#pflanzenliebe
Von Hypes und Hobbys
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AUSGABE APRIL / MAI 2021 — THE GAP IST KOSTENLOS UND ERSCHEINT ZWEIMONATLICH. VERLAGSPOSTAMT 1052 WIEN, P.B.B. | MZ 18Z041505 M
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Weil wir gemeinsam das Beste aus uns herausholen. Der NPO-Fonds unterstützt gemeinnützige Organisationen. Unsere Gesellschaft braucht dieses Engagement.
Foto: © Lieve Boussauw / Jeunesse – Musikalische Jugend Österreichs
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Editorial
Spring Is Here Again
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Herausgeber Manuel Fronhofer, Thomas Heher Chefredaktion Sandro Nicolussi Leitender Redakteur Manfred Gram
Hand hoch, wer geglaubt hat, dass das lang ersehnte Frühlingserwachen spätestens mit den ersten zweistelligen Temperaturen eintreten wird. Wer sich auf Konzerte, Partys, Ausstellungen, Lesungen, Parkbiere und so weiter gefreut hat – und dabei bitter enttäuscht worden ist. Stattdessen: noch immer Impfchaos; Konzerte, Filme und Lohnarbeit finden nach wie vor online oder unter Einsatz der Gesundheit – der eigenen und der anderer – statt, und obendrauf bekommen wir Schneegestöber, nachdem gerade der erste Sonnenbrand des Jahres wieder verheilt ist. Schon gut, ihr könnt die Hand wieder runternehmen. Während der spaßige Teil des Lebens also nach wie vor im Großen und Ganzen stillsteht, ist ansonsten relativ viel in Bewegung. Zu den nichtmenschlichen Gewinner*innen der Pandemie zählen beispielsweise Zimmer pflanzen, die sich mittlerweile in frischer Blüte den wärmenden Sonnenstrahlen entgegenranken und zumindest etwas Hoffnung spenden. Für die Coverstory hat Susanne Gottlieb recherchiert, wie es um den Hype unserer photosynthetisierenden Wegbegleiter*innen steht und ob dieser tatsächlich grün ist. Dazu gibt es Tipps von Expert*innen, damit in der hiermit eröffneten Saison nicht alle Pflanzen gleich wieder eingehen. Markus Höller widmet sich dem in Österreich nach wie vor polarisierenden Thema Cannabis und beleuchtet, inwiefern ein Umdenken im Umgang mit dem Kraut gerecht fertigt ist. Und Luca Gasser hat den Bonsai Club Tirol besucht. Abseits unseres Themenschwerpunkts hat Bernhard Frena Historie, Bedeutung und Implikation des Begriffs »Cancel Culture« recherchiert, der immer wieder – bezeichnend unscharf definiert – als Kampfbegriff in Online-Echokammern auftaucht. Am musikalischen Ast finden neben diversen Rezensionen auch Artikel anlässlich der neuen Alben der Bands Ja, Panik und Die Buben im Pelz statt. Außerdem haben wir zusätzlich zu den gewohnten Kolumnen einen Neuzugang zu vermelden: Christoph Prenner vom Podcast »Screen Lights« wirft einen Blick auf jene Streifen, die bei den diesjährigen Oscars ungerechtfertigt unter dem Radar fliegen, und auf jene, die das gerechtfertigt nicht tun. Eine Menge Stoff für einen blühenden Frühling, ich wünsche eine gesunde Portion Optimismus!
Gestaltung Markus Raffetseder Autor*innen dieser Ausgabe Astrid Exner, Barbara Fohringer, Bernhard Frena, Luca Gasser, Susanne Gottlieb, Markus Höller, Michael Bela Kurz, Oliver Maus, Fee L. Niederhagen, Dominik Oswald, Michaela Pichler, Mira Schneidereit, Sarah Wetzlmayr Kolumnist*innen Astrid Exner, Josef Jöchl, Christoph Prenner, Gabriel Roland Fotograf*innen dieser Ausgabe Fabian Gasperl Lektorat Jana Wachtmann Coverillustration Nina Ober (www.ninaober.at) Anzeigenverkauf Herwig Bauer, Manuel Fronhofer, Sarah Gerstmayer (Leitung), Thomas Heher, Martin Mühl, Thomas Weber Distribution Andrea Pfeiffer Druck Grafički Zavod Hrvatske d. o. o. Mičevečka ulica 7, 10000 Zagreb, Kroatien Geschäftsführung Thomas Heher Produktion & Medieninhaberin Comrades GmbH, Stauraczgasse 10/4, 1050 Wien Kontakt The Gap c/o Comrades GmbH Stauraczgasse 10/4, 1050 Wien office@thegap.at — www.thegap.at Bankverbindung Comrades GmbH, Erste Bank, IBAN: AT39 2011 1841 4485 6600, BIC: GIBAATWWXXX Abonnement 6 Ausgaben; Euro 21,— (aktuell: Euro 9,90) abo.thegap.at Heftpreis Euro 0,— Erscheinungsweise 6 Ausgaben pro Jahr; Erscheinungsort Wien; Verlagspostamt 1052 Wien
Daniel Nuderscher
Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz www.thegap.at/impressum
Sandro Nicolussi
Chefredakteur • nicolussi@thegap.at @vorarlwiener
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Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber*innen wieder. Für den Inhalt von Inseraten haften ausschließlich die Inserierenden. Für unaufgefordert zugesandtes Bildund Textmaterial wird keine Haftung übernommen. Jegliche Reproduktion nur mit schriftlicher Genehmi gung der Geschäftsführung.
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Magazin
Grüner Lebensstil oder Ökolüge? Eine Betrachtung des Hypes um Zimmerpflanzen
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6+1 Pflegetipps für Zimmerpflanzen Für nachhaltige Pflegeerfolge Ein Club, sie zu knechten Die Bäumchen-Drahtzieher Tirols Let it grow, let it grow Corona, Cannabis und ein Paradigmenwechsel?
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024 Eine Gruppe möchte ich sein Ja, Panik »Die Gruppe« 028 Wien-Berlin-Connection Die Buben im Pelz »Geisterbahn« 030 Mikropolitik der Emanzipation »Cancel Culture« als konservative Propaganda
Sepp Hofer, Markus Höller, Searchlight Pictures, Carolina Frank, Hanna Kranebitter
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Nina Ober In Ninas Studio wacht eine drei Meter hohe Monstera über den Luftraum. Und egal, ob Zierpflanze oder Küchenkraut, ob an ihrem Arbeitsplatz oder zu Hause – Nina ist nicht nur stolze Pflanzenmama, sie zeichnet ihre grünen Mitbewohner*innen auch leidenschaftlich gerne. Weshalb ihre Illustrationen perfekt zu unserer Coverstory passen. Wenn die aus Niederösterreich stammende Wienerin nicht gerade Magazine, oder Bücher gestaltet, setzt sie neben Pflanzen auch Tiere und Ufos um – am liebsten mit historischer Zeichenfeder.
Luca Gasser Dass es sich ab und zu rentiert, Redaktionssitzungsprotokolle an veraltete Verteiler auszuschicken, beweist dieser 26-jährige Innsbrucker. Anfangs wusste niemand so recht, wer er denn sei, als er vorschlug, für die vorliegende Ausgabe einen Text über den Bonsai Club Tirol abzuliefern. Bis sich herausstellte, dass Luca schon während seines JournoBachelors in Wien für The Gap tätig war. Außer geheimnisvoll zu sein, mastert er gerade – zurück in Innsbruck – Vergleichende Literaturwissenschaft. In unserem Verteiler wird er wohl weiterhin bleiben.
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Stay Sane Spezialabo
Rubriken
Kolumnen 006 Einteiler: Gabriel Roland 008 Gender Gap: Astrid Exner 047 Screen Lights: Christoph Prenner 050 Sex and the Lugner City: Josef Jöchl
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003 Editorial / Impressum 007 Charts 016 Golden Frame 034 Prosa: Johanna Sebauer 036 Gewinnen 037 Rezensionen 042 Termine
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Sepp Hofer, Markus Höller, Searchlight Pictures, Carolina Frank, Hanna Kranebitter
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6 Ausgaben um € 9,90 statt € 21 Ihr mögt uns und das, was wir schreiben? Und ihr habt knapp € 10 übrig für unabhängigen Popkultur-Journalismus, der seit 1997 Kulturschaffen aus und in Österreich begleitet? Dann haben wir für euch das Stay Sane Spezialabo im Angebot: Zum Super-Krisenpreis von € 9,90 statt € 21 bekommt ihr uns ein ganzes Jahr, also sechs Ausgaben lang nach Hause geliefert.
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Einteiler Gehobjekt
Ein bisschen Skulptur Schuhe nehmen in dieser Konstellation eine Sonderposition ein. Wenn Hemden oder sogar Hosen nicht so wirklich passen, können wir damit leben. Bei Schuhen ist eine falsche Größe sofort ein Problem. Oberbekleidung kann sich
betrachtet die hiesige Modeszene Stück für Stück
auf verschiedenste, nicht intendierte Arten verhalten und bleibt trotzdem tragbar. Wenn ein Schuh die Gehbewegungen des Fußes und Beines komplett verunmöglicht, hört er auf, ein Schuh zu sein, und wird zu einem schuhförmigen Objekt, so wie ein Modellauto ein Auto darstellt, ohne eines zu sein. Gleichzeitig ist ein Schuh keine Gehmaschine, sondern immer auch ein bisschen Skulptur. Damit ist nicht etwas wie Functional Art gemeint. Schuhe vereinen Parameter des Funktionalen und des Objekthaften, ohne notwendigerweise zum Hybrid zu werden. Am Klarsten erkennt man das daran, dass der Schuh raumgreifend bleibt, auch wenn kein Fuß in ihm steckt, er aber beim Tragen doch zur direkten Erweiterung des Körpers wird. In diesem unübersichtlichen Widerstreit der modischen Mächte kann es passieren, dass ein Holzblock ebenso ein Schuh ist wie das aus einer Vibram-Sohle bestehende ergonomische Abbild eines Fußes. Entwarnung: Es geht hier nicht um Zehenschuhe – sondern eben um Holzblöcke. Als die Pandemie die Modeproduktion und -distribution durcheinanderwirbelte, stellte das Wiener Schuhlabel Rosa Mosa von vierteljährlichen Präsentationen in Paris auf einen
Shop in der bisher unterversorgten Heimatstadt um. Auch in der Produktion wurde so viel wie möglich so nah wie möglich herangeholt. Eines der Ergebnisse ist diese Holzsandale, deren Hauptteil von einem Spezialbetrieb in der Region hergestellt wird. Der funktionale Angelpunkt – die Gummiverbindung zwischen den beiden Holzteilen im Bereich des Fußballens – ist dabei im Vergleich zum wuchtigen Gesamtauftritt durchaus subtil. Die luftig verwobenen Kordeln verdrängen die Erinnerung von Holzpantoffeln als leicht überstreifbare und gut zu reinigende Stallschuhe vollends zu Gunsten sommerlicher Sehnsüchte, für die man einen ähnlich festen Stand brauchen wird. Für dystopisch Gestimmte gibt es auch ein schwarzes Modell, und wenn der Sommer nicht eintritt, kann man den Schuh immer noch als Skulptur verwenden. roland@thegap.at • @wasichgsehnhab Das Label Rosa Mosa – nicht zu verwechseln mit dem Bauwerkzeuggroßhandel, der sich am Ende mit »er« statt »a« schreibt – hat soeben einen neuen Shop in der Schleifmühlgasse 18 in 1040 Wien eröffnet. Unter rosamosa.com findet man alles Weitere.
Fabian Gasperl
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Gewand existiert in einer eigentlich unmöglichen Schnittmenge aus völliger Hinwendung zu und gleichzeitiger totaler Zurückweisung von funktionalen Maßgaben. An den Polen scheinen Arbeitskleidung einerseits und Haute Couture oder Mode als Kunst andererseits zu stehen. Diese Extreme kommen aber trotzdem nicht ohne Charakteristika ihres jeweiligen Gegenteils aus: Funktionsbekleidung ist nie reine Funktion, sondern will sich immer auch auf einer ikonografischen Ebene als »funktionell« verstanden wissen; und egal, wie konzeptionell ein Stück Stoff ist, in das man sich einnähen lässt, es wird nur durch einen Rest an Verwendbarkeit als Kleidungsstück lesbar. Aufregenderweise trifft das Praktische oft gleichberechtigt innerhalb eines einzelnen Kleidungsstücks auf das Unpraktische. Das Zerren der beiden an allen Zipfeln unseres Gewands nennen wir dann Mode.
Gabriel Roland
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Must have! Charts Anna Neata
Sachen, die den Alltag schöner machen
TOP 10
Spammail-Betreffe 01 Das Leben sieht besser aus von 15 cm über dem Boden 02 Get Back To Me 03 Wir haben versucht Sie zu erreichen 04 We have kept a secret 05 Ein großer Schritt für die Frauenwelt 06 I WANT TO HELP YOU TO RECEIVE FUN! 07 Sie haben Geld auf Ihrem Konto 08 Ingrid 09 Gewinne geile Weine 10 What now?
TOP 03
Lara-Croft-Zitate 01 »I hate tombs!« 02 »I make my own luck« 03 »A scar means I survived« Auch nicht schlecht: Eine Fahrt mit dem 12A
Welliges Accessoire Wer seine Vorfreude aufs waves festival auch beim Schwimmen oder Chillaxen adequat zum Ausdruck bringen möchte: Wie wär’s mit diesem handtuch aus der Merch-Kollektion des Showcase-Festivals? www.comrades.co.at/produkt/ waves-festival-handtuch
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Anna Neata ist Autorin des Stücks »Oxytocin Baby«, das so bald wie möglich im Wiener Schauspielhaus Premiere feiern wird.
Im Mandel der Zeit
Charts Barbara Fohringer TOP 10
Moment. Mandel? Ganz genau! emmi bringt feinsten Mandeldrink und Premiumkaffee unter einen Deckel. Der Emmi caffè drink Almond Macchiato ist der vegane Wohlfühlkaffee für alle Genießer, die es zu 100 % pflanzlich mögen. www.emmi-caffelatte.com
Farben des Jahres laut Pantone Color Institute 01 Pantone 18-2120 Honeysuckle (Farbe des Jahres 2011) 02 Pantone 15-5217 Blue Turquoise (Farbe des Jahres 2005) 03 Pantone 17-2031 Fuchsia Rose (Farbe des Jahres 2001) 04 Pantone 15-3919 Serenity (Farbe des Jahres 2016) 05 Pantone 17-5641 Emerald (Farbe des Jahres 2013) 06 Pantone 18-3943 Blue Iris (Farbe des Jahres 2008) 07 Pantone 16-1546 Living Coral (Farbe des Jahres 2019) 08 Pantone 18-3838 Ultra Violet (Farbe des Jahres 2018) 09 Pantone 19-1664 True Red (Farbe des Jahres 2002) 10 Pantone 18-3224 Radiant Orchid (Farbe des Jahres 2014)
TOP 03 Annalisa Cantini, privat
Fabian Gasperl
P ROMOTION
Satzzeichen 01 Semikolon 02 Leerzeichen 03 Punkt Auch nicht schlecht Sehnsucht Barbara Fohringer schreibt, liest und prokrastiniert. Für The Gap betreut sie u. a. die Terminseiten aus dem Bereich Film & Serie.
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Astrid Exner
beschäftigt sich hier mit den großen und kleinen Fragen zu Feminismus
Auch ich bin einer von diesen Menschen, die sich während der Pandemie ein Haustier zugelegt haben. Meine flauschige Mitbewohnerin Sieglinde und ich müssen manchmal zum Tierarzt. Weil ich den kleinen Stubentiger dort zu Fuß hinbringe, habe ich statt einer unhandlichen Transportbox einen Katzenrucksack mit Aussicht besorgt. Letztens war ich also mit Katze am Rücken in einer verlassenen Seitengasse unterwegs, als zehn Meter hinter mir jemand aufgeregt in sein Handy redete: »OMG, there’s a woman with a cat in her backpack walking in front of me!« Ich drehte mich um, winkte freundlich und sah, dass es sich um einen Mann Anfang 20 handelte. Er zeigte auf mich, bekräftigte: »Ja, du!« Ich ging weiter, und das hätte das Ende dieser Geschichte sein können.
Not all men Doch dann spürte ich, wie der Mann den Abstand zwischen uns schnellen Schrittes verringerte. Unangenehm berührt davon, dass ein fremder Mensch im öffentlichen Raum gerade laut genug über mich geredet hatte, sodass ich es selbst hören konnte, ging ich ebenfalls schneller, um die Distanz zu wahren. Warum kam er mir trotzdem immer näher? Alle FLINTA*-Personen kennen dieses ungute Gefühl aus eigener Erfahrung, auch wenn es häufiger nachts auftritt. Es kann einen Wirbelwind an (berechtigten!) Fragen aufwerfen: Was hat der fremde Kerl vor? Will er mich begrapschen, ausrauben, vergewaltigen, die Katze stehlen? Als ich bei der nächsten Kreuzung um die Ecke bog und er mir trotzdem weiter im Nacken saß, bekam ich endgültig Herzrasen. Nur noch ein paar Schritte. Endlich bei der rettenden Tür zur Tierarztpraxis angekommen, huschte ich hastig hinein und machte sie hinter mir zu. Aus den Augenwinkeln sah ich den Mann noch einmal. Er war jetzt nur noch einen halben Meter entfernt direkt hinter mir, hatte sein Handy gezückt und auf mich und meine Katze
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gerichtet. Okay, immer mit der Ruhe, er wollte anscheinend bloß ein lustiges Tiktok-Video machen. Moment einmal. Er wollte bloß ein lustiges Video machen?! Und deshalb bin ich hier gerade verängstigt ins Wartezimmer gestürmt? Ich war gleichzeitig erleichtert und wahnsinnig verärgert. Dieser Mensch war so privilegiert und naiv, dass ihm die Idee gar nicht in den Sinn kam, dass sein Missachten von An- und Abstand panische Angst auslösen kann. So geht es anscheinend vielen Männern, denen es glücklicherweise nie einfallen würde, eine FLINTA*-Person auf der Straße zu belästigen. Aber nur weil sie selbst so etwas nicht machen würden, bedeutet das nicht, dass die Person vor ihnen das auch weiß und darauf vertrauen kann. Sie hat wahrscheinlich schon die ein oder andere negative Erfahrung hinter sich, die sie vorsichtig macht. Eine unlängst am Heimweg ermordete Britin löste – wieder einmal – Diskussionen darüber aus. Beinahe jede FLINTA*-Person hat schon einmal nachts am Nachhauseweg ihre Wohnungsschlüssel fest umklammert; nur mit einem Ohr Musik gehört, um potenzielle Gefahren in ihrer Umgebung wahrzunehmen; so getan, als würde sie mit jemandem telefonieren oder die Straßenseite gewechselt, wenn schon länger eine andere Person hinter ihr ging; ihren HandyStandort sicherheitshalber mit einem Lieblingsmenschen geteilt; einen Umweg gemacht, weil der besser beleuchtet war – oder das Haus erst gar nicht verlassen. Gerade während der Ausgangssperren wurde klar, wem der öffentliche Raum wirklich gehört: Sobald es dunkel wurde, sah man beinahe nur noch Männer auf der Straße.
wurden. Durch die Corona-Krise hat sich das Leben öfter outdoor abgespielt. Dadurch wurde die Notwendigkeit, den öffentlichen Raum für alle Teile der Gesellschaft attraktiv, sicher und fair zu gestalten, noch virulenter. Egal, ob es um vermeintliche Kleinigkeiten wie öffentliche WCAnlagen, Beleuchtung oder eben auch Abstandhalten geht: Sie machen einen Unterschied für diejenigen, die sie betreffen. Glücklicherweise gibt es auf Tiktok nicht nur Katzenverfolger, sondern auch reflektierten Content, der einen Beitrag dazu leistet. Letztens stellte ein User die Frage: »Man fühlt sich immer so schlecht, wenn man einer Frau im Dunkeln begegnet. Gibt’s irgendein Zeichen, um zu zeigen, dass man nichts tun will?« Er erhielt zahlreiche Antworten: »Ein Typ hat mich mal gefragt, ob er überholen soll, damit er nicht hinter mir geht. Fand ich super.« Oder: »War mal in ’ner fremden Stadt hinter einer Frau und bin abgebogen, um sie nicht zu erschrecken. War bis ca. 8 Uhr verloren.« Ein User meinte: »Ich wechsle immer die Straßenseite.« Ein anderer erzählte: »Ich versuch immer, kurz anzuhalten, um Entfernung aufzubauen und tue dabei so, als hätte ich irgendwas verloren.« Eine Userin berichtete: »Ein Kerl hat mal gesungen. So schief, dass ich lachen musste. Dann sagte er: Oh gut. Ich wollte nur, dass du hörst, dass ich nicht näher rankomme.« The kids are alright. exner@thegap.at @astridexner
Anmerkung: FLINTA ist ein Schirmbegriff für Frauen, Lesben, inter, non-binary, trans und agender Personen und fasst im Patriarchat unterdrückte Identitäten zusammen.
Aber all women Wir müssen uns aktiv dagegen wehren, dass unsere neue Biedermeier-Lebensweise einen feministischen Backlash mit sich bringt. FLINTA*Personen sind ohnehin schon in mehrfacher Hinsicht Pandemieverlierer*innen, weil Ungleichheiten im letzten Jahr verstärkt statt abgebaut
Michael Exner
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Gender Gap Bitte Abstand halten
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»AUX«, so heißt das neue Magazin für Musik und Culture auf A1now. Es bildet die heimische Szene in ihrer aktuellen Vielfalt ab – vor allem dank Sendungsmacher*innen, die der Show mit ihren unterschiedlichen Backgrounds – von Clubkultur über Hip-Hop bis Journalismus – Substanz und Charakter geben.
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»Musik war für mich immer mehr als nur Sound«, sagt Tori Reichel im Trailer zu »AUX«, dem neuen Musikformat auf A1now, »sie ist selfmade, sie ist schnelllebig, sie ist absurd. Sie ist over the top und gleichzeitig underground. Sie ist einerseits politisch und andererseits ganz einfach fun, selbst in den schwierigsten Zeiten. Musik ist heute vielfältiger denn je – Zeit, sie auch so abzubilden.« Hören und (er)leben Als Main-Host ist Tori eines der Gesichter der Show, die jeweils am Freitagabend auf A1now ausgestrahlt wird und jederzeit kostenlos auf a1now.tv gestreamt werden kann. Gemeinsam
mit den Co-Hosts Therese Terror, Johanna »Jojo« Böck und Ana Theresa Ryue taucht Tori wöchentlich für jeweils 40 Minuten in die Musik- und Kulturszene ab – für alle und mit allen, die ihren Sound nicht nur hören, sondern auch (er)leben wollen. In Sendungselementen wie »Slayers« oder »Twitched« werden Themen behandelt wie weibliche Sexualität im Rap oder ob es in Zeiten der Digitalisierung mittlerweile egal geworden ist, ob man in der Peripherie oder in einem Ballungsraum lebt. Auf der Studiocouch nahmen bereits – in lässiger Wohnzimmer-Atmosphäre – Voodoo Jürgens, Mathea, Slav und Bibiza Platz, um nur einige zu nennen. Die »AUX Livesessions« run-
den das Programm ab. Ihr merkt schon: »AUX« ist wahrscheinlich das beste Musik-Fernsehen, seit es kein Musik-Fernsehen mehr gibt!
PROMOTION
»AUX« auf A1now Musik-Fernsehen auf der Höhe der Zeit
»AUX« hat viele Gesichter: Ana, Jojo, Therese und Tori, die Hosts der neuen Musikshow
Was Musik auslöst und widerspiegelt Dass bei »AUX« von Female Empowerment über Popkultur-Phänomene bis hin zu Subkulturen eine ganze Menge Platz hat, liegt am offenen Sendungskonzept. An diesem hat auch Theresa Ziegler maßgeblich mitgefeilt, die man als ehemalige Chefredakteurin von The Gap kennen könnte und die vor Kurzem für »AUX« die Chefredaktion übernommen hat. »Mit ›AUX‹ wollen wir allem, was Musik popkulturell auslöst und gesellschaftlich widerspiegelt, ein zeitgemäßes Videoformat geben«, beschreibt sie ihren Zugang. Seite Ende Februar bietet »AUX« nun der heimischen Szene eine Bühne, beschäftigt sich mit Trends, Hypes und Geheimtipps. Stets bestens informiert, am Puls der Zeit und so woke, wie ein zeitgemäßes TV-Format sein sollte. Schaut rein – es zahlt sich aus!
Michael Exner
»AUX«, das neue Magazin für Musik und Culture, ist jeden Freitag um 19 Uhr auf A1now (über A1 Xplore TV) und jederzeit kostenlos auf a1now.tv zu sehen.
Die Musikerinnen Miblu und Verifiziert auf der »AUX«-Interviewcouch
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Grüner Lebensstil oder Ökolüge? Eine Betrachtung des Hypes um Zimmerpflanzen Auf Instagram blüht das Biedermeier auf. Mill ennials und Junggebliebene, die sich pandemie bedingt in die eigenen vier Wände zurückzie hen, lassen exotische Zimmerpflanzen trenden. Doch kann ein solcher Hype in Grün nachhaltig sein? ———— In saftigem Grün wächst eine beeindruckende Monstera – umspielt von den spitzen Zweigen einer Sukkulente – aus dem linken unteren Bildrand hinauf Richtung Fenster. Auf halbem Weg treffen ihre Blätter die letzten Auswüchse einer Efeutute, die sich vom Fensterbrett herab die Wand entlang ausbreitet. Unter ihren dünnen, verworrenen Zweigen: ein junger Mann, dessen nackter Oberkörper aus einer perlmuttfarbenen altmodischen Badewanne lugt, den Blick verträumt zum Fenster gerichtet. Sein Abbild ist eine Reflexion und in einem goldumrahmten Spiegel zu sehen, der dem Raum – kokett gegen die weiß geflieste Wand gelehnt – in diesem grünen Meer aus Zimmerpflanzen Tiefe verleiht. Eine Seerobbe, deren Kupferoberfläche von der Oxidation grün gefärbt ist, thront über diesem geschickt in Szene gesetzten Bild, das der Mann auf Instagram unter anderem mit #zimmerpflanzenliebe, #urbanjunglebloggers, #plantparenthood, #crazyplantpeople und #viennaplantgang gehashtagt hat.
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Kein einziger Fleck wäre in seiner alten Wohnung ohne Zimmerpflanze gewesen, verkündet der stolze Pflanzenpapa in Kommentar. 192 Nutzer*innen finden Gefallen daran. Die nüchterne Inszenierung, die Freude an einfachen Dingen wie Natur und Pflanzen – es schwingt ein wenig Konservatismus in diesem Bild mit. Es ist nur eines von vielen seiner Art. Zimmerpflanzen haben Social Media erobert. Ihr Botschafter*innen: Millennials, die sich von den schnelllebigen Reizen der Außenwelt nicht beirren lassen und ihre persönliche Erfüllung in den eigenen vier Wänden suchen. Als das Biedermeier einer jungen Generation wurde dieses Phänomen schon bezeichnet. Und ja, die Inszenierung des Selbst im eigenen grünen Heim hat eine Tradition, die bis in die Zeiten Metternichs zurückreicht. Doch Pflanzen hatten schon damals viel mehr zu bieten als das. Wer sich vor 200 Jahren zu geheimen Schäferstündchen verabreden wollte, hatte idealerweise Zugang zu einem Gewächshaus voller exotischer Pflanzen. In Zeiten des Biedermeiers, so Gartenbauexperte Johannes Balas von der Universität für Bodenkultur in Wien, ein perfekter Rückzugsort: »In diesen Gewächshäusern und Wintergärten gab es Zonen, wo man relativ ungestört ohne Zuhö-
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rer miteinander reden und verhandeln oder mit den Damen und Herren erotische Treffen vereinbaren konnte.« Zierpflanzen erfüllten somit schon früh eine gesellschaftliche Funktion. Entscheidend für deren Verbreitung in Wien war ironischerweise ein guter Freund Fürst Metternichs, namens Carl Alexander Anselm Freiherr von Hügel. Von Hügel unternahm zahlreiche Forschungsreisen an Orte wie Neuseeland, Australien oder Tasmanien. Zurück in Wien zog er viele der von dort mitgebrachten pflanzlichen Exoten und verkaufte sie an adelige Familien. Diese Statussymbole aufmerksamkeitsgerecht vor Gästen zu präsentieren, fiel zumeist der Dame des Hauses zu.
Ein Hype wie die anderen Für moderne Pflanzenbesitzer*innen hat sich die öffentlichkeitswirksame Präsentation in die digitalen Sphären verlagert. Der Hype um Zimmerpflanzen ist längst in Österreich angekommen. Damit reihen sich diese nahtlos in eine Reihe ein mit Veganismus, I-Phone, Yoga, Fidget Spinner oder Superfoods. Alle Hypes haben einen gemeinsamen Nenner, sie sind ein ständiger Zustand der Erwartung, der sich aus der konstanten Präsenz und Bewerbung eines Objekts entwickelt. Wenn die Realität von den Erwartungen abweicht und das Hy-
pethema daher in eine Imagekrise stürzt, erlischt letztendlich das Interesse daran. Die Schnelllebigkeit eines Hypes wird von der digitalisierten Welt zunehmend befeuert. »Ein einzelner Mensch agiert wie ein Massenmedium, das Millionen von Menschen erreichen kann«, so der Kommunikationswissenschaftler Tobias Dienlin. Nachrichten werden gelikt, Botschaften verbreiten sich wie ein Lauffeuer. So weit, so typisch für Social Media. Doch das erklärt noch nicht, warum sich ein bestimmtes Thema zum Hype entwickelt. Warum springen Millennials so auf das neue Biedermeier an und decken sich bis unter die Zierleiste der Altbau-WG mit Pflanzen ein? Die österreichische Plantfluencerin Iwona Laub, die auf Instagram rund 1.600 Abonnent*innen zählt, sieht da keinen Zufall: »Das ist die Generation, die sich mehr mit Umweltschutz auseinandersetzt.« Es herrsche das Gefühl vor, in dieser Welt überhaupt keinen Einfluss mehr zu haben. Sich um Pflanzen zu kümmern, sei eines der wenigen Dinge, die man noch selbst beeinflussen könne. Diesen Zugang vertritt auch das Ehepaar Miriam und Christian Cervantes, deren Pflanzengeschäft, Coffeeshop und Galerie namens Calienna ist im siebten Wiener Gemeindebezirk zu finden. Die beiden wollen damit Bewusstsein und Aufmerksamkeit für die Natur schaffen und die Liebe zu Pflanzen
fördern. »Wir leben in Betondschungeln, sind den ganzen Tag online«, erklärt Christian Cervantes. Dieses konstante Bombardement mit Bildern und Informationen sei für viele schlicht nicht mehr zu bewältigen. »Die Leute sind nervös und depressiv. Sie versuchen wieder dort anzuschließen, wo sie herkommen: bei der Natur.«
#viennaplantgang Die Flüchtigkeit der digitalen Gesellschaft und das Aufpolieren der eigenen Lebensrealität für die Massenvermarktung sind es jedoch, was die Zimmerpflanzenfans überhaupt erst in die Szene hineinzieht. Die Community hat im World Wide Web ihren eigenen sozialen Raum aufgebaut, kommuniziert in Foren, in Facebook-Gruppen und privat. #viennaplantgang lautet der Hashtag, unter dem sich die Wiener Szene auf Instagram tummelt. Hier sieht man mehr oder weniger junge Leute, die stilvoll ihre Sammlung vor der Kamera aufgefädelt haben oder riesige MonsteraBlätter mit gefleckten weißen Blattzeichnungen inszenieren. Mutationen sowie große Blätter und besondere Blattzeichnungen sind jene Marker, auf die Neo-Pflanzenfans in der Anschaffung besonders achten. Doch diese speziellen Wünsche kommen mit ihren eigenen Herausforderungen. Nicht nur sind diese
Nina Ober (www.ninaober.at)
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Der Coverstar unserer aktuellen Ausgabe heißt Calathea oder auch Korbmarante. Den besonderen Reiz der aus den Regenwäldern Brasiliens stam menden Pflanze, machen ihre auffällig gezeich neten Blätter aus. Diese können grün, weiß oder gelblich panaschiert bzw. gestreift sein.
Die kreisrunden Blätter dieser ursprünglich aus China stammen den Schönheit haben ihr schon viele Namen beschert, etwa Glückstaler, Chinesischer Geldbaum, Pfann kuchenpflanze, Bauchnabelpflanze oder – unser Favorit – Ufopflanze. Sie gilt als pflegeleicht und robust.
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Gratifikation auf Insta
Der Unterschied ist, dass man das jetzt über Likes messbar machen kann«, erklärt Kommunikationswissenschaftler Tobias Dienlin. Auf Social Media kuratieren wir unser Leben, können uns mit anderen vergleichen und ein Idealbild von uns erschaffen. Doch gelegentlich scheitern wir im realen Leben an diesem Idealbild. Es entsteht der Stress, sich ständig selbst zu inszenieren. Laub hat während der Covid-19-Pandemie aufgehört zu instagramen. Durch das Schließen der Pflanzengeschäfte habe sie nichts Neues mehr zum Herzeigen gehabt. »Irgendwann hat man dann das Gefühl, man schuldet jemandem was. Das war irgendwie demotivierend.« Instagram würde sie deswegen aber nicht per se negativ sehen. Es sei auch schön, Erfolgserlebnisse dort mit einer Community von Gleichgesinnten zu teilen. Von klassischen Läden hat sich der Markt jedenfalls etwas entkoppelt. Pop-upStores wie Bergamotte, der im letzten pandemiefreien Frühling immerhin rund 1.500 Kund*innen mit ihrer Auswahl von mehr als 3.000 Pflanzen in der Wiener Piaristengasse begeistern konnte, entwickeln sich zu Hotspots der Community. Im selben Jahr, also 2019, organisierte Iwona Laub mit zwei Kol-
Sie selbst merke zwar manchmal eine schubweise Nachfrage nach bestimmten Pflanzenarten, lasse sich aber von solchen Hypes nicht in ihrem Angebot beeinflussen. Noch viel bedenklicher sei es ihrer Einschätzung nach aber, dass inzwischen auch die Preise für klassische Zimmerpflanzen steigen würden, da diese vergriffen seien. Auch Miriam Cervantes von Calienna hält sehr wenig von solchen Trends. Sie wolle vor allem Respekt und Bewusstsein für die Natur vermitteln, Nachhaltigkeit. Menschen, die solchen exotischen Stecklingen nachjagen, würden auch schnell zum nächsten Trend wechseln. Warum bezahlt man – selbst als Influ encer*in – solch exorbitant hohe Preise? Wegen der Abwechslung, meint Iwona Laub. Die Großmärkte hätten immer die gleichen Klassiker, hier habe sich seit Jahrzehnten nichts verändert. Unikate bauen auf dem Zwang der medialen Selbstdarstellung auf. Neue, immer exotischere Pflanzen bedeuten mehr Likes, mehr Likes signalisieren höhere Relevanz. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung ist nichts Neues. »Der Mensch hatte schon immer Interesse daran, sich positiv darzustellen.
leginnen auch zum ersten Mal das Plantfest Vienna, bei dem Besucher*innen zudem auch an Workshops teilnehmen und sich mit eingeladenen Florist*innen austauschen konnten.
Spuren in der Umwelt Abseits von Klicks und Likes hinterlässt der Zimmerpflanzenhype – wenig überraschend – auch in der Umwelt seine Spuren. Wie viele andere Bereiche des Lebens ist das Geschäft mit der Zimmerbegrünung schon seit Jahren Teil einer Massenproduktion. »Traditionelle Gärtner*innen findet man heute nur mehr sehr wenige«, erklärt Gartenbauexperte Johannes Balas mit Bedauern. Vielmehr würden in großen Industriegewächshäusern bis zu hunderttausend Pflanzen mit Hilfe von digitalen Geräten und Robotik gezüchtet. »Da muss man sich keine Illusion von einer grünen Schürze machen.« Mitunter durchläuft ein und dieselbe Pflanze Produktionsschritte in verschiedenen Ländern. Beispielsweise wird die Mutterpflanze in Deutschland kultiviert, dann zur Vermehrung in die Schwellenländer gebracht, nur um danach wieder nach Europa eingeführt zu werden. Hauptdrehkreuz im europäischen Handel sind dabei die Niederlande.
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sogenannten Variegata-Pflanzen um ein Vielfaches teurer in der Anschaffung als die grüne Standardversion. Das fehlende Chlorophyll in den weißen Blättern lässt diese auch schneller absterben. Seltene Arten findet man auch meistens nicht in Pflanzenläden, sondern die Community tauscht und verkauft im Internet. So kostet der Steckling einer regulären Monstera auf willhaben.at zwischen 10 und 20 Euro, eine Monstera deliciosa variegata liegt bereits bei 65 bis 75 Euro pro Steckling. Zum Vergleich: Eine zwölf Jahre alte grüne Monstera bei Calienna kostet 109,90 Euro. Das sei aber noch gar nichts, meint Iwona Laub: »Vor eineinhalb Jahren war ein Philodendron Pink Princess auf E-Bay um 1.000 Dollar zu haben.« Andrea Mühlwisch, die seit 2013 im fünften Wiener Gemeindebezirk ihre Flower Company betreibt, kann mit dem OnlineHandel auch nicht viel anfangen: »Da gibt’s ausgefallene Sorten, die bei Thailändern oder Indonesiern gehandelt werden, wo der Import nur mit großem Aufwand legal möglich ist.« Viele ließen sich diese Stecklinge illegal zuschicken, wobei deren Qualität dann meist recht schlecht sei.
»Abseits von Klicks und Likes hinterlässt der Zimmerpflanzenhype – wenig überraschend – auch in der Umwelt seine Spuren.«
Die Monstera, auch Fensterblatt oder Philodendron ge nannt, ist das Paradebeispiel für den Hype um Zimmer pflanzen. Die eher pflegeleichte Pflanze mit Luftwurzeln und gelappten Blättern stammt ursprünglich aus den tropischen Wäldern Mittel- und Südamerikas.
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Doch es wäre zu kurz gegriffen, allein die weiten Wege als Merkmal einer nicht nachhaltigen Produktion zu nennen. »Regionalität ist bei Zierpflanzen kein Positivargument«, erklärt Balas. Durch das Züchten in warmen Ländern und die Einfuhr per Schiff wird in großem Umfang bei Energie und Heizkosten für Glashäuser gespart. Warum dann aber nicht einfach lokale Pflanzen daheim aufstellen? »Die kauft keiner.« Das Exotische mache die Attraktivität der Zierpflanze aus. Die Sehnsucht danach einen wesentlichen Teil der Problematik. Jene Pflanzen, die außerhalb Europas produziert werden, sind zudem nicht immer zu erkennen. Fast alle Anläufe für Qualitäts- und Ökosiegel sind ruhend gestellt. Der Grund? Die damit verbundenen Kosten. »Nur ein Produkt hat ausreichende Präsenz am Markt, um diese zu rechtfertigen: Schnittrosen«, so Balas. Eine zaghafte Klassifizierung lasse aber zumindest das EU-Bio-Siegel zu. Andere Initiativen wie etwa der EUPflanzenpass würden zwar auf Nachhaltigkeit fokussieren, hätten aber ihre eigenen toten Winkel, wie Katja Batakovic von »Natur im Garten«, einer niederösterreichischen Bewegung für die Ökologisierung von Gärten und Grünräumen, erklärt. Prinzipiell zeichne dieser Pass »die Herkunft der Pflanze aus, dass hier keine Schädlinge zu finden sind und dass sie gesund ist«. Das werde auch streng kontrolliert. Was der Pflanzenpass jedoch nicht verrate, seien die Arbeitsbedingungen für die Angestellten im Massenbetrieb. Das steht – wie so oft – auf einem anderen Blatt.
Aufruf zum Dialog »Die Industrie ist mangelhaft«, gibt auch Miriam Cervantes zu. Bei ihr und ihrem Mann stehen aus Prinzip nur Pflanzen mit BioSiegel zum Verkauf. Aber »vieles ist in Plastik verpackt, die Lastwagen müssen extra aus den Niederlanden anreisen«. Zum Glück, ergänzt sie, gäbe es bereits einen Diskurs zu diesen Problemen. Auch Bergamotte-Presse sprecherin Lara Maria Gräfen verweist für ihr Unternehmen auf eine nachhaltige Produktion innerhalb Europas. Die meisten Pflanzen kommen aus den Niederlanden, alle Züchter*innen würden zudem über das MPSLabel für nachhaltige Produktion verfügen und weitgehend auf Pestizide verzichten. Der Wunsch nach besseren Bedingungen ist ein positives Zeichen. Doch nicht nur
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die Umwelt, auch die Pflanzenethik stellt Pflanzenliebhaber*innen immer wieder vor Herausforderungen. Der Ursprung des Problems: falsche Erwartungen. »Manche machen den Fehler, dass sie das Zimmer mit Möbeln vollstellen, dann schauen sie sich um, und im hintersten Eck ist ein Loch, da soll dann eine Pflanze hin«, so Andrea Mühlwisch von der Flower Company. Im Finsteren könne eine Pflanze aber nicht gedeihen. »Dann muss man halt wieder auf BiologieUnterstufenniveau runtergehen und erklären: ohne Licht keine Fotosynthese, ohne Fotosynthese kein Überleben.«
Unter den Sammelbegriff Sukkulenten (»sucus« ist das lateinische Wort für »Saft«) fallen eine Vielzahl verschiedener saftreicher Pflanzen, die an besondere, oft heiße und wasserarme Klima- und Bodenverhältnisse angepasst sind. Insbesondere – aber bei Weitem nicht nur – Kakteen.
Weitere Probleme sind die vielen fehlerhaften Online-Pflanzentipps von selbsternannten Expert*innen oder der Verkauf von unverwurzelten Stecklingen. Die Leute, die diese mangels besseren Wissens kaufen, würden infolge an ihrem Können zweifeln, obwohl bei solcher Ware wahrscheinlich nicht einmal Profis eine Chance haben. Die verstärkte Nähe zu Zierpflanzen hat natürlich auch ihre positiven Seiten. Schon wenige Pflanzen im Raum können, wie Studien zeigen, für Entspannung sorgen, die Pulsfrequenz sowie den Blutdruck senken
und die Menschen resilienter machen. Zimmerpflanzen werden auch bei Therapien eingesetzt. Für Miriam und Christian Cervantes ist es ein entschleunigter, bewusster Lebensstil, weshalb sie ihre Pflanzenliebe auf andere überspringen lassen wollen. »Du hilfst ihnen auf einer Reise«, so das Paar. Bei der Auswahl der richtigen Pflanze dabei zu sein, sei ein mächtiger und wichtiger Schritt.
Eine Form von Genugtuung »Pflanzen sind kleine Erfolgserlebnisse«, findet Iwona Laub. Wenn man sehe, wie sie neue Blätter bekommen und dass es ihnen gut geht, sei das eine Form von Genugtuung. Das Hobby der Zimmerpflanzensammelei sei einfach nichts, was nur durch Likes am Laufen gehalten werden kann. »Man muss schon Lebenszeit investieren in diese Dinge.« Was bleibt also vom Pflanzenhype? Letztendlich liegt es in seiner Natur, dass er ähnlich schnell ableben dürfte wie er aufgeflammt ist. Trends wechseln in unserer kurzlebigen Zeit nicht nur schneller, sondern dauern auch weniger lang. Das hänge mit der Aufmerksamkeitsökonomie zusammen, erklärt die Kommunikationswissenschaftlerin Gerit Götzenbrücker: »Diese Selbstentfaltungsangebote haben hohe Umschlagzeiten. Das heißt, das Eintrittsinvestment wird nur kurz vergütet und dann schnell entwertet.« Menschen wie das Ehepaar Cervantes haben Pflanzen aus Überzeugung zu einem Teil ihres Lebensentwurfs gemacht. Andere wollen es einfach nur mal ausprobieren. Eine logische Schlussfolgerung dieser Zuneigung wäre jedenfalls, die Pflanze von der Positionierung als Massenprodukt zu befreien. »Eine Pflanze ist ein Lebewesen«, betont Gartenbauexperte Johannes Balas. »Wenn ich ein Lebewesen achte, dann schaue ich, dass es ihm zumindest einigermaßen gut geht.« Susanne Gottlieb
Aufgrund von Corona sind weitere Pläne für das Plantfest und das Bergamotte-Pop-up vorerst auf Eis gelegt. Wer sich eine Topf pflanze zulegen will oder für die Zucht daheim tiefergehende Tipps braucht, kann bei Miriam und Christian Cervantes von Calienna oder Andrea Mühlwisch von der Flower Company vorbeischauen. Für Gartenliebhaber bietet Natur im Garten (www.naturimgarten.at) Beratung und Vorträge.
Nina Ober (www.ninaober.at)
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»Schon wenige Pflanzen im Raum können laut Studien für Entspannung sorgen, Pulsfrequenz und Blutdruck senken und Menschen resilienter machen.«
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Viel mehr als um das Auswählen anhand des Aussehens einer Pflanze geht es darum, welche Bedingungen dieser der zukünftige Standort bietet. Je flexibler die Platzwahl, desto größer die Optionen. Soll es ein ganz bestimmter Fleck sein, empfiehlt es sich, eine Pflanze zu wählen, die für diese Bedingungen auch geeignet ist. So haben etwa tropische Blattpflanzen nur wenig Freude mit sonnigen Fensterplätzen, da ihre Blätter dort leicht verbrennen. Ein Fenster ohne direkte Sonne liefert schon mehr Spielraum. Prinzipiell gilt: Je weiter der Standort vom Licht entfernt ist, desto geringer die Auswahl an geeigneten Pflanzen.
Die Forellenbegonie, auch als Polka-Dot-Begonie bekannt, besticht mit auffällig gepunkteten Blättern. Die strauchig wachsende Pflanze hat ihren Ursprung in den Urwäldern Brasiliens und mag es gerne warm und hell, aber ohne direkte Sonneneinstrahlung.
2. Keine zu aufwendigen Pflanzen bei wenig Zeit
5. Jahreszeiten wirken sich auf Pflanzen aus
Auch darüber, wie viel Zeit man für die Pflege seiner Pflanzen aufbringen kann und möchte, sollte man sich Gedanken machen. Es gibt robuste Pflanzen, die nur wenig Aufmerksamkeit benötigen, und kompliziertere, für die man viel Zeit aufwenden muss. Für Neulinge empfiehlt es sich, nicht mit teuren exotischen Pflanzenarten einzusteigen, sondern mit den altbewährten Klassikern, etwa pflegeleichten Efeututen oder Grünlilien. Leidenschaftliche Fans von Gießen, Pflegen und Umtopfen können eher über betreuungsintensivere Anschaffungen nachdenken.
Auch wenn sich Zimmerpflanzen ganzjährig in einer warmen Wohnung mit künstlichem Licht befinden, spüren sie den Einfluss der Jahreszeiten. Dementsprechend werden sie sich unterschiedlich verhalten. Es ist daher ratsam, Pflanzen je nach Jahreszeit an verschiedene Orte zu stellen. Im Winter ist es zudem wichtig, die Pflanze seltener zu gießen und von warmer Heizungsluft fernzuhalten. Speziell Tropenpflanzen brauchen auch im Winter ausreichend Licht.
3. Düngen ist überbewertet Topfpflanzen aus Blumen- und Pflanzengeschäften sind zumeist schon mit genügend Nährstoffen versorgt. Der Dünger in der Blumenerde reicht oft Wochen oder sogar Monate. Pflanzen sind an sich auch sehr sparsam und wissen mit den verfügbaren Nährstoffen umzugehen. Es ist daher nicht notwendig, sofort mit regelmäßigem Düngen zu beginnen.
4. Das Problem ist eher zu viel Wasser als zu wenig Auch wenn sich das Klischee von der ausgetrockneten Pflanze hartnäckig hält, die Realität schaut anders aus. Neben der falschen Platzwahl ist es meistens Übergießen, das Pflanzen eingehen lässt. Zwar sollten Zimmerpflanzen nie komplett austrocknen, aber es schadet ihnen weniger, wenn sie im Notfall ein paar Tage ohne Wasser auskommen müssen, als wenn sie zu viel gegossen werden. Auf herabhängende Blätter zu achten, ist eine Möglichkeit, durstige Pflanzen zu erkennen. Oder man fasst mit den Fingerspitzen in die Erde um zu prüfen, ob diese schon ausgetrocknet ist.
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Genauso vielfältig wie der Artenreichtum sind auch die jeweiligen Pflegebedürfnisse von Zimmerpflanzen. Um möglichst lange eine Freude an den pflanzlichen Mitbewohner*innen zu haben, haben wir ein paar grüne Daumenregeln zusammengestellt – ganz im Sinne einer nachhaltigeren Pflanzenhaltung.
6+1 Pflegetipps für Zimmerpflanzen
1. Den richtigen Ort für die richtige Pflanze finden
6. Immer erst die Wurzeln überprüfen Bei Unsicherheit über den Zustand einer traurig anmutenden Zimmerpflanze, ist es ratsam, Expert*innen im Laden nebenan zu konsultieren. Eine Sache, die man allerdings auch selbst überprüfen kann, sind die Wurzeln. Dafür muss man diese erst von der Erde befreien. Wenn sie nicht verschimmelt oder kaputt aussehen, dann ist die Pflanze noch zu retten. Oberflächliche Symptome wie hängende Blätter sind also noch kein Todesurteil. Und wenn dennoch mal eine Pflanze eingehen sollte: Nicht traurig sein, das gehört schließlich zum Lernprozess auf dem Weg zum grünen Daumen dazu.
7. Zusatztipp: Vermehrung Entdeckt man bei Freund*innen oder unterwegs Pflanzen, die optisch ansprechend sind, muss man sich nicht unbedingt in einem Geschäft danach auf die Suche machen. Viele Pflanzen lassen sich auf unterschiedliche Arten vermehren, ohne dass der Mutterpflanze Schaden zugefügt wird. Oft geht das durch bloßes Abschneiden und Eintopfen bestimmter Pflanzenteile. Das verbindet nicht nur mehr mit der selbst großgezogenen Pflanze, sondern schont auch die Umwelt.
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Golden Frame Zeitgenössische Kunst im angemessenen Rahmen
Ines Doujak »Landschaftsmalerei«, 2020 © Ines Doujak, Foto: Markus Wörgötter The_Gap_186_010-035_Story_PACK_BBA_mf.indd 17
Im Rahmen der Vienna Biennale for Change, die 2021 unter dem Motto »Planet Love. Klima fürsorge im Digitalen Zeitalter« stattfindet, zeigt das Kunst Haus Wien von 28. Mai bis 3. Oktober Arbeiten der österreichischen Künstlerin Ines Doujak, deren Anblick der bis dato eher kühlen Hauptstadt einen kleinen Photosynthese-Schub mit bitterem Beigeschmack verpassen. ———— Die in Wien lebende Klagenfurterin Ines Doujak bereitet mit ihrer in der Garage und den angrenzenden Innenhöfen des Kunst Haus Wien angelegten Installation »Landschaftsmalerei« nicht nur diverse Materialien der Natur, sondern auch gesellschaftspolitische Gegenstände in imposanter Weise auf. Ein Archiv aus Pflanzen, Pilzen, Samen, Blüten, Holz, Asche und Stein verwandelt Doujak in stumme, dennoch ausdrucksfähige Zeitzeugen. Thematisch liegt das zentrale Augenmerk der diversitären Installation auf einem zeitgenössischen Thema mit großer Tiefe. Die Arbeit »Landraub« beschäftigt sich mit der wirtschaftlich motivierten Enteignung und Vertreibung von Landbevölkerung durch Konzerne, Staaten und Investoren. Versinnbildlicht wird diese bis heute zunehmende Praktik durch die Darstellung ausgestorbener Apfelsorten, die lukrativeren Monokulturen weichen mussten, was die nachhaltige Zerstörung der lokalen Umwelt, Biodiversität und Ernährung zur Folge hat. Die Reproduktionen alter Illustrationen von in Österreich heimischen Früchten wirken zunächst romantisierend ästhetisch – bei genauerer Betrachtung prangen auf den 70 mal 120 Zentimeter großen Plakaten jedoch Zitate internationaler »Landgrabber«, die für die gewaltvolle Inbesitznahme von Grund und Boden quer durch die Zeitgeschichte verantwortlich zeichnen. Die lediglich optisch geschönten Äußerungen sind bis zu 400 Jahre alt, haben aber inhaltlich nichts an Aktualität eingebüßt. Das wohl berührendste Werk der Serie »Landraub« stellt jedoch kein aufbereitetes Zitat, sondern eine aktuelle Aufzählung dar: »Einige der LandverteidigerInnen, UmweltaktivistInnen, MenschenrechtskämpferInnen, JounalistInnen und AnwältInnen, die im Kampf um Land, Tierwelt oder Bodenschätze getötet wurden«, ist in schwarzen Lettern über dem historischen Abbild eines Apfels zu lesen. Auf der Frucht selbst sind die Namen der Aktivist*innen vermerkt, sowie das Jahr und Land, in dem sie starben – die meisten im Kampf um den brasilianischen Regenwald. Doujak empfindet die Landfrage als Verknüpfung der »zentralen Bereiche der gesellschaftlichen Naturverhältnisse wie Ernährung, Mobilität, Wohnen, Energie«, wie sie 2018 bei einer temporären Ausstellung der Werke in Grafenegg erklärte. Ihre Arbeit solle verdeutlichen, dass die Praxis des Landraubs kein erst in der Gegenwart aufgekommenes Phänomen sei, »sondern vielmehr eine historisch spezifische Ausprägung eines Prozesses, in dem die gesellschaftliche Nutzung von Natur untrennbar mit kolonialen und postkolonialen Verhältnissen von Macht, Herrschaft und Ausbeutung verknüpft ist«. Die Ausstellung »Landschaftsmalerei« führt Doujaks gedankliches Œuvre sinnvoll fort, ist sie doch vor allem für ihre dekonstruktive Methode bekannt, mittels derer sie auf stets empathische Weise Perspektiven auf Themenkomplexe von Sexismus bis Machtmissbrauch entstehen lässt. Bereits auf der Documenta 12 widmete sie sich mit »Siegesgärten« der Verbindung von natürlichen Ressourcen, systematischer Ausbeutung und daraus folgender Abhängigmachung der Landbevölkerung in EntwicklungsFee L. Niederhagen ländern im neokolonialen Kontext.
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Ines Doujak »Landschaftsmalerei« Natur und Ausbeutung
Die Ausstellung »Landschaftsmalerei« ist – als Teil der Vienna Biennale for Change 2021 – von 28. Mai bis 3. Oktober im Kunst Haus Wien zu sehen.
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Ein Club, sie zu knechten Die BäumchenDrahtzieher Tirols Der Bonsai Club Tirol ist wohl eine der eher ungewöhnlichen Erscheinungen in Österreichs Kulturlandschaft. Ein Ausflug in den Mikro kosmos der Mikrobäume und die Kunst des pflanzlichen Knechtens. ———— »Menschen haben gerne etwas Kleines, wie Modelleisenbahnen oder Puppen – oder eben Bonsais.« So erklärt sich Sepp Hofer die Mikrophilie, die ihn und die rund 70 Gleichgesinnten im Bonsai Club Tirol eint. Der Club existiert seit 1989. Bei regelmäßigen Treffen, Ausstellungen und Ausflügen teilen seine Mitglieder Wissen, Rat und Faszination. Sepp Hofer ist mit stolzen 86 Jahren mit Abstand der Älteste im Club, der
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insgesamt nicht unbedingt von jungen Menschen geprägt ist. Seit 33 Jahren züchtet Hofer Bonsais. Sein erstes und damit ältestes bestehendes Werk, eine Miniaturbirke, hat heute also mindestens 33 Jahresringe. Hofer ist eine gute Adresse, um die Leidenschaft für Bonsais und den Club verstehen zu lernen. Er war von Anfang an dabei und sogar einige Jahre dessen Vorstand. Rings um sein Haus in Lans bei Innsbruck sind an die 80 Bonsais verteilt, die derzeit noch »eingewintert« sind, das heißt, sie sind in kleinen Gruppen zusammengestellt und mit Laub bedeckt. Fotos lässt er mich erst nach etwas
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Ein Weißdorn Sepp Hofers im Miniaturformat
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Geduld und Hingabe Die Imitatio hat ihren Preis. Bonsais beanspruchen extrem viel Zeit, Geduld und Arbeit. An heißen Tagen müssen sie dreimal gegossen werden, weil die dünne Erde so wenig Wasser speichert. Und sie brauchen Platz. Ohne Haus mit Garten können Bonsais höchstens am Balkon gedeihen. All das macht Bonsais zu einem Hobby, für das jüngeren Menschen oft die Ressourcen und das geregelte Leben fehlen. Zwar gibt es auch billige Indoor-Bonsais, die würden aber fast immer eingehen, weil sie das Zimmerklima nicht vertragen, so Sepp Hofer. Die lange, meditative Arbeit an und mit den Bonsais mache das Hobby aus, sagt auch Harald Aufschnaiter, ebenfalls langjähriges Bonsai-Club-Mitglied. Seine Bonsais nennt er »meine Babys«. Der gelernte Elektroniker und Physikinteressierte kann sich für die technischen Aspekte begeistern, die das Kultivieren der kleinen Bäume mit sich bringt. Im frühen Japan nutzten Meister*innen Steine an
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Sepp Hofer mit einem seiner gerade ausgewinterten Lieblinge
Schnüren, um die Äste der Bonsais nach unten zu ziehen und so schon in frühem Pflanzenstadium die Auswirkungen der Schwerkraft zu verstärken. Heute werden die Äste meist mit Draht am Wachsen gehindert beziehungsweise gelenkt. Das Beschneiden von Wurzeln und Ästen hält die Bonsais klein und verkleinert deren Blätter – was den Miniaturbaumlook verstärkt. Die Stämme sollen unten dick sein und sich nach oben verjüngen, einige tote Äste und die Abstände zwischen den Astetagen sind Qualitätsmerkmale eines guten Bonsais. Bonsais werden im Prinzip geknechtet und zugerichtet. Außenstehende kritisieren die invasiven Techniken. Auch ich kriege bei deren Beschreibung beinahe Mitleid mit den kleinen Bäumen. Genau wie Sepp Hofers Frau, die die Bonsai-Züchtenden überspitzt als »Baum-Vergewaltiger« bezeichnet. Wir bleiben dann doch lieber bei »Bäumchen-Drahtzieher«. »Dem Baum ist es egal, ob er durch die Schwerkraft, Schneelast oder Draht nach unten gedrückt wird. Natürlich schaut Draht für einen Laien dramatisch aus. Aber wir wollen, dass es dem Baum gut geht«, rechtfertigt Hofer sich und seinen Club. Über Jahre kultivierte Bonsais können mehrere Tausend Euro wert sein. Lukrativ ist das Bonsai-Hobby trotzdem nicht. Würde man alle Arbeitsstunden einrechnen, die über die Jahre in jedes dieser Bäumchen fließen, wären Preise in der Höhe von Zigtausenden Euro eher angemessen. Mehr noch bei Bäumen, die über Generationen weitergegeben und kultiviert wurden, wie im alten Japan. »Bei mir wird das nichts. Ich habe drei Buben, von denen interessiert sich niemand für Bonsais«, erklärt Sepp Hofer leicht geknickt, wie ein verdrahteter Ast seiner Bonsais. Sein Sohn gehe lieber Ski- und Radfahren, anstatt Zeit und Interesse für die kleinen Bäume zu teilen. Auch deshalb ist der Bonsai Club Tirol am Überaltern. Ungefähr ein Drittel der Mitglieder sind in Pension. Derzeit gibt es situ-
ationsbedingt keine Clubabende, keine Ausstellungen und das frühjährliche Umtopfen kann womöglich nicht mal im Freien stattfinden. Dafür bringen die Lockdowns viel Zeit für Haus und Garten. Insofern erweist sich Bonsai als pandemieverträgliches Hobby, auch wenn es sich in der Gemeinschaft fröhlicher gärtnert.
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Überzeugungsarbeit machen, weil die Bäumchen blattlos und ohne ruhigen Hintergrund nicht ihre volle Pracht entfalten. Die Ursprünge von Bonsai gehen zurück in die frühe Han-Dynastie (206–220 n. Chr.) Chinas. Von dort wurden sie von buddhistischen Mönchen nach Japan gebracht. In Europa wurden Bonsais erstmals um das Ende des 19. Jahrhunderts herum ausgestellt. Seit den 1970ern sind sie hierzulande allgemein bekannt. Der Begriff leitet sich von »punsai« ab, was so viel bedeutet wie »Baum im Gefäß«. Auf den ersten Blick beschreibt das die gesamte Disziplin treffend. Der banale Ursprungsname meint allerdings weniger Pflanzenklamauk – pun intended – als vielmehr die Kunst, Bäume in Miniaturform zu halten. Die kleinen, meist flachen Tonschalen sollen die Landschaft versinnbildlichen. So werden alte Baumgestalten aus der freien Natur imitiert. Das Reizvolle daran: Jeder Baum kann zum Bonsai werden. Ob Birke, Fichte, Buchsbaum, Eiche, Jadebaum, Ahorn oder etwa Trauerweide, wirklich jeder. Wichtig ist dabei die Verholzung des Stammes. Ein kleiner, junger Baum ist noch längst kein Bonsai. »Ein guter Bonsai hat einen interessanten Stamm, dessen Wurzeln kraftvoll im Boden verankert sind, eine schön strukturierte Baumkrone und fein verzweigte Äste«, so die Definition Sepp Hofers. Bonsais sind vielfältig – aufrecht, weidenförmig oder kaskadenartig. Wild sollen sie aussehen, als hätten sie gegen Wetter und Witterung gekämpft. Die Wirkung der Natur wird dabei übertrieben und akribisch inszeniert. Zum Beispiel hat Hofer seiner Bonsai-Fichte die Rinde abgezogen, damit sie aussieht wie vom Blitz getroffen. Obwohl die meisten wilden Bäume gerade nach oben wachsen, sind Bonsais oft augenscheinlich windgepeitscht und schief. Es wird damit eine Natur der Extreme imitiert.
Mit seinen Bonsais hat Sepp Hofer schon mehrere Wettbewerbe gewonnen. Stolz zeigt er Fotos seiner Kreationen in Sammelbänden. Dort sind die schönsten und innovativsten Bonsais aus der europäisch vernetzten Bonsai-Community versammelt. »Es ist fast eine Sucht. Ich bin jetzt schon ganz wahnsinnig und gehe jeden Tag mindestens zweimal schauen, ob die ersten Blattln schon außaschieben.« Von Beruf Fotograf versuchte Hofer sein Leben lang, Schönheit festzuhalten. Analog dazu sieht er auch das Bonsai-Züchten konsequent als eigene Kunst. Die Leitfrage: »Ist die Natur die Künstlerin oder der Gestalter der Künstler?« Es sei ein Zusammenwirken von Natur und Gestaltenden, so sein Resümee. Je länger wir auf der Terrasse von Sepp Hofers kleinem Haus im Lanser Wald über Bonsais philosophieren, desto verständlicher wird die Faszination für dieses eigenartige Hobby. Für die Bonsai-Züchtenden ist es eine Möglichkeit, den Rhythmus der Jahreszeiten zu erfahren und mit der Natur in künstlerischen Dialog zu treten. Und noch eine Eigenheit an den kleinen Bäumen gefällt Sepp Hofer: die ständige Transformation der lebenden Bonsais. Andere Künste wie Fotografie, Film oder Literatur verewigen ihre Werke in einer finalen Version, ein Bonsai hingegen sei »ein Kunstwerk, das nie ganz fertig ist«. Luca Gasser
Nähere Infos zum Bonsai Club Tirol sind unter www.bonsaiclub-tirol.at zu finden.
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Der Trend zum legalen (und illegalen) Eigenan bau diverser Hanfsorten zeigt in Österreich seit Jahren stabil nach oben, mit Beginn der Covid-19-Pandemie und den damit verbunde nen Lockdowns haben sich die Umsätze der Growshops nochmals deutlich gesteigert. Ein Paradigmenwechsel in der heiklen CannabisFrage muss und könnte sich abzeichnen. ———— Nach vielen Jahrzehnten der durchaus als völlig missglückt zu bezeichnenden Drogenpolitik weltweit und auch in Österreich hat Cannabis in der Öffentlichkeit einen besonders unverhältnismäßigen Imageschaden davongetragen. Die »Haschler«, wie man es vor allem aus dem Mund der Boomer-Generation immer noch oft hört, wären schmuddelig, arbeitsscheu und ihr Weg zur Bahnhofstoilette – mit einer Nadel im Arm – vorgezeichnet. Auch die Faktenlage rund um die geringe gesundheitliche Gefahr und die im Gegenteil sogar oft therapeutische Wirkung von Hanfsorten mit dem berauschenden Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) perlt seit den 1960er-Jahren konsequent an jeder Regierung ab wie Regen an den gezackten Blättern der Pflanze. Gut gemeinte, aber eben nicht gute Gummiparagraphen wie beispielsweise in den Niederlanden, Portugal oder Tschechien ermöglichen zwar den straffreien Konsum von Weed, Hasch, Öl, Harz oder Tinkturen – legal wie ein Glas Wein ist es aber immer noch nicht. Innerhalb der EU ergibt sich somit ein Flickwerk an unterschiedlichen Regelungen, die erst recht wieder nur das vorgezeichnete Bild vom Rand der Gesellschaft und/oder Drogentourismus bestätigen. Dass es aber auch ganz anders geht, machen ausgerechnet die sonst so verbissen im »War on Drugs« engagierten USA vor. Seit
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2014 sind im Bundesstaat Colorado der Anbau, Besitz, Handel und Konsum von THC-haltigen Substanzen völlig legal und die dafür verabschiedeten Gesetze klar formuliert. Schon nach kürzester Zeit übertrafen dort die Entwicklungen die kühnsten Erwartungen, und das im positiven Sinn: Steuereinnahmen in Rekordhöhe, zusätzliche Arbeitsplätze, weniger Kriminalität. Schon bald zogen andere Bundesstaaten, die teilweise ohnehin schon recht softe Gesetze im Hinblick auf medizinische Verwendung hatten, nach. Allen voran Kalifornien, das heute allein mit dem Milliardenumsatz der Cannabis-Industrie schon die Bruttoinlandsprodukte ganzer Nationen übertrifft.
Der alte Kontinent zögert Ganz anders die Situation in Europa. Kein einziges (noch mal: kein einziges!) Land am alten Kontinent konnte sich bisher durchringen, eine Lösung wie in mittlerweile 14 USBundesstaaten oder wie bundesweit in Kanada oder Uruguay durchzusetzen, wo man dem High aus der uralten Kulturpflanze nicht nur legal, sondern dank regulierter Abgabe auch gesundheitlich weitestgehend unbedenklich frönt. Entkriminalisierung, medizinische Verwendung, Duldung – das ist das Beste, was wir innerhalb und außerhalb der EU, vom Nordkap bis zum Mittelmeer zu bieten haben. Und Österreich reiht sich hier nach wie vor hinten ein, deutlich nach unseren bundesdeutschen Nachbarn, wo zumindest ausgesuchten Patient*innen der Joint auf Rezept gegönnt wird. Scheint also, als müssten gesetzestreue Bürger*innen der Alpenrepublik weiterhin ausschließlich auf Bier, Wein, Schnaps & Co setzen, um nach einem harten Arbeitstag zu
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Let it grow, let it grow Corona, Cannabis und ein Paradigmenwechsel?
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entspannen oder um der Corona-Depression entgegenzuwirken. Ob das gesünder ist, steht auf einem anderen Papier. Witzigerweise scheint aber genau von der so vielseitig nutzbaren Hanfplanze selbst die Lösung zu kommen, wie man die nachweislich überwiegenden Vorteile einer grundsätzlichen Legalisierung von Cannabis in die Betonköpfe der zuständigen Gremien bekommt: Cannabidiol (CBD), ein weiterer Wirkstoff bestimmter Hanfsorten. Dieser hat im Gegensatz zu THC keinerlei berauschende Effekte, wirkt dafür aber schmerzlösend und angstlindernd und steigert generell das Wohlbefinden von Mensch und Tier. Wiewohl schon seit den 1940er-Jahren bekannt, ist die therapeutische Wirkung von CBD erst in den letzten Jahren im Mainstream angekommen und hat sich sehr schnell zu einem boomenden Markt entwickelt. Wobei sich aufgrund der nach wie vor schwammigen gesetzlichen Definition als Nahrungsergänzungsmittel ähnlich gewinnorientierte Mechanismen etablieren, wie wir sie schon aus der Parade-Voodoo-Disziplin Homöo pathie kennen. Freilich, die Wirksamkeit von CBD ist – im Gegensatz zu den Zuckerkügelchen – in hochdosierter Darreichungsform beispielsweise bei der Behandlung von Epilepsie schon klinisch dokumentiert. Hier reden wir aber von rund 400 mg reinem CBD pro Tag, während die im Handel gängigen Tropfen mit 5 % bis 10 % Wirkstoff ange-
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»Scheint also, als müssten gesetzestreue Bürger*innen der Alpenrepublik weiterhin ausschließlich auf Bier, Wein, Schnaps & Co setzen.«
Eine »Zierpflanze« in voller Blüte mit THC-haltigem Harz – und somit illegal
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boten werden. Das wären im besten Fall 5 mg pro Tropfen – für eine nachweislich wirksame Behandlung müsste man also nach derzeitigem Wissensstand schon ganz schön viele Tropfen einnehmen, von Vaporisation oder Rauchen ganz zu schweigen. Es bleibt also, nüchtern betrachtet, die Wahl zwischen Placeboeffekt oder deutlicher finanzieller Belastung.
CBD als Tor zum Mainstream Da CBD auf der einen Seite völlig legal, auf der anderen Seite aber in fertiger Darreichungsform als Blüten, Öl oder Tropfen im Laden bzw. aus dem Automaten ähnlich teuer wie sein illegaler Cousin THC auf dem Schwarzmarkt ist, steigerte sich in den letzten Jahren auch das Interesse an der Eigenaufzucht, wie mir bei einem Besuch im Growshop Krumme Gurken im Speckgürtel vor Wien bestätigt wurde. Hier in Deutsch-Wagram, wo die konservative Thujenhecke noch fröhliche Urständ’ feiert und auch sonst alles eher bürgerlich geprägt ist, freut man sich seit Jahren über den Absatz von mehreren Tausend vorgezogenen Pflanzen, die von Kunden zur weiteren Aufzucht und letztlich Ernte erworben werden. Dazu zählen aber neben diversen CBD-haltigen Sorten auch die offiziell als »Zierpflanzen« bezeichneten Varianten, die ab der Blüte den Wirkstoff THC ausbilden. Ein Umstand, der einer besonderen Gesetzeslage geschuldet ist, wonach nur Pflanzen oder Pflanzenteile nicht erlaubt sind, die THC enthalten. Vom Samen bis kurz vor der Blüte sind also auch Kräuter mit klingenden Namen wie Critical Orange Punch oder Amnesia Haze so harmlos und legal wie ein Alpenveilchen –
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und ab dem Verkauf haftet der Kunde selbst für die Pflanze. Oder der Handel entsorgt sie noch rechtzeitig vor der Blüte im Biomüll. Klingt komisch, ist aber so. Ganz dem aktuellen Trend entsprechend, sind moderne Growshops freundliche, helle und saubere Fachgeschäfte, die mit den noch bis in die Nullerjahre typischen düsteren Souterrainlokalen mit abgestandenem Räucherstäbchenmief gar nichts mehr gemeinsam haben. Und nicht nur Old-SchoolHippies wie mich, sondern auch skeptische Boomer angenehm überraschen. So kommen Vertreter*innen der Luxusgeneration oft argwöhnisch in den Laden, um von Bekannten und Familie empfohlene CBD-Produkte für sich selbst, ihr Haustier oder Pferd zu holen, und sind dann völlig baff über die angenehme Atmosphäre und kompetente Beratung, die so gar nichts mit den seit ewig in den Medien strapazierten Negativbildern zu tun haben. Und den Kauf eines Komplettpakets mit Grow-Zelt und Zubehör für CBD aus eigener Zucht lassen sich die motivierten Kunden dann schon mal gerne 1.000 Euro kosten. Interessantes Motiv manch älterer Semester: In jungen Jahren haben sie mitunter selbst gerne den Ofen gerollt, möchten aber auch im Herbst des Lebens das vertraute Ritual, den Geschmack und letztlich auch eine gewisse entspannende Wirkung wieder genießen, ohne potenziell mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Charmant! Selbst der ÖVP-Bürgermeister der Stadt, seinerseits Nebenerwerbslandwirt, schaut vorbei und tauscht sich über Pflanzenzucht aus.
Das klingt jetzt alles sehr romantisch, in der Praxis sind wir aber von entspannten Verhältnissen noch weit entfernt. Denn die – eh scho wissen – Zierpflanzen sind nach wie vor das gefragteste Produkt in den heimischen Growshops. Aus Gründen. Da gibt es auf der einen Seite die Hobbygärtner*innen, die einfach nur ihren Eigenbedarf an Weed decken wollen, was aktuell dank diverser Lockdowns über die einschlägigen Dealer-Kanäle kaum noch möglich ist. Also eine Flucht nach vorne, die einen gewissen Charme analog zu Ghandis Homespun-Initiative erkennen lässt. Wie mir ein Freund, der seit einigen Jahren ebenjene Pflanzen auf der Terrasse zur eigenen Erbauung zieht, bestätigt: »Ich rauche seit gut 30 Jahren immer wieder gerne mal Cannabis. Was früher noch mühseliges und riskantes › Aufstellen‹ von oft inferiorem Cannabis in einschlägigen Locations bedeutete, spare ich mir jetzt mit dem Eigenanbau an Geld und Aufwand. Plus: Ich weiß ganz genau, wo das Produkt herkommt und was drinnen ist.«
Dringender Reformbedarf Es gibt aber auch die AGES-Beauftragten, die ähnlich wie das Marktamt bei Lebensmitteln Nachschau im Growshop halten – sich dann aber als so ahnungslos herausstellen, dass sie nicht mal den Unterschied zwischen Indicaund Sativa-Sorten kennen. Auf der anderen Seite existieren nach wie vor schwerkriminelle und mafiöse Verbindungen, die auf das nach wie vor höchst einträgliche Schattengeschäft setzen und dabei auch vor wirklich gefährlicher Praxis nicht zurückschrecken. So
Markus Höller
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Die bequemste Art, sich als HobbyHanfgärtner zu ver suchen: vorgezogene Pflanzen aus dem Fachhandel
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Verblüffend ähnlich. Entschieden anders. Wie Fleisch, aus Pflanzen.
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Budgetlöcher als Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 durch die sprudelnden Steuereinnahmen aus dem wieder legalen Alkoholbusiness deutlich schneller gestopft werden als zuvor.« Nicht zu vergessen außerdem: Abgesehen vom Beitrag zur Erholung vom ökonomischen Super-GAU namens Corona könnten entsprechende Reformen vor dem Hintergrund der sprunghaft angestiegenen geistigen Erkrankungen infolge der Pandemie einiges zur Verbesserung der Volksgesundheit beisteuern. Und das ganz ohne Schnaps beim Skilift. Markus Höller
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Alles in allem befinden wir uns also bei Fragen der Cannabis-Politik in Österreich und Europa in einer nach wie vor kaum definierten Seitwärtsbewegung, die gegenüber kriminellen Aktivitäten hilflos ist, sich dafür aber dringend nötigen Reformen völlig verschlossen zeigt. Autorin Ute Woltron, die sich nach Jahrzehnten im Wirtschaftsjournalismus nun hauptsächlich dem Gärtnern und ganz speziell dem Hanf widmet, sieht hier einen deutlichen Aufholbedarf in Europa: »Wir haben einerseits starke Vorbehalte der aktuell sehr starken konservativen Regierungen in Europa, andererseits die notorische Überregulierung, die es beispielsweise in Kalifornien in der Form nicht gibt. Alles, was in Europa nicht explizit erlaubt ist, ist folglich verboten. Dabei bietet das CannabisBusiness gerade in den kommenden Jahren nach der Pandemie interessante wirtschaftliche Perspektiven. Wie eine Dokumentation von Ken Burns aufzeigt, konnten in den USA nach Ende der Prohibition 1933 die immensen
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werden mitunter völlig harmlose CBD-Blüten mit neu synthetisierten und somit noch nicht vom Gesetzgeber erfassten THC-Derivaten versetzt, was zwar ein rein rechtlich immer noch legales Produkt ergibt, punkto Wirkung und Schädlichkeit aber völliges Neuland ist. Höchste kriminelle Energie also, die den redlichen Bemühungen der Growshops und dem langsamen internationalen Trend zur Legalisierung aus Profitgier weiter Knüppel zwischen die Beine wirft. Und zu allem Übel dann noch konservativen Medien wie beispielsweise dem Kurier willkommenes Futter liefert, um in tendenziösen Artikeln völlig unterschiedliche Dinge wie Industriehanf, CBD und künstliche Cannabinoide genüsslich durcheinander zu werfen, nur um am Ende wieder Begriffe wie »Psychose« und »Bundeskriminalamt« zu strapazieren. Dabei werden liberale Medien wie Vice völlig aus dem Zusammenhang gerissen zitiert und am Ende wieder Bilder heraufbeschworen wie in den schlechtesten Anti-Drogen-Kampagnen der 1970er-Jahre oder dem Propagandafilm »Reefer Madness« von 1936.
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Max Zerrahn
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Eine Gruppe möchte ich sein Ja, Panik »Die Gruppe«
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die Pop- und Kunstproduktion? Taylor Swift ging statt auf Welttour waldbaden und schlug mit ihren beiden PandemieAlben einen introspektiven Weg ein, der im folkigen Gewand Authentizität performt. Bilderbuch – deren deutsch-englisches Wechselspiel es ohne Ja, Panik nicht geben würde – verabschieden sich von Autotune und leben ihren materiellen Hedonismus in Form von Tagträumen aus. Wo es die einen nach Zweisamkeit dürstet, üben Ja,
Timeline 20 Jahre Ja, Panik
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2006
2001
Im burgenländischen Gymnasium gründen Andreas Spechtl und Stefan Pabst die Band Flashbax, aus der später Ja, Panik hervorgehen wird. 2004 erscheint das Album »Straight outta Schilfgürtel«, aufgenommen in der Cselley Mühle in Oslip.
Die mittlerweile nach Wien übersiedelte Gruppe benennt sich um, inspiriert von der Textzeile »Und ja, Panik treibt mich« aus »Totengräber gegen Geisterjäger«, der Abschlussnummer des Debütalbums von 2006.
Die Spex bezeichnet den 2007 veröffentlichten Nachfolger »The Taste and the Money« als die »wichtigste deutschsprachige Platte seit Blumfelds ›L’etat et moi‹«.
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Panik weiter Systemkritik und liefern mit der Betonung des Gruppengedankens einen anderen Vorschlag für den Umgang mit der neuen Realität. Dabei ist die nun vorliegende Platte zu einem Großteil bereits 2019 und damit vor den weltweiten Lockdowns entstanden. Wie man sich Spechtls künstlerischen Prozess vorstellen muss? »Ich schreibe jeden Tag, aber nie einen fertigen Text. Das sind meistens Zweizeiler.« Um aus diesem Fundus zu schöpfen, verbrachte er die letzten Wochen der alten Normalität in Tunesien und fasste dort die Fragmente zusammen.
2009
Der Corona-Effekt Die Kontinuität an sich ist schon eine Leistung, wie Andreas Spechtl, Sänger, Autor und Kopf von Ja, Panik, im Jitsi-Interview erzählt. Denn aus dem Ärmel geschüttelt wurde bei den Aufnahmen (auch pandemiebedingt) nichts: »Wir dachten eigentlich, dass wir das Album in relativ kurzer Zeit runterspielen werden. Im Endeffekt haben wir ein halbes Jahr daran gearbeitet.« Auf diese Weise ist daraus ein Werk geworden, das jahreszeitentechnisch ambivalent ist. Was sich im Jänner noch düster, kalt und metallisch angehört hat, offenbart sich bei wärmerem Wetter als Sommerplatte, deren musikalische Gelassenheit in den Vordergrund rückt. Das bestätigt auch Spechtl: »Die ganze Produktion über hat die Sonne geschienen. Es gibt also auf der Platte quasi keinen schirchen Tag.« Wer 2020 an Musik gearbeitet hat, konnte sich dem Einfluss der Corona-Krise nicht entziehen. Wohin geht die Reise für
Bei seiner Rückkehr per Fähre nach Genua befand er sich schon mitten in der zona rossa und sah sich mit geschlossenen Bahnhöfen konfrontiert: »Mit dieser Platte im Gepäck war es absurd.« Als zwei Wochen später im Burgenland die Studioaufnahmen beginnen sollten, konnte Keyboarderin Laura Landergott nicht mehr aus Berlin einreisen. »Sieben Jahre brauchen wir, um wieder ein Ja,Panik-Album aufzunehmen, und am ersten Tag der Aufnahmen ist Lockdown«, erinnert sich Spechtl. »Am Ende sitzt man dann vor so einer Platte und denkt sich: Hä? Irgendwie passt es fast zu gut.« Ein Schlüsselmoment des Albums ist der Song »The Cure«. Er beinhaltet den einzigen Text, den Spechtl während der Corona-Krise geschrieben hat. »Doktor, hilf mir, damit ich wieder rausgehen kann«, heißt es in der Strophe. Wenn in der vierten Minute der Chor zur Antwort einsetzt, wiederholt er mantraartig: »The only cure from capitalism is more capitalism.« Dass das vermeintliche Heilmittel gar keines ist, versteht sich von selbst. Wo das nämlich hinführt, hat schon die Vorabsingle »Apocalypse or Revolution« verdeutlicht. Spätestens seit ihrem zweiten Album »The Taste and the Money« arbeiten sich Ja, Panik am kapitalistischen System ab, das immer auch ein individualistisches ist. Dem wird seit vielen Jahren die Betonung des Kollektivs entgegengesetzt, bestätigt Spechtl: »Aus Übermut und einem leicht humoristischen Größenwahn war es uns immer wichtig, dass wir nicht die Band, sondern die
»Es war ein Lebensentwurf, und der ist es auch immer noch.« — Andreas Spechtl
2008
Ja, Panik veröffentlichen nach siebenjähriger Pause mit »Die Gruppe« ein Album, das niemand mehr erwartet hat. Sie werfen darin einen Blick zurück und entwickeln gleichzeitig jene Themen weiter, die Andreas Spechtl schon immer be schäftigen. Zur Corona-Krise passt das Ergebnis fast zu gut. ———— Als am ersten Tag des Jahres 2021 eine neue Single von Ja, Panik auf allen Streamingplattformen auftauchte, hatte sich so lange niemand um das Spotify-Profil gekümmert, dass in manchen Metadaten aufgrund des Beistrichs im Bandnamen noch immer Chaos herrschte. Nach sieben Jahren Pause erscheint nun mit »Die Gruppe« das sechste Album der Exilwiener*innen. Es ist eine schöne Überraschung und trotz der langen Zeit mehr Weiterentwicklung als Neuerfindung.
»The Angst and the Money« erscheint auf dem Berliner Label Staatsakt. Die Band trennt sich von ihrer langjährigen österreichischen Agentur Ink Music und zieht nach Deutschland. Spechtl: »Unsere alte Wiener WG in unserem Ford Transit nach Berlin zu übersiedeln, war ein emanzipatorischer Höhepunkt.« Als im Rahmen der Studierendenproteste das Audimax besetzt wird, spielt die Gruppe ein Konzert auf den Stufen der Uni Wien.
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Das nur noch zu dritt aufgenommene »Libertatia« wird veröffentlicht. Laura Landergott (ehemals mit Voodoo Jürgens bei der Band Die Eternias aktiv) stößt zur Gruppe Ja, Panik.
Schon früh im nun – rechnet man die Vorläuferband Flashbax mit ein – 20-jährigen Bestehen von Ja, Panik wurde dieser Lebensentwurf deutlich. Die Band-WGs in Wien und Berlin waren elementare Bestandteile des Selbstbilds. Wie viel hat sich im Lauf der Zeit verändert? »Wenn ich so zurückschaue, war es wahnsinnig wichtig, dass wir zusammengewohnt haben.« Die Gruppenmitglieder waren gemeinsam im Studio, gemeinsam auf Tour, gemeinsam daheim. »Das kennen wir wahrscheinlich alle aus dem Lockdown. Je mehr das Musikmachen unseren Alltag bestimmt hat, umso schwieriger wurde das gemeinsame Wohnen. Es war ein einziges Homeoffice.« Mit der Zeit zehrte das an den Kräften.
Es geht um den Blick zurück So gesehen war die siebenjährige Pause zwischen dem Vorgängeralbum »Libertatia« und dem neuesten Werk eine wichtige Auszeit. »Ich bin froh, dass wir all die Platten nicht gemacht haben, die wir die letzten Jahre hätten machen können. In der Intensität hätte das implodieren können. Für die Nachhaltigkeit der Gruppe Ja, Panik war das gut«, ist Spechtl überzeugt. Gleichzeitig musste man sich nun erst wieder finden und einrichten. »Dass wir das überdauert haben und es einen anderen Zugang gibt, war mit die meiste Arbeit bei dieser Platte.« »Memory Machine«, »On Livestream«, »Backup« – die Umstände ihrer Entstehung spiegeln sich auch in den Titeln und Inhalten
Die Autobiografie »Futur II« markiert das vorläufige Ende der Bandgeschichte. Spechtl veröffentlicht danach drei Soloalben, Sebastian Janata musiziert als Worried Man & Worried Boy mit seinem Vater und schreibt den Roman »Die Ambassadorin«.
2021
Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit: Mit »DMD KIU LIDT« liefern Ja, Panik ein epochales, 14-minütiges, diese Band definierendes Titelstück des gleichnamigen Albums ab, das The Gap in seiner »AustroTOP«-Ausgabe 2020 zum fünftwichtigsten österreichischen Popsong aller Zeiten kürt. Spechtl: »Diese Platte hat mir am meisten abverlangt.«
2016
Am Kremser Donaufestival performt die Gruppe den Auf- und Abbau ihres Equipments, spielt jedoch kein Konzert. Mit Unterstützung des Goethe-Instituts reisen Ja, Panik nach Ägypten und in den Sudan. Der frühe jugendliche Übermut weicht immer deutlicher einer konzeptionellen Entwicklung.
2011
2010
Timeline 20 Jahre Ja, Panik
2014
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Das Cover zu »Die Gruppe« strotzt vor Understatement.
Gruppe Ja, Panik sind. Mit der nötigen Ernsthaftigkeit: Es war ein Lebensentwurf, und der ist es auch immer noch.« Die im Albumtitel beschworene Gruppe kann auf zwei Arten gelesen werden. In erster Linie geht es um Ja, Panik selbst. Eine weiter gefasste Lesart macht uns jedoch alle zu Gruppenmitgliedern: »Wir, die auf diese Kugel geworfen sind, sind zuerst einmal eine Gruppe. Es gibt zunächst nichts anderes. Die Subgruppierungen sind dann das Problem.« Wie kann ein solidarischer Lebensentwurf für Andreas Spechtl funktionieren? »Bei Staaten und sozialen Systemen geht es darum, dass du sowieso Teil dieser Gruppe bist. Du musst dich aber nicht gleich einbringen. Du entscheidest, wie du damit umgehst. Genauso ist auch potenziell jede*r Mitglied der Gruppe Ja, Panik.« Was sich in der Theorie logisch anhört, benötigt in der Praxis noch detailliertere Überlegungen, stellte Spechtl während der Produktion der Platte fest: »Es stimmt nicht, dass alle gleichwertig beteiligt sein müssen, damit es keine hierarchische Form annimmt. Man muss den Leuten die Möglichkeit geben, so viel einzubringen, wie sie gerade können und wollen.« Im Interview fallen die Schlagworte Dezentralität, Offenheit und Durchlässigkeit. »Das Problem ist: Wer sich nicht genug beteiligt, darf oft nicht dabei sein.« Jemandem erst die Erlaubnis geben zu müssen, Teil von etwas zu sein, findet er paternalistisch: »Du bist erst mal Teil von uns. Du darfst gehen, wenn du willst.«
Mit »Die Gruppe« melden sich Ja, Panik aus einer siebenjährigen musikalischen Schaffenspause zurück. Spechtl: »Das Hervorholen und Zusammenfinden ist für mich das Wichtigste an der Platte.«
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der Songs, durch die sich ein retrofuturistisches Maschinenthema zieht. »Es ist auch eine Erinnerungsplatte. Es geht um den Blick zurück.« Spechtl, der sich selbst als Late Adopter bezeichnet und erst seit einigen Jahren ein Smartphone besitzt, nennt den Song »1998« als Beispiel. Darin heißt es: »I was a country boy afraid to go online.« Das Kramen in der eigenen Vergangenheit bringt hier auch den im dritten Ja,-Panik-Album präsenten Begriff der Angst wieder zum Vorschein.
»Du bist erst mal Teil von uns. Du darfst gehen, wenn du willst.« — Andreas Spechtl
2021 sind Ja, Panik Andreas Spechtl, Sebastian Janata, Laura Landergott und Stefan Pabst. Am Saxofon ist Rabea Erradi zu hören. »Die Gruppe«, das neue Album der Gruppe Ja, Panik, erscheint am 30. April bei Bureau B.
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Wie sehr sich die Welt seit 1998 verändert hat und wie unsere alltäglichen Devices in das Musikmachen und Kunstschaffen hineinspielen, verdeutlichte sich für Spechtl bei der Arbeit am neuen Album: »Beim Produzieren und beim Schreiben habe ich gemerkt, wie sehr mich das alles ablenkt. Und wie schnell die Dinge passieren. In Wahrheit bekommt man mit einem guten Instagram-Post mehr Aufmerksamkeit als mit einem Artikel auf Spiegel Online.« Auch die kreative Produktion bei Ja, Panik lief diesmal anders ab: »Allein wie viele MP3s wir uns hinund hergeschickt haben! In den letzten Jahren haben sich all diese Dinge krass geändert. Da sitzen wir davor wie so Boomer.« Noch etwas anderes ist neu und anders an »Die Gruppe«, und das ist die tragende Rolle des von Rabea Erradi (Die Heiterkeit) eingespielten Saxofons, das sich in fast alle Nummern einfügt. Für Andreas Spechtl hat das Instrument eine erzählerische Form: »Es hat damit zu tun, dass die Luft zum Schwingen gebracht wird. Ich mochte den Raum, den es aufmacht.« Und wie ist das jetzt mit der Gruppendurchlässigkeit? »In gewisser Weise ist die Saxofonspielerin ein Bandmitglied auf der Platte. Mal schauen, wie sich das weiterentwickelt.« Astrid Exner
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Für ihr drittes Album sind Die Buben im Pelz zu einer waschechten Rockband mutiert. Das macht musikalisch mehr als nur Sinn. ———— Elvis hat sein Graceland, die Beatles haben das Apple-Gebäude in der Savile Row, Metallica ihr Headquarter in San Rafael. Und die Einstürzenden Neubauten haben ihren Schrottplatz. Wobei, »haben« ist so eine Sache. Sagen wir so: In Berlin-Wedding gibt es einen Schrottplatz. Als im Spätherbst 2019 sechs Wiener dort herumspringen, ist die Apokalypse, der Kollaps, das Ganze, das uns wenig später ereilen sollte, noch weit weg und noch gar nicht auf dieser Welt. Doch diese sechs Wiener haben es da schon geahnt, dass irgendwas nicht stimmen kann.
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Pamela Rußmann
Wien-BerlinConnection Die Buben im Pelz »Geisterbahn« Es sind natürlich auch nicht irgendwelche sechs Wiener, sondern namentlich Christian Fuchs, David Pfister, Christof Baumgartner, Markus Reiter, Gernot Scheitbauer und Bernd Supper, die sich seit damals gemeinsam Die Buben im Pelz nennen dürfen. Aus dem Duoprojekt von Fuchs und Pfister, die selbst schon verschiedenste musikalische Ausflüge unternommen haben, ist für das dritte Album eine echte Supergroup entstanden, die nun eben auch aus (Ex-)Mitgliedern von Bands wie Scarabeusdream, Destroyed but Not Defeated oder Liger zusammengewürfelt ist. Echte Bandmitglieder, keine Studiomucker. Dass sich das finanziell nicht ausgehen kann – mein Gott, l’art pour l’art muss auch mal reichen.
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Das erste »Band-Album«. Sieht man auch am Cover.
Schroff wie die Kellner »Katzenfestung«, das zweite Album aus dem 17er-Jahr, bestand im krassen Unterschied zum Vorgänger ausschließlich aus eigenen Kompositionen – eh klar, mehr künstlerische Freiheit. Zu genrevariablem BindestrichRock ging’s dabei vor einem dunklen gesellschaftlichen Hintergrund aber auch tatsächlich um Katzen. Auf »Geisterbahn« ist die musikalische Stimmung schroff wie die Kellner von Berlin und Wien, doomig und noisig, aber vor allem eines: rockig. Quasi ein musikalischer
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zustand. So erklärt auch David Pfister das Albumthema: »Wir haben schon besprochen: eine apokalyptische Stimmung, ein Kollaps, wie vor einer Tabula rasa.«
Wedding-Crashers
Gegenentwurf zur Gegenwart: Hoch lebe die Gitarre! Es gibt weniger Gäste, nur der Franz Adrian Wenzl und die Valerie Renay haben Gastauftritte, keine klassischen Features – die reguläre Band war jetzt eh genug. Und es gibt tatsächlich wieder Coverversionen, zwei politische Lieder noch dazu, die in ein Wienerisch gebracht werden: den Studentendemoklassiker »Macht kaputt, was euch kaputt macht« von Ton Steine Scherben und das italienische Partisanenlied »Bella Ciao«, das die meisten noch aus der »Bauerndisco« (Pfister) kennen dürften. Zwei Lieder, die inhaltlich für die Platte stehen.
Und da kommt dann eben Berlin-Wedding ins Spiel. Man hatte zwar schon mit Alex Lausch in Wien aufgenommen, für den finalen Anstrich reiste die gesamte Mannschaft aber noch in die deutsche Hauptstadt, zehn Tage lang. Der pure Luxus, inklusive Herumspringen am Schrottplatz gleich hinter dem Studio. Auch spannend: Während »Die Buben im Pelz & Freundinnen« die Zusammenhänge zwischen dem Wien von 2015 und dem New York der späten 1960er herzustellen versuchte und ihm dies auch gelang, steht auf »Geisterbahn« tatsächlich ein Berlin der späten 1980er Pate, zumindest inhaltlich. Dass es für diese Stimmung kaum einen Besseren als Alexander Hacke, Avantgarde-Papst und Bassist von Einstürzende Neubauten gibt, liegt auf der Hand: »Wir haben Berlin und den
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Es ist nicht so, dass Christian Fuchs und David Pfister untätig gewesen wären in den mittlerweile vier Jahren, die zwischen dem Jetzt und dem zweiten Album »Katzenfestung« vergangen sind. Der eine hat etwa mit Black Palms Orchestra aufgenommen, der andere mit The Devil and the Universe. Der Schritt zum doch sehr anderen Projekt Die Buben im Pelz ist aber ein recht kurzer: Ab und zu ein paar Texterl auf Wienerisch und so, wie der Pfister erklärt: »Wenn Christian und ich das Gefühl haben, wir haben was zu sagen, sammeln wir die Texte. Wenn wir auch das Gefühl haben, wir möchten sie nach außen tragen, formiert sich eine Platte.« Das Songwriting war dieses Mal dann ganz anders als sonst, mehr organisch als erdacht sozusagen. Im Kollektiv mit der neu und fest rekrutierten Band – es sind jene Leute, die dann auch in Berlin sein werden – hat man gemeinsam an den Stücken gearbeitet; auf Computer wurde dabei verzichtet, alles analog. Fuchs erinnert dieses »kommunistische« Songwriting (Zitat Pfister) an Urzeiten seines musikalischen Schaffens: »Diese klassische Arbeitsweise – man geht in den Proberaum, schreibt einen Song, nimmt ihn gemeinsam auf –, das habe ich zuletzt bei meiner ersten Band Fetish 69 gemacht.« Der Blick ins Archiv beweist: Das ist richtig lange her. Überhaupt ist auf diesem nun dritten Album der Gruppe Die Buben im Pelz einiges anders. Die erste Platte hat noch mit dieser einen Mörderidee aufgewartet, gleich ein ganzes Album, noch dazu einen geschichtsträchtigen Klassiker, in Wiener Dialekt zu übersetzen – wer sich an die Vinylversion von »Die Buben im Pelz & Freundinnen« mit der pellbaren Wursthaut nicht erinnern kann, hat nie geliebt. Apropos: Die ging letztens für 350 Euro bei Discogs über die private Ladentheke – Wertanlage! Und hat uns legendäre Stücke wie »Olle faden Parties« oder »Venus im Pelz« besorgt, Kultstatus inklusive.
»Eine apokalyptische Stimmung, ein Kollaps, wie vor einer Tabula rasa.« — David Pfister
Fuchs erklärt den Ansatz: »Für mich hat sich ein gesellschaftlicher Kontext herauskristallisiert. Das war dann die Aufgabe, die man sich stellt, das nächste schwierige Feld. Politische Songs traue ich mich selten, aber das war jetzt hier Thema.« Die große Lösung haben Die Buben im Pelz nicht parat, müssen sie aber auch nicht. Ihnen hilft die Sprache: »Mit dem Wienerischen kann man immer jammern, nörgeln, herumspucken. Dieser Attitüde, die dieser ›Mentalität‹ schon zugeschrieben wird, kann man freien Lauf lassen. Deshalb gibt es auch ein paar Songs in diese Richtung, die Beobachtungen sind, mit zynischem Beigeschmack, aber nicht die absolute Weltverdrossenheit darstellen«, weiß Fuchs zu berichten. Weil, und das war nämlich auch schon vor Covid-19 der Fall und ist es wahrscheinlich schon viel länger, als wir da alle auf der Erde sind: Die Welt befindet sich im Ausnahme-
Alex Hacke als Produzenten gewählt, weil wir dieses Gefühl darstellen wollen: den nicht greifbaren Kollaps. Ein loses, emotionales, stimmungsvolles Thema«, erklärt Pfister. Und sowieso: Einstürzende Neubauten. Für Christian Fuchs passt die Metapher in deren Bandnamen auch zum Ansatz der Buben im Pelz für »Geisterbahn«, quasi wie »Fight Club«: »Das Ende ist gleichzeitig apokalyptisch, romantisch und optimistisch im Vergleich zur Realität. Vielleicht wird nach dem Einstürzen eine neue Welt aufgebaut.« Immerhin, ein Hoffnungsschimmer. Dominik Oswald
»Geisterbahn« von Die Buben im Pelz er scheint am 14. Mai bei Noise Appeal Records. Nachdem sich das Album um ein ganzes Jahr verschoben hat (Hochrisikoverwandte, das ganze Pipapo), soll es demnächst wieder Livekonzerte geben, im Sommer und rund um Weihnachten. Aber mal schauen.
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Mikropolitik der Emanzipation »Cancel Culture« als konservative Propaganda
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Die ominöse »Cancel Culture« zu bejammern gehört zum guten Ton. Längst sind es nicht mehr nur rechte Kommentator*innen, die den Begriff ins Gefecht führen. Unter dieser pro pagandistischen Breitseite geht verloren, was Canceling eigentlich ist, was es mit (Ohn-) Macht beziehungsweise Verantwortung zu tun hat. Und wer hier eigentlich gerne wen zensieren würde. ———— Es spukt derzeit mal wieder in den deutschsprachigen Feuilletons. Das Gespenst »Cancel Culture« scheint die Autor*innen heimzusuchen. Sie sehen es überall. Etwa wenn die Kabarettistin Lisa Eckhart von einer Lesung ausgeladen wird. Oder wenn Kritik an Peter Handkes Äußerungen zu Jugoslawien laut wird. Selbst die Kündigung eines amerikanischen Journalisten scheint in Österreich eine Schauergeschichte wert. Folgt man diesen Artikeln, leben wir in einer Zeit der Zensur, nicht staatlicher Zensur, sondern Zensur durch einen links-politischen Mob, der sich primär auf Social Media formiere. Dieser Mob kontrolliere was politisch korrekt sei zu tun, zu sagen und sogar zu glauben. Menschen, die dagegen verstoßen, würden »gecancelt«. Sie würden ihr Ansehen verlieren, ihren sozialen Status, ihre Karriere.
»Black Twitter« und #MuteRKelly Die Wurzeln von »Canceling« finden sich Mitte der 2010er-Jahre im sogenannten »Black Twitter«. Diese lose Sphäre von Schwarzen1 Amerikaner*innen auf dem Kurznachrichtendienst hat sich wieder und wieder als Quelle für Trends in den sozialen Medien erwiesen. Canceling wurde dort zunächst als ironische, subversive Reaktion auf kleine soziale Fauxpas benutzt. »You are canceled« hatte zunächst kaum mehr Bedeutung als eine hochgezogene Augenbraue und war als Reaktion auf nahezu alles legitim – vom falschen Outfit bis hin zum schlechten Filmgeschmack. Mit zunehmender Popularität begannen Leute jedoch, den Begriff mehr und mehr ernst zu nehmen. Die Gründe für
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Canceling wurden gewichtiger, aber auch die Intentionen dahinter. Als Kenyette Barnes und Oronike Odeleye etwa 2017 die Kam pagne #MuteRKelly starteten, war dies nicht mehr bloß ein ironisches Statement zu einem sozialen Fauxpas. Es war eine Reaktion auf Getanes und ungeahndetes Unrecht. Es waren Schwarze Frauen, die sich gegen Unrecht, das Schwarzen Frauen angetan wurde, zur Wehr setzten. Mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Die sozialen Medien boten ihnen eine Plattform – trotz des enormen Machtgefälles zwischen ihnen und dem millionenschweren, höchst prominenten Sänger.
Der Umgang mit Ohnmacht Macht ist das zentrale Motiv der Diskussion um die sogenannte »Cancel Culture«, wer sie hat, wer sie haben darf. Hier liegt auch das erste Missverständnis, dem Kritiker*innen der »Cancel Culture« gerne aufsitzen. Sie vergessen, dass das auslösende Moment für Canceling nicht ein zu viel, sondern ein zu wenig an Macht ist. Canceling ist kein Machtmissbrauch, sondern ein Umgang mit Ohnmacht. Ohnmacht, bestehende systematische Ungerechtigkeiten zu ändern, Ohnmacht gegenüber sozial, ökonomisch und politisch Mächtigeren, Ohnmacht gegenüber Hass und Gewalt. Die sozialen Medien bieten diesen Ohnmächtigen eine Plattform, eine kleine Möglichkeit der Selbstermächtigung, eine Mikropolitik der Emanzipation. Dies bringt uns zu Missverständnis Nummer zwei. Denn damit Selbstermächtigung zu Zensur, individueller Widerstand zu einem Mob fantasiert werden kann, bedarf es entsprechender Propaganda. Und diese Propaganda leistet gerade der Begriff der »Cancel Culture« selbst. Denn »Cancel Culture« ist keine neutrale Beschreibung eines Zustands. Er beschreibt eine konservative, reaktionäre Sicht auf eine Gesellschaft, die sich ändert. Mächtige, von denen nunmehr ver-
langt wird, Verantwortung für ihr Handeln und ihre Meinungen zu übernehmen, fühlen sich angegriffen. Indem sie über »Cancel Culture« die Opfer zu Täter*innen machen, entziehen sie ihnen die moralische Legitimation – und sie sich selbst der Verantwortung. Nicht umsonst erinnern die Debatten rund um »Cancel Culture« und »Woke Culture« an jene um Political Correctness in den 1990ern. Auch damals wurde ein Begriff, der als augenzwinkernde Selbstbeschreibung gedacht war, von rechten Kommentator*innen umgedreht und als Angriff verwendet. Auch damals plapperten die deutschen und österreichischen Leitmedien diesen propagandistischen Diskurs unreflektiert nach. Es ist in der Tat erschreckend, wie unhinterfragt und unreflektiert der Begriff »Cancel Culture« gerade in deutschsprachigen Kommentaren verwendet wird. Beim Lesen ergibt sich gar der Eindruck, »Cancel Culture« wäre eine progressive Forderung, nicht ein reaktionärer Vorwurf.
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»Es waren Schwarze Frauen, die sich gegen Unrecht, das Schwarzen Frauen angetan wurde, zur Wehr setzten. Mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen.«
Kultur in der Nacherzählung Denn zur Erinnerung: Lisa Eckhart wurde vom Veranstaltungsort eines Literaturpreises ausgeladen in Befürchtung von imaginierten Protesten, die nie jemand angekündigt hatte. Peter Handke gewann den Literaturnobelpreis. Nachdem er angeblich gecanceled worden war. Und der amerikanische Journalist Donald McNeil – der im Übrigen schon in der Vergangenheit regelmäßig respektloses Verhalten an den Tag gelegt hatte – kündigte in Folge eines offenen Briefes von über 150 seiner Kolleg*innen. Ein Brief, der eine Entschuldigung verlangte, keine Kündigung. Diese Beispiele sind typisch für die angebliche »Cancel Culture«. Im Nacherzählen wird aus offenen Briefen eine Hasskampagne, aus einer verschobenen Veranstaltung ein Karriereende, aus fundierter Kritik von betroffenen Personen eine anonymisierte Hexenjagd.
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Dies alles soll nicht heißen, dass es nicht auch legitime Kritik an Canceling gibt. Etwa wenn Canceling sich nicht gegen Personen in Machtpositionen richtet, sondern gegen Einzelpersonen, die mitunter selbst marginalisiert sind. Wenn diese von der eigenen Community gecanceled werden, dann bricht oft ein gesamtes Support-Netzwerk zusammen.
Kritik auf anderer Ebene Ein Canceling kann für sie sozial vernichtend sein, aber auch finanziell und psychologisch. Natalie Wynn, beschreibt auf ihrem YoutubeKanal »ContraPoints«, wie Canceling zu Essentialisierungen neigt. Schlechtes Verhalten ist damit automatisch Zeichen für den wahren Charakter der handelnden Person. »Du hast schlecht gehandelt« wird zu »Du bist ein schlechter Mensch«. In dieser Verkürzung bleibt kein Raum für Besserung oder Versöhnung. Und zuletzt darf auch nicht vergessen werden, dass selbst politisch, finanziell und sozial mächtige Menschen eben doch einzelne Menschen sind. Obwohl sich als Beispiel vermutlich wenig an J. K. Rowlings Machtposition
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» Du hast schlecht gehandelt wird zu Du bist ein schlechter Mensch . In dieser Verkürzung bleibt kein Raum für Besserung oder Versöhnung.« durch Canceling ändern wird, ist sie dennoch aus ihrer Perspektive mit Tausenden von kritischen, negativen und, ja, hasserfüllten Nachrichten konfrontiert. In dieser Situation ist es leicht, sich trotzdem machtlos zu fühlen. Indem allerdings das Phantom einer allgegenwärtigen »Cancel Culture« heraufbeschworen wird, wird der Blick auf diese nuancierte und durchaus berechtigte Kritik am »Canceling« verstellt. Eigentlich sollten wir
darüber nachdenken, wie wir mit Canceling besser umgehen können, wie wir Ohnmacht von Menschen produktiver auffangen und diese ermächtigen können, wie wir nachhaltig Verantwortung für Fehlverhalten einfordern können. Stattdessen fließt die Energie in einen Scheindiskurs, der nicht einmal eine hypothetische Lösung hat. Denn was ist die Alternative? Sollen wir aus einer imaginierten Zensur eine reale machen? Sollen wir verbieten, Kritik an Unrecht zu üben? Wessen Meinungsfreiheit verteidigen wir dann? Wer muss Verantwortung tragen? Wer darf Verantwortlichkeit verlangen? Bernhard Frena
Für fundierte Kritik an Cancel Culture, empfiehlt sich das Video-Essay »Canceling« von Natalie Wynn auf dem Youtube-Kanal »ContraPoints«. Zuordnungen in Bezug auf Hautfarben sind gesellschaftlich konstruiert. Um diese Kon struktion zu verdeutlichen, wird »Schwarz« in diesem Text großgeschrieben.
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Weil wir’s wissen wollen.
Was passiert gerade auf den Bühnen von Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Lifest yle? Wie hängen diese Ereignisse zusammen? Und was bedeutet das für uns alle? Unser Leben w ird begleitet von Fragen, auf die es keine einfachen Ant worten gibt. Die Redaktion der „Presse“ ist täglich dabei, den Dingen und Geschehnissen auf den Grund zu gehen, zu informieren, zu analysieren und ein möglichst breites Meinungsspektrum zu den Themen der Zeit zu bieten.
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PROSA — JOHANNA SEBAUER
CLUB OST Vor 100 Jahren kam das Burgenland zu Österreich. Die Anthologie »Vom Kommen und Gehen: Burgenland. Betrachtungen von Zu- und Weggereisten« liefert die literarischen Texte zu diesem Jubiläum. Ein besonders schöner stammt von Johanna Sebauer.
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EIN VERSUCH ÜBERS SOWOHL-ALS-AUCH In welchem Johanna Sebauer erzählt, wie sie sich als Weg gegangene wieder an ihre Heimat Burgenland annähert, die sie, unter uns gesagt, ohnehin nie verlassen hat. Ich muss damit beginnen, dass ich das Burgenland einst gehasst habe. Als Kind quietschte ich zwar noch vor Glück zwischen Heuboden, Klatschmohnwiesen und Katzenbabys, doch ab dem Zeitpunkt, an dem ich anfing, alles besser zu wissen – ich muss 15 oder 16 gewesen sein –, wollte ich schreien. Die Überschaubarkeit tat mir weh. Es blieb als Möglichkeit die Flucht. Kaum war das Maturazeugnis abgeheftet, war ich raus zur Tür. Adieu, Provinz! Ich musste nach Frankreich. Ein schwerer Rucksack zog an meinen Schultern, als die Metro mit mir durch Paris ratterte. Ich war eine von den Großen und die Welt gehörte mir. Ein halbes Jahr lang lernte ich Französisch, erkundete das Land und probierte aus, wie sich das Leben anfühlte, wenn man es neu erfinden durfte. Ich traf eine Gruppe Brasilianer, die Ähnliches taten. Ziemlich schnell wuchsen wir einander ziemlich fest ans Herz und als es für mich Zeit war heimzukehren, nahm ich sie mit. Ins Burgenland. Es war Februar, die Brasileiros trotzten tapfer der pannonischen Kälte. »Es ist doch Karnevalszeit«, fiel ihnen ein. »Wir wollen den österreichischen Karneval sehen.« Sie waren ekstatisch. Mir wäre lieb gewesen, der frostige Boden hätte mich verschluckt. Man kann doch jemanden, dessen Maßstab der Karneval in Rio ist, nicht auf den Faschingsumzug in Mattersburg mitnehmen, wo keiner Sambaschritte über den Boden zieht, sondern Hansi, Hedi und Jossl vom dekorierten Traktoranhänger winken und der Staubzucker der Faschingskrapfen an den Clownsnasen klebt. Ich bitte euch! Wenn die Brasileiros von ihrer Heimat erzählten, dann mit Begeisterung. Die Musik, das Essen, die Magie des triefend feuchten Regenwaldes, die indigenen Traditionen galt es, hochleben zu lassen. Ihre Verbundenheit zur Heimat war unerschütterlich und zugleich so unaufdringlich. Sympathisch. Ein bisschen beneidete ich sie
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darum. Bis dahin hatte Heimatliebe in meiner jugendlich strengen Schwarz-Weiß-Malerei sofort etwas mit Patriotismus oder gar Nationalismus zu tun. In einem Land mit einer Geschichte wie der unsrigen, besonders widerwärtige Dinge, die man als guter Mensch, der zu sein ich damals wie besessen versuchte, abzulehnen hatte. Entweder, oder! Einer der Brasileiros, wir nannten ihn Makaeh, beschloss Deutsch zu lernen. Meine Beteuerungen, er solle es lieber lassen, Deutsch sei die hässlichste Sprache der Welt, ignorierte er. In Eisenstadt kauften wir ihm ein Übungsbuch mit Audiolektionen. Jeden Abend wiederholte er konzentriert die deutschen Wörter, um deren scharfe Kanten sich seine auf brasilianischen Singsang geeichte Zunge schwer bewegen konnte. Dazwischen summte er Melodien aus dem Garish-Album. Der Papa nahm ihn mit ins Pappelstadion. Die Brasileiros zogen weiter. Ich schrieb mich in Wien für Politikwissenschaften ein. In den Hörsälen saß ich ehrfürchtig wie in einer Kathedrale und ließ mich beeindrucken von Kommiliton*innen, die nächtelang bei literweise Rotwein und allerhand Selbstgedrehtem trotzkistische Theorien diskutierten und die Kleingeistigkeit der Provinz mit einer Entschlossenheit verabscheuten, als gäbe es dabei etwas zu gewinnen. Unerschrocken, intellektuell, rebellisch – so wollte ich auch sein. Dass dies in einem kleinen, vermeintlich kulturlosen Ort am Rande Österreichs unmöglich war, waren sich alle einig. Ohne jemals zu erklären, warum genau. Das Studium führte mich wieder ins Ausland. Dänemark, Chile, Deutschland. Was für ein Ritt. An das Burgenland verschwendete ich keinen Gedanken. In Santiago de Chile erlebte ich zum ersten Mal einen Winter, den man selten irgendwo abstreifen kann. Im chilenischen Winter kriecht die Kälte durch jede Ritze, einem direkt unter die Haut und kommt erst wieder hervor, wenn im Frühjahr die Kolibris die Schnäbel in die Blüten stecken. Dick eingepackt saß ich in der Unibibliothek, der steife Stoff meiner Winterjacke schmirgelte bei jedem Um-
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Nick Fischer
blättern übers Papier. Meine Mutter schickte Bilder aus dem Garten, der im Nordhalbkugelsommer in saftigstem Grün leuchtete. In meiner Brust zog es. Nach diesem eindringlichen Winter sog ich die burgenländische Sonne auf wie eine Eidechse. Die Nächte waren lang und heiß, die Tage hell und leicht. Der Hausweckn vom Dorfbäcker roch fantastisch. Der Dialekt klang plötzlich so charmant. Im Festivalzelt in Wiesen sang Leonard Cohen, im vertrockneten Augustgras die nimmermüden Grillen. Das Burgenland war anders. Es pulsierte und ich spürte es intensiver als je zuvor. Der Sommer ging zu Ende, ich zog nach Hamburg. Übers Burgenland zog das Gewitter. Ein Schatten auf einem Röntgenbild meiner Mutter stieß unsere Familie jäh in einen Ausnahmezustand. Alles war anders. Wir redeten leiser, bewegten uns langsamer. Nervös pendelte ich im ICE hin und her. In guten Momenten saßen wir unterm Sonnenschirm und freuten uns, wenn die Befunde Hoffnung verhießen. In schlechten, mieden wir die Augen des anderen, sprachen kaum und seufzten viel. Langsam, aber so stetig, dass wir es irgendwann nicht mehr leugnen konnten, glitt sie aus unseren Tagen. Die Lücke, die blieb, brüllte. Eine Zeitlang mied ich nicht nur das Grab, sondern gleich das gesamte Land drum herum. Die eben noch so wohltuende burgenländische Sonne schien viel zu roh auf meine frischen Wunden. Ich wollte niemandem auf der Straße begegnen, mit dem ich über das Gewitter sprechen musste. Die Burgenländer*innen kennen keine Berührungsängste. Bist du einmal eine von ihnen, und das bist du schnell, kommst du ihnen nicht mehr aus. Auch wenn du Jahre wegbleibst, wirst du empfangen, als wäre kein Tag vergangen. Das ist schön. Und anstrengend. Sowohl, als auch. Ich lebe schon lange nicht mehr im Burgenland, doch bin ich heute mehr Burgenländerin denn je. Ich bin es überlegter und überzeugter. Das liegt auch daran, dass ich, je älter ich werde, eine immer größere Gelassenheit entwickle gegenüber dem Sowohl-als-auch des Lebens.
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1988 in Wien geboren, ist im Bur genland aufgewachsen und lebt heute in Hamburg. Sie arbeitet in der Wissenschaftskommunikati on und schreibt an ihrem ersten Roman, für dessen Manuskript sie 2019 den Burgenländischen Literaturpreis und 2020 das Start stipendium Literatur des Bundes ministeriums für Kultur erhalten hat. Eine Langfassung dieses Essays erscheint in der Anthologie »Vom Kommen und Gehen: Burgen land. Betrachtungen von Zu- und Weggereisten«, herausgegeben von Peter Menasse und Wolfgang Wagner, im Böhlau Verlag.
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Johanna Sebauer
Die Heimat, das Burgenland, mag gähnende Überschaubarkeit und peinlicher Faschingsumzug sein. Gleichzeitig ist es vieles andere auch. Das darf so sein. Das muss so sein. Es geht nicht anders. Scham, Schmerz, donnernder Verlust und knisternd heißer Augusttag, an dem die Welt stillsteht und das Leben ein Leichtes ist. Sowohl, als auch. Vor zwei Jahren traf ich alle Brasileiros wieder. Makaeh heiratete. Direkt am Strand nahe Rio. Schaukelnde Palmen, Cocktails unter der Tropensonne, es war fast kitschig. Wochen später wählten seine Landsleute einen polternden Ex-Militär an die Spitze, der nun an der noch jungen Demokratie nagt und einen Keil treibt in die eh schon so ungleiche Gesellschaft. Auch die Brasileiros mussten sich auf ihre Art arrangieren mit dem Sowohl-als-auch der Heimat. Makaeh sagt mir oft, sein Leben wäre ein anderes, hätte er sich damals im Burgenland nicht an die widerspenstigen deutschen Vokabeln herangetraut. Seine Doktorarbeit hat er später auf Deutsch verfasst, dieser Wahnsinnige. Heute ist er Professor für Klassische Philologie an der Universität von Rio de Janeiro. Ein Trikot des SV Mattersburg hängt immer noch in seinem Schrank.
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15 / 5 — 26 / 9 2021
Bartolina Xixa, Ramita Seca, La Colonialidad Permanente [Dry Twig, The Permanent Coloniality] (Filmstill), 2019 • Courtesy Maximilano Mamani / B artolina Xixa
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feathers?
and if I devoted my life to one of its
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1 Austrofred »Die fitten Jahre sind vorbei« Der Champion ist zurück – anders als der Titel seines neuen Buches vermuten ließe, in Bestform. Und weil es verdammt lonely ist at the top, hat sich der Rockgigant dafür auf ein Experiment eingelassen: Er ist mit seinen Fans in einen offenen, ehrlichen Dialog getreten. Was bewegt sie? Was erwarten sie vom Leben? Was essen sie als Beilage? Die Presseinfo bringt es auf den Punkt: »ein einzigartiger Bericht aus dem Vorhof einer Performance-Macht und ein Geschenk des Champions an sich selbst«. Wir verlosen drei Bücher.
2 Hannelore Zech »Alles aus dem eigenen Garten« Wer einen Garten oder zumindest einen Balkon hat und sich nach unserer aktuellen Coverstory auf das nächste Level vorwagen möchte, kann sich in Hannelore Zechs Buch fundierte Inspiration holen. In »Alles aus dem eigenen Garten – Ganzjährig selbstversorgt mit Permakultur« gibt sie Tipps, wie sich das eigene kleine (oder große) Selbstversorger-Biotop umsetzen lässt. Nachhaltiges Garteln – die Natur sagt Danke und revanchiert sich mit knackigem Gemüse, Wildkräutern und frischem Obst. Wir verlosen drei Bücher.
3 »Camgirl – Wahnsinnige Begierde« Mit seiner Band Bodega macht Ben Hozie Art- und Postpunk, als Regisseur setzt er auf Thrill und Erotik. »Camgirl – Wahnsinnige Begierde« (im Original: »PVT Chat«) zeigt, wie sich eine Obsession von der digitalen in die reale Welt verlagert, als Jack das Camgirl Scarlet überraschend in den Straßen New Yorks entdeckt. Peter Vack und Julia Fox, die zuletzt an der Seite von Adam Sandler in »Uncut Gems« (Regie: Joshua und Benjamin Safdie) überzeugt hat, scheuen in den Hauptrollen keine Tabus. Wir verlosen drei DVDs.
4 »Waren einmal Revoluzzer« Die Grenzen unserer Wohlstandsgesellschaft beleuchtet Johanna Moder in »Waren einmal Revoluzzer«: Zwei Paare (Julia Jentsch und Manuel Rubey sowie Aenne Schwarz und Marcel Mohab) erhalten den Hilferuf eines Freundes aus Russland. Mit der Mission, Worten Taten folgen zu lassen, bieten die vier ihre Unterstützung an und verhelfen Pavel (Tambet Tuisk) zur Flucht. Doch bald stellen sie fest, dass Hilfe unterschiedlich definiert werden kann. Zudem werden den beiden Paaren ihre nicht gelebten Ideale ersichtlich. Wir verlosen drei DVDs.
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Rezensionen Musik
Dramas
Tim Cavadini
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»Die vergangenen Monate zeichneten sich auch dadurch aus, dass sie bislang nur selten verwendeten Ausdrücken und Redewendungen zu plötzlicher Popularität verholfen haben. Kaum ein runder Tisch kam ohne die mehrmalige Verwendung des Begriffs »Resilienz« aus und wer nicht einmal die Wendung »die Füße stillhalten« in einem Zoom-Call verwendet hat, hat 2020 nicht gelebt. Mit Stillstand – egal welcher Art – tun sich Viktoria Winter und Mario Wienerroither, die 2016 das Duo Dramas gegründet haben, schwer. Das haben sie uns nicht nur mit dem Titel ihres Debüts »Nothing Is Permanent« mitgeteilt, sondern man hört es auch auf ihrem neuen, selbstbetitelten Album. Auf diesem sind die beiden bei der Entwicklung ihres zwischen Elektro, Synthie-Pop und Filmscore angesiedelten Sounds nicht nur einen Schritt weitergegangen, sondern regelrecht losgelaufen. Und zwar in viele verschiedene Richtungen, die es umso schwerer machen den Sound der Band einfach auf Elektro-Pop zu reduzieren. Gut so, denn breit aufgestellt zu sein, bedeutet keinesfalls Unbeweglichkeit. Ganz im Gegenteil. Vielleicht lässt sich das ja mit dem Wort »Experimentierfreude« zusammenfassen – mit all dem aufregenden Gezische, das man sich bei einem Experiment gemeinhin so erwartet. Falls man sich überhaupt irgendetwas erwarten darf. Alles andere als erwartbar sind jedenfalls die Songs des neuen Albums, wobei das extrem tanzbare »Candy« besonders heraussticht. Scheint so, als käme hier das dieser Tage bitter notwendige Shake-It-OffPrinzip zur Anwendung. In eine etwas verträumtere Richtung geht es zu Beginn der zweiten Albumhälfte, wobei man bei der ein wenig raueren, fast ruppigen Nummer »Undercover Dreamer« schnell wieder gezwungen wird, den Kopf aus den Wolken zu nehmen. Klingt widersprüchlich? Ist es auch, aber das macht nichts, denn diese kleinen Paradoxien zeichnen die Band schon seit ihrem Debüt aus. Zusammengefasst könnte man das Ganze also vielleicht auf die folgende Formel bringen: Widerspruch plus Experiment macht widerstandsfähig. Und damit sind wir dann doch wieder bei der Resilienz gelandet. (VÖ: 9. April) Sarah Wetzlmayr
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Dramas — Fabrique Records
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Klaus Karlbauer
Leitstrahl
08
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Wiegenlied für den Nachtmahr — Karlbauer Records Denkt man an düster verzerrte, experimentelle elektronische Musik von Drone bis Noise, sind es eher Gitarren, Synthesizer oder Bässe, die durch eine Armada an Effektpedalen zu unrühmlichen Übersteuerungen getrieben werden. Zither oder Bassklarinette sind in dieser Assoziationskette für gewöhnlich wohl eher weiter hinten angesiedelt. Klaus Karlbauer verbindet auf dem Album »Wiegenlied für den Nachtmahr« eine ungewöhnliche Instrumentierung mit düsteren Klängen, was unerwartet gut funktioniert. Nachtmahr ist eine mittlerweile veraltete Bezeichnung für ein Wesen, das heutzutage namensgebend für die eher düstere Seite des nächtlichen Kopfkinos steht. Im Albtraum – oder, Überraschung, nightmare – erscheint der Nachtmahr oft in düsterer Gestalt, um sich fesselnd auf der Brust paralysierter Träumer*innen niederzulassen. Das zehn relativ kurze Tracks umfassende Album hält diese Erwartung stabil. Mit dem Opener »My Rheingold« werden jedenfalls gleich zu Beginn alle Weichen auf Krach gestellt. In dieser Intensität weiterzumachen, wäre für Hörer*innen genauso eine Herausforderung, wie sie es für den Komponisten gewesen wäre. Denn um bei derartigen Fluten musikalischer Gewalt am Ball zu bleiben, müssen die Ideen herausragend sein. Das Album kommt fast gänzlich ohne Stimme aus, fesselt aber dennoch. Lediglich die Schlussnummer »Orpheus’ Complaint« weist eine längere zusammenhängende Vokalpassage auf, die nach dem restlichen Stücken fast schon entbehrlich und ein bisschen kitschig wirkt. Teils haben die brachialen Gewitter zuvor nämlich eine beklemmende Wirkung, etwa beim unmissverständlich betitelten Track »Blood«. Angenehm sind dabei die zwischengelagerten Auflockerungen, die es erst möglich machen, diese Veröffentlichung im Ganzen durchzuhören, ohne sich in einem Wahnzustand wiederzufinden. Insgesamt ist die Reise durch das Album eine intensive und von Brüchen und Wechseln gekennzeichnete, die trotz mancher Filmmusik-Vibes den Eindruck hinterlässt, selten zuvor Vergleichbares gehört zu haben. (VÖ: 19. April) Sandro Nicolussi
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Chromium Dioxide — Bordello A Parigi
Aufgemerkt! Die Zeitberichtigung mittels Fluxkompensator steht vor dem Abschluss. Pünktlich zu den Iden des März bringt das handsome Trio sein gut gereiftes Elaborat im wild orientierungslosen 2021 zur Landung. Zugegeben: Das geneigte Ohr des Jungspunds wurde in der letzten Dekade ein wenig kurzgehalten, was diese Art von Soundästhetik, wie sie etwa auch M83 zelebrieren, betrifft. Wir sprechen vom tanzbaren Synthie-Pop der frühen 1980er mit einer würzigen Schlagseite Richtung Italo Disco – inklusive der großen Vordenker. Eine der letzten Revolutionen des Monolithen Pop sorgte damals für eine aufregende Zeit, während der Hip-Hop stolpernd auf Schiene gebracht wurde. Passend zu den Wirren unserer Tage findet man mit dieser klassischen Prägung ausgerechnet in Holland – mit Bordello A Parigi – das richtige Label, das, breit aufgestellt, für diese Stilrichtung einen besonderen Platz im Herzen hat. Sehr stimmig. Es ist eine auf Knien mit hohem Einsatz von Herzblut gefertigte Hommage für das beschriebene Klangbild. Vornehmlich instrumental wird der hypnotischen Wirkung des Beats der nötige Raum zur Entfaltung gegeben. Und es wird reichlich vom Guten gereicht – auch bei den vier Vocal-Tracks. Gleichermaßen passend wie herzerwärmend stellt sich sogar der legendäre John Jøn Foster von Bronski Beat mit einem Falsetto ein. Ein tiefer Hofknicks als Grätsche zwischen den Zeiten: traditionell gekocht und doch neu gedacht. Mögen der Prophet 5 oder der JP-8 gurgeln, die Linndrums sich schmusig mit dem Oberheim treffen und alle zusammen unbeirrt dem Reinheitsgebot der Magie frönen. (VÖ: 22. März) Michael Bela Kurz
Alexandra Plamadalia, Michael Winkelmann, Brandon Josh, Markus Denicolo
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Rezensionen Musik
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Alexandra Plamadalia, Michael Winkelmann, Brandon Josh, Markus Denicolo
Rezensionen Musik
Eli Preiss
Siamese Elephants
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Auf dem neuen Tape namens »F.E.L.T.« liefert Eli Preiss Altbekanntes und Neues. Es geht um Geheimnisse, Dämonen und Traumwelten. Letzteres verrät bereits der Titel des Werks, der in voller Länge »Fragmente eines luziden Traums« lautet. Der Release erzählt von einer Schattenseite der Künstlerin, auf der sich derzeit womöglich so einige Leute wiederfinden: ein lyrisches Ich, das auf Konsequenzen scheißt und aus Lust, Laune und Egoismus handelt. Also das, was wohl so ziemlich jede*r von uns gerade lieber tun würde, als ständig Lockdowns auszusitzen. Eli Preiss mischt Hip-Hop-Beat-Ästhetik mit 1990er- und Nullerjahre- R&B-Sound. Raus kommt eine gefühlvolle, soulige Melange, die man nicht so wirklich kategorisieren und noch am ehesten mit dem Label Pop schmücken kann. Doch ganz so leicht lässt sich Eli Preiss dann doch nicht abstempeln. Erst letztes Jahr hat sie von englischen auf deutschen Gesang gewechselt. Nun wagt sie sich mit Songs wie »Luzide Träume« und »Tanz allein« immer näher an Rap heran. Und wir sind absolut nicht mad, denn es klingt so als hätte sie das schon immer gemacht. Der wohl trappigste Track des Albums »Tanz allein« entpuppt sich – überraschenderweise – als einer der besten. Eine Kritik, die angebracht gehört, ist, dass diese EP in Überlänge ein wenig zu homogen wirkt. Der Sound ist oft ähnlich und die Songs fließen übergangslos ineinander. Andererseits läuft so etwas heutzutage ja auch als »rundes Album«. Preiss’ Trademark-Sound kommt auf jeden Fall raus, und daran werden sich sowohl bisher eingefleischte Fans als auch Neuentdeckende erfreuen. Nichtsdestotrotz ist das Tape um einiges experimenteller als die vorige EP »Moodswings«. Die Hip-Hop-Ästhetik rückt immer mehr in den Vordergrund, die Gefühle bleiben. Auch ihr anfänglicher Struggle, sich auf Deutsch genauso gefühlvoll zu geben wie auf Englisch, erweist sich als nichtig, geht Eli Preiss doch komplett in ihrer Erstsprache auf. Es bleibt spannend, in welche Richtung sich die Künstlerin noch entwickeln wird. (VÖ: 9. April) Mira Schneidereit
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What Happened at the Social Club? — Seayou Records
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F.E.L.T. — Grounded High
Ist das noch »in« oder schon »retro«? In immer schnelleren Verwertungszyklen ist die Etikettierung gewisser Musiken als noch oder wieder modern nicht immer einfach. Zusätzlich hat dieser retrophile Aspekt stets etwas mit dem Gefühl einer besseren Vergangenheit zu tun. Und natürlich mit musikalischen Vorlieben. Weil – Achtung, offenes Geheimnis: Die meisten Menschen hören ihr Leben lang am liebsten die Musik, die sie im Alter von 18 bis 21 Jahren gehört haben. Für viele eben eine unbeschwerte Zeit. Was mich jetzt zu drei Dingen bringt. Erstens: Indie-Rock. Kann sich jeder was drunter vorstellen. Zweitens: First World Problems. Drittens: Fortgehen. Viertens – ja, gibt’s auch: Siamese Elephants. Nicht ganz abwegig, diese Verknüpfung. Siamese Elephants, eine VierBuben-Gang aus Wien gibt es eigentlich schon seit 2014. Eine gewisse Bekanntheit wurde bereits aufgebaut: Jedes zweite Bild aus der GoogleBildersuche zeigt vier Männer mit fetzigen Frisuren, die andere Hälfte zusammengewachsene Dickhäuter. Erstere sind zwar nicht angetreten, den Indie-Rock an sich zu retten, aber eine gescheite Reanimation tut auch mal wieder not. Zielgruppe gibt’s ja. Auf ihrem Debütalbum zeigen sie gleich einmal das gesamte Spektrum dessen, was die Früh-Adoleszenten der Nullerjahre an ihrem Soundtrack mochten: knackigen Garagen-Rock mit wilder Distortion, sphärischen, fast schon kuscheligen L’Amour-Hatscher-Rock fürs Bereuen am Folgetag und teils ordentlich funky Gitarren-Licks. Dem musikalischen Sujet entsprechend zeichnet die Gruppe konzeptionell und inhaltlich einen klassischen Fortgehabend nach: Von der Frage »wohin?« über den »Social Club« bis hin zur Nachbusfahrt nach Hause. Der Zeigefinger, den man wegen des Albumtitels hätte vermuten können, heben Siamese Elephants eher nur zum Bestellen des nächsten Kaltgetränks. Vielmehr sind sich die vier bewusst über die Lächerlichkeiten der »Few Problems« ihrer Generation, wie es in der gleichnamigen und besten Single des Albums heißt: »I just spent 200 on a T-shirt / Hate me, judge me / I’m an individual.« Unbeschwert eben. (VÖ: 23. April) Dominik Oswald
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Rezensionen Musik
Slav
Various Artists
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Mit Lines wie »Bringen Wien auf die Karte« behält Slav recht, denn der Wiener Rapper sichert sich langsam, aber sicher den Thron in seiner Heimatstadt. Nach durchgehendem Singles-Output im Lockdown kommt nun sein lang ersehntes zweites Album. Auf »Der Pole aus Wien« brettert Slav aufgefädelte Representer-Tracks auf fetten 808-Beats. In ihnen geht es um Business, den Hustle und die Hood. Burggasse und Hauptbahnhof werden mit einem eigenen Song gewürdigt, doch auf dem neuen Album kommt kein Bezirk zu kurz. Die Beats sind durchgehend von Drill- und Grime-Sound inspiriert, wie man es vom Polen aus Wien – in seinen Texten schon länger eine Selbstbezeichnung – bereits gewohnt ist. Lyrics wie »Drums bisschen drilly« sind dabei fast untertrieben, denn die UK-Ästhetik hört man arg raus. Und sie steht dem Rapper richtig gut. Slav bringt seinen Sound professionell rüber und lebt sich darin komplett aus. Dass bei Slav die Nachbar*innen wegen den Drummachines stressen, wie er augenzwinkernd vorträgt, wundert spätestens ab diesem Album niemanden mehr. Denn jeder Track hat es vor allem im Bassbereich in sich. In leicht arroganter Manier rappt Slav dabei, ohne sich hetzen zu lassen. Die Songs bewegen sich irgendwo zwischen freundlichem Abgeh-Banger und aggressiver Hintergrund musik. Multifunktional also – kommt ganz auf die Stimmung an. Doppelt ärgerlich, dass die Clubs wahrscheinlich nicht so bald öffnen werden. Alles in allem ist »Der Pole aus Wien« wohl Slavs ausgereiftester Release. Obwohl er immer noch den in der Szene beliebten DreistreifenJogginganzug von Adidas trägt, hat sich der Rapper über die letzten Jahre stark weiterentwickelt. Nun hat er offensichtlich seinen eigenen Stil gefunden. Außerdem sind alle Tracks perfekt ausproduziert und in sich stimmig. Jeder davon könnte genauso für sich stehen und würde als Single funktionieren. Das macht ein gutes Rap-Album aus. Da Kritikpunkte zu finden, fällt schwer. (VÖ: 30. April) Mira Schneidereit
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Speed Kills — Meat Recordings Wo Meat draufsteht, da ist mit ziemlicher Sicherheit knallharter Dancefloor-Sound in rohester Form drin – Techno tartare sozusagen. Nachdem Gerald VDH vergangenes Jahr seine EP »Martyr« veröffentlicht hat – damals noch auf Platte, was für diese Compilation offenbar aus finanziellen Gründen nicht möglich gewesen ist, – steht sein Label Meat Recordings nun wieder mit einem kollaborativen Werk in den Startlöchern. Auf »Speed Kills« geben sich Tracks von altbekannten Artists aus dem Meat-Recordings-Roster und hochkarätige Gastbeiträge die Plattennadel in die Hand. Namentlich sind das der erwähnte Label-Head Gerald VDH mit Matt Mor, Specific Objects und Scirox in der labeleigenen Ringecke begleitet von Aida Arko aus Wien und Black Lotus sowie Verschwender aus Deutschland. Durchgehend alles andere als unbekannte Namen. Aber nicht nur die Gastbeiträge machen diese Compilation frisch. Scirox war bislang bekannt für seinen selbstkritischen Perfektionismus. Nun aber, man muss es fast kursiv schreiben, liefert er endlich seinen Debütantentrack ab. Hoffentlich der Anfang einer Strähne, denn »Fracture« drückt, obwohl es das langsamste Stück auf »Speed Kills« ist. Eröffnet und geschlossen wird der Release von Aida Arko respektive Verschwender. Die Wahl der Platzierung war dabei sicher kein Zufall, denn »Subatomic« beziehungsweise »Dangerous Move« sind die markantesten Tracks der Veröffentlichung. Insgesamt sind die Stücke auf dieser Compilation zwar, wie eingangs angemerkt, unverkennbar raw gehalten, aber dennoch überraschend groovy. Schade ist allerdings, dass diese Bretter gerade in einer clublosen Zeit auf den Dancefloor ausgerichtet sind. Für den Hörgenuss daheim hätte es mehr kreativen Spielraum gegeben. Jedenfalls ein Release, der Lust auf den Dancefloor macht. Und auf ein Jaukerl. Denn Gerald VDH macht kein Geheimnis daraus, dass bei seinen Partys in Wien zukünftig strengste Covid-19-Konzepte gelten werden. Impfung und / oder Test – im besten Fall beides. Kein Wunder, war er mit der Crew der Grellen Forelle doch einer der ersten, die vergangenes Jahr Konzepte für sichere Events in Pandemiezeiten vorgelegt haben. (VÖ: 7. Mai) Sandro Nicolussi
Sophie Krumböck, Mario Tagliamento, Josef Sotriffer, Sophie Hanke, Anna Breit, Dajana Saric, Edith Ranacher, Yuto Yamada
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Der Pole aus Wien — Chapter One Music
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Sophie Krumböck, Mario Tagliamento, Josef Sotriffer, Sophie Hanke, Anna Breit, Dajana Saric, Edith Ranacher, Yuto Yamada
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Molden & Der Nino aus Wien 31.05. Konrad Paul Liessmann 01.06. Hosea Ratschiller 05.06. Oehl / Mynth 07.06. Berni Wagner 10.06. Flüsterzweieck 11.06. Science Busters 12.06. Buntspecht 17.06. TheatersportExhibition 18.06. RaDeschnig 24.06. Voodoo Jürgens & Die Ansa Panier 28.06. Vaginas im Dirndl 01.07. Alfred Dorfer 02.07. Avec 05.07. Thomas Maurer 06. – 10.07. folkshilfe 17.07. Granada 30.07. Steaming Satellites 12.08. Cari Cari 19.08. My Ugly Clementine 21.08. Kreiml & Samurai 27.08. Leyya 30.08. Michael Hatzius 01.09. Julian Le Play 10.09. Lou Asril www.posthof.at/frischluft
POSTHOF – Zeitkultur am Hafen, Posthofstraße 43, A – 4020 Linz Info + Tickets: 0732 / 78 18 00 kassa@posthof.at | www.posthof.at Weiterer VVK: LIVA Servicecenter im Brucknerhaus, Veritas Kartenbüro, oeticket und alle oberösterreichischen Raiffeisenbanken.
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Ernst Molden & Der Nino aus Wien Als kongeniales Duo werden Ernst Molden und Nino Mandl gerne angekündigt. Das mag dick aufgetragen wirken, dennoch sind die beiden unbestritten zwei der bedeutendsten heimischen Musikschaffenden der letzten zwei Jahrzehnte. Nachdem sie sich bereits mehrfach als Solokünstler und in verschiedensten Besetzungen bewiesen haben, sind sie nun mit dem neuen gemeinsamen Album »Zirkus« im Gepäck auf Tour, dessen Songs für den Film »Ein Clown. Ein Leben« über den Circus Roncalli entstanden sind. Nun also Eigenkompositionen, nachdem auf dem Vorgänger »Unser Österreich« noch Stücke von Danzer, Ambros, Falco & Co interpretiert worden sind. 6. Mai Amstetten, Johann-Pölz-Halle — 7. Mai Melk, Tischlerei — 21. Mai Linz, Posthof— 5. Juni Wien, Theater im Park — 24. Juni Hall in Tirol, Burgsommer
Remote Contact Isabella Forcitini und Patrick Pulsinger an den Synths, Alexander Kranabetter an der Trompete, Christina Ruf am Cello, Robert Pockfuß an der Gitarre, Alexander Yannilos an den Drums, dazu abstrakter Gesang von Maja Osojnik. Dieses Line-up kann getrost als eines der Superlative bezeichnet werden. Es schreit förmlich nach einer baldigen Offline-Wiederholung. 22. April Wien, Reaktor (online)
Rockhouse Club Session 1991 von Michael »Stootsie« Steinitz als fiktive Band gegründet, wurden The Seesaw im Zusammenschluss mit Max Kögl und Fio Fingerlos Realität, die sich für die Aufnahme der Single »Partner in Crime« 2009 sogar in den legendären Abbey Road Studios in London einstellte. Das Konzert der Salzburger Band markiert ein Jahr Streaming-Konzerte aus dem Rockhouse – ein bittersüßes Jubiläum. 18. Mai Salzburg, Rockhouse (online)
Sandro Nicolussi, Manuel Fronhofer
highlights
Daniela Matejschek, Michael Liebert, Motherdrum, Rockhouse Salzburg, Coraci Ruiz, Vienna Shorts, Lupi Spuma, Creative Industries Styria
Termine Musik
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3 Fragen an Daniel Ebner Co-Festivalleiter Vienna Shorts
Ethnocineca Ursprünglich als Hybridfestival geplant, findet das internationale Dokumentarfilmfestival Ethnocineca in seiner 15. Ausgabe nun doch gänzlich online, aber immerhin, statt. Unter dem Überthema »Turning Points« werden eine Woche lang Dokumentarfilme gezeigt und bei ebenfalls online stattfindenden Preisverleihungen ausgezeichnet. Eröffnet wird das Festival vom brasilianischen Dokumentarfilm »Treshold« (Foto) von Coraci Ruiz. In dem autobiografischen Werk begleitet Ruiz ihren heranwachsenden Sohn während der Entscheidung, eine geschlechtsangleichende Operation vornehmen zu lassen, mit der Kamera. Ein brisantes Porträt mehrerer Generationen vor dem Hintergrund des Aufschwungs der autoritären brasilia nischen Regierung. 6. bis 13. Mai 2021 online
Elevate Festival
Designmonat Graz
Das Festival für zeitgenössische Musik, Kunst und politischen Diskurs hatte einen holprigen Start ins Jahr 2021. Nun soll es aber soweit sein und das Elevate in drei Teilen über die Bühnen gehen. Das Eröffnungskonzert von Anna von Hausswolff soll Anfang Mai stattfinden, das Kernfestival Ende Mai und Brian Enos Installation »77 Million Paintings«, die extra für den Dom im Berg angepasst worden ist, dann im August. Derweil sind online Sets von Elevate-Acts unter der Losung »Lockdown Grooves« zu hören. 21. bis 24. Mai Graz, diverse Locations
Kreativwirtschaft nach außen hin sichtbar zu machen, ist das erklärte Ziel des Designmonats Graz. Über mehrere Wochen finden zahlreiche Einzelveranstaltungen statt: Von Workshops über Ausstellungen bis Talks dreht sich alles um Gestaltung, Material und Zukunftsvisionen. Auch aktive Open Calls sind Teil der Veranstaltungsreihe. So werden zum Beispiel Kinder als Nachwuchsdesigner*innen in den Prozess der Neugestaltung der Hasenaktivzone im Waldpark Hochreiter eingebunden. 8. Mai bis 6. Juni Graz, diverse Locations
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2020 musste euer Festival ins Netz ausweichen. Wie blickt ihr mit dieser Erfahrung auf die heurige Ausgabe von Vienna Shorts? Vor einem Jahr ist das alles sehr kurzfristig geschehen – plötzlich haben wir uns im Homeoffice wiedergefunden und uns ausschließlich damit beschäftigt, ob die Umsetzung eines Online-Festivals möglich wäre. Heuer war das anders: Wir haben schon im Sommer beschlossen, die Vorteile der Online-Plattform parallel zu unseren Kinos weiter nutzen zu wollen. Da geht es auch darum, Inhalte überhaupt zugänglich zu machen. Dass dieses Mal ein großer Teil von Vienna Shorts erneut nur online passieren wird, haben wir so zwar nicht erwartet, aber zumindest wissen wir, dass das Festival auf jeden Fall stattfinden kann.
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Daniela Matejschek, Michael Liebert, Motherdrum, Rockhouse Salzburg, Coraci Ruiz, Vienna Shorts, Lupi Spuma, Creative Industries Styria
Sandro Nicolussi, Manuel Fronhofer
Termine Festivals
Mit der Online-Plattform This Is Short, einer Kooperation von vier europäischen Kurzfilmfestivals, gibt es seit Anfang April eine digitale Ergänzung zu Vienna Shorts. Wie greifen diese beiden Komponenten ineinander? Wir haben uns schon letztes Jahr gedacht, dass es unmöglich die Zukunft sein kann, dass nun jedes Festival seine eigene Plattform baut. Drum haben wir mit engen Partnern aus Deutschland, Holland und Polen schon früh darauf hingearbeitet, eine gemeinsame Plattform zu entwickeln. This Is Short wird nun von Anfang April bis Ende Juni von allen Festivals gemeinsam bespielt. Welche Schwerpunkte des heurigen Festivals kannst du uns schon verraten? Angesichts der engen Zusammenarbeit auf europäischer Ebene war es naheliegend, dass wir uns mit dem Thema Solidarität beschäftigen. Das hat uns in den vergangenen Jahren ja auch sehr stark begleitet, aktuell etwa, wenn es um den Umgang mit der Pandemie geht. An dieser kommen wir auch sonst nicht vorbei: Ein großer Teil der rund 5.000 Einreichungen hat sich damit beschäftigt – und auch wenn das oft noch unreflektiert geschehen ist, haben uns vereinzelte Filme doch beeindruckt und zum Nachdenken, Schmunzeln oder Lachen gebracht. Vienna Shorts – 18. Internationales Kurzfilmfestival 27. Mai bis 1. Juni großteils online
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Kunst und Kommerz treffen in Elfie Semotans Fotografien immer wieder aufeinander. Im Paris der 1960er-Jahre startet die in Wels geborene Künstlerin einst als Model, bis sie ihre Leidenschaft für die Arbeit hinter der Kamera entdeckte und hernach andere vor die Linse bat. Semotan wurde zu einer Ikone der österreichischen Modefotografie. Im Verlauf ihrer Karriere porträtierte sie nicht nur Stars wie Gisele Bündchen oder Kirsten Dunst, sondern auch Künstler*innen wie Marina Abramovic, Louise Bourgeois, Bruno Gironcoli, Raymond Pettibon oder Franz West. Anlässlich ihres 80. Geburtstags nimmt sich das Kunst Haus Wien nun in einer Retrospektive mit 150 ausgewählten Arbeiten der österreichischen Fotografin an. 23. April bis 29. August Wien, Kunst Haus
Elfie Semotan: Haltung und Pose
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Termine Kunst
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Termine Kunst Aykan Safoğlu Aykan Safoğlus Arbeiten speisen sich aus den Kunstgattungen Film, Fotografie und Performance. Im Zentrum steht dabei immer wieder ein künstlerisches Herantasten an Themen wie kulturelle Identität, Kreativität und Verwandtschaft. Für seinen multimedialen Zugang wurde Aykan Safoğlu nun von der Akademie der bildenden Künste Wien mit dem Birgit-Jürgenssen-Preis ausgezeichnet. Anlässlich der Auszeichnung werden Safoğlus Werke in einer Einzelausstellung präsentiert. 28. April bis 12. Mai Wien, Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste
Nicholas Grafia: Soul Burner
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Bianca Baldi: Cameo Die in Johannesburg aufgewachsene Künstlerin Bianca Baldi führt in ihrer künstlerischen Praxis Fragen zu Identität, Selbstdarstellung, Diskriminierung und Wahrnehmung zusammen. Zum Beispiel, wenn sie das sozialpolitische Phänomen des Passings anhand von Beispielen aus dem Tierreich untersucht: ein Tintenfisch, der seine Farbe je nach Situation anpassen kann und sich so tarnt. In Baldis Werk – Filmen, Fotografien und Installationen – dient der Oktopus als Motiv, dessen Passing dem Selbsterhalt dient. 16. April bis 13. Juni Graz, Kunstverein
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Michaela Pichler Elfie Semotan / Studio Semotan / Galerie Gisela Capitain, Aykan Safoğlu / The Pill Istanbul, Nicholas Grafia / Christine König Galerie, Bianca Baldi, GRAYSC, Anetta Mona Chişa & Lucia Tkáčová / Kunstraum Lakeside, Metahaven
Leuchtende Farben prallen auf den Leinwänden von Nicholas Grafia aufeinander: Zwischen leuchtendem Grün und Rot, stechendem Lila und Pink reflektiert der in Düsseldorf lebende Künstler über die Kolonialgeschichte der Philippinen. In Performances weist Grafia auf die vielen postkolonialen Traumata hin, die diese dunklen Stränge der Vergangenheit bis in die Gegenwart verursachen. In der Galerie Koenig 2 präsentiert der bildende Künstler Arbeiten aus 2019 in der Einzelausstellung »Soul Burner«. bis 22. Mai Wien, Koenig 2
Tatjana Danneberg Die Arbeiten von Tatjana Danneberg sind großflächig, vielschichtig, dekonstruktivistisch. Ihre Bilder entstehen in Wien und Warschau, zwischen Fotografie und Malerei. Die darin fotografisch festgehaltenen Protagonist*innen verharren oft in einer Bewegung, diese Aufnahmen verfremdet Danneberg im künstlerischen Prozess, die Fotos werden dabei zu Malerei. In der Ausstellung im Salzburger Kunstverein präsentiert sie neue Arbeiten, es ist Dannebergs erste Einzelausstellung in einer öffentlichen Institution. 8. Mai bis 4. Juli Salzburg, Kunstverein
Anetta Mona Chişa & Lucia Tkáčová Seit dem Jahr 2000 arbeiten Anetta Mona Chişa und Lucia Tkáčová nun zusammen, in Prag und im slowakischen Vyhne. In ihrem gemeinsamen Schaffen stellen sie sich immer wieder die Frage, ob die Vergangenheit die Zukunft vorantreibt oder ob die Zukunft die Vergangenheit nach sich zieht. Exemplarisch setzen die beiden Künstlerinnen ihre Überlegungen anhand des geopolitischen Phänomens Osteuropa um, das nach der Wende 1989 einen radikalen Gesellschaftswandel erfuhr. 19. Mai bis 25. Juni Klagenfurt, Kunstraum Lakeside
Metahaven: Chaos Theory Das niederländische Kunstkollektiv Metahaven, bestehend aus Vinca Kruk und Daniel van der Velde, ist in Film, Design und Internetkunst zu Hause. Als Auftragsarbeit des Donaufestivals und der Kunsthalle Krems präsentiert es die multimediale Filminstallation »Chaos Theory«, die sich mit der sprachlichen Begrenztheit und dem Unaussprechlichen des Metaphysischen beschäftigt. Das audiovisuelle Essay des Kollektivs aus Amsterdam ist außerdem der künstlerische Auftakt für das Donaufestival, das Corona-bedingt erst im Oktober stattfinden wird. 30. April bis 27. Juni Krems, Kunsthalle
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Termine Filme & Serien The Nevers Idee: Joss Whedon ———— Beim Namen Joss Whedon denken viele sofort an »Buffy the Vampire Slayer«. Wir erinnern uns: In dieser Kultserie kämpft eine junge Frau gegen Vampire und den alltäglichen Wahnsinn des weiblichen Teenagerdaseins. Ob Whedons neue Serie »The Nevers« ebenso subversiv angelegt ist, wird sich zeigen; gewisse Symmetrien scheint es zu geben, dreht sich doch auch dieses Mal die Handlung um eine Gruppe von Frauen mit besonderen Fähigkeiten. Start: 12. April Sky
Para – Wir sind King
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Mare of Easttown Idee: Brad Ingelsby / Regie: Craig Zobel ———— HBO plus Miniserie plus Kate Winslet – das hört sich schon jetzt nach einem Erfolg an. Winslet mimt in »Mare of Easttown« eine Polizistin, die einen Mord aufklären und zugleich ihr Leben unter Kontrolle bringen muss. Oft sind es ja die gebeutelten Männer, die Mördern hinterheejagen und nebenbei an ihren eigenen Problemen scheitern – und überhaupt, so manch eine*r mag sich denken: »Mord in der Kleinstadt und ein*e Polizist*in mit Problemen? Das klingt allzu bekannt.« Doch die Serie konnte – vor allem auch dank Kate Winslet – die Kritik bisher überzeugen; auf der Plattform Rotten Tomatoes darf sie sich über satte 92 % Zustimmung freuen. »Mare of Easttown« könnte Fans von »Top of the Lake«, »Sharp Objects« und »Happy Valley« ansprechen und verspricht nicht nur Krimispannung, sondern auch detaillierte Charakterzeichnungen und eine Studie über Verlust. Wir sind gespannt! Start: 18. April Sky
Regie: Özgür Yıldırım ———— Vier Freundinnen, Berlin, große Träume: Großgeworden in Berlin-Wedding, ergibt sich für die vier plötzlich die Möglichkeit, schnell an Geld zu kommen. Ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt. Nach »4 Blocks« fokussiert Özgür Yıldırım, der laut Fatih Akin »talentierteste deutsche Jungregisseur«, mit der Serie »Para« auf die Erfahrungen junger urbaner Frauen. In den Hauptrollen sind Jeanne Goursaud, Jobel Mokonzi, Soma Pysall und Roxana Samadi zu sehen. Start: 22. April Sky
Shadow and Bone Idee: Eric Heisserer ———— Fans von Fantasy sollten hier auf ihre Kosten kommen. Basierend auf der Roman triologie »Legenden der Grisha« der Autorin Leigh Bardugo, erzählt die Serie die Geschichte des Waisenmädchens Alina (Jessie Mei Li). Dieses entdeckt spezielle Kräfte, die sich als Schlüssel zur Befreiung ihres Landes erweisen könnten. Das Setting von Bardugos Romanen ist vom Russischen Zarenreich inspiriert. Die Dreharbeiten fanden in Budapest statt. Start: 23. April Netflix
Regie: Joe Penna ———— Große Namen wie Toni Collette und Anna Kendrick hat der Cast von Joe Pennas neuem Film »Stowaway« aufzuweisen. In diesem reist eine Crew auf den Mars. Erst nach Start ihres Raumschiffes wird ein blinder Passagier (Shamier Anderson) an Board entdeckt. Doch es ist zu spät, um zur Erde zurückzukehren, und der Einigkeit innerhalb der Gruppe beginnt sich aufzulösen. Multitalent Joe Penna, der nach einem abgebrochenen Medizinstudium als Musiker, Animationskünstler und Filmemacher in Los Angeles lebt, liefert nach »Arctic« seinen zweiten Langfilm ab. Gedreht wurde »Stowaway« übrigens in Köln und München. Die Rechte für die Ausstrahlung konnten sich sowohl Netflix als auch Amazon Prime (für Kanada) sichern. Start: 6. Mai Netflix
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Code 404 Idee: Tom Miller, Sam Myer & Daniel Peak / Regie: Al Campbell ———— Künstliche Intelligenz ist ja seit einiger Zeit in aller Munde und hat nun auch wieder mal Eingang in die Popkultur gefunden: In »Code 404« wird der im Einsatz getötete Polizist John Major (Daniel Mays) dank KI wieder zum Leben erweckt. Nun sucht er nach seinem Mörder, doch seine Programmierung ist fehlerhaft und es fällt ihm schwer, an seine alten Erfolge anzuknüpfen. Staffel zwei der britischen Comedy-Serie ist bereits in Planung. Start: 11. Mai Sky
Barbara Fohringer
Stowaway
Idee: Hannah Fidell / Regie: Hannah Fidell, Gillian Robespierre & Andrew Neel ———— Mitunter ein Trend der letzten Jahre: Serien, die auf Filmen basieren. So gibt es nun zum gleichnamigen Film eine Serie rund um die Affäre der verheirateten Lehrerin Claire (Kate Mara) mit ihrem Schüler Matt (Nick Robinson). Es geht um Verbote und Obsessionen. Hannah Fidell gab damals mit »A Teacher« ihr Debüt als Regisseurin, danach realisierte sie »6 Years« sowie »The Long Dumb Road«. Start: 23. April Disney+
Home Box Office / Sky, Netflix
A Teacher
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bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber
»Wie viele Filme haben die sich angesehen? Fünf?«, schreibt mir Podcast-Co-Host Lily mit einer Mischung aus Augenzwinkern und unverhohlenem Missfallen. Eben waren die Nominierungen für die 93. Academy Awards bekanntgegeben worden – und wir konnten zunächst beide nicht anders, als die Listen erst mal nach den persönlichen Filmschatzis der letzten Saison zu durchsuchen, um in weiterer Folge fuchsteufelsmild zarte Verfluchungen auszustoßen. Weil eben selbst in unserem pandemischen Showbiz-Zustand, in dem ohnehin viele vorgeblich hochkarätige Produktionen verschoben werden mussten, etliche unserer Personal Faves keinen Platz im erlauchten Kreis des Prämierungswürdigen zugesprochen bekommen hatten. Weil es ja nun echt nicht einzusehen ist, dass mit dem Turner-Prize- und eh auch schon Oscar-Gewinner Steve McQueen einer der herausragenden Kreativgeister unserer Zeit seine fünfteilige Film-Anthologie »Small Axe«, ein inhaltlich wie formell episches Black-Lives-Matter- Schlüsselwerk zaubern kann, ohne irgendeine Chance zu haben, damit die Aufmerksamkeit der Academy zu erhalten. Einfach nur deswegen, weil die aufwühlende, flirrende, facettenreiche Reihe über das von systemischem Rassismus durchdrungene Leben der karibischen Community in London der Breitenwirkung wegen zuerst in der britischen TV-Primetime lief und nicht in Kinos? Die ja ohnehin geschlossen waren? Von einem ebenso ausnahmslos negierten existenzphilosophischen Wunderwerk wie Charlie Kaufmans »I’m Thinking of Ending Things« will ich hier gar nicht erst zu schwärmen beginnen, sonst ist diese Kolumne bereits zu Ende, bevor sie begonnen hat. Hätte auch wenig Sinn, weil nun eh schon der Hollywood-gerechte Twist in dieser Gschicht ins Spiel kommt: Im Zuge der als Vorbereitung auf unsere Oscar-Podcast-Episode erfolgten Erst-
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Frances McDormand in »Nomadland«
wie Nochmal-Sichtungen aller Main Contenders kristallisierten sich – ei der Daus! – dann doch noch maßgebliche Filmfreundschaften heraus. Geholfen hat dabei allemal schon, dass uns keine wirklich alles falsch verstehenden Gurken wie der unsägliche 2019er-Preisehamster »Green Book« untergekommen sind. Und als es uns dann auch noch gelang, die beiden vergleichsweise abstinkenden Netflix-Großkaliber im Aufgebot, David Finchers ersten Altherrenfilm, die digitaldüstere Old-Hollywood-Mimikry »Mank« und Aaron Sorkins routiniert geschwätziges Feelgood-Justizdrama »The Trial of the Chicago 7« als wohlmeinende Herzensprojekte zu akzeptieren, entpuppte sich das Line-up 2021, allen Unkenrufen vom vermeintlich vernachlässigbaren »Übergangs-Oscar« zum Trotz, gar als eines der beglückenderen der jüngeren Vergangenheit.
Unerwartete Ein- und Ansichten Also. Unerwartete, im Awards-Umfeld mitunter nachgerade radikale Ein- und Ansichten lieferten beispielshalber die subversiv saftige Female-Revenge-Fantasy »Promising Young Woman« mit der famosen Carey Mulligan im Auge des Orkans und der dringliche, ganz nah am Puls des Hier und Jetzt schlagende Black-Panther-Thriller »Judas and the Black Messiah« mit den beiden, absurderweise jeweils in der Kategorie »Bester Nebendarsteller« nominierten Hauptakteuren Daniel Kaluuya und LaKeith Stanfield (der wundervolle Weirdo Darius aus der exzellentesten Dramedy-Serie der Gegenwart, »Atlanta«). Ebenfalls ein großer Lichtblick: das feinfühlige Familiendrama »Minari«, das aus migrantischer Perspektive vom Kollidieren des ehrgeizigen Verfolgens des American Dreams mit der Realität und Dynamik des Privatlebens berichtet. Womit wir auch thematisch bei der potenziellen Abräumerarbeit des Abends angelangt wären: Chloé Zhaos »Nomadland«, das beru-
hend auf dem gleichnamigen Reportage-Bestseller Einblicke in Existenzen gewährt, denen Hollywood gemeinhin die kalte Schulter zeigt. Die Rede ist von den unzähligen unteren Zehntausend, die sich in den ruinösen Bedingungen des Spätkapitalismus als Arbeitsnomaden ohne festen Wohnsitz von einem McJob zum nächsten hanteln müssen. Leuten wie der von Frances McDormand erhaben uneitel gespielten Witwe im Fokus dieser spezifischen Erzählung, Leuten, die sich inmitten ihrer existenziellen Kämpfe aber doch stets auch der Hilfsbereitschaft und Warmherzigkeit anderer vom System Ausgespuckter versichert wissen dürfen. Zhao, die im Fall ihres absehbaren Sieges überhaupt erst die zweite Filmemacherin wäre, die den Oscar in der Kategorie »Beste Regie« bekäme, fängt dieses Ringen um Resilienz, an die semi-dokumentarische Machart ihres auch schon tollen Vorgängerfilms »The Rider« anknüpfend, in naturalistisch-rauer Cinémavérité-Ästhetik ein, begegnet dabei den größtenteils »echten« Menschen ihres Casts beharrlich auf Augenhöhe, schafft Raum für Würde und Wahrhaftigkeit. Hier hat es einen Film, der Ode an die Freiheit ist und zugleich Loblied auf die Solidarität. Wenn es letztlich solche unverhofften Wagnisse sind, die die höchsten Weihen des Business erhalten, dann spielt es tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle, wie viele Filme die Jury sonst auf ihren Schirmen hatte – weil die in Erwägung gezogenen ohnehin einfach nur gut und richtig waren. prenner@thegap.at • @prennero
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Screen Lights Alltagsgeschichten für die Academy
Luca Senoner, Searchlight Pictures
Home Box Office / Sky, Netflix
Barbara Fohringer
Christoph Prenner
Christoph Prenner und Lillian Moschen plaudern im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Seriengeschehen. Neulich dankten sie der Academy für das Erkennen von Talent – auch wenn es zunächst gar nicht danach aussah.
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Termine Bühne
Sunset Z
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Bounce Als Online-Filmpremiere ist die Koproduktion »Bounce« von Costas Kekis und dem Brut Wien ein »performatives Ritual der persönlichen und kollektiven Heilung«. Mit fünf Performer*innen werden – u. a. mittels persönlicher wie gemeinsamer Geschichte – emotionale Resilienz, Traumata und Gefühlsräume verhandelt. In einer kurzen Videoeinführung erklärt Costas Kekis sein Konzept anhand einer zerbrochenen Kaffeetasse und der japanischen Fertigkeit des Kintsugi, des Reparierens von Porzellan, bei dem einzelne Bestandteile mit Goldverzierung wieder aneinandergefügt werden. Ein Zusammensetzen der Scherben mit gleichzeitiger Aufwertung des vormaligen Objekts. Die Performance wird begleitet von dunklen Klängen von Tanja Fuchs aka Abu Gabi. 22. April Wien, Brut
In ihrer audiovisuellen, performativen Installation »Sunset Z« erforscht Julia Zastava die fragmentierte Realität und Vielfalt menschlichen Seins in verschachtelter Form, in Loops und Sounds – von »Motorradmotoren, flatternden Flügeln, knusprig gebackenen Herzen und zersplitterten Wasserfällen«. Die in Moskau geborene Multimediakünstlerin beschäftigen in ihren Arbeiten Transformationsprozesse, Fragen der Narration, das Unheimliche und das Surrealistische. 8. und 9. Mai Wien, Tanzquartier
Feed the Troll Denkt man zurück an die postmoderne philosophische Bewegung des Cyberfeminismus um Donna Haraway, so darf man eine Bestandsaufnahme wagen: Was ist in Zeiten von Hate Speech von den utopischen Möglichkeitsräumen übriggeblieben? Drei Protagonistinnen untersuchen diesen Gleichberechtigungstraum aus dem letzten Jahrtausend. Unter der Regie von Klara Rabl ist »Feed the Troll« als mehrmedialer Theaterfilm auf dem Stadtsender Okto zu sehen und anschließend im Stream abrufbar. 21. bis 30. April Wien, Werk X-Petersplatz
The.Heldenplatz.Thing.Movie
#schalldicht
Mash-up-Theaterinszenierungen sind die Spezialität des Wiener Theaterkollektivs Das.Bernhard.Ensemble. Für das Off Theater Wien hat es Thomas Bernhards »Heldenplatz« mit John Carpenters »The Thing« vermengt. Große Aufregung herrscht im Franz-Josef-Land um ein grassierendes, politisches Hassvirus mit Ansteckungsgefahr namens Antisemitismus. Welches Österreichbild fällt dir aktuell ein? Eigentliche Uraufführung war im März 2020. Es kam – dank Lockdown – lediglich zu einer einzigen Aufführung des Stücks. Nun feierte eine modifizierte Version von »The.Heldenplatz.Thing« im Februar 2021 als leicht trashiger Film im Streaming Premiere. Er ist noch bis zum Ende der heurigen Spielzeit online abrufbar. bis Ende Juni Wien, Off Theater
Ein Softwareproblem in einem Tonstudio setzt den Anfang des Stücks »#schalldicht« um vier Protagonist*innen, die fortan auf sich zurückgeworfen sind und miteinander die großen Themen des Lebens besprechen. Ein Erforschen des Social Distancings und des Wunsches nach Systemveränderung unter der Regie der freischaffenden Theatermacherin Sina Heiss als interdisziplinäre Performance mit Musik, Körper, Objekten und Konstellationen im Raum. ab 17. Juni Linz, Theater Phönix
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Oliver Maus
Am amerikanischen Unabhängigkeitstag 1845 zog sich der Schriftsteller Henry David Thoreau in Massachusetts in eine selbstgebaute Blockhütte zurück und verarbeitete sein vereinfachtes Leben als Aussteiger in »Walden, or, Life in the Woods«: »Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht leben war, in die Flucht geschlagen wurde.« Johannes Bode inszeniert den Stoff in dieser Wiederaufnahme als eine »romantische Lecture-Performance«. 3. bis 5. Juni Pürbach, Waldviertler Hoftheater
Martin Valentin Fuchs, Walter Mussil
Walden
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Oliver Maus
Martin Valentin Fuchs, Walter Mussil
NEHMEN WIR D E M S CHWA R Z DIE KR A F T.
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Josef Jöchl
artikuliert hier ziemlich viele Feels
Als ich ein Teenager war, stellte ich mir mein zukünftiges Dating Life in etwa so vor wie das Nachmittagsprogramm auf ORF 1. Eine Weile wäre wie bei »Dawson’s Creek« alles fun and games, bevor ich auf einen Schlag erwachsen würde und exakt fünf beste Freunde hätte, die zufällig gegenüber voneinander wohnten und die Haustür nie absperrten. Kurz nach meinem 30. Geburtstag würde ich in den Hafen einer stabilen Beziehung segeln, mich in Al aus »Hör mal, wer da hämmert« verwandeln und bis zum Sendeschluss alle, die nicht bei drei auf den Bäumen sind, an meinem Finger ziehen lassen. Bis auf die naturnahe Jugend in einem touristischen Dörfchen ist alles anders gekommen als gedacht, lose Datingblöcke wechselten sich ab mit seriellen Zusammenhängen. Die Liebe ist eben keine Sitcom und der Weg von der Maybe- in die Never-Abteilung manchmal ein kurzer. Bei jeder Begegnung gipfelt er in derselben Frage: »Will they or won’t they?«
The Ones That Got Away Nennen wir ihn Dean. Eine Freundin von ihm überschätzte ihre eigene Matchmaking-Kompetenz und machte uns einander bekannt. Dean ist Mathematiker, lebt im Zweiten, ist zwei Meter groß und hat zwei Penisse. Eines dieser Merkmale ist erfunden, ich möchte hier schließlich niemanden ausstellen. Wir spazierten zwei Stunden auf der Prater Hauptallee und legten dabei unsere Vorstellungen von Zweisamkeit übereinander. Dann war da Logan. Logan ist ein bisschen fame auf Insta und nahm mich ebendort mit fachkundigen Reviews von Fertiggerichten für sich ein. In ein paar Hundert DMs arbeiteten wir unsere
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Lebensgeschichte auf, was in der Planung eines gemeinsamen Spaziergangs mündete. Schließlich traf ich auf Jess. Bei einem Draußen-Rumstehen bannte mich sein durchdringender Blick, überhaupt war Jess von Weitem anzusehen, dass er zwölfmal cooler war als ich. In unserem kurzen Gespräch offenbarte er Stil, Weitblick und eine internationale Karriere, was mich auf der Stelle retardieren und Dinge stammeln ließ wie: »Was machst du so im Lockdown?« Man könne ja vielleicht mal gemeinsam spazieren gehen.
Lost in the Plot In vielen Fernsehserien gibt es eine bottle episode: Ein limitierter Cast spielt einen in sich geschlossenen Plot, der für die horizontale Erzählung keine Rolle spielt. Es ist unnötig zu erwähnen, dass sich in meinem Fall eine bottle episode an die nächste reihte. Ob jemand lediglich einen Gastauftritt absolviert, entscheidet sich oft anhand von Details. Zwischen mir und Dean entspann sich zunächst ein angenehmes Gespräch, bis er sich seine Locken aus dem Gesicht strich und erwähnte, dass er Percussion in einer Salsa-Band spiele. Mein Lächeln gefror schlagartig. Ein zwei Meter großer Percussionist mit Locken – Sideshow Bob, anyone? Ich wusste sofort, dass ich diese Assoziation niemals würde entknüpfen können. Im Fall von Logan kam es erst gar nicht zum Spaziergang. Die intensiven Chats waren too much too soon und täuschten darüber hinweg, dass der Vibe wohl nicht ganz passte. Und schon machte sich der gemeinsame Moment auf eine Reise, von der er nie zurückkehren würde. In Sachen Jess löste
sich die Spannung noch am selben Abend. Aus Nervosität entschloss ich mich, das Gespräch zu unterbrechen und viel zu engagiert ein anderes über irgendeine Dissertation zu führen. Als ich den Faden mit Jess wieder aufnehmen wollte, hatte er die Szene bereits verlassen.
Team Jess Von Dean habe ich nie wieder gehört, Logans Content feiere ich weiterhin auf allen Kanälen. Auch Jess sollte mir nie wieder begegnen. Aller dings sollte er niemandem jemals wieder begegnen. Zwei Wochen nach unserem Aufeinandertreffen erreichte mich die Nachricht seines plötzlichen Todes. In diesem Moment zeigte sich mir die Flüchtigkeit dieser Begegnungen mit voller Wucht. Letztlich treffen wir auf viele Charaktere nur episodenweise. Wir kämpfen uns durch ein Dickicht wuchernder Spin-offs und Menschen wie Gouda. Erst nach einigen Staffeln zeigt sich, wer in Erinnerung bleibt, mit etwas Glück in einem abendfüllenden Spielfilm. Am ehesten gleicht mein Dating Life vielleicht noch der Prämisse von »How I Met Your Mother«. Staffel für Staffel erzählt Ted seinen Kindern von seinen romantischen Erlebnissen, ohne eine Ahnung davon entstehen zu lassen, mit wem er am Ende zusammenkommt. Nur wiederholen sich in echt halt die wenigsten Momente, ganz im Gegensatz zum SitcomLine-up im ORF-Nachmittagsprogramm. Aber das ist nur meine Big Bang Theory. joechl@thegap.at • @knosef4lyfe Josef Jöchl ist Comedian. Sein aktuelles Programm heißt »Nobody«. Aktuelle Termine sind unter www.knosef.at zu finden.
Ari Y. Richter
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Sex and the Lugner City How I Met My Daddy
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