sie sehen also: Mit dem Kauf des Heftes, das Sie in Händen halten, unterstützen Sie die Verkäufer*innen auf vielfältige Weise –ob sie nun biografisch aus der Schweiz stammen oder familiär erst später dazukamen.

Surprise 547/23 7 Na? Gut!
FOTO: RUBEN HOLLINGER
«Surprise zu verkaufen erlaubt eine selbstbestimmte Erwerbstätigkeit»: Nicole Amacher. Fokus Ihre NICOLE AMACHER Geschäftsführerin Surprise

Europ a Zu viele Menschen sterben seit Jahren an den EU-Grenzen. Wer sich daran gewöhnt, verliert ein Stück Menschlichkeit. Hinzuschauen hilft.

«Einsteigen oder sterben?»

Der Autor vertraute sein Leben Schleppern an, damit sie ihn von Libyen nach Europa bringen. Ob er überleben würde, war nicht klar. Heute ist er in der Schweiz und schreibt darüber, was er auf der Flucht erlebt hat.

TEXT ADAM MOUSSA ISSAKA FOTOS JACOB EHRBAHN

Als Flüchtling kann man nur mit Einladung legal in die Schweiz einreisen, im sogenannten Familiennachzug. Ich habe zwar einen Onkel in Genf, aber keinen Kontakt mit ihm. Vom UNHCR erhielt ich das Angebot, als Dolmetscher nach Ägypten zu gehen. Aber das wollte ich nicht. Dolmetscher zu sein, finde ich zwar sehr wichtig und interessant, aber es ist auch kein einfacher Beruf. Man ist immer wieder mit Krieg, Ungerechtigkeit und traurigen Geschichten konfrontiert, davon hatte ich genug. Ausserdem ist mein Leben in Gefahr, weil ich durch eine Verkettung unglücklicher Umstände im Tschad politisch verfolgt werde, unverschuldet. Deswegen wollte ich lieber die gefährliche Reise über das Mittelmeer wagen, um in die Schweiz zu kommen. Auf die Idee kam ich im Juni 2012, als die damalige Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Simonetta Sommaruga, das Flüchtlingslager Shousha an der tunesisch-libyschen Grenze besuchte – wo ich lebte und als Dolmetscher arbeitete. Das Lager war von der lokalen Bevölkerung angegriffen worden, die eine Protestaktion von Flüchtlingen auflösen wollten, und

die Situation war angespannt. Wir berichteten Frau Sommaruga über die Situation im Lager, und sie versprach im Rahmen der damals geschlossenen tunesisch-schweizerischen Migrationspartnerschaft, dass sich die Situation im Lager verbessern und die Sicherheit des Lagers gewährleistet würden. Die Schweiz finanzierte ein Projekt zur Unterstützung der Rückkehr und Reintegration von Drittstaatsangehörigen, die sich im Lager aufhielten. Dieser Besuch bewirkte eine grosse Stimmungsänderung im Lager. Hiernach fasste ich das Ziel, in die Schweiz zu kommen.

Über einen Kollegen nahm ich Kontakt mit Schleppern auf. Der Weg, den sie vorschlugen, führte vom Shousha-Transitlager in Tunesien nach Zuara in Libyen, von Libyen ins italienische Lampedusa und dann in die Schweiz. Ich wusste, dass diese Reise sehr gefährlich ist. Aber ich wünschte mir, endlich an einem zu Ort leben, wo es Gerechtigkeit gibt und die Menschenrechte gelten. Zurück nach Hause zu gehen, war keine Option, da dort mein Leben in Gefahr ist.

Die Reise begann um 03:00 Uhr vom Lager. Wir waren zu viert, wurden von einer Person zu Fuss vom Lager abgeholt und liefen ca. eine halbe Stunde bis zum Grenzübergang zwischen Tunesien und Libyen. Dort wurden wir von drei anderen Personen in Empfang genommen. Wir bezahlten das Geld, die Summe ist individuell unterschiedlich, es kostet zwischen 600 bis 1000 US-Dollar. Danach wurden wir angewiesen, uns zu fünft auf einen Pritschenwagen zu legen. Wir wurden mit einer Decke abgedeckt, zwei Bewaffnete standen daneben und ein weiterer Mann fuhr, sehr schnell. Ich hatte viel Angst, einer der Männer war sehr aggressiv. Wenn jemand von uns sich bewegte, trat er zu. So verbrachten wir die Fahrt bis Zoura in Libyen.

«Wir folgten den Sternen»

Wir kamen zu einem Bauernhof, dort waren 48 Personen untergebracht wie in einem Lager. Einer nahm uns die Handys, unser restliches Geld und unsere persönlichen Dinge wie Schmuck weg. Wie im Gefängnis. Dann sagte er: «Geht da rein.»

Wir befanden uns mit 53 Personen in einer 2-Zimmer-Wohnung. «Ihr dürft nicht laut reden und keinen Lärm machen. Ich komme morgen Abend wieder zurück.» Er verschloss die Türe mit einem Schlüssel und nahm diesen mit.

Am nächsten Abend kam eine andere Person mit einem Sack Brot, warf das Brot durchs Fenster und sagte: «Keine Fragen.»

Am vierten Tag wurden vier weitere Personen zu uns gebracht. Nun waren wir 57 Personen: Männer, Frauen, Kinder – alle zusammen. Es gab nicht genug Platz für alle. Ich und mein Freund haben uns abgewechselt: Er macht Platz für mich, damit ich zwei Stunden schlafen kann, dann mache ich für ihn das Gleiche. Fortlaufend kamen weitere Personen dazu.

Ein Mal kam einer und sagte: «Alle, die Arabisch verstehen, kommen auf die Seite. Welche Sprachen haben wir noch?» «Französisch und Englisch.» «Wir brauchen Dolmetscher für Französisch und Englisch.»

Unweit der libyischen Küste drohte ein Boot mit zu sinken, die Geflüchteten konnten gerettet werden. Zivile Organisationen wie Sea-Watch2 sind für die Geflüchteten oft die einzige Hoffnung.

Ich wollte nicht übersetzen, aber einer sagte, ich könne alle diese Sprachen. Also musste ich übersetzen. Folgende Informationen sollte ich weitergeben: Das Gebiet, in dem wir uns befinden, ist ein Kriegsgebiet und es ist nicht mehr sicher hier. Wir müssen in die Innenstadt umziehen. Doch das Wetter ist nicht gut und deshalb kann es länger dauern. Ein alter Mann sagte zu mir: «Wenn Sie für die übersetzen, werden sie Sie bei sich behalten und nicht gehen lassen.» Das nächste Mal habe ich extra

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schlecht gedolmetscht, zum Glück war mein Gegenüber eine andere Person und wusste nicht, was ich eigentlich konnte.

In der Nacht wurden wir mit einem Militärwagen in die Innenstadt gefahren. Dort gab es eine 3-Zimmer-Wohnung, aber auch noch mehr Leute, insgesamt waren wir nun 71 Personen. Die Idee war, dass wir hier mindestens einen Monat hinter verschlossenen Türen und ohne Essen verbringen, damit wir Gewicht verlieren. Es ging darum, mehr Leute in ein Boot zu quetschen.

Einen Monat und sechs Tage lang litten wir Hunger, hatten Angst vor Raketen und davor, dass irgendeine bewaffnete Gruppe uns finden würde. Dann kamen eines Nachts welche und holten zwei von uns ab. Wir wussten nicht, wohin sie sie brachten.

Am nächsten Tag gegen 4 Uhr nachts kamen die Schlepper wieder mit drei kleinen Autos und sagten, es ist jetzt Zeit, nach Europa zu reisen. Alle verbliebenen 69 Personen wurden in die drei Autos gequetscht. Wir befanden uns zu viert im Kofferraum, die ganze Strecke bis zum Strand. Ich bin fast gestorben.

Am Strand lag ein kleines altes Gummiboot. Und es kam noch eine zweite Gruppe Menschen. Alles in allem 102 Personen. Uns wurde gesagt, wir müssten unsere dicken Kleider am Strand lassen. Es waren dort fünf bewaffnete Schlepper und die beiden «Mitreisenden», die sie schon einen Tag zuvor abgeholt hatten. Die Schlepper hatten mit ihnen ein paar Übungen mit dem Gummiboot gemacht, weil diese beiden die Steuerung übernehmen sollten. Viele der Anwesenden sagten, sie wollten nun nicht mehr nach Europa, sie wollten auch das Geld nicht zurück. «Lassen Sie uns einfach frei gehen.» Die fünf Schlepper nahmen ihre Waffen und antworteten: «Einsteigen oder sterben?!»

Jacob Ehrbahn, 53, ist Fotojournalist und arbeitet für die dänische Tageszeitung Politiken; er wurde vielfach ausgezeichnet und hat das Buch «A Dream of Europe» (Dewi Lewis Publishing, 2021) publiziert, aus dem die hier abgebildeten Fotografien stammen.

Alle stiegen ins Boot. Ein Mann gab dem Steuermann einen Kompass und ein Satellitentelefon. Er sagte, er dürfe dieses nicht in Betrieb nehmen vor morgen früh. «Jetzt fahrt ihr in diese Richtung und folgt den drei Sternen bis morgen früh um neun Uhr. Dann nimmst du das Handy in Betrieb und befolgst die Anweisungen bis Lampedusa.»

Ein paar Flaschen mit Wasser und zwei mit Diesel lagen im Boot. Nicht genug Wasser für alle und fast kein Essen. Nur getrocknetes Brot gab es, aber das haben wir den Kindern gegeben. Drei Kinder waren unter uns. Es herrschte viel Stress. Einer sagte: «Losfahren, losfahren.» Ich stellte mir vor, wie wir alle sterben würden, da wir so viele Leute waren, dazu das schlechte Gummiboot, ein unerfahrener Kapitän – eine grosse Katastrophe.

Wir folgten den Sternen. Etwa um acht Uhr morgens wollte der Kapitän das Handy einschalten, aber der Akku war leer. Der Kompass zeigte keine bestimmte Richtung an. Es gab Streit zwischen den Reisenden, einige sagten: Fahren wir zurück, andere sagten: Wir fahren weiter. Wir einigten uns aufs Weiterfahren.

Gegen zehn Uhr abends stellte sich der Motor ab und startete auch nicht wieder. Etwa drei Stunden trieben wir auf offener See. Dann fing das Gummiboot an, Luft zu verlieren und Wasser drang ein. Wir versuchten, das Wasser mit den Händen abzuschöpfen, aber das hatte keine Wirkung, es kam immer mehr. Plötzlich hatte jemand die Idee, dass wir ein paar Personen ins Meer werfen müssten, damit der Rest überlebt. Ich war damit nicht einverstanden und stand auf. Ich sagte, das ist keine gute Idee. Wir sterben alle zusammen oder überleben alle zusammen. Viele sagten, ja, das ist richtig: Wir sterben alle zusammen.

Auf nach Sizilien

Alle hatten die Hoffnung verloren. Das war der schlimmste Tag meines Lebens. Nach langer, nervenaufreibender Zeit sahen wir auf einmal ein starkes Licht, das langsam in unsere Richtung kam. Über einen Lautsprecher sagte jemand auf Englisch: «Ruhe bewahren, nicht bewegen. Spricht jemand von Ihnen Englisch oder Französisch?»

Es war ein riesiges Schiff des französischen Militärs, das ganz langsam in die Nähe unseres Gummiboots kam. Die Leute schrien: «Hilfe, Hilfe» in verschiedenen Sprachen. Vom Schiff warf man uns eine Strickleiter zu und sagten, es dürfe sich niemand bewegen. «Alle bleiben sitzen und folgen meinen Anweisungen, sonst ertrinken Sie alle.»

Stadthaus 20.1.—15.7.2023Ausstellung stadt-zuerich.ch/ausstellung

Sie holten uns eine*n nach dem*r anderen auf das Militärschiff. Sie fotografierten unser Gummiboot, liessen die Luft heraus, verteilten den Diesel darauf und steckten es in Brand. Uns gaben sie Wasser und fragten: «Wann und von wo seid ihr losgefahren?» Wir antworteten, dass wir gegen vier Uhr morgens von Zuara losgefahren seien und nach Lampedusa in Italien wollten. Der Kommandant teilte uns mit, dass wir uns jetzt in der Nähe

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FOTO: ZVG
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von Benghazi befänden und in Richtung der Grenze zwischen Libyen und Ägypten getrieben seien. Er sagte auch: «Ihr habt Glück, dass wir hier sind. Ich melde jetzt, dass wir euch gefunden haben, und dann sehen wir, was weiterhin geschieht.» Alle riefen: «Wenn Sie uns nach Libyen schicken, springen wir alle ins Meer.» Nach einer halben Stunde kam er wieder, um uns über die weiteren Schritte zu informieren. Alle hörten zu. «Ich habe die Rettungszentrale kontaktiert: Libyen, Tunesien und Ägypten sind keine sicheren Länder, wir dürfen euch nicht dorthin bringen. Die Rettungszentrale schickt uns nach Italien, unser Ziel ist jetzt Sizilien.» Wir freuten uns.

Um etwa fünf Uhr morgens fuhren wir mit dem grossem Schiff weiter. Nun fühlte ich mich sicher und hatte wieder Hoffnung. Ich schloss mich mit einem Freund dem Kochteam des Schiffes an, um Essen und Trinkwasser zu verteilen. Gegen sieben Uhr stiess das Schiff auf ein weiteres Gummiboot mit 65 Insassen. Leider war es windig und die Rettung schwieriger. Die Leute bekamen dieselben Informationen, dass sie sich nicht bewegen dürften. «Bitte bleiben Sie ruhig.» Aber als die Strickleiter hinuntergeworfen wurde, standen alle gleichzeitig auf und wollten auf das grosse Schiff. Wegen des plötzlichen Ungleichgewichts kippte das Gummiboot und alle stürzten ins Wasser. Viele waren unter dem gekenterten Gummiboot gefangen. Sofort wurden Rettungsmassnahmen eingeleitet, doch ein Mann wurde zum Schiffspropeller gezogen und tauchte nicht wieder auf.

Mit dem grossen Schiff waren wir etwa zweieinhalb Tage unterwegs. Dann kamen wir an die sizilianische Küste. Dort wurden wir von einer grossen Anzahl Rettungsorganisationen empfangen. Rotes Kreuz, Ärzte ohne Grenzen, der UNHCR und auch die italienische Polizei waren vor Ort. Als Erstes wurden wir von der Polizei registriert, dann folgten medizinische Untersuchungen, Kleider und Decken wurden verteilt.

Ich und mein Freund hatten einen gültigen Flüchtlingsstatus vom UNHCR, aber wir wollten wegen des Dublin-Abkommens nicht in Italien registriert werden. Wir haben erfahren, dass wenn man in einem der Mitgliedstaat der Dubliner Asylvereinbarung das erste Asylgesuch stellt, man weiterhin dort bleiben muss.

Während des Abendessens kam der Cousin meines Kollegen. Er arbeitete beim Roten Kreuz. Er sagte, sein Cousin müsse unbedingt und so schnell wie möglich den Ort verlassen: «Ich werde dir dabei helfen.» Mein Freund erwiderte: «Adam ist mein bester Freund. Er muss unbedingt mit mir kommen.» Ich hatte das Gespräch verstanden, noch bevor sie übersetzten, da ich Eritreisch gut verstehe. Sie haben es mir trotzdem noch einmal auf Englisch erklärt. Der Plan war so: Der Cousin würde ein Auto für uns organisieren und uns zu seiner Wohnung in der Innenstadt bringen. Das Auto könnte nur weit weg vom Lager halten. Deshalb müssten wir direkt nach dem Abendessen das Lager zur Fuss verlassen und sehr gut aufpassen, dass uns die Polizei nicht sieht.

Als wir am Lager losliefen, merkte ich, dass die italienische Polizei kein Interesse an uns hatte. Wir liefen ohne Hindernis vom Lager bis zum Auto und fuhren mit dem Auto bis zum Haus unserer Gastgeber. Dort konnten wir duschen und übernachten. Am nächsten Morgen durfte ich mit meinem eigenen Cousin in Israel telefonieren. Er überwies mir Geld mit Western Union, damit ich das Billett für die weitere Reise selber bezahlen konnte.

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Diese Männer konnten noch gerettet werden, für viele andere Geflüchtete bedeutet die Fahrt übers Mittelmeer den Tod. Adam Moussa Issaka, 43, findet, die Bilder von Jacob Ehrbahn passen perfekt zu seinem Bericht und möchte in diesem Zusammenhang auch nicht unerkannt bleiben.
FOTO: ZVG

Menschen in Lagern

Als 2015 immer mehr Geflüchte auf den griechischen Inseln ankamen, kehrte Ioannis Repapis aus Deutschland auf seine Heimatinsel Leros zurück und half bei einer Organisation. Bis er nicht mehr konnte – und auch nicht mehr wollte.

Schon als Kind spielte Ioannis zwischen den Orangenbäume im Garten seiner Familie. Heute blühen Avocados und Guaven hinter dem eisernen Zufahrtstor vor dem blauen Familienhaus. Leriot*innen, die früher in Ägypten gelebt hatten, sollen die saure Frucht im 19. Jahrhundert auf die Insel gebracht haben. Die meisten Bäume waren schon vor 100 Jahren gepflanzt worden – bevor Ioannis’ Vater das zerbombte Haus nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufbaute. Damals fehlte eine Seite der Fassade fast komplett, und dort, wo heute Hunderte Bücher in einer kleinen Bibliothek in den Regalen stehen, schauten damals noch die Hühner aus dem Fenster.

Jede Generation, sagte Ioannis, hatte an dem blauen Haus gebaut, in dem er heute wohnte. Er kümmerte sich mittlerweile vor allem um die nachhaltige Bewirtschaftung der Zitrusbäume vor der Terrasse und die Wein- und Olivenbaumfelder rund ums Haus. Eigentlich komme es im Leben vieler Menschen, die vom kaputten System genug hätten, erst in der Mitte zu einem Bruch. «Bei mir ging das schneller», kommentiert er seinen frühen Rückzug in die Natur glucksend. Vor ihm auf dem Terrassentisch steht eine Tasse Tee neben einem dünnen Taschenbuch. Eine schwarze Katze zieht in Endlosschleife um seine Füsse.

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TEXT FRANZISKA GRILLMEIER

September 2020: Moria, das grösste Flüchtlingslager auf Lesbos, brannte ab, tausende Menschen suchten mit ihrer wenigen Habe das Weite.

tionieren. Viele Menschen nehmen ein Propellerflugzeug, um von einer Insel zur nächsten zu kommen. Der Flieger aus Athen musste auch bei meiner Anreise einen Zwischenhalt auf der kleinen Insel Astypalea einlegen. Nach einer halben Stunde Wartezeit in der winzigen Empfangshalle ging es zurück aufs Rollfeld und im Flieger weiter nach Leros.

Am verlassenen Flughafen mit seinen zerfransten Grasbüscheln und der abblätternden Fassade erwarteten uns vier Transitpassagiere nicht etwa Taxis auf dem Parkplatz, sondern drei Katzen und ein Strassenhund. Auf der Fahrt zu Ioannis’ Garten sah ich zu den weissen Häusern mit ihren viereckigen Fenstern hinauf, erkannte Windmühlen und Raben, die sich in den grauen Himmel schraubten, während die salzige Brandung an die steinernen Küsten schwappte. Es war eine wunderschöne Landschaft, voller Hügel mit Mandel- und Zypressenbäumen, auf denen jedes Haus wie ein Versehen und gleichzeitig wie ein Zuhause wirkte.

Bürokratische und andere Gewalt

Im November 2021, also zwei Monate nach der Eröffnung des Hochsicherheitslagers, hatte auch in Leros das «neue Kapitel des Migrationsmanagements» begonnen, wie es die Vorsitzende der EU-Task-Force Beate Gminder bei der Eröffnung des Lagers von Samos verkündet hatte. Die Isolation der, so Ioannis, «Unerwünschten», die in jeder Generation andere Namen kennt, erreichte die nächste Stufe.

Bevor der 32-jährige Ioannis Repapis 2016 auf seine Heimatinsel Leros zurückkehrte, arbeitete er im Bankensektor in einem Hochhaus in Frankfurt in der IT-Beratung. Als 2015 immer mehr Männer, Frauen und Kinder über die Meerenge von der Türkei auf die Insel flohen, kehrte er nach Griechenland zurück.

Erst campierten die Menschen entlang der Küste, dann wurden sie auf ein leeres, eingezäuntes Gelände gebracht, auf dem zuerst nur ein paar Polizist*innen standen. Die Regierung wollte das Lager zunächst geschlossen halten und selbst verwalten. Bis schnell klar wurde, dass es einfach zu viele Menschen waren, um sie in dem eingezäunten Bereich einzusperren. Die Verwaltung war auf humanitäre Hilfe und logistische Unterstützung angewiesen. Ioannis nahm eine Stelle als Aussendienstmitarbeiter beim Flüchtlingshilfswerk des UNHCR an, das von Anfang an auf der Insel präsent war. Fortan war er für die Logistik des neuen temporären Lagers zuständig. Zwei Jahre später, im Mai 2018, wurde er Leiter des kleinen Teams auf der Insel.

Leros ist eine der kleineren bewohnten Inseln in der südlichen Ägäis und im Winter von Lesvos nicht einfach zu erreichen, da Fährverbindungen nur sporadisch funk-

«Hier sind Sachen passiert, die eigentlich nie hätten passieren dürfen», sagte Ioannis auf der Terrasse vor seinem blauen Haus. Als die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im März 2020 darauf beharrt hatte, Griechenland sei das Schutzschild Europas, habe er lange überlegt, was das bedeutete. In den wöchentlichen Meetings beim UNHCR habe es oft geheissen, effektiver Grenzschutz müsse mit den Menschenrechten vereinbar sein. An diese wohlklingenden Worte glaube er schon lange nicht mehr. Eine harte Grenze aufrechtzuerhalten, sei in der Praxis nur unter Anwendung von Gewalt gegen Menschen möglich: nur durch das Zurückdrängen von Booten auf dem Meer oder bürokratische Gewalt wie beispielsweise die Aushebelung des Rechts auf Asyl im März 2020. Vieles, was Ioannis in den letzten Jahren gesehen hatte, konnte er nicht mehr vergessen. Da waren Menschen, die keine medizinische Behandlung bekamen, weil es keinen Zahnarzt gab, der sie hätte behandeln können. Er traf Kinder, die ihre Familien im Meer verloren hatten und sich an niemanden wenden konnten. An allen Ecken und Enden fehlten die Mittel, an der humanitären Notlage vor Ort etwas zu ändern. Die eigene Arbeit, sagte Ioannis, habe sich oft angefühlt, als würde er noch die Überreste eines Hauses stützen, das schon lange zusammengebrochen war.

Obwohl auf Leros weniger Menschen ankamen als auf den anderen Inseln, steckten die Menschen nach der EU-Türkei-Erklärung vom März 2016 auch hier in ihren Asylverfahren fest. Nordmazedonien hatte am 9. März 2016 die Grenzen geschlossen, und die Umverteilung der Geflüchteten in die 27 EU-Länder ging kaum voran. Kurz

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nachdem im Juni 2015 Tausende Menschen die griechischen Küsten erreichten, hatte der UNHCR den Notstand für Griechenland ausgerufen und das Land in ein grosses Einsatzgebiet verwandelt. Die Organisation war danach mit 600 Personen an zwölf Standorten präsent. Doch die Abhängigkeit von den europäischen Geldgebern brachte enorme Probleme mit sich. In einem Bericht des Guardian aus dem Jahr 2017, der die Verwendung der 803 Millionen Euro Hilfsgelder in dieser Zeit untersuchte, wurde die griechische UN-Mitarbeiterin Fotini Rantsiou mit den Worten zitiert: «Anstatt sich für den Schutz von Flüchtlingen einzusetzen, haben sie [der UNHCR] aus Angst vor den politischen Konsequenzen geschwiegen. Selbst wenn sie diese Politik kritisieren wollten, die gegen ihre Prinzipien verstösst, konnten sie das nicht.» Eines der Kernprinzipien des UNHCR-Mandats, sich auch über die konsequente Kritik an den zuständigen Behörden für den Schutz von Geflüchteten einzusetzen, schien damit von Anfang an kompromittiert.

Auf Leros hatte es, wie auf den anderen Ägäischen Inseln, trotz der immensen humanitären Koordination lange Zeit an der allernötigsten Infrastruktur gefehlt. Anfangs habe es in dem Empfangslager, das in den alten italienischen Kasernen am Hafen von Laki errichtet worden war, keinen Klempner gegeben, der zum Beispiel ein verstopftes Klo reparieren konnte, und auch keinen Arzt zur Untersuchung von besonders schutzbedürftigen Personen, erzählt Ioannis. Viele Notfallsituationen hätten in einer blossen Verschiebung der Zuständigkeiten geendet, womit am Ende des Tages oft niemandem geholfen war. In Verwaltungsfragen sei oftmals das Zufallsprinzip angewandt worden, sagt Ioannis. Jeder, der gerade ein Problem sah, versuchte ad hoc eine Lösung zu finden. Wie so oft auf der Insel, etwa bei einem Waldbrand oder einem Notfall in der Nachbarschaft, half man sich gegenseitig spontan.

Wen zur Rechenschaft ziehen?

Doch angesichts der fortschreitenden Dauer des Ausnahmezustandes funktionierte diese Taktik nur eingeschränkt. Durch die Müdigkeit, die irgendwann eintrat, seien Fehler passiert, die Stimmung sei schlechter geworden, und am Schluss habe niemand mehr gewusst, wer für welchen Bereich verantwortlich gemacht werden konnte, sagt Ioannis. Gemessen an humanitären Standards hätte auch dieses Lager niemals existieren dürfen. Nachts lag Ioannis oft im Bett und fragte sich, wer dafür zur Rechenschaft gezogen werden konnte, wenn jemand starb oder keine medizinische Versorgung bekam. Was passierte, wenn die Polizist*innen Gewalt anwendeten und man selbst nichts dagegen machen konnte? Ioannis haderte zunehmend damit, ein Lagersystem zu unterstützen, das Menschen mit jedem weiteren Monat an ihre mentalen und körperlichen Grenzen brachte. «Es ist ja nicht so, dass man mit Gütern in einem Lager handelt, sondern mit Menschenleben», sagt er. «Auch wenn man sie auf die gleiche Art und Weise in Excel-Tabellen einträgt.»

Als die Zahl der Ankommenden im Herbst 2019 wieder anstieg, wurde es im Lager immer enger. Viele Menschen

mussten in die alten Behandlungszimmer der verdreckten Psychiatrie-Ruine ziehen, auf alten Stahlgittern schlafen, ohne Strom oder sanitäre Anlagen. Kaum jemand fühlte sich mehr für die Menschen verantwortlich. Nach drei Jahren wusste Ioannis nicht mehr, warum er jeden Morgen an den Schreibtisch in seinem UNHCR-Container zurückkehrte. Er kündigte Mitte Juni 2019. «Wenn du mit dem Zweifeln beginnst, ist es Zeit zu gehen.»

Stacheldraht mit Widerhaken

Als wir den Hafen von Laki erreichten, brauten sich dichte graue Wolken über uns zusammen. Die drei Ebenen der gewaltigen Architektur hoben sich strahlend von dem schwarzblauen Hintergrund des Himmels ab. In der Mitte stand die fensterlose Ruine von Lepida, der alten «staatlichen psychiatrischen Heilanstalt», die Ende der 1990er Jahre geschlossen worden war. Darunter glänzten die Containerdächer des alten Lagers von Leros. Von einer militärischen Kaserne wurde das Gebäude später zur Anstalt

Geschafft: Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan kommen im Juni 2015 nach einer langen und gefährlichen Überfahrt auf Lesbos an.

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für psychisch erkrankte Menschen und dessen Vorplatz schliesslich 2016 zum Hotspot für Geflüchtete, die auf der Insel ankamen. Und darüber erhob sich nun seit kurzem das neue «Closed Controlled Access Center». Anfangs, sagt Ioannis, sei der Aufschrei gross gewesen, als die Regierung entschieden hatte, Geflüchtete in der alten Psychiatrie unterzubringen. Auch die Ärzte, die noch im offenen Teil der Anstalt arbeiteten, waren entsetzt.

«Dabei», sagt Ioannis, «gewöhnt sich das Auge irgendwann an alles. Auch an neuen Maschendrahtzaun.» Im November 2021 wurden die verbliebenen Geflüchteten in das neue Hochsicherheitslager transferiert, das sich wie ein glänzendes Ufo über dem verfallenen Psychiatriegebäude in den Stein klammerte. Bei unserem Besuch im Frühling 2022 lebten hier nur mehr eine Handvoll Menschen bei einer Kapazität von 2000. Das Gelände wurde –wie auf Samos – 24 Stunden am Tag mit Kameras überwacht, der Ein- und Ausgang durch Drehkreuze geregelt. Drumherum: Stacheldraht mit Widerhaken.

Von unserem Standpunkt sahen wir – abgesehen von den beiden Polizeiwagen, die durch das Eingangstor fuhren –niemanden. Zu allen Zeiten in der Geschichte Griechenlands seien hier Menschen gestrandet, sagt Ioannis. Schon im Mittelalter wurden Leprakranke nach Leros verbannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auf der Insel ein Umerziehungslager für 30 000 Kinder geflohener oder getöteter kommunistischer Partisan*innen errichtet, und die rechtsextremistische Militärjunta, die zwischen 1967 und 1974 über das Land herrschte, internierte und folterte hier Regimegegner*innen. Auch der verstorbene griechische Komponist und Schriftsteller Mikis Theodorakis, der für viele Griech*innen die «Stimme des Volkes» war, sass hier ab 1967 als politischer Gefangener in Haft. In seinem Lied «Wir sind zwei, wir sind drei» heisst es: «Es tut dir weh, es tut mir weh, doch wer hat die grössten Schmerzen? Es kommt die Zeit, die es uns sagen wird.»

Jede Epoche eine neue Form der Isolation: Ab 1957 wurden infolge eines königlichen Dekrets vom Festland Hunderte unheilbare Patient*innen mit Schiffen in die Psychiatrie auf die Insel gebracht. Der Autor Klaus Hartung schrieb noch 1989 in der deutschen Tageszeitung

Taz: «Achtzig Männer mit kahlgeschorenen Köpfen, sommers wie winters nackt, an Betten gefesselt oder in kleinen Betonhöfen verwahrt, menschliche Endzustände eines Psychiatrielagers (sic!) auf der griechischen Insel Leros.»

Spuren der Geschichte

Ende der 1980er-Jahre tauchten in internationalen Medien immer grausamere Bilder auf. Schon 1981 hatten zehn Ärzte gegen die unhaltbaren Zustände in der Psychiatrie protestiert, in der die Insassen auf den Treppen schliefen und teilweise nackt angekettet waren. In den 1990er-Jahren begann eine von der EU geförderte Reform, die Anfang der 2000er-Jahre zur Schliessung der Psychiatrie führte.

Als Kind hatte Ioannis von alldem nicht viel mitbekommen. Doch er erinnert sich, dass viele Leute auf die Frage nach ihrem Beruf immer wieder «Douleuo» sagten: «Ich arbeite drinnen.» Damit hätten alle sofort gewusst, was gemeint war. In ihrer Hochphase liefen über 70 Prozent des Einkommens der Insel über die Psychiatrie. «Douleuo» sage man heute, wenn man im Fluchtlager arbeitet. Die Spuren der Geschichte kamen nicht nur in den verfallenen Ruinen am Hafen, sondern auch in der Sprache der Inselbewohner*innen zum Vorschein.

Wir fuhren auf die gegenüberliegende Seite der Küste, um aus der seitlichen Vogelperspektive einen Blick auf das neue Lager zu werfen. Ioannis hielt sich die Jacke am Hals zu, um den Wind abzuwehren, und lief zum Rand des kleinen Hügels. Von hier war die Bucht von Laki gut zu überblicken. «Die Regierung sagt, wir könnten uns mit den neuen Hochsicherheitslagern sicherer fühlen. Das tue ich nicht. Im Gegenteil. Wer kann später einmal kontrollieren, was dort passiert?»

Der Text stammt aus dem jüngst erschienenen Buch «Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas» (C.H. Beck, 2023) von Franziska Grillmeier.

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«Und du, wo bist du?»

Monatelang steckte der Pakistani Zarar Ch. während seiner Flucht auf dem Balkan fest, dann erreichte er Italien. Seit sechs Jahren lebt er nun schon dort – doch angekommen ist er nicht.

Subotica, im November 2016, eine verfallene Fabrik nahe der serbisch-ungarischen Grenze, ohne Strom und fliessend Wasser. Zarar Ch., damals 23, war gemeinsam mit seinem Bruder und einer Handvoll Freunden im Frühjahr aus Pakistan unweit der Hauptstadt Islamabad geflohen – vor den Taliban, wie er mir sagte. Ich traf ihn in den folgenden Monaten immer wieder irgendwo in Serbien, in Belgrad, Sombor oder Šid, mal für eine Stunde oder zwei, ein andermal verbrachten wir Tage zusammen. Ich schrieb einen Artikel über Zarar Ch., als der Balkan für ihn, wie für viele andere, zur Sackgasse wurde. Dann, im August 2017 und nach einem dreiviertel Jahr auf dem Balkan, gelang ihm die Flucht über Ungarn und Österreich nach Italien. Dort lebt Zarar Ch. bis heute, zuweilen froh im Herz, dann aber auch verzweifelt, mit dunklen Gedanken. Ich habe ihn dort auch besucht, wollte wissen, wie das für ihn ist: ankommen – oder eben nicht. In all dieser Zeit, von Mai 2017 bis heute, blieben wir in Kontakt, schrieben uns auf Englisch Nachrichten; inzwischen ist dieser Chat, auf A4-Blättern ausgedruckt, auf 187 Seiten angewachsen. Er handelt von Schleppern und von Scham, von Essen und Arbeiten, von fröhlichen Weihnachten und trüben Sommertagen – und von Versprechen, die es einzulösen gilt, bevor es zu spät ist.

03.05.2017, 07:26

Klaus P: Hey Zarar. Wir haben uns letztes Jahr in Subotica getroffen, an der Grenze zu Ungarn, haben lange geredet. Ich werde diese Tage zurückkehren, wollen wir uns sehen?

Zarar Ch: Natürlich erinnere ich mich. Weiss allerdings nicht, ob ich dann noch in Belgrad sein werde. Das Wetter ist endlich gut. Muss jede Gelegenheit nutzen, um über die Grenze zu gelangen.

15.05.2017

Klaus P: Bin in Belgrad angekommen, nehme den Bus nach Subotica und von da nach Horgoš in den «Dschungel», habe Kontakte zu Geflüchteten dort, die mit Lastwagen über die Grenze wollen. Du?

Zarar Ch: Pass auf die ungarische Polizei auf, es sind Bastarde. Bin in Sombor, in einem Lager. Würde mich freuen, dich endlich wieder zu sehen. Kommst du voran?

Klaus P: Weiss nicht recht. Alle machen dieselben Bilder von euch Geflüchteten, ich auch, das ist Quatsch. Werde auf dem Rückweg ein paar Bilder vom Belgrader Busbahnhof machen, jetzt sind all die Journis ja weg, mal schauen. Dann nehme ich den Bus nach Sombor und wir sehen uns, hoffentlich.

Zarar Ch: Ok, mein Freund.

Klaus P: Kann noch nicht weg. Habe Afghanen getroffen, sie wurden von der ungarischen Grenzpolizei offenbar misshandelt, schwere Verletzungen, Brüche, Verbrennungen, etc.

17.05.2017, 11:10

Zarar Ch: Ich bin in 20 Minuten in Belgrad, dort holen mich Schlepper ab, wir gehen noch diese Nacht los. Wo bist du? Immer noch in Subotica, an der Grenze? Ich rufe dich aus Italien an, inschallah ☺ Oder wir sehen uns übermorgen in Belgrad … ☺ Bete für mich.

18.05.2017, 09:32

Zarar Ch: Gestern zu viel Regen, konnten nicht los. Heute Nacht oder niemals.

20.05.2017, 17:43

Klaus P: Alles gut? Bin an der kroatischen Grenze. Du?

22.05.2017, 14:56

Zarar Ch: Wieder in Belgrad. Sie haben uns erwischt, irgendwo in Kroatien. Versuche nach Sombor ins Lager zu kommen. Vielleicht können wir uns sehen. Bin erschöpft, brauche ein paar Tage Ruhe.

04.06.2017

Zarar Ch: Mein Freund, wie geht es dir? Und deiner Arbeit? Wie ist das Wetter in der Schweiz? Um ehrlich zu sein, mir geht es nicht gut. Ich war wieder einmal über der Grenze – jetzt schon zwanzig, dreissig Mal? –, die ungarische Polizei hat uns erwischt. Sie haben mit Stöcken auf uns eingeschlagen. Immer wieder. Dann liessen

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TEXT KLAUS PETRUS

sie Hunde auf uns los. Irgendwann wurde mir schwindlig, sie schlugen weiter, einer verdrehte mit den Arm, ein anderer trat mir aufs Knie. Wir mussten uns nackt auf den Boden legen, und noch mehr. Ich schicke dir Bilder, schreib darüber, du kannst meinen richtigen Namen benutzen, mir ist alles recht.

Klaus P: Ist dein Bruder bei dir, hast du Hilfe? Darüber, deinen richtigen Namen zu benutzen, reden wir später, ich weiss nicht, ob das eine gute Idee ist.

23.07.2017, 15:38

Zarar Ch: Klaus, ich bin in Österreich ☺

Klaus P: Was???

Zarar Ch: Ja, über Ungarn und Kroatien, war alles ganz einfach, die Schlepper haben gute Arbeit gemacht. In ein, zwei Tagen will ich weiter nach Italien, inschallah.

Klaus P: Und alles gut bei dir?

Zarar Ch: Müde. Aber alles gut.

Klaus P.: Gottseidank.

Zarar Ch: Allhamdulillah.

27.07.2017, 20:38

Zarar Ch: Bin in Italien angekommen. Hoffe, kriege bald Arbeit und eine eigene Wohnung. Dann werde ich dich einladen, wir werden essen und reden.

03.09.2017, 22:47

Zarar Ch: Mir ist langweilig hier, muss den ganzen Tag warten. Mein Gott, aber auf was denn nur? Versuche, Italienisch zu lernen. Nicht leicht, ich sage dir. Möchte lieber nach Kanada. Und du, wo bist?

Klaus P: Gerade aus Albanien zurück. Wo ist dein Bruder, ist er immer noch in Serbien?

Zarar Ch: Ja. Es ist schlimm, ihn nicht bei mir zu haben. Er ist der Einzige, mit dem ich über mich rede, meine Sorgen. Und mit dir.

Klaus P: Ich komme bald nach Italien, versprochen.

19.11.2017, 20:35

Zarar Ch: Immer noch in Pordeone, ein Tag

Ungarische Polizisten hindern im September 2015 Geflüchtete am serbischen Grenzort Horgos daran, nach Ungarn zu gelangen. Davor hatte die ungarische Regierung mit dem Bau eines Grenzzauns begonnen.

gleich dem anderen, ich fühle mich verloren. Ich vermisse Serbien. Gottseidank ist mein Bruder inzwischen in Italien, aber auch er sitzt herum, in Bologna, hat keine Arbeit, nichts zu tun.

07.02.2018, 12:19

Zarar Ch: Noch immer keine Arbeit. Habe bald kein Geld mehr, was soll ich daheim sagen? Nun bin ich endlich in Europa, doch was habe ich davon? Wo bist du?

Klaus P: Bin wieder auf dem Balkan, wieder Migration. Ich weiss nicht recht. Bin so oft hier und jedes Mal wird es schlimmer. Keine Ahnung, wem das was bringt, was ich hier mache.

Zarar Ch: Rede nicht so, wir brauchen alle unsere Hoffnung.

Klaus P: Sag, wie verbringst du deine Tage?

Zarar Ch: Frag nicht. Sitze zu Hause, manchmal gehe ich mit Freunden aus oder so. Jetzt muss ich zum Freitagsgebet. Du auch? ☺

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31.03.2018, 11:40

Klaus P: Ich denke an deine Eltern, du hast mir so viel von ihnen erzählt. Wie geht es ihnen? Machen sie sich Sorgen?

Zarar Ch: Alle zwei, drei Monate rufe ich sie an. Weisst du, ich schäme mich sehr. Wenn sie wüssten, wie ich all die Monate in Serbien gelebt habe, in diesem Dreck. Wenn sie wüssten, wie uns die Menschen hier behandeln, als wären wir Tiere oder Terroristen. Wenn sie wüssten, dass ich keine Arbeit habe, den ganzen Tag rumsitze, trübe Gedanken habe. Was denkst du, würde mein Vater sagen, was meine Mutter?

Klaus P: Irgendwann wirst du sie wiedersehen und sie werden sich freuen, freuen mit dir!

Zarar Ch: Im Jahr 2050 vielleicht ☺ Was machst du gerade?

Klaus P: Ich ärgere mich, weil ich ewig auf ein Visum für den Irak warten muss.

Zarar Ch: Aber du kannst immerhin reisen, Habibi ☺

Klaus P: Jajajaja.

03.04.2018, 00:35

Zarar Ch: Was tust?

Klaus P: Schaue Netflix. Du?

Zarar Ch: Koche Reis.

Klaus P: Um diese Zeit?

Zarar Ch: Die richtige Zeit kommt niemals zur richtigen Zeit.

28.08.2018

Zarar Ch: Du warst wieder in Bosnien? Ich höre schlimme Geschichten, die kroatische Polizei sei noch brutaler als die ungarische? Habe noch immer keinen Job, es ist aussichtslos.

Klaus P: Habe ich dir von Abdullah und Samira, seiner Grossmutter, erzählt? Sie sind seit 2018 in Bosnien, kommen nicht weiter. Jetzt ist Samira nach Pakistan zurückgekehrt. Denkst du manchmal daran, nach Hause zu gehen?

Zarar Ch: Unmöglich. Was sollte ich denn meinen Eltern sagen? Meinen Schwestern, den Verwandten, all den Freunden? Sie denken doch, es gehe mir gut und alles sei bloss eine Frage von Tagen oder Wochen, bis ich Arbeit finde, Geld verdiene, Ansehen habe. Ich überlege mir ernsthaft, weiterzuziehen.

Klaus P: Habibi, wohin?

Zarar Ch: Nach Kanada. Keiner will in Europa bleiben.

Klaus P: Als wir uns das erste Mal in Ser-

bien begegneten, war Europa für dich wie ein gelobtes Land. Das waren deine Worte: ein gelobtes Land.

Zarar Ch: Ich wusste ja nicht, wie es hier wirklich ist. Dieser Rassismus überall, man behandelt uns ohne Respekt, verurteilt uns wegen der Hautfarbe. Natürlich sind nicht alle so. Aber doch, viele sind so. Es ist sehr, sehr schwierig, Kontakte aufzubauen, Freundschaften zu schliessen. Wir sind allein hier. Aber lass uns später darüber reden.

03.10.2018

Zarar Ch: Klaus!

Klaus P: Was ist los?

Zarar Ch: Heute habe ich meine Aufenthaltsbewilligung bekommen, jetzt kann ich mich auf die Suche nach Arbeit machen!

Klaus P: Yallah!

Zarar Ch: Ich bin sehr glücklich! Wir müssen uns unbedingt wieder sehen. Schon bald!

05.08.2019

Zarar Ch: Ich habe eine Wohnung gefunden, vorübergehend, ein italienisches Paar vermietet Zimmer an uns, wir sind vier Pakistani. Es ist sehr schwierig, etwas zu finden. Bist du Flüchtling und siehst aus wie

2018 hat sich die sog. Balkanroute nach Westen an die bosnisch-kroatische Grenze verschoben. Auch dort leben bis heute tausende von Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche, im «Dschungel» und versuchen über die Grenze in die EU zu kommen.

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wir, hast du kaum Chancen. Wo bist du?

Klaus P: In Bosnien, an der Grenze.

Zarar Ch: Eines Tages möchte ich zurück nach Serbien, möchte all die Orte wiedersehen, wo ich war.

Klaus P: Lass uns zusammen hingehen!

10.08.2019, 21:50

Zarar Ch: Eid Mubarak, Habibi.

Klaus P: Eid Mubarak, Habibi.

26.08.2019, 17:20

Zarar Ch: In drei Tagen fange ich eine Arbeit an, endlich! Und doch, mir ist so schwer.

Klaus P: Wunderbar, was für ein Job ist das? Und wieso bist du unglücklich?

Zarar Ch: Sag zuerst: Wie geht es dir, bist du glücklich?

Klaus P: Alles gut hier, habe viel zu tun. Glücklich? Du stellst aber Fragen!

Zarar Ch: Ich habe niemanden hier, dem ich mich öffnen kann, alles fresse ich in mich hinein, lächle dabei. Meine Gedanken sind dunkel, meine Gefühle reissen mich mal in diese, mal in die andere Richtung. Ich schlafe schlecht, bin unruhig. Ich versuche, meine Eltern nicht anzulügen, darum erzähle ich ihnen so wenig wie möglich von diesem Leben hier. Das ist nicht gut, mein schlechtes Gewissen, irgendwann wird es mich erdrücken.

Klaus P: Wir sollten wieder einmal telefonieren. Jetzt?

24.10.2019, 22:43

Zarar Ch: Die Arbeit auf den Feldern ist nicht ohne, 5 Tage die Woche, 10 Stunden am Tag, 5 Euro pro Stunde, Essen müssen wir selber mitbringen. Kein Italiener würde diese Arbeit machen. Also nehmen sie uns Flüchtlinge, sie sagen: Wir brauchen euch! Dabei werden wir herumkommandiert, kein freundliches Wort, nur Geschrei und Gebell. Ganz ehrlich, so einen Umgang gibt es bei uns, in unserer Kultur, nicht. Ich verstehe einfach nicht, warum es hier so viel Diskriminierung und Rassismus gibt. Ich weiss wirklich nicht: Wollt ihr uns, oder wollt ihr uns nicht? Was nehmen wir euch denn weg?

Klaus P: Erinnerst du dich, in einem unserer ersten Gespräche in Subotica, da sagtest du: «Ihr gebt uns Essen, bringt uns Decken. Gleichzeitig schiesst ihr auf uns. Wer versteht so was?»

21.12.2019, 22:16

Zarar Ch: Ich muss weg hier.

Klaus P: Wohin?

Zarar Ch: Rate mal.

Klaus P: Kanada.

Zarar Ch: ☺

11.01.2020

Zarar Ch: Ich sehne mich so sehr nach Serbien, ich vermisse diese Zeit, damals, als wir auf der Flucht waren. Es waren harte Zeiten, wirklich, aber es waren auch gute Zeiten. Ich habe dir nie erzählt, wie die Wohnung hier ist. Schau dir mal dieses Video an.

Klaus P: Unglaublich. Funktioniert die Toilette überhaupt? Das Spülbecken in der Küche? Alles versifft, welch eine Scheisse. Was bezahlst du dafür?

Zarar Ch: 130 im Monat. Schlimm, ja. Aber besser als nichts. Bin sowieso meistens am Arbeiten.

09.02.2020, 20:23

Klaus P: Hey, habe nachgedacht: Ja, lass uns gemeinsam zurück nach Serbien gehen, an all die Orte, wir treffen Leute, denen wir schon 2017 begegnet sind, Tibor, Zuzana, Christof, etc., die Flucht, dein Nicht-Ankommen in Italien – und deine Familie daheim, das ganze Programm. Dazu müssten wir aber wieder von vorne beginnen, ich müsste alle Details kennen.

Alle ☺ Wäre also richtig viel Arbeit. Und dann Pakistan: Wir hatten ja schon darüber geredet, dass ich hinfliege, deine Familie treffe. Was meinst?

Zarar Ch: Mann, du weisst, wie ich darüber denke!

Klaus P: Gut, dann machen wir das. Ich muss Geld auftreiben, wir brauchen einen guten Plan.

Zarar Ch: Und du sprichst alle Wahrheiten aus, auch die unangenehmen? Der Rassismus hier in Europa, ich möchte darüber reden können.

Klaus P: Du wirst über alles reden können.

Zarar Ch: ☺

27.04.2020, 20:39

Zarar Ch: Habe meinen Job in der Fabrik wegen Corona verloren. Mein Bruder arbeitet wenigstens noch an den Wochenenden im Restaurant in Bologna. Er schickt mir ein paar Euro, Gottseidank.

06.10.2020, 21:19

Zarar Ch: Endlich Arbeit gefunden, in einer Schokoladenfabrik. Wir schuften und schuften, wenig Lohn, aber will nicht klagen. Was tust du?

Klaus P: Schreibe mal wieder an einem Ar-

tikel über Migration. Ich komme nach Italien, wann passt es dir?

07.10.2020, 11:51

Klaus P: Happy Birthday, alter Knochen. Zarar Ch: Hey Mann mit weissem Bart, ich bin erst 27!

Klaus P: Als wir uns kennenlernten, warst du 23 und hattest Flaum um dein Kinn ☺ Wann hast denn endlich eine Freundin?

Zarar Ch: Du klingst wie meine Mutter!

24.12.2020, 17:21

Zarar Ch: Bin gerade im Zug nach Verona an eine Weihnachtsfeier.

Klaus P: Feierst du die Geburt des höchsten Propheten? ☺

Zarar Ch: Ihr Christen habt einfach die schöneren Feste.

10.05.2021, 20:17

Zarar Ch: Den Job verloren, fuck Corona. Und es ist Ramadan und ich habe noch keinen Tag gefastet. Du?

15.10.2021, 18:09

Klaus P: Schau mal, ich stelle gerade Bilder zusammen, auf diesem bist du zu sehen, das war irgendwo im «Dschungel» an der ungarischen Grenze, Februar 2017, du wurdest Tage zuvor von der ungarischen Grenzpolizei verprügelt.

Zarar Ch: Das bin ich, ja! Ich träume oft von dieser Zeit. Wache schweissgebadet auf. Und trotzdem vermisse ich sie.

20.12.2022, 21:58

Zarar Ch: Ich habe gerade eine richtig gute Zeit. Es ist gut, wie es ist. Ich kann schlafen, habe ein zwei richtig gute Freunde hier. Jetzt muss ich nur noch einen besseren Job kriegen, muss mehr Geld verdienen, will meine Eltern stolz machen. Das ist das Wichtigste.

12.03.2023, 11:36

Zarar Ch: Mein lieber Klaus, wie geht es dir? Hier ok, so im Allgemeinen. Habe Arbeit, immer noch in derselben Fabrik, aber jetzt ohne festen Arbeitsvertrag. Warum?

Keine Ahnung. Es waren Leute von einer Gewerkschaft hier, die wollen uns helfen, aber ich weiss nicht recht, habe Angst, den Job zu verlieren. Brauche eine neue Wohnung, die alte ist zu schmutzig. Aber wird schwierig, wir sind auf ewig die Flüchtlinge. Der Rassismus hier ist unerträglich. Aber ja. Sag, wann kommst du nach Verona? Du hast es versprochen.

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Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht wie heute –die wenigsten kommen nach Europa.

Seit Menschengedenken wandern wir, von Kontinent zu Kontinent, von Region zu Region, von Land zu Land – und immer überwinden wir dabei Grenzen, ob natürliche, kulturelle oder staatliche. Doch noch nie waren weltweit so viele Menschen zugleich auf der Flucht wie heute. Nach Angaben des UNHCR wurden allein 2022 über 100 Millionen Opfer gewaltsamer Vertreibungen; nicht eingerechnet sind Menschen, die von extremer Armut betroffen sind oder vom Klimawandel. 42 Prozent der Geflüchteten sind Kinder. Zu den vier Ländern, die 2021 am meisten Geflüchtete aufgenommen haben, gehören die Türkei, Uganda, Pakistan und der Sudan. KP

Westliche und zentrale Mittelmeerroute

Seit Anfang 2022 haben 125 000 Migrant*innen das Mittelmeer in Richtung Europa überquert, mehr als 17 00 Personen sind dabei ums Leben gekommen oder werden seither vermisst. Seit 2014 sind

25 817

Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken (Stand Februar 2023).

Östliche Mittelmeerroute / Griechische Inseln

2022 wurden in Griechenland fast 19 000 Ankünfte von Migrant*innen via Türkei dokumentiert, seit 2014 sind fast

1,3 Millionen

Geflüchtete auf den griechischen Inseln angekommen (Stand Februar 2023). Bei den auf dem Seeweg Ankommenden stammen rund 18 Prozent aus den palästinensischen Gebieten und 16 Prozent aus Syrien. Zudem sind seit Februar 2022 Tausende Ukrainer*innen in Griechenland angekommen, viele von ihnen haben griechische Wurzeln.

Balkanroute

Über die westliche Balkanroute sind bis September 2022 fast dreimal so viele Menschen in die EU geflüchtet als noch im Vorjahr. Insgesamt wurden

86 000

Grenzübertritte registriert. Das sind zehn Mal so viele wie 2019. Gleichzeitig liegt die Zahl der Geflüchteten noch immer weit unter dem Niveau von 2015: Damals kamen mehr als 750 000 Menschen über die Balkanroute in die EU.

Schweiz

Fast 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben Migrationshintergrund, die meisten stammen aus benachbarten Ländern wie Deutschland oder Italien. Darüber hinaus suchen infolge von Kriegen und Katastrophen immer mehr Menschen aus anderen Kontinenten Zuflucht in der Schweiz. So wurde die Schweiz nach 2015 zunehmend zu einem Transitland für Geflüchtete, was zu verschärften Kontrollen an den Grenzen führte. Zwischen 2015 und 2019 wurden rund 600  000 Einwander*innen registriert; während Corona nahm die Zahl erheblich ab. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges sind 78 313 Ukrainer*innen in die Schweiz geflüchtet (Stand Februar 2023).

Unterwegs
20 Surprise 547/23 1 Westliche Mittelmeerroute  2 Zentrale Mittelmeerroute  3 Alte Balkanroute 4 Neue Balkanroute
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Ukraine

Eine Fluchtbewegung innerhalb von Europa wie seit Jahrzehnten nicht mehr: 8 Millionen Menschen mussten seit Februar 2022 aus der Ukraine fliehen (Stand Februar 2023).

Bei den Geflüchteten handelt es sich in der Mehrzahl um Frauen und Kinder, da Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen (Ausnahmen gibt es z.B. für Väter von drei und mehr Kindern). Die ins Ausland Flüchtenden passieren zumeist die Grenze zu den westlichen Nachbarländern wie Polen, Ungarn, Rumänien oder Moldau.

Geflüchtete im eigenen Land

Spätestens seit 2015 steht Europa scheinbar im Fokus der weltweiten Flucht. Dabei kommt nur ein kleiner Teil der Geflüchteten nach Europa kommt. Germäss Vereinten Nationen suchen 86 Prozent der Betroffenen in sog. Entwicklungsländern Unterschlupf oder sie gelten als Binnenflüchtlinge, also als Menschen, die ihre Heimat verlassen, ohne dass sie die Landesgrenzen überschreiten. In der Subsahara etwa sind von insgesamt 58 Millionen Betroffenen 27 Mio. Binnenflüchtlinge, 0,7 Mio. fliehen in Richtung Europa.

Geflüchtete insgesamt, in Mio. davon Binnenflüchtlinge, in

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Mio. 20,0 10,6 25,3 11,9 9,4 3,4 58,2 27,6 3,6 0,8 18,0 7,8 36,2 15,0 Europa Lateinamerika/Karibik Nordafrika Subsahara Südostasien Südasien Westasien
QUELLEN: UNO-FLUECHTLINGSHILFE.DE,.BFS.ADMIN.CH, DE.STATISTA.COM, DATA.UNHCR.ORG
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«La Mujer sin Cabeza»: Die soeben verstorbene María Onetto als Veró erzählt über ihre Blicke ganze Geschichten. Mit «La Ciénaga» (zweites Bild) wurde die Regisseurin Lucrecia Martel 2001 international bekannt. Unten: Martel und Crew auf einem Dreh.

Argentiniens Parallelwelten

Filmfestival Die argentinische Filmemacherin Lucrecia Martel untersucht, wie viel Wahrheit über ihr Land in der Fiktion steckt. Sie ist Ehrengast an den Visions du Réel.

Die Zweiklassengesellschaft ist in Lucrecia Martels Werken allgegenwärtig. Der Kurzfilm «Camarera de Piso» (2022) gleicht einer tänzerischen Studie der Bewegungsabläufe einer Hotelputzfrau, die funktionieren muss, während sie unter dem Druck familiärer Probleme steht, die sie gleichzeitig aus der Ferne regeln sollte. «Leguas» (2015) ist Teil von «El aula vacía» – einem Spielfilm, der aus Beiträgen von elf Regisseur*innen besteht, und in dem es darum geht, dass fast die Hälfte aller Schüler*innen in Lateinamerika die Schule nicht abschliesst. Bildung ist aber die Voraussetzung für Gleichberechtigung, gleichzeitig ist die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung in das Schulsystem eingebaut. Oder der Kurzfilm «Nueva Argirópolis» (2010): Eine Gruppe von Indigenen versucht, den Río Paraná zu überqueren und wird verhaftet. Die Geschichte ist überschaubar; was haften bleibt, ist die Kluft zwischen den Bevölkerungsgruppen. Ein Fluss als Grenze, der zwei Welten, zwei Klassen trennt.

Lucrecia Martel ist eine Vertreterin des «neuen argentinischen Kinos», das in den 1990-Jahren entstand, als junge Regisseur*innen sich dezidiert von der bestehenden Filmindustrie abwandten, um mit kleinem Budget eine eigene Filmsprache zu entwickeln. Die Regisseurin und Drehbuchautorin interessiert sich – manchmal in dokumentarischer, oft in fiktionaler Form – für soziale Realitäten und die postkolonialen Probleme in Argentinien; oft sind die Geschichten in ihrer Herkunftsregion Salta angesiedelt.

Die herrschenden Machtverhältnisse werden in ihrer bedrückenden Selbstverständlichkeit gerade dann umso deutlicher, wenn Martel auf das Bürgertum fokussiert. Sie tat es 2001 mit «La Ciénaga» etwa, indem sie die Lethargie eines Urlaubs am Pool einfing, hinter der die existenzielle Krise der argentinischen Mittelschicht steht. Seither werden ihre Filme von Pedro und sein Bruder Agustín Almodóvar produziert.

Martels sorgsam durchkomponierte Filmbilder transportieren den Versuch einer Auseinandersetzung u.a. mit den Auswirkungen der Militärdiktatur, sie sperren sich gegen den Fluss der Geschichte, verweigern sich unserem Blick. Da sind absichtlich verstellte Einsichten, wenn wir als Zuschauer*innen etwa durch

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TEXT DIANA FREI FOTOS: LUCRECIA MARTEL

eine Tür hindurch linsen, die dann aber zugeschoben wird. Oder Dialoge, die im Off stattfinden oder über lange Strecken nur eine*n der Gesprächspartner*innen zeigen. Es entstehen so widerspenstige, aber sinnliche Bilder (und ebenso Tonspuren), die einen ganz eigenen Zugang zum Unausgesprochenen und zu einem kollektiven Bewusstsein herstellen.

Gefangen in der Schuld

In «Mujer sin Cabeza» (2008) flüchten die Blicke der Protagonistin Veró suchend aus dem Bildrahmen hinaus, oder die Worte der Haushälterin dringen nur als Stimme aus dem Untergeschoss herauf, als Echo der herrschenden Verhältnisse, in denen letztlich alle, Mächtige wie Unterdrückte, gefangen sind. Die Zerrissenheit der Gesellschaft ist denn auch in den Figuren selbst angelegt. Veró, eine gutbürgerliche Frau, überfährt mit dem Auto ein Etwas, ohne zu prüfen, was passiert ist – und glaubt danach, jemanden getötet zu haben. Wie betäubt bewegt sie sich nun durch ihr privilegiertes Leben, ohne Ventil für ihre (mögliche) Schuld. Ihr wird bewusst, dass ihr Umfeld – man hat die Macht und die Möglichkeiten – nach und nach alle Spuren beseitigen lässt, die es vom Unfall gegeben hat. Die Delle am Auto wird repariert, die Krankenhausakten ihrer leichten Verletzung abgeholt, die Buchung im Hotel, wo sie übernachtet hatte, ist gelöscht. Ein gewolltes Vergessen setzt ein, eine Auslöschung von Schuld. Es ist eine Umdeutung von Wahrheit, an der Veró allerdings psychisch langsam zerbricht. Es wird im Übrigen tatsächlich ein indigenes

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Kind vermisst. Und so geht es auch um gesellschaftliche Schuld, um das Verdrängen von sozialen Realitäten wie der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit von Reich und Arm. Was bleibt, ist die Lethargie und die moralische Last, welche die Figuren zu tragen haben.

So lässt sich «Zama» (2017), ein Kostümfilm mit aufwendig ausstaffiertem Personal, fast als logische Herleitung des Zustandes der modernen argentinischen Gesellschaft lesen. Der Film adaptiert den Roman «Und Zama wartet» des argentinischen Autors Antonio di Benedetto: Der Kolonialbeamte Don Diego de Zama wartet vergeblich auf seine Beförderung und die Rückkehr nach Hause zu Frauen und Kindern und geht daran zugrunde. Martel zeigt den Kolonialismus und Rassismus im Lateinamerika des 18. Jahrhunderts mit einem Gespür für historische Linien.

Lucrecia Martel wird in Nyon in einer Masterclass durch ihr Werk führen und ihren Bezug zur Darstellung von Realität – besonders auch in ihren fiktionalen Filmen – erläutern. Gegründet wurde das Visions du Réel zwar als Dokumentarfilmfestival. Die Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem wird aber schon seit Jahren ganz bewusst nicht mehr gezogen.

«Visions

Surprise 547/23 23 bhm.ch/ rausch 26.01.–13.08.2023
du Réel», Festival international de cinéma Nyon, 21. bis 30. April. visionsdureel.ch

Die Verschmelzung des Unvereinbaren

Kino Der Basler Musiker Manuel Gagneux kombiniert Black Metal mit Gospel. Ein Tabubruch, der ihm mit seiner Band «Zeal & Ardor» einen kometenhaften Aufstieg bescherte.

TEXT MONIKA BETTSCHEN

Das Internetforum 4chan ist dafür berüchtigt, dass im Schutz der Anonymität auch rassistische Inhalte geteilt werden. Trotzdem will sich der Basler Musiker Manuel Gagneux 2013 auf der Suche nach Inspiration dem ruppigen Ton stellen und fragt in die Runde, welche beiden Musikstile er kombinieren könnte. Einer sagt Black Metal, ein anderer nennt ohne Umschweife «N****-Musik».

Gagneux, Sohn einer Schwarzen US-Amerikanerin, reagiert zuerst irritiert, gibt der Idee aber eine Chance. Black Metal, entstanden im skandinavischen Raum, haftet ein braunes Image an, das Genre spielt mit satanistischen Elementen. Schwarze Musik scheint damit unvereinbar. Gagneux gelingt es, beides zu verbinden: Er lässt die beiden Stile aufeinanderprallen und stellt das Ergebnis ins Netz. Erst einmal passiert nichts. Bis 2016 die amerikanische Musikjournalistin Kim Kelly auf seinen Sound aufmerksam wird. Ab diesem Moment treffen Anfragen von Medien und Festivals ein, man will die Band «Zeal & Ardor» live sehen. Doch es gibt einen Haken: Bis zu diesem Zeitpunkt hat

Gagneux als Ein-Mann-Show alles alleine am Computer gemixt. Der Dokumentarfilm «Play with the Devil – Becoming Zeal & Ardor» von Olivier Joliat und Matthias Willi ist dabei, als in Rekordzeit zusammenfinden muss, was als Band auf der Bühne die Menge zum Kochen bringen soll. Gagneux holt Leute ins Boot, mit denen er sich auch vorstellen kann, in einem Tourbus zu sitzen. Die Kamera fängt Momente ein, an denen die Gruppe zwar noch unsicher ist, ob sie auf den grossen Bühnen bestehen kann, innerlich aber bereits zu einer Einheit zusammengewachsen ist.

Gebrandmarkt

Sie absolvieren zahlreiche Auftritte und werden dabei auch mit den beunruhigenderen Seiten des Erfolges konfrontiert. Etwa, als sich Leute während Konzerten das Logo von Zeal & Ardor in die Haut brennen. Manuel Gagneux hat das Bandlogo einem Brandzeichen nachempfunden, wie sie einst benutzt wurden, um Sklaven zu brandmarken. In den Medien entbrennen Kontroversen. Auch in den USA, wo die Musik Erinnerungen an eine Vergangen-

heit wachruft, die man lieber vergessen möchte, wie es ein Freund von Gagneux’ Mutter in New York formuliert. Zeal & Ardor treffen auch auf ein Publikum, das den Tabubruch – und die Tatsache, dass ein Schwarzer sich seinen Raum in der von Weissen dominierten Black-Metal-Szene nimmt, als einen Akt des Empowerment, der Rebellion, feiert.

Gagneux behagt die Idealisierung seiner Person nicht. Ihm geht es um Musik. Seine Faszination für Metal wurde in seiner Jugend durch eine Iron-Maiden-Scheibe geweckt. Als er dann begann, mit Black-Music-Einflüssen zu arbeiten, hiess es: «Das kannst du eh.» Aber er komme aus der Metal-Ecke und habe sich Black Music auch zuerst aneignen müssen. «Becoming Zeal & Ardor» gewährt einen tiefen Einblick in den Schaffensprozess und eröffnet auch einen neuen Zugang zum brisanten Thema der kulturellen Aneignung.

«Play with the Devil – Becoming Zeal & Ardor», Regie: Olivier Joliat und Matthias Willi, Dokumentarfilm, CH 2023, 72 Min. Läuft zurzeit im Kino.

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FOTO: FILMBRINGER

In Gottes Abgründen

Kino Der Dokumentarfilm «Unser Vater» gibt den verheimlichten Familien eines Pfarrers das Wort. Ein starkes Stück.

Nach der Schwängerung steckte er ihnen ein Couvert mit Geld für die Abtreibung zu. Die Hunderternote sei unberührt geblieben, erzählt Lisbeth Binder aus Dietikon. Ihre Mutter war in der Nachkriegszeit in der Pfarrei vom St. Moritzer Vikar und Chorleiter Anton «Toni» Ebnöther vergewaltigt worden. Gleich erging es der Mutter der Innerschweizerin Monika Gisler. Die Tochter wollte in den vergangenen Jahren die Wahrheit über ihren Vater herausfinden, den sie nur von Besuchen in seinem Gasthof in Vorderthal, Kanton Schwyz, kannte. An seiner Beerdigung hörte sie zum ersten Mal, dass Ebnöther noch andere Kinder hatte. Sie stiess auf zwei Brüder und drei Schwestern, für die er ebenfalls nie Verantwortung übernommen hatte. Zusammen mit dem Journalisten Miklós Gimes haben sie nun im Film «Unser Vater» ihre erschütternde Familiengeschichte aufgerollt. Von Ebnöther entsteht das Bild eines beliebten wie brutalen Mannes, der ständig Affären hatte und unbehelligt immer wieder übergriffig wurde. Er habe sie «zerdrückt und weggeworfen», sagt Lisbeth Binders Mutter. Der Pfarrer wurde als Konsequenz lediglich in andere Gemeinden versetzt. Aus der Kirche trat er später selbst aus und «starb als angesehener Gastwirt», wie Gimes schreibt. Beim Prozess zum Fall ihrer Mutter interessierte sich die Justiz eher dafür, ob sie eine «ehrbare und redliche» Frau gewesen sei, so Monika Gisler. «Gottes Wege sind immer gut», hört man Ebnöther in einer Archivaufnahme predigen. Und der Churer Bischof, den die Geschwister während des Drehs besuchen, blickt ungern genauer in Gottes Abgründe.

Wachsende Müllberge

Kino «Matter out of Place» folgt dem Weg des Abfalls und zeigt, wie man bei dessen Entsorgung weltweit an Grenzen stösst.

Die Abfallsammelstelle im Skiort Bettmeralp befindet sich in einem schmucken Unterstand, der an ein Chalet erinnert. Müllsäcke verschwinden dort diskret in Containern, die von einem Sammelwagen geleert werden. Das Fahrzeug schwebt unter einer Gondel hängend über die verschneite Landschaft talwärts, wo die Reise des Abfalls in einer Kehrichtverbrennungsanlage endet, während jene des Sammelwagens wieder nach oben führt – bereit für die nächste Ladung. Ein absurdes Bild.

Auch in Kathmandu bemühen sich die Menschen, ihren Abfall loszuwerden. Rikscha-Fahrer sammeln ihn in den Gassen ein. Auch hier landen die Säcke in Lastwagen. Diese fahren auf schlammigen Pisten zu einer offenen Deponie, wo sich der Unrat bereits monströs auftürmt. Es fehlen die Mittel für ein modernes Abfallmanagement. Doch bevor man sich in Europa Verbrennungsanlagen leisten konnte, wurde auch hier der Müll unsortiert im Boden verbuddelt. So startet der Dokumentarfilm «Matter out of Place» des österreichischen Filmemachers Nikolaus Geyrhalter denn auch auf einer Wiese in Solothurn, auf der ein Bagger die Abfallsünden vergangener Jahrzehnte zu Tage fördert.

«Unser Vater» legt mittels Oral-History-Interviews die Emotionen, Verletzungen und Risse frei, die durch die Generationen gehen. «Irgendetwas ist in einem drin», gegen das keine noch so dicke innere Mauer ankomme, sagt Toni Meier, der älteste Sohn, als er in Tränen ausbricht. Er vertraue niemandem mehr, seit er die Lügen seiner Eltern erfahren habe. Der Film würdigt die Courage dieser Familie, die das Schweigen gebrochen hat.

CÉLINE GRAF

Auf den Begriff «matter out of place» ist Geyrhalter am Burning Man Festival in Nevada gestossen, wo er ebenfalls gedreht hat. Damit ist Material gemeint, das an einen Ort gebracht wurde, wo es nicht hingehört. Geyrhalter folgt den Spuren unseres Überkonsums rund um die Welt, vom Meeresgrund an die Strände bis hinauf in abgelegene Bergtäler. In den für seine Filme charakteristischen langen Einstellungen und durch den Verzicht auf Kommentar und Musik gewinnen seine Bilder an Gewicht. Wie schon in «Homo Sapiens» (2016) oder «Erde» (2019) handelt auch «Matter out of Place» davon, wie der Mensch den Planeten verändert. Angesichts der stetig wachsenden Müllberge ist man oft kurz davor zu resignieren. Geyrhalters Film wirft die Frage auf, ob eines Tages einzig unser Abfall noch von unserer Existenz erzählen wird. MONIKA BETTSCHEN

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«Matter out of Place», Regie: Nikolaus Geyrhalter, Dokumentarfilm, Österreich 2022, 105 Minuten. Läuft zurzeit im Kino. «Unser Vater», Regie: Miklós Gimes, Dokumentarfilm, CH 2023, 73 Min. Läuft ab 6. April im Kino. FOTO: FRENETIC FOTO: FILMBRINGER

Veranstaltungen

Bern

«Auf der Suche nach der Wahrheit», Ausstellung, bis Sa, 24. Juni, Polit-Forum Bern, Marktgasse 67. polit-forum-bern.ch

Die Wanderausstellung zu Medien und Demokratie taucht in den Arbeitsalltag von Medienschaffenden ein und zeigt auf, warum Journalismus für den öffentlichen Diskurs wichtig ist. Im Newsroom – als Escape Room gestaltet – kann eine eigene Story recherchiert und publiziert werden und ein Quiz fordert die eigene Medienkompetenz heraus. Die Ausstellung arbeitet zehn für die Schweiz prägende Medienereignisse aus, von der Abstimmung zum Frauenstimmrecht 1959 über den Fichenskandal bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine, und sie vermittelt spielerisch Wissen und Instrumente zur Orientierungshilfe im Gemenge von Information und Desinformation. Im Rahmenprogramm gibt’s eine Debatte zu Medien in der demokratischen und politischen Öffentlichkeit oder zu neuen Medien- und Finanzierungsmodellen, der Tagi-Podcast «Politbüro» entsteht live mit Philipp Loser, eine Diskussion zur postmigrantischen Gesellschaft wird moderiert von Inés Mateos vom Institut Neue Schweiz INES. Und das Online-Medium Hauptstadt richtet sich mit einer offenen Redaktion eine Woche lang gleich ganz im Politforum ein. DIF

Auf Tour

«Muttertag», szenische Lesungen von Ralf Schlatter und Manuel Lindt, Fr, 14. April, Rikon, Winterquartier Pipistrello, 20 Uhr; Fr, 28. April, Würenlos, Alte Kirche, 20.15 Uhr; Sa, 13. Mai, Sursee, Somehuus, 20.15 Uhr; Sa, 10. Juni, Dielsdorf, Bistro Philosophe, 20 Uhr. ralfschlatter.ch

Vielleicht war es in Rümlang oder Niederweningen oder allenfalls in Turbenthal, wo in der Bahnhofsunterführung gesprayt stand: «First we take Turbenthal». Jedenfalls schreibt Schlatter richtig gute Bücher und ist toll auf der Bühne, und deswegen wüsste ich es heute besser und würden viel erwarten, wenn er in Rikon, Würenlos oder Dielsdorf aus seinem Werk «Muttertag» liest – und nicht nur das, es wird eine Wort-Ton-Film-Lesung zusammen mit dem Künstler Manuel Lindt. DIF

Schaffhausen

Die Welt flicken: Das hat 1966 schon die Fluxus-Künstlerin Yoko Ono mit «Mend Piece» getan – beziehungsweise eben dazu angeregt. Die Kuratorinnen des Kollektivs Collettiva zeigen nun unter dem Titel «The Mending Laboratory / Das Flicklabor» eine Reihe von Arbeiten, die zum Projekt «Mending as a Manner» der in Schaffhausen aktiven Künstlerin Ying Xu gehören. Ying kommt ursprünglich aus der chinesischen Malerei und der Zeichnung und zeigt für das Collettiva-Projekt «Das Feministische Kapital» in den Kunstkästen Schaffhausen ein Werk, das mit unserer Beziehung zur Natur, aber auch mit einer persönlichen Lebensphilosophie zu tun hat. Flicken als Kunst, als Praxis der Sorgfalt oder auch der Willkür –diese Ambivalenz interessiert die Künstlerin Ying Xu: Eine weisse Rose, die mit einem roten Faden geflickt wurde, kann als Akt der Bewahrung der Schönheit, aber auch als ein gewaltsamer Eingriff in die Reinheit dieser Blume gelesen werden. Zusammengenähte Fruchtschalen mögen lustig erscheinen –oder aber Kämpfe evozieren, gegen die Beschneidung von Frauen und Folter etwa, oder auch Themen wie Klimawandel oder Wiederverwertung einfädeln. DIF

Winterthur

«Stahl und Rauch.

100 Jahre Eingemeindung

Winterthur», », Ausstellung, bis So, 25. Juni, Mi 12 bis 18 Uhr, Do bis Sa 10 bis 18 Uhr, So 10 bis 17 Uhr, Museum Schaffen, Lagerplatz. museumschaffen.ch

Als ich vor vielen Jahren als Lokalredaktorin auf dem Land zum Kulturprogramm in eine Mehrzweckhalle geschickt wurde und etwas schnöselig nicht viel Spannendes erwartete, machte ich eine grossartige Entdeckung: den Kabarettisten Ralf Schlatter (im Duo schön&gut).

«Ying Xu: Das Flicklabor / The Mending Laboratory», Ausstellung, bis So, 4. Juni, Do 18 bis 20 Uhr, Fr 16 bis 18 Uhr, Sa/So 12 bis 16 Uhr, Vebikus Kunsthalle Schaffhausen, Kulturzentrum

Kammgarn, Baumgartenstrasse 19.

vebikus-kunsthalle-schaffhausen.ch, collettiva.ch

Ausgehend von der Geschichte Winterthurs rückt das Museum Schaffen die Rolle der Arbeiter*innen in den Fokus. Die Ausstellung zeichnet nach, wie Winterthur zu der Stadt wurde, die sie heute ist. Im Fokus steht die Geschichte der Industrialisierung und damit auch die der industriellen Arbeit. Die Ausstellung zeigt die Facetten des 30-jährigen Kampfes um die Eingemeindung, gibt historische Einblicke und erzählt von städtebaulichen Veränderungen. Den Bogen zu Heute schlägt «Stahl und Rauch» durch Interviews mit Winterthurer*innen und interaktive Elemente. Im Austellungsraum haben Besuchende Spuren hinterlassen – die Karte Winterthurs ist bereits mit allerhand Erinnerungen übersät: Erste Arbeitsstellen sind vermerkt oder Orte, an denen Winterthurer*innen zuletzt glücklich waren. Gemeinsam mit Bioterra findet am 16. April ein Gartenworkshop statt, und am 10. Juni führt der Verein Kehrseite Interessierte zu den Spuren des Kolonialhandels in Winterthur. DIF

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BILD(1): RDB FOTOGRAFEN, BILD (2): RUTH GRÜNENFELDER, BILD (3): YING XU, BILD(4): MUSEUM SCHAFFEN / LEA REUTIMANN
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Pörtner in Zürich, Hardbrücke

Surprise-Standort: Hardbrücke

Einwohner*innen: 436 332

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 32,2

Sozialhilfequote in Prozent: 4,5

Länge der Hardbrücke: 1350 Meter

Durch den Bahnhof Hardbrücke fahren nicht nur viele Züge, auch auf den Perrons ist es ziemlich zugig. Sofern man nicht zum Umsteigen ausgestiegen ist, muss man hinauf- oder hinabsteigen, um weiterzukommen. Hinauf geht es auf die namensgebende Hardbrücke, auf der Tram und Bus halten. In den Boden eingelassen ist eine Licht-Show, die das Verhalten der Radfahrenden steuern soll, welche der Veloweg mitten durch die Haltestelle führt. Wer sich weit genug vorwagt, hat Aussicht auf den Zürcher Hausberg und die altehrwürdigen Hard-Hochhäuser, je nach Tageszeit und Wind ist der Schlachthof zu riechen.

Auf der anderen Seite steht der PrimeTower, der ein paar Jahre lang das höchste Hochhaus der Schweiz war. Zuoberst befindet sich ein Restaurant und eine Bar,

von der aus man die Stadt weiträumig überblicken kann. Nicht der Eiffel-Tower, aber immerhin.

Wer vom Perron aus hinabsteigt, gelangt in einen kühlen Betonkeller, in dem es einen Kiosk gibt, weiter vorne gesunde Zwischenverpflegung. Für einmal fehlt die Mall, obwohl hier ein bedeutender Personenumschlag stattfindet. Tritt man wieder an die Erdoberfläche, befindet man sich immer noch unter dem schweren Betondeckel der Brücke. Hier ist erlebbar, was mit der grauen Energie gemeint ist, die in Bauwerken der Verkehrsinfrastruktur steckt. Linkerhand ist das moderne Zürich West aus Stahl, Glas und Beton, die Bürogebäude, eine Event-Halle, Verpflegungsstätten. Rechter Hand erstreckt sich ein noch nicht saniertes Gebiet kleinteiliger

Gebäude, Clubs, Restaurants, Cafés und Läden. Überbleibsel aus einer Zeit, als hier der Stadtrand lag und Platz für Experimente bot. Etwas weiter hinten beginnt bereits das neourbane Zwischending, die Viaduktbögen, wo es auch um Shoppen, Kultur und Essen geht, aber mit kleinen Läden und sozialen Projekten.

Dem Bahnhof ist es egal, ob man von links oder von rechts kommt, alle werden aufgenommen und abtransportiert. Hardbrücke ist einer der Bahnhöfe mit den höchsten Nacht-Frequenzen. Hier ist vor der Party nach der Party, frisch, fit und gestylt die Ankommenden, oft schon etwas zerzaust, schwankend und abgekämpft die Abfahrenden. Als eine Zeitlang die Tonhalle gleich nebenan einquartiert war, begegneten sich die Grosseltern- und Enkel-Generation in den S-Bahnen, die in die besseren Vororte fuhren, und konnten so ihr Ausgehverhalten vergleichen. Ob es die Generationen nähergebracht hat, ist nicht überliefert.

An diesem Nachmittag, an dem nach ein paar sonnigen Tagen wieder mal ein fieser Wind weht, der sich in dieser Betonarchitektur besonders fies anfühlt, ist für einmal wenig los, was auch an den Ferien liegen mag. Die Sportferien sind den Zürcher*innen heilig. Ausser im Hochsommer ist die Stadt nie so verlassen, daran haben auch die immer prekärer werdenden Schneeverhältnisse nichts geändert. Zudem gibt es auch in den Bergen Clubs und Bars und wer weiss, wenn die Leute sich von dort auf den Heimweg machen und ihnen der eisige Wind um die Ohren pfeift, fühlen sie sich vielleicht fast wie zuhause, wie am Bahnhof Hardbrücke.

STEPHAN

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Tour de Suisse PÖRTNER

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellscha . Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Spezialitätenrösterei derka ee, derka ee.ch

Boitel Weine, Fällanden

Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

Kaiser Software GmbH, Bern

InoSmart Consulting, Reinach BL

Maya-Recordings, Oberstammheim

Scherrer & Partner GmbH, Basel

BODYALARM – time for a massage

EVA näht: www.naehgut.ch

TopPharm Apotheke Paradeplatz

AnyWeb AG, Zürich

Cobra Software AG www.cobrasw.ch

Praxis Dietke Becker

Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich

InhouseControl AG, Ettingen

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

Yogaloft GmbH, Rapperswil SG

unterwegs GmbH, Aarau

Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

Büro Dudler, Raum- & Verkehrsplanung, Biel

Tochter auf Zeit. Winterthur

Barth Real AG, Zürich

flowscope. B. & D. Steiner-Staub

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Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

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Kontakt: Caroline Walpen

Team Marketing, Fundraising & Kommunikation

SURPLUS – DAS

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Das Programm

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom He verkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei nanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Eine von vielen Geschichten

Lange bemühte sich Haimanot Mes n um eine feste Arbeitsstelle in der Schweiz, doch mit einem F-Ausweis sind die Chancen klein. Sozialhilfe kam für sie nie in Frage – sie wollte stets selbstständig im Leben auskommen. Aus diesem Grund verkau Haimanot Mes n seit über zehn Jahren das Surprise Strassenmagazin am Bahnhof Bern. Dort steht sie bereits früh morgens und verkau ihre Magazine. Das Begleitprogramm SurPlus unterstützt sie dabei mit einem ÖV-Abo sowie Ferienund Krankentaggelder. Dank der Begleitung auf dem Berner Surprise-Büro hat sie eine neue Wohnung gefunden. Nach langer Zeit in einer 1-Zimmer-Wohnung haben sie und ihr Sohn nun endlich etwas mehr Platz zu Hause.

Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus

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#539: Vielleicht hörst du uns j a «Ohne Vorwarnung»

Ich lese das Surprise echt gerne und kaufe es fast jeden Monat. Nur im Dezember habe ich mich echt gestört an der sprachlich zwar hervorragenden Geschichte des 2. Tors, aber gleich auf Seite 2 eine Suizidgeschichte. Komplett ohne Vorwarnung. Denkt ihr an Menschen, die sowas in ihrem Umfeld erlebt haben? Hatte keine Lust mehr, diese Nummer fertig zu lesen.

«Berührender Text»

Danke für den besonders berührenden Text: «Vielleicht hörst du uns ja». Und Kompliment für die anregenden, Ausgabe für Ausgabe journalistisch tip-top aufbereiteten Beiträge.

Imp ressum

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Klaus Petrus (kp)

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Reporterin: Lea Stuber (lea)

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Ständige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Pablo Bösch, Jacob Ehrbahn, Céline Graf, Franziska Grillmeier, Heini Hassler, Adam Moussa Issaka

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Advent «Viel gelacht zum Jahreswechsel»

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Die beiden Ausgaben waren grossartig und erfrischend zu lesen. Kompliment an alle Beteiligten. Entgegen Ihren sonst traurigen und wenig euphorischen, aber doch eindrücklichen Beiträgen schwang bei den Heften zur Adventszeit viel Humor in den Kurzgeschichten mit. Bitte häufiger solche Artikel für zukünftige Ausgaben berücksichtigen. Mehr positive Beiträge in unserer leider eher negativen und tristen Welt unterstützen bestimmt auch den Heftverkauf. Ich kaufe Surprise in Aarau, Lenzburg oder Wettingen. In diesem Zusammenhang auch ein ehrliches Kompliment an die Verkäufer*innen.

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«Als Geflüchteter bist du ausgeliefert»

«Ich heisse Hussein Samatar. Ursprünglich stamme ich aus Somalia, ich habe aber schon an verschiedenen Orten in Afrika gelebt. In der Schweiz bin ich seit 20 Jahren – mittlerweile besitze ich sogar einen Schweizer Pass.

Meine Kindheit habe ich in einem kleinen Dorf nahe der Grenze zu Äthiopien verbracht. Die ersten 20 Lebensjahre war ich Hirte, wie die meisten Jungen und Männer in unserem Dorf. So eine ‹Hirtenkarriere› beginnt früh und hat eine klare Abfolge. Zuerst schaust du für die Schafe und Ziegen. Wenn du dann 15 Jahre alt bist, darfst du auch die Kühe und Kamele betreuen. Mein Vater – ich nenne ihn ‹Baba› – besass viele Tiere, bis zu 50 Kamele und Kühe sowie über 200 Schafe und Ziegen. ‹Baba› war ein angesehener Mann im Dorf, wir waren eine sehr gut gestellte Familie. Er hatte vier Frauen und 28 Kinder. Ich bin sein drittältester Sohn. Doch als ich ungefähr 20 Jahre alt war, fiel der Regen für eine lange Zeit aus. Aufgrund der Dürre starben viele unserer Tiere, wir hatten immer weniger zu essen und zu trinken. Also entschloss ich mich, in die Stadt zu gehen. In dieser Zeit taten das viele junge Männer aus unserem Dorf. Mein ‹Baba› wollte zuerst nicht, dass ich gehe, denn für ihn war ein gutes Leben nur in unserem Dorf vorstellbar. Er machte sich Sorgen, dass die jungen Männer in der Stadt rauchen, trinken und sich Probleme aufhalsen würden.

Ich habe auch in der Stadt ein gutes Leben geführt, war fleissig und hatte mehrere Jobs. So verdiente ich genügend Geld, um eine eigene Familie zu gründen und die Leute in meinem Dorf zu unterstützen. Im Vergleich zu meinen Geschwistern habe ich mich bewusst dazu entschieden, keine allzu grosse Familie zu haben. So konnte ich meinen vier Kindern eine gute Schulbildung ermöglichen. Ein Sohn und eine Tochter haben mittlerweile einen Doktortitel – beide sind Ärzte in Kenia. Viele Männer in meiner Heimat denken, es sei wichtig, viele Kinder zu haben. Das ist meiner Meinung nach ein grosses Problem. Doch kleine Familie hin oder her, wir hatten in der Stadt zwar eine sichere Lebensgrundlage, mussten unsere Heimat aber aufgrund des Bürgerkrieges verlassen. Wir flohen im Jahr 1999 nach Kenia und kamen in ein Flüchtlingscamp. Dort gab es für uns aber keine Arbeit, keine Zukunft. Daher zog ich weiter nach Äthiopien, Sudan, Libyen und von dort nach Europa. Dies war eine schlimme Zeit für mich. Als Geflüchteter bist du ausgeliefert. So bezahlst du zum Beispiel viel Geld an Schlepperbanden, damit sie dich über die Grenze bringen. Viele nehmen das Geld und

verschwinden dann – und du sitzt irgendwo fest und musst zu einem sehr tiefen Lohn arbeiten, um erneut Geld für deine Flucht aufzutreiben.

Meine Flucht hat über drei Jahre gedauert. In diesen drei Jahren hatte ich sehr oft grosse Angst, denn wenn du in überfüllten Transportern durch die Wüste fährst und eine Panne hast, überlebst du mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht. Auf unserem Boot nach Italien waren wir insgesamt 70 Männer und 20 Frauen. Eine Frau hat auf dem Boot ihr Kind zur Welt gebracht – in diesem Moment war ich sehr froh, dass meine Frau und meine Kinder in Kenia geblieben waren. Nun habe ich zum Glück ein sicheres Leben in der Schweiz. Ich arbeite seit 15 Jahren für ein Reinigungsunternehmen, nebenher verkaufe ich Surprise-Hefte. So kann ich insgesamt 15 Kindern eine gute Schulbildung ermöglichen. Ich weiss, dass ich es hier sehr gut habe. Und ich werde nie vergessen, wie anstrengend das Leben in meiner Heimat sein kann. In Somalia haben die Leute viele Probleme: Zum einen verlieren die Bauernfamilien aufgrund von zunehmenden Dürreperioden ihre Lebensgrundlage, zum anderen gibt es nach wie vor viele gewaltsame Konflikte. Ich hoffe, dass ich mit meiner finanziellen Unterstützung wenigstens auch den Kindern meiner Geschwister etwas mehr Sicherheit verschaffen kann.»

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Hussein Samatar, 48, verkauft Surprise in Zumikon ZH und möchte seiner erweiteren Familie ein besseres Leben ermöglichen. Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER FOTO: BODARA

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

BETEILIGTE CAFÉS

IN AARAU Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 IN ALSTÄTTEN SG Zwischennutzung Gärtnerei, Schöntalstr. 5a IN ARLESHEIM Café Einzigartig, Ermittagestrasse 2 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BAAR Elefant, Dorfstr. 1 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bioladen Feigenbaum, Wielandplatz 8 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 KLARA, Clarastr. 13 | Flore, Klybeckstr. 5 | frühling, Klybeckstr. 69 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreff Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | L’Ultimo Bacio Gundeli, Güterstr. 199 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Café Spalentor, Missionsstr. 1a | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Shöp, Gärtnerstr. 46 Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 | Wirth’s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Länggassstr. 26 & Marktgasse 19 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Café Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b

Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17

Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Sous le Pont, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5

DOCK8, Holligerhof 8 | Café Paulus, Freiestr. 20 | Becanto, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27

Inizio, Freiestrasse 2 | Treffpunkt Perron bleu, Florastrasse 32 IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht, Hofstatt 5 IN CHUR Café Arcas, Ob. Gasse 17 | Calanda, Grabenstr. 19 | Café Caluori, Postgasse 2 | Gansplatz, Goldgasse 22 | Giacometti, Giacomettistr. 32 | Kaffee Klatsch, Gäuggelistr. 1 | Loë, Loestr. 161 | Merz, Bahnhofstr. 22 | Punctum Apérobar, Rabengasse 6 | Rätushof, Bahnhofstr. 14 | Sushi Restaurant Nayan, Rabengasse 7 Café Zschaler, Ob. Gasse 31 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 Meyer Kulturbeiz & Mairübe, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Markt Wärchbrogg, Alpenquai 4 & Baselstr. 66 | Rest. Wärchbrogg, Alpenquai 4 Bistro Wärchbrogg, Sempacherstr. 10 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN UEKEN Marco’s Dorfladen, Hauptstr. 26 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 | Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZUG Bauhütte, Kirchenstrasse 9 | Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Café Noir, Neugasse 33 | Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | GZ Bachwiesen, Bachwiesenstr. 40 | Kiosk Sihlhölzlipark, Manessestrasse 51 | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. Schütze, Heinrichstr. 238 | Täglichbrot, Friesenbergplatz 5 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

ORIENT
EUROPA UND DIE ISLAMISCHEN KÜNSTE 24.3.–16.7.23 KUNSTHAUS ZÜRICH J. & L. LOBMEYR, Grosse Schale Nr. 3192 aus der «Persischen Serie» (Detail), um 1878, Familienarchiv LOBMEYR
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