Editorial My agenda might offend ya
Jedes Jahr im Juni sorgt er wieder für öffentliches Schmunzeln oder Stirnrunzeln: der – mehr oder weniger liebevoll so titulierte – »Buchstabensalat« LGBTQIA*. Im Schlepptau immer entweder die Frage, was denn da jetzt noch für Buchstaben dazukämen, oder die, wofür das jetzt alles eigentlich stehen solle. Im nächsten Atemzug folgt dann häufig eine implizite oder explizite Kritik an Identitätspolitik. Motto »Brauchen wir nicht« oder »Lenkt nur von den eigentlich wichtigen Themen ab«. Doch auch ich selbst habe so meine Kritik am Buchstabensalat, obwohl ich meine Identität selbst darin verorte.
Das »Q« steht für mich; queer also. Ein schwammiger Begriff, aber mit Kalkül. Queerness ist eben nicht nur ein Überbegriff, der mehrere Identitäten in sich vereint. Sie ist auch der bewusste Verzicht darauf, sich festzulegen, die eigene Identität als konstant und unveränderlich, als –in welcher Form auch immer – natürlich gegeben festzuschreiben.
Früher stand das »Q« neben »queer« auch mal für »questioning«, also für all jene Menschen, die noch auf der Suche waren, die sich in ihrer Identität instabil fühlten. Nicht mehr in der gesellschaftlichen Norm zu Hause, aber auch noch (?) nicht in der »Ab-Norm« angekommen. Beim Blick auf Social Media, auf die unzähligen Labels, (Unter-)Kategorisierungen von Geschlechtern und Sexualitäten scheint mir manchmal dieser Raum des »questioning«, des Fragens zu schwinden. Statt einfach mal die eigene Identität im Ungewissen zu lassen, muss scheinbar immer ein Label in der Bio stehen, die Identität auf irgendeine Weise festgeschrieben werden.
Solche Festschreibungen geschehen allerdings zwangsläufig in Abgrenzung zu einer Norm. Homosexualität in Abgrenzung zur Norm der Heterosexualität, Trans-Identitäten in Abgrenzung zur Norm der Cis-Identitäten, Asexualität in Abgrenzung zur Norm der Allosexualität. Definitionen machen immer nur Sinn, wenn sie Grenzen haben, wenn es etwas gibt, das anders ist, von dem sie sich unterscheiden. Der Buchstabensalat symbolisiert für mich die Aufspaltung einer radikalen queeren Bewegung, die nicht einfach nur hinterfragt, warum es besser sein soll, »normal« zu sein, sondern, ob es so etwas wie Normalität überhaupt braucht.
Aber ich möchte auch nicht der Grumpy Old Queer sein, der nicht die Kreativität und das Spielerische sieht, dass im Entwickeln immer neuer Labels, immer neuer Lebens- und Identitätsentwürfe steckt. Wir sollten nur dabei auch die Schönheit nicht vergessen, die im Ungewissen liegt, im Ungeschriebenen, im Ungesagten. In der fundamentalen Kritik, das Spiel zu verweigern.
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Herausgeber
Manuel Fronhofer, Thomas Heher
Chefredaktion
Bernhard Frena
Leitender Redakteur
Manfred Gram
Gestaltung
Markus Raffetseder
Autor*innen dieser Ausgabe
Victor Cos Ortega, Barbara Fohringer, Susanne Gottlieb, Daniel Hill, Oliver Maus, Tobias Natter, Dominik Oswald, Helena Peter, Mira Schneidereit, Jana Wachtmann
Kolumnist*innen
Josef Jöchl, Christoph Prenner
Coverfoto
Daniel Hill
Lektorat
Jana Wachtmann
Anzeigenverkauf
Herwig Bauer, Manuel Fronhofer, Sarah Gerstmayer (Leitung), Thomas Heher, Martin Mühl
Distribution
Wolfgang Grob
Druck
Grafički Zavod Hrvatske d. o. o. Mičevečka ulica 7, 10000 Zagreb, Kroatien Geschäftsführung
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Die Redaktion von The Gap ist dem Ehrenkodex des Österreichischen Presserates verpflichtet.
Bernhard Frena Chefredakteur • frena@thegap.at Alexander GallerMagazin
010 #DragIsNotACrime
Über den Angriff auf eine bunte Gesellschaft
020 Intime Begegnungen in ephemeren Filmen
Katharina Müller über queere visuelle Geschichte und Kultur
024 Wenn Feiern zur Protestform wird
Queere Partys zwischen Safe Spaces und Sichtbarkeit
032
029 »Schauspielerei ist die Kunst des Ehrlich-Seins«
Thea Ehre im Interview zu »Bis ans Ende der Nacht«
032 Musik und Citizenship
Wie Europavox die europäische Bühne öffnet
Wolfgang Grob
Wiener*innen, die dort geboren und aufgewachsen sind, bleiben gerne unter sich. Zum Glück gibt sich Wolfgang auch mit den zugereisten Wiener*innen in der Redaktion ab. Denn ohne ihn würde wenig funktionieren, kümmert er sich doch um alles Administrative: Verrechnung, Aboverwaltung, Distribution. Abgesehen davon verbringt er viel Zeit mit seinen Siouxsie-Sioux-, Joy-Divisionund B-52’s-Platten. Und schämt sich unverständlicherweise für sein einziges Stevie-Wonder-Album.
Oliver Maus
Seit seinem Praktikum 2018 ist Oliver nun schon bei The Gap und unterstützt hier tatkräftig die interne Pro-ESCFraktion. Nicht nur damit hat er recht, auch seine Theaterempfehlungen und Reportagen über (queere) Popkultur treffen immer ins Schwarze. Für die aktuelle Ausgabe hat er recherchiert, woher der Backlash gegen »Drag Story Time« kommt. Selbst sieht er derzeit leider zu wenige Drag-Shows, er kann aber wärmstens den Mitschnitt von Mayhem Miller, wie sie in New York »Drama« performt, empfehlen. Einfach googeln!
LGBTQIA* Storys aus queerer Community und (Pop-)Kultur
Rubriken
Comics aus Österreich Nina Hable
Auf unserer Seite 6 können österreichische Comickünstler*innen zeigen, was sie können. Für die erste Ausgabe unserer neuen Rubrik »Comics aus Österreich« haben wir Nina Hable ans Zeichenbrett gebeten. ———— »Der Tod ist ein Wiener – eine Moritat«, prangt groß am Cover eines von Nina Hables Comics. Direkt neben einem Totenschädel. Ihre Affinität zum Morbiden und Makabren kann die Wienerin kaum verleugnen. Aber ebenso wenig den subtilen Humor ihrer Comics. Bevor Hable ihr illustrierendes Leben begann, war sie zehn Jahre lang als Ghostwriterin von Reden tätig. Sie forschte, publizierte und unterrichtete am Institut für Germanistik in Wien. Nach ihrer Promotion (Ritter! Lanzen!) wechselte sie schließlich vom reinen Text zur Text-Bild-Kombo. Eine Lust an Wissenschaft, Geschichte und Old-School-Genres wie Märchen und Fabeln ist jedoch nach wie vor spürbar. Ihre Comics erscheinen überwiegend selbstpubliziert und sind vor allem auf Messen und in Wiener Comicbuchhandlungen erhältlich.
Nina Hables neueste Eigenpublikationen sind die Minicomics »Rabenlektionen« und »My Dear Narcissist«.
Die Rubrik »Comics aus Österreich« entsteht in Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Comics: www.oegec.com
Charts Anna Resch
TOP 10
Wien durch die Linse von Wes Anderson
01 Gerstners K. u. K. Hofzuckerbäckerei
02 Amalienbad
03 Schmetterlinghaus
04 Breitenseer Lichtspiele
05 Eisenapotheke Menning
06 Eissalon Tichy
07 Baumgartner Höhe
08 Café am Heumarkt
09 Theater Nestroyhof Hamakom
10 Lhotzkys Literaturbuffet
TOP 03
Abkühlung an Hitzetagen
01 Eisbärenwelt Schönbrunn
02 Bei den coolen Kids
03 Die kaltherzige Politik rechts außen
Auch nicht schlecht:
»Malcolm in the Middle« mit Mitte 30 und anderen Augen nochmal bingen
Anna Resch ist Kulturmanagerin und Kuratorin in Wien. Sie arbeitet an den Schnittstellen zwischen Neuer Musik, Kunst und Performance.
Charts Benjamin Keitel
TOP 10
Musikvideos (in alphabetischer Reihenfolge)
01 A$ap Rocky – »A$ap Forever«
02 Beyoncé & Jay-Z – »Apeshit«
03 Deichkind – »Richtig gutes Zeug«
04 The Doors – »Riders on the Storm«
05 Michael Jackson – »Thriller«
06 Justice – »Love S.O.S. (WWW)«
07 Kendrick Lamar – »Humble«
08 Madonna – »Express Yourself«
09 Paavo feat. Billy Vena – »Supersonic Love Divine«
10 Pharcyde – »Drop«
TOP 03
Achterbahnen
01 Leviathan (Canada’s Wonderland)
02 Avengers Assemble (Disneyland Paris)
03 Wodan (Europa-Park)
Auch nicht schlecht
Vernissage mit Frinks oder alleine ins Kino gehen
Benjamin Keitel ist Videoproduzent und Mitbegründer des Frames Network. Er ist Mitorganisator der Frames Screenings für Musikvideos.
Comicpionier Pictopia kämpft ums Überleben
Mit einem Crowdfunding-Aufruf versucht der Comicbuchladen und -vertrieb Pictopia, das Aus zu verhindern. ———— Der enorme Zuwachs an gesellschaftlicher Anerkennung, den Comics innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte in Österreich erreicht haben, ist nicht zuletzt Sebastian Broskwa zu verdanken. Mit seinem Comicvertrieb Pictopia hat er dafür gesorgt, dass es österreichische und deutschsprachige Comics und Graphic Novels nicht nur in die Regale von Comicläden, sondern auch in jene von regulären Buchhandlungen geschafft haben. Sein Geschäft in der Liechtensteinstraße 64 ist Treffpunkt für die Wiener Comicszene – gleich ob Künstler*innen oder Fans. Die aktuelle Teuerungswelle hat jedoch die Ausgaben vervielfacht und gleichzeitig für einen starken Rückgang im Umsatz gesorgt. 15.000 Euro in zusätzlichen Buchverkäufen wären nötig, damit der Laden weiterlaufen kann. Nun versucht Sebastian mit einem Crowdfunding-Aufruf unter dem Motto »Save Pictopia!« auf die fehlenden Einnahmen zu kommen.
Comics plus Prints
Der Deal: In 50-Euro-Schritten gibt es bei jedem Kauf von Comics zusätzlich exklusive signierte und auf je 100 Stück limitierte Prints von bekannten österreichischen und deutschen Comickünstler*innen. Ab einem Einkauf in der Höhe von 50 Euro einen Print von Michael Hacker, der in den letzten Jahren mit seiner Comicserie »El Herpez« über einen Superschnüffler mit HerpesTentakel-Lippen Aufsehen erregte. Ab 100 Euro kommt dann ein Druck von Nicolas Mahler dazu, der sowohl für seine humorvollen selbst-referenziellen Comicstrips als auch für seine Literaturadaptionen bekannt ist. Ulli Lust dürfte vielen über ihre autobiografischen Comics wie »Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens« ein Begriff sein. Obwohl sie nun in Deutschland lebt, steuert sie den Print ab 150 Euro bei. Und auch der letzte Print ab 200 Euro kommt aus Deutschland, nämlich vom Urgestein des schwulen deutschen Comics, von Ralf König. Das Angebot gilt sowohl beim Kauf im Laden als auch online und ebenso auf Gutscheine sowie alle bestellbaren Bücher. Ein Blick in den Laden lohnt sich allemal, doch Vorsicht: Selten bleibt es beim Kauf von nur einem Buch! Bernhard Frena
Bis 17. Juni läuft das Crowdfunding noch, sowohl im Laden in der Liechtensteinstraße in Wien als auch über den Onlineshop auf www.pictopia.at.
Forschungsstipendien beim Steirischen Herbst
Der Steirische Herbst fördert Forschungsprojekte in seinen Archiven. ———— Wer in den Archiven eines der bedeutendsten österreichischen Festivals für zeitgenössische Kunst forschen möchte, hat derzeit die Gelegenheit, dies potenziell sogar mit finanzieller Unterstützung zu tun. Nachdem 2021 zum ersten Mal Stipendien vergeben wurden, öffnet der Steirische Herbst auch heuer sein Presse-, Medien- und Aktenarchiv sowie seine Präsenzbibliothek für die Stipendiat*innen des sogenannten »Research Residency Fellowship«. Ziel der Initiative ist es, den Dialog zwischen der bewegten Festivalgeschichte einerseits und zeitgenössischer Forschung sowie künstlerischer Praxis andererseits zu fördern. Für die Bewerbung ist eine Projektbeschreibung in deutscher oder englischer Sprache notwendig. Besonderer Fokus liegt auf Forschungsansätzen, die auf kreative sowie interdisziplinäre Weise neue Perspektiven auf die lange Geschichte des Festivals eröffnen. Das Stipendium ist mit 1.500 Euro dotiert, Reise- und Wohnkosten werden – sofern notwendig – ebenfalls bezuschusst. Beginn der Residency ist im September 2023, sie dauert ein Monat.
Internationale Breite, lokale Tiefe
Der Steirische Herbst wurde 1968 von Hanns Koren als Gegenentwurf zu einem nationalistischen, rückwärtsgewandten Kunstbegriff gegründet. Er versteht sich als transdisziplinäres Festival, in dem alle Bereiche der zeitgenössischen Kunst angesprochen werden sollen: »Bildende Kunst, Musik, Kunst im öffentlichen Raum, Theater, Performance, Neue Medien, Literatur und alles, was dazwischen liegt.« Neue, spezifisch für das Festival entstandene Produktionen bilden den Kern des Programms. Ekaterina Degot leitet den Steirischen Herbst seit 2018 als Intendantin mit fortwährendem »Fokus auf internationale Breite und lokale Tiefe«. Thematisch scheut sich der Steirische Herbst nicht, auch hochaktuelle Inhalte aufs Tableau zu bringen. Letztes Jahr drehte sich unter der Devise »Ein Krieg in der Ferne« alles um brodelnde Konfliktherde – nicht zuletzt natürlich um den russischen Überfall auf die Ukraine. Das Festivalthema der diesjährigen Ausgabe wird im Juni bekannt gegeben.
Bernhard FrenaEinreichungen für das Forschungsstipendium sind bis 1. Juli möglich. Die 56. Ausgabe des Steirischen Herbst findet von 21. September bis 15. Oktober statt.
NACHHALTIG QUEER
Über den Angriff auf eine bunte Gesellschaft
Öffentliche Proteste, die Einschüchterung von Eltern und eine Sondersitzung des Wiener Landtags. Gegen Lesungen von DragPerformer*innen für Kinder wird derzeit Stimmung gemacht. Der Versuch einer Einordnung. ———— Ein alter Teppich ist direkt vorm Weltmuseum am Wiener Heldenplatz ausgerollt. Es ist ein warmer Spätsommertag. Etwa zehn Kinder sitzen um einen Ohrensessel herum und lauschen gespannt. Die Person, der sie zuhören, hat eine voluminöse blonde Mähne, trägt einen weiten Cardigan mit LeopardenPrint und beigen Rüschen, dazu einen altbackenen Strickrock und schwarze Boots. Die Kinderbücher, aus denen sie vorliest, dürfen sich die Kinder aus einem Lederkoffer aussuchen, den sie dabeihat.
Die beschriebene Szene stammt aus dem Jahr 2019. Im Zuge der Wienwoche liest Jupiter Braun als Kunstfigur Lady Nutjob damals Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren vor. Als Elementarpädagog*in – zu dieser Zeit in einem städtischen Kindergarten tätig – ist Jupiter im Umgang mit Kindern Vollprofi. Begeistert machen diese mit, freuen sich immer wieder, wenn sie die nächste Lektüre aussuchen dürfen und lauschen dann gespannt den Geschichten.
Was vor wenigen Jahren noch wie eine recht unspektakuläre Veranstaltung wirkte, lässt mittlerweile die Wogen hochgehen. Die Eskalationsstufen, die das Vorlesen von DragPerformer*innen für Kinder seither genommen hat, reichen vom Zumauern des Eingangs der städtischen Bücherei Wien-Mariahilf im Juni des Vorjahres (damit sollte eine Lesung der Dragqueen Candy Licious verhindert werden) bis zum kürzlich erreichten Höhepunkt diesen April: einem Protest vor der Türkis Rosa Lila Villa inklusive Sprechchören wie »Heimat, Freiheit, Tradition, Globohomo Endstation«.
Nun ist es grundsätzlich nichts Neues, dass Darsteller*innen ein anderes Geschlecht performen. Als breites Feld verschiedener Spielformen haben transgressive Darstellungen von Genderkonventionen auf Bühnen lange Tradition. Von männlichen Darstellern in Frauenmasken im antiken Theater über die reinen Männerensembles der Shakespeare’schen Theaterkompanien und die Hosenrollen, welche an der Oper zunehmend die Castrati ersetzten, bis hin zu Damen- und Herrendarsteller*innen in der Moderne reicht die Spannweite. In jedem Fall ist allerdings zwischen trans Menschen und Drag-Performer*innen sowie CrossDressenden zu unterscheiden.
Drag ≠ trans Drag ist eine Performance, die zeitlich begrenzt stattfindet, etwa im Rahmen einer Drag-Show. Das Ziel ist nicht, ein Geschlecht möglichst exakt darzustellen, sondern vielmehr die überhöhte Performance eines Geschlechts. Cross-Dressende hingegen tragen Kleidung, die gesellschaftlich einem anderen Geschlecht zugeordnet ist – ohne den Rahmen einer Performance. Dies kann zeitlich auf gewisse Situationen beschränkt sein oder einfach Teil ihr es alltäglichen Lebens . Sowohl DragPerformer*innen als auch Cross-Dressende sind jedoch weder zwangsläufig noch in der Regel trans. Trans zu sein, hat nicht mit Kleidung und Performance zu tun, sondern mit Identität. Menschen sind trans, wenn das Geschlecht, welches ihnen bei der Geburt zugeteilt wurde, nicht mit jenem übereinstimmt, mit dem sie sich identifizieren. Welche Kleidung sie tragen, ob sie an DragPerformances teilnehmen und so weiter ist davon völlig unabhängig.
Vor allem aus Orten, an denen LGBTQIA*-Menschen zusammenkommen, sind Drag-Performer*innen heute nicht mehr w egzudenk en und nicht zuletzt Fernsehformate wie die Reality-TVSendung »RuPaul’s Drag Race« und deren diverse Ableger haben die Kunstform seit den 2010er-Jahren verstärkt im Mainstream untergebracht. Popstar Lady Gaga nahm auf der internationalen Bühne der MTV M usic Awards 2011 ihre Preise als ihr Drag-King-Alter-Ego entgegen und der Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest ist auch schon fast wieder ein Jahrzehnt her.
In den USA schuf die Autorin und Aktivistin Michelle Tea 2015 die »Drag Queen Story Hour« (mittlerweile inklusiver »Drag Story Hour«), bei der Drag-Performer*innen in Büchereien, Schulen und Buchhandlungen für Kinder aus altersgerechten Büchern vorlesen. Diese Kombination ist für sich genommen nicht überraschend, verbindet sie doch eine Begeisterung von Kindern für Kostümierungen und gute Geschichten mit der Möglichkeit, Kinder mit queeren Identitäten und Lebensweisen vertraut zu machen und spielerisch für Toleranz und Respekt zu sensibilisieren.
Während die »Drag Story Hour« schnell an Popularität gewann und auch in anderen Ländern adaptiert wurde, regte sich in den USA zunehmend organisierter Protest gegen das Veranstaltungsformat. Die Einschüchterung von Eltern und Kindern bei einer DragLesung in Kalifornien, ein Brandanschlag auf einen Veranstaltungsort in Oklahoma und die Stürmung einer »Drag Story Hour« durch eine Gruppe bewaffneter rechter männlicher Aktivisten in Nevada bilden nur einen Teil der Angriffe ab. Auf die parteipoli-
»Seit ungefähr eineinhalb Jahren haben die Identitären ein neues Thema für sich entdeckt: LGBTQIA*-Rechte. Insbesondere gibt es einen Fokus auf das wehrlose, beschützenswerte, unschuldige Kind, das hier vermeintlich ›frühsexualisiert‹ würde.«
— Judith Goetz, Rechtsextremismusexpertin
Madame Léa
Ich denke, dass Drag-Personen und auch trans Menschen an einer exponierten Position in der queeren Community stehen. Wir sind alles, was für manche verboten und ungewohnt ist. Deshalb hassen uns die Rechtsextremen. Wir zeigen eine Seite der menschlichen Natur, von der sie nicht wollen, dass sie gezeigt wird. Drag vermittelt Licht und Freude, Kampf für und Wissen über unsere Gemeinschaft. Rechtsextreme wollen uns zum Schweigen bringen. Sie wollen die Kontrolle haben, ein System und einen Status quo aufrechterhalten, auch wenn dies für andere schädlich ist. Kinder sind ihnen egal. Sie wollen eine Politik beibehalten, die auf Rassismus, Homophobie und Transphobie basiert. Drag als Mittel der Kunst und Kultur kann das aber ändern und ändert es bereits. Beispielsweise ist meine Drag-Persona, Madame Léa, eine Hommage an schwarze Frauen und eine Botschaft an alle BIPoC, trans Menschen und Migrant*innen, die zum Ausdruck bringt, dass alles möglich ist. Sie ist eine Diva, die den Stil und das Lebensgefühl Brasiliens und Südamerikas repräsentiert, eben auch eine Night-ClubDiva, eine Schauspielerin, eine Tänzerin. Sie ist alles, was für mich vorstellbar ist.
tische Tagesordnung hat es das Thema überdies geschafft: Ron DeSantis, der Gouverneur Floridas und republikanische Präsidentschaftsanwärter in spe, ließ etwa verlauten, es sollte untersucht werden, ob Eltern, die ihre Kinder zu Drag-Veranstaltungen mitnehmen, nicht wegen Kindesmissbrauchs belangt werden könnten.
Recycelte Queer-Feindlichkeit
Ein Schlagwort, das in diesem Zusammenhang häufig fällt, ist »Grooming«, also Minderjährige durch scheinbar freundschaftlichen Kontakt und emotionale Manipulation auf einen folgenden Missbrauch vorzubereiten. Die Unterstellung gegenüber Drag-
Lesungen: Erwachsene Menschen würden sich an einer Umerziehung von Kindern versuchen – eine Argumentation, die nahtlos an homophobe Kampagnen aus den späten 1970er-Jahren anschließt. Damals fantasierten christliche Fundamentalist*innen in den USA, Schwule und Lesben hätten den Nachteil, sich nicht fortpflanzen zu können, und seien daher darauf angewiesen, Kinder anzuwerben. So ist auch die Rede davon, Kinder trans »machen zu wollen«. Die Unterscheidung von Drag als Kunstform und trans Identitäten als Lebensrealität entfällt in der Regel vollständig. Heute wie damals werden queere Menschen unter den Generalverdacht der Pädophilie gestellt.
In Österreich sind die sogenannte Identitäre Bewegung (der Begriff »Bewegung« ist insofern irreführend, da es sich zahlenmäßig um eine stets recht kleine Gruppe handelte) und deren Folgeorganisationen maßgeblich daran beteiligt, das Thema Drag-Lesungen für Kinder auf die politische Agenda zu bringen. Wurde der rechtsextremen Gruppierung vor allem um 2015 herum mediale Aufmerksamkeit zuteil, hatte sie danach zunehmend Schwierigkeiten, öffentliche Sichtbarkeit zu generieren. Das hing laut Judith Goetz, Literatur- und Politikwissenschaftlerin, Genderforscherin und Rechtsextremismusexpertin, unter anderem damit zusammen, dass sie vergeschlecht-
liche Gewalt zu ihrem zentralen Thema erklärt hatte, sich dabei jedoch auf Angstnarrative um Übergriffe auf Frauen durch migr antisierte Männer beschränkte. Goetz zufolge durchschaute die Bevölkerung diese rassistische Instrumentalisierung, da sich die Identitären zu anderen Anlässen, bei denen es um sexualisierte Gewalt ging, auffällig still verhielten.
Zudem erfuhr die Gruppierung einen Backlash, nachdem Verbindungen zum Täter des anti-muslimischen Terroranschlags von Christchurch, Neuseeland, publik wurden. Der Attentäter, der bei seiner Tat mehr als 50 Menschen tötete, stand nicht nur in einem ideologischen Naheverhältnis zu den Identitären, sondern hatte auch deren
Finn
Als ich mit Drag begann, war ich mir meiner eigenen Trans-Identität noch nicht wirklich bewusst. Zuerst hat es auf mich sogar abschreckend gewirkt, wie stark ich auf das KingSein reagiert habe. Ich wusste nicht ganz, wie ich meine Emotionen einordnen sollte. Das legte sich jedoch schnell und es wurde recht bald ein Spielplatz für meine Maskulinität. Inzwischen ist mein Drag so genderqueer wie ich. Mit dem Einzug in den Mainstream und der inzwischen für alternative Life- und Artstyles offeneren Welt ist auch Drag heutzutage vielfältiger und diverser – mit einer Vielzahl von Artists, die sich in verschiedenen Kunstformen ausbreiten. Dies kann nach wie vor sehr politisch und aktivistisch sein und ist es für mich persönlich auch. Die fehlende Aufmerksamkeit für Kings ist aber mühselig und am Ende einfach der verlängerte Arm einer patriarchalen Gesellschaft, in der FLINTA*Personen um Gehör und Bühnen kämpfen müssen. Dieser Arm reicht bis in unsere Community. Wenn wir es als rechtens empfinden, dass cis Männer als Gallionsfiguren der LGBTQIA*-Community existieren, ohne dass wir das hinterfragen, dann reproduzieren wir den gelebten Alltag, in dem der (weiße) cis Mann die Hauptrolle spielt. Ich denke, wir sollten diese Strukturen, die wir so gerne an unseren heterosexuellen Allys kritisieren, auch in unserer eigenen Community hinterfragen und gemeinsam Raum schaffen für Bühnen, auf denen sich wirklich alle gesehen und gehört fühlen.
Obmann Martin Seller eine größere Geldspende überwiesen. Zuletzt versuchte die Gruppe unter dem Namen Die Österreicher mit feindlicher Rhetorik gegen queere Menschen ein Comeback.
Rechte Protestallianzen
»Seit ungefähr eineinhalb Jahren haben sie ein neues Thema für sich entdeckt: LGBTQIA*-Rechte«, erklärt Goetz. »Das hat schlichtweg damit zu tun, dass es bislang noch wenig gesellschaftliche Debatte rund um diese Themen gegeben hat, sodass sich hier Diskursräume eröffnen, die noch nicht so stark von anderen politischen Akteur*innen besetzt sind. Insbesondere mit dem Fokus auf das wehrlose, beschützenswerte, unschuldige
Kind, das hier vermeintlich ›frühsexualisiert‹ würde, wird eine Argumentationsstrategie gewählt, die in breiten gesellschaftlichen Kreisen anschlussfähig ist«.
Der Protest gegen die Drag-Lesung Mitte April fungierte dabei als gemeinsames Mobilisierungsmoment von unterschiedlichen politischen Akteur*innen. Für ihr en Protest wurden die Identitären nicht nur von Corona-MaßnahmenGegner*innen, sondern auch v on chris tlichen Fundamentalist*innen unterstützt. Während die American Civil Liberties Union (ACLU) fürs Jahr 2023 bereits fast 500 Anti-LGBTQIA*-Gesetzesvorlagen zählt, die in den Parlamenten diverser US-Bundesstaaten eingebracht wurden, beteiligen
Lady Nutjob
Wenn Drag-Personen mit Kindern zusammenarbeiten, zielt das auf keinen Fall darauf ab, Kindern gewisse Inhalte vorzukauen. Schon gar nicht, eine Wahl vorwegzunehmen. Im Gegenteil: Die Geschichten und Erzählungen über Selbstbestimmung und ein wohlwollendes Miteinander ermutigen sie zum eigenen Nachdenken und Fühlen. Sie erklären den Kindern, dass sie selbst das Ruder in der Hand haben, dass sie entscheiden können, wer sie sind und wie sie leben möchten, und dass dies für alle Mitmenschen etwas Schönes und Bereicherndes ist. Und so ist es auch mit meiner Drag-Persona, Lady Nutjob. Sie ist eine Ikone der Schamlosigkeit, ein Sinnbild für die Schönheit des Imperfekten und der Gegenentwurf zur Leistungsgesellschaft. Sie zelebriert ihre »Fehler«, wandelt ihre Makel in neue Formen der zügellosen Freude um und erhebt sich als Ermutigung, den Beschämungen und dem oppressiven Druck der Femininität den Mittelfinger zu zeigen. Da ich als nicht-binäre Person weder innerlich noch äußerlich in vorgegebene Geschlechtsnormen falle, bot Drag mir die Möglichkeit, vieles in der Übersteigerung auszuprobieren und zu fühlen, bis es sich dann auch in meinem Alltag stimmig zusammensetzte.
sich hierzulande FPÖ und ÖVP unter dem Vorwand des »Kinderschutzes« an diesem queer-feindlichen Anliegen und setzten das Thema in einer Sondersitzung des Wiener Landtags auf die politische Tagesordnung.
Jegliche Argumentationen, die von »Grooming« oder »Frühsexualisierung« ausgehen, zeugen von einem grundsätzlichen Missverstehen dessen, was eine »Drag Story Hour« vermitteln kann und wie sich menschliche Geschlechts- und Sexualidentität bilden. »Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise darauf, dass Kinder homosexuell, trans oder queer werden, wenn sie etwas über diese Themen lernen«, erklärt Petra Birchbauer, Psychologin und Vorsitzende im Bundesverband Österreichischer Kinderschutzzentren
»Fakt ist, dass ich in den vier Jahren, in denen ich nun schon Kinderbücher in Drag lese, noch kein einziges Kind erlebt hätte, das sich langweilt oder fürchtet.«
— Jupiter Braun aka Lady NutjobDaniel Hill
Freya van Kant
Drag-Personen waren schon immer auffällig. Ich selbst habe immer bewundert, wie stolz und aufrecht sie sich Anfeindungen entgegenstellen und für die Freiheit von Leuten wie mir kämpfen. Wie man in den letzten Monaten und Jahren gesehen hat, sind Drag-Personen noch immer die sichtbarsten Zielscheiben für Anfeindungen von rechter, religiöser und konservativer Seite. Vielleicht, weil sie Alternativen zu etablierten, patriarchalen und heteronormativen Machtstrukturen aufzeigen und durch die befähigende Wirkung von Performances diese althergebrachten Raster ins Wanken bringen. Daher sind Drag-Lesungen für mich oft emotional besetzt. Im Vordergrund steht immer das Ziel, jungen Menschen eine gute und im besten Fall empowernde Zeit zu bieten. Mich selbst haben Geschichten aller Art geprägt, aber über Menschen wie mich habe ich selten gelesen. In meinem Dayjob arbeite ich als Pädagog*in, und gerade auch wegen meiner eigenen Biografie ist es mir wichtig, dass junge Menschen selbstbewusst ihren eigenen Lebensweg bestimmen, ihren ganz eigenen Platz in der Welt finden und einnehmen können. Freya ist daher auch eine Mischung aus vielen Dingen, zu denen sich mein queeres Ich hingezogen fühlt: eine gewisse Schrägheit, Lebensfreude, eine Prise Verspieltheit, der Wille zu überraschen, Unangepasstheit, durch und durch das Leben in all seinen Facetten feiernd.
in der Tageszeitung Der Standard. »Was aber sehr wohl geprägt wird, ist unsere Haltung: Wenn Kinder etwa Diversität früh kennenlernen, fällt es ihnen leichter, diese einzuordnen. Das macht keine Angst, sondern nimmt sie.«
Ähnlich argumentiert auch Jupiter Braun hinsichtlich des pädagogischen Werts von Drag-Lesungen für Kinder: »Sie werden nicht nur mit der großen Bandbreite konfrontiert, die das Leben, ihr Alltag beinhaltet, und den vielen Vorteilen, die Diversität und Unterschiede bringen können, sondern sie werden auch dazu ermutigt, für sich selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen. Sie lernen Werkzeuge kennen, wie sie ihrer Selbstbestimmung Ausdruck verleihen können. Fakt
ist, dass ich in den vier Jahren, in denen ich nun schon Kinderbücher in Drag lese, noch kein einziges Kind erlebt hätte, das sich langweilt oder fürchtet. Und das spricht ja schon mal sehr für solche Kinderbuchlesungen.«
Ein Protestzug kommt bei der Drag-Lesung im September 2019 vor dem Weltmuseum dann tatsächlich auch noch vorbei. Die Demo gegen eine Neuauflage von Türkis-Blau zieht eine Woche vor den Nationalratswahlen durch die Stadt. Die Lesung setzt Jupiter Braun unbeirrt fort und lässt die Kinder ein letztes Buch aussuchen. In »Der Junge im Rock« geht es darum, dass der junge Felix im Kindergarten gehänselt wird, weil er gerne Röcke trägt. Aus Sicht der anderen Kinder seien Röcke schließlich »Mädchensachen«. Unaufgeregt ermutigt das Buch, Konventionen zu hinterfragen und andere Menschen so anzunehmen, wie sie sind. »Im Rock kann ich viel besser springen und klettern. Nichts stört und zwickt an meinen Beinen«, erklärt Felix in der Geschichte, »es muss doch egal sein, was ich anziehe, wenn es mir gefällt.«
Oliver Maus (Story), Daniel Hill (Porträts)
In der Türkis Rosa Lila Villa wird auch DragUnterhaltung für Erwachsene veranstaltet, zum Beispiel ein »Queens Brunch« jeden Samstag. Die nächste »Drag Story Time« mit Freya van Kant findet am 4. Juni in der Villa Vida statt.
»Drag-Personen sind noch immer die sichtbarsten Zielscheiben für Anfeindungen von rechter, religiöser und konservativer Seite.«
— Freya van Kant
Zeitgenössische Kunst im angemessenen Rahmen
Jenseits von Gut und Böse Adi Nes »Cain & Abel«
In einer Ausstellung des Jüdischen Museums Wien zum Thema »Schuld« hängt eine Fotografie, die die Schuldfrage in ihrer Komplexität aufgreift und den Begriff aus der Abstraktion ins Konkrete holt. ———— Wir sehen zwei Körper in völliger Anspannung. Der eine gestreckt, den Oberkörper geöffnet, den Arm zum Schlag ausgeholt, sein Gewicht lastend. Der andere gebeugt, die Arme und Beine schützend vor seinen Körper gezogen, liegend, aber nach oben drängend. Es ist ein Kampf ohne Waffen, Körper gegen Körper. Ein Knie, das seinen Gegner niederdrückt; ein Fuß, der sich gegen das Knie stemmt. Verzerrte Gesichter, austretende Adern, Haut auf Haut. Wer die beiden Kämpfenden sind, erschließt sich aus dem Bild alleine nicht. Sie tragen weder Uniformen noch sind sie anders zu erkennen gegeben. Auch Anlass und Kontext des Konflikts bleiben ohne Erklärung. Die Umgebung: anonym und verfallen. An der Rückwand bröckelt der Putz ab, die Stufen sind von wild wachsenden Gräsern und Schutt überdeckt. Nur die steinernen Fliesen des Bodens, auf dem die beiden Männer kämpfen, sind frei von Unrat. Ein Außenraum wohl, auch wenn der Abschluss im Hintergrund die Szene beengt. Die Stufen führen nirgendwohin. Insgesamt dominiert eine archaische Rohheit das Bild.
Der Bildtitel gibt Auskunft über die beiden: Kain und Abel heißen sie. In der Erzählung bringt Kain seinen Bruder Abel um, nachdem Gott Kains Opfer verschmäht hat, jenes von Abel aber nicht. Ein Mord aus Eifersucht. Und ein provozierter Mord: wieso die Gnadenlosigkeit Gottes? Gott belegt Kain nach dem Mord mit einem Fluch und dem Kainsmal. Seine Arbeit soll von nun an ohne Früchte bleiben – die Erde, die ihn nähren soll, wird ihn nicht mehr ertragen. Doch soll niemand die Sünde, die er an seinem Bruder begangen hat, an ihm wiederholen – deshalb das Kainsmal, das ihn schützt. Die Geschichte lässt sich vielfältig lesen. Psychologisch, als Familiendrama. Metaphysisch, als Parabel auf die Ungerechtigkeit der Welt. Sogar menschheitsgeschichtlich, als Sieg der Städter über die Jäger. Denn Kain wird später die erste Stadt gründen, in der sich dann Handwerk, Arbeitsteilung und Kultur entwickeln – unsere Welt. Die Mehrdeutigkeit der Geschichte überträgt sich auch auf das Foto von Adi Nes: Tätowiert ist der, der am Boden liegt. Und wie ist die ästhetische und teilweise homoerotische Note des Bildes mit der dargestellten Gewalttat zu vereinbaren?
Adi Nes holt die Erzählung in die Gegenwart. Die Kleidung zeichnet die Männer als unsere Zeitgenossen aus. Die nahe Perspektive, die Bewegungsunschärfe der Aufnahme, die Momenthaftigkeit der verkrampften Muskeln, der Dreck des Hintergrunds ziehen die Szene aus dem Mythologischen in die Realität. Der literarische Stoff wird greifbar gemacht und zu einer Angelegenheit von Staub und Schweiß.
Victor Cos OrtegaAdi Nes, geboren 1966 in Kirjat Gat, ist ein israelischer Fotograf. Seine Fotografien sind in der Regel inszeniert und beziehen sich in ihren Sujets und Kompositionen auf Vorbilder der Kunstgeschichte und religiöse Stoffe, stellen aber häufig Bezüge zum zeitgenössischen politischen und kulturellen Geschehen her. Die Ausstellung »Schuld« mit Adi Nes’ »Cain & Abel« ist bis 29. Oktober im Jüdischen Museum Wien am Standort Judenplatz zu sehen.
Intime Begegnungen in ephemeren Filmen Katharina Müller über queere visuelle Geschichte und Kultur
Bei queerer (Re-)Präsentation gehe es darum, Möglichkeitsräume zu schaffen, so Katharina Müller.
Den Darstellungen queerer Lebensformen in Österreich widmet sich Katharina Müller mit ihrem Projekt »Visual History of LGBTIQ+ in Austria and Beyond«. Die Wissenschaftlerin erzählt im Interview, was diese Darstellungen ausmacht und warum sie für das Leben queerer Menschen so essenziell sind.
Was ist für dich alles Teil einer queeren visuellen Geschichte?
Die Darstellungen queerer Personen sind oft Fremddarstellungen. Mich haben daher Bilder von queeren Menschen interessiert, die Selbstdokumentationen sind. Gerade in Österreich ist das spannend, da es hier bis 1996 eines der res-
triktivsten anti-queeren Gesetze gab – ein Werbe- und Vereinsverbot. Sprich: Bis dahin sah man im Kino, im TV und in sonstigen Medien offiziell kaum Darstellungen von Queerness, und wenn, dann waren diese diskriminierend bzw. haben Stereotype reproduziert. Bereits vor einigen Jahren habe ich mich auf die Suche nach anderen Bildern gemacht und bin im Filmmuseum auf die Filme des Tänzers und Schauspielers Franz Mulec gestoßen. Er drehte über 60 Filme und wollte alternative queere Bilder schaffen. In der Folge habe ich (trans-)national in verschiedenen Archiven gesucht und bei Bekannten nachgefragt – und mehrere Tausend Minuten Material entdeckt. Die Frage ist, wie man da-
mit umgeht, denn queere Geschichte existiert immer in einer Sphäre von (Un-)Sichtbarkeit. Visualität hat viel mit Vorstellungskraft zu tun. Als Queerness sichtbar wurde, wurde sie zunächst vonseiten der Medizin, Psychiatrie und Polizei durchforstet und registriert. Dieser Blick ist ein pathologisierender, einer der Alterisierung. Ich suche Bilder mit einem queeren Point of View.
Der Fokus deiner Forschung liegt auf privaten Filmen und Homemovies.
Für mich sind das vielfach keine »privaten« Filme. Das Private ist politisch. Wir reden von Filmen aus einer Verbotszeit. Ich bezeichne diese Filme als ephemer; sie wur-
den nicht industriell hergestellt und stehen nicht mit künstlerischer Verwertung in Zusammenhang. Es sind total unterschiedliche Filme – von Homemovies, Reisefilmen bis hin zu aktivistischen Filmen oder Pornos ist alles dabei. Was diese Filme eint: Sie wurden nicht für eine breite Sichtbarkeit gemacht. Sie thematisieren intime Begegnungen und es spiegeln sich in ihnen oft die bestehende Gefahr der Sichtbarkeit und deren Risiken wider; etwa in Aufnahmen aus einem Fetischklub, wo nur von den Schultern abwärts gefilmt wurde, oder in der deutlich wahrnehmbaren Verlegenheit der Kamerafrau* bei einem Lesbenfest.
Aus welchem Zeitraum stammen die Filme?
Ich habe Filme und Videos zwischen 1900 und 2010 gesucht. Die Nullerjahre markieren unter anderem das Aufkommen von Internet und eine Neuverteilung von Raum und Bildern. Bei den Filmen stellt sich die Frage, für wen wann etwas überhaupt als queer lesbar wird und wie man mit dieser Lesbarkeit umgeht. Gerade erleben wir einen Moment des Backlash, daher muss man sich fragen, wie man mit den Filmen umgeht, wo Sichtbarkeit sinnvoll ist bzw. wo sie mit einem stark erhöh-
ten Risiko von Verletzbarkeit einhergeht. Eine Herausforderung ist auch das Material selbst: Ein Teil der Filmrollen hat sich bereits zersetzt – manchmal zensiert sich das Material also selbst. Queerness teilt mit dem Ephemeren eine Geschichte des Verlusts.
Queerness lässt sich auch als politische Praxis verstehen, die sich gängigen Narrativen widersetzt. Inwiefern zeigt sich das im Material?
Queerness hat für mich eine identitätszersetzende Kraft. Die Filme, die ich für meine Forschung sichte, sind oft Amateur*innenfilme. Von Leuten, die einfach mal mitgefilmt oder gezielt dokumentiert haben. Oft wissen wir gar nicht, wer diese Filme genau gemacht hat oder warum. Wir kennen vielleicht nur die Orte. Manchmal wurde die Kamera weitergereicht, etwa auf Demos. Die Frage ist, wie man diese Filme zu Objekten queerer Geschichte(n) machen kann, ohne wen »auszustellen« oder »vorzuführen«. Ein Beispiel: Es gibt eine bestimmte normative Erwartungshaltung, wenn man von privaten queeren Filmen spricht. Wir haben vielleicht das Bild von bunten, crazy Personen, die in verrückten Outfits tanzen, vor Augen. Die
gibt’s freilich auch, aber eben nicht nur. Einmal bekam meine Kollegin einen Anruf, dass Filme gefunden wurden mit der Notiz, dass diese von einer schwulen Person stammen. Wir sichteten die Filme und merkten: Es waren ganz gewöhnliche Reisefilme. Urfad. Bilder aus dem Flugzeug und vom Grand Canyon – auch das ist, in seiner vollkommenen Unspektakularität, ein queerer Point of View. Wie einfach ist der Zugang zu diesen Filmen? Zugang zu queeren Archiven zu bekommen, hat viel mit Vertrauensbildung zu tun – mit Verantwortung. Wie kann man Zugang herstellen und zugleich einen missbräuchlichen Zugriff vermeiden? Bei meinem Projekt geht es um Videos, die reale Personen zeigen, die eventuell nicht einmal wussten, dass gefilmt wurde. Diese Menschen wollten nicht in einer Datenbank landen oder auf Social Media, das es noch nicht gab. Auf eine Datenbank werde ich verzichten, aber es muss Transparenz geben. Mir ist wichtig, für eine queere und trans Community einen Zugang herzustellen, aber eher im analogen Raum. Es wird auch eine digitale Plattform geben mit Spuren aus Filmen, deren Macher*innen es erlauben, oder vielleicht mit Filmen, die so zerschlissen
»Queerness teilt mit dem ephemeren Film eine Geschichte des Verlusts.«
— Katharina Müller
sind, dass man keine Personen mehr erkennen kann. Die Entscheidung darüber ist aber eine kollektive. Das ist eine Frage von Care-Arbeit. Am Ende des Projekts wird es eine Liste von Archiven geben, wo bestimmte Filme zu finden sind. Wer dort Einsicht nehmen kann, das liegt in deren Verantwortung. Archivkulturen sind sehr unterschiedlich. Es geht mir darum, Begegnungen herzustellen und nicht Voyeurismus zu forcieren.
Welche Probleme ergeben sich hinsichtlich der Vermittlung?
Im Zusammenhang mit Filmen von Amateur*innen ist oft von »Ego-Dokumenten« die Rede. Den Begriff hinterfrage ich stark. Vom Ego-Problem mal abgesehen: Dokumente sind immer eine Fixierung – das ist im Zusammenhang mit einer queeren Geschichte problematisch. In der Vermittlung ziele ich darauf ab, dass diese Filme historische Räume eröffnen. In der Begegnung mit diesen Filmen begegnest du Personen – und das auf eine intime Art und Weise. Daher ist es wichtig, je nach Film zu entscheiden, wie man damit umgeht. Ein Film von einer Lesbenparty, der Nacktheit aufweist, verlangt nach einem anderen Ansatz als einer, der im Zuge einer queeren Kampagne entstanden ist. Letztlich ist auch das eine Entscheidung, die gemeinsam mit den Archiven zu treffen ist. Danach kann alles passieren: von der Ausstellung der Filme bis hin zur Geheimhaltung. Etwas geheim halten heißt ja nicht, dass man keine Geschichte dazu erzählen kann.
Selbstdokumentation ist ein wichtiger Begriff in deiner Arbeit. »Darf« demnach queere Geschichte nur von queeren Personen geschrieben werden oder siehst du Queerness als etwas, das man per se in die Gesellschaft tragen kann?
Diesen Begriff der Selbstdokumentation habe ich klar in Abgrenzung zur Fremddarstellung verwendet. Queerness ist idealerweise selbstdefiniert. Die Frage ist: Wo wird Alterisierung hergestellt? Wie kann man diese patriarchalen Blickstrukturen infrage stellen? Es gibt ja diese Idee der repräsentationalen Gerechtigkeit, die aber tendenziell dazu führt, dass sie einen cis patriarchalen Blick verstärkt. Ich finde Allys ganz wichtig. Du musst natürlich nicht queer sein, um queere Geschichte rezipieren zu »dürfen«. Es geht eher darum, wie man die Bekräftigung dieses cis hetero patriarchalen Blickes auf queere Personen vermeidet.
Welche Beispiele für queere visuelle Kultur fallen dir ein?
Da muss ich lokal an ganz viele Namen denken, etwa an Katrina Daschner, Sabine Schwaighofer, Rafal Morusiewicz, Lukas Gritzner, alle Dragqueens der Erde, Elena Wolff, Katharina Aigner, Laura Nitsch, Mario Kiesenhofer, die ganze Filmfestivalszene vom leider nicht mehr existierenden Identities über Queertactics oder das Transition International Queer & Minorities Film Festival bis hin zum Porn Film Festival. Aber auch im Bereich Theater und Performance passiert viel: die
Da die Filme zumeist nicht für eine breite Sichtbarkeit gemacht wurden, ist Katharina Müller ein sensibler Umgang damit wichtig.
fantastische Denice Bourbon mit PCCC* oder die »Sodom Vienna Revue« und vieles mehr.
Inwiefern ist queere visuelle Kultur im Mainstream angekommen? Hat dies Vor-, aber auch Nachteile?
Formen von Sichtbarkeit und Subversion werden immer wieder vom Mainstream gekapert, von einem kapitalistischen System, das zur Einverleibung aller Dissident*innen neigt. Für mich ist »queer« das, was sich dem entzieht. Es taucht auf, wird spürbar und verschwindet dann wieder. Queerness lässt sich nicht vereinnahmen, sondern bahnt sich stets einen Weg. Auch im Mainstream – je nachdem, wer ihn liest.
Welche Auswirkungen hat queere visuelle Kultur auf das Leben queerer Menschen?
Queere visuelle Kultur ist wichtig, denn es geht um Möglichkeitsräume. Wer in Österreich etwa in den 60ern am Land aufwuchs, fand seine gefühlte »Andersartigkeit« medial und auch sonst kaum positiv gespiegelt. Dir fehlten Vorbilder und Möglichkeitsräume. Das war für viele Menschen eine tiefe existenzielle Verunsicherung. Du hast keine Wörter und Bilder für deine Identität oder dein Begehren. Queere visuelle Kultur schafft diese Räume.
Barbara FohringerDas Projekt »Visual History of LGBTIQ+ in Austria and Beyond« ist am Filmmuseum Wien und an der Kunstuniversität Linz angesiedelt. Weitere Informationen dazu gibt es unter »Forschungsprojekte« auf www.filmmuseum.at.
AB 16. JUNI IM KINO
STX FILMS PRÄSENTIERT EINE PROJECT X ENTERTAINMENT PRODUKTION EINE GRACIAS UNIWERSO PRODUKTION IN ZUSAMMENARBEIT MIT BONDIT MEDIA CAPITAL „BED REST” MELISSA BARRERA GUY BURNET MUSIK CHRIS FORSGREN KOMPONIST BRIAN TYLER KOSTÜME HEATHER NEALE SCHNITT LIZ CALANDRELLO AUSSTATTUNG MARIAN WIHAK KAMERA JEAN PHILIPPE BERNIER KOPRODUZENTIN RHONDA BAKER AUSFÜHRENDE PRODUZENTEN RON LYNCH MATTHEW HELDERMAN LUKE TAYLOR CHRIS SPARLING ALI JAZAYERI DAVID GENDRON ROBERT SIMONDS ADAM FOGELSON SAMUEL J. BROWN PRODUZENTEN WILLIAM SHERAK JAMES VANDERBILT PAUL NEINSTEIN MELISSA BARRERA LORI EVANS TAYLOR DREHBUCH UND REGIE LORI EVANS TAYLOR
Wenn Feiern zur Protestform wird Queere Partys zwischen Safe Spaces und Sichtbarkeit
Queere Partys sind nie unpolitisch. Sich als marginalisierte Gruppe Raum zu nehmen, sichtbar zu werden, ist immer ein Akt des Protests – und daher auch mit Risiken verbunden. Welchen Zweck erfüllen queere Partys im politischen Kontext? Wie greifen Repräsentation und Safe Spaces ineinander und welche Bedeutung kommt dem Stolz-Sein zu? ———— Die Pride ist die größte jährlich stattfindende Demonstration in Österreich. Seit 1996 ziehen jeden Juni Hunderttausende Menschen den Wiener Ring entlang. Die Regenbogenparade will auf queere Existenzen und Realitäten aufmerksam machen und queeres Leben feiern. Dabei wird die Bandbreite von Queerness für eine größere Öffentlichkeit sichtbar. Das sieht dann so vielschichtig aus, wie die queere Community selbst, und hat der Pride Parade ihr Image als quietschbunte Party der Vielfalt eingebracht. Manchmal droht daher die politische Ebene in den Hintergrund zu rücken: Die Pride sei doch nur ein weiterer Anlass, sich mal wieder so richtig gehen zu lassen.
Dabei wird jedoch vergessen, dass sich selbst zu feiern nicht für alle Menschen bedeutungsleeres Spaßhaben ist. Feiern steht in der queeren Community in einem politischen Kontext. Clubs, Nachtlokale und Pubs
sind seit jeher ein wichtiger Vernetzungsort für queere Menschen. Selbst die oft als Gründungsmoment der modernen Queer-RightsBewegung bezeichneten Stonewall Riots sind nach einer – vorwiegend queeren – Bar benannt: dem Stonewall Inn in der Christoper Street in New York. Aber wie steht es abseits der Pride um die queere Partyszene in Wien? Welche Rolle spielt queere Clubkultur im Kampf für mehr queere Rechte und was hat all das mit Stolz zu tun?
Clubszene als Zufluchtsort
Clubs waren immer schon Orte, an denen Subkulturen entstanden sind, wo subversive neue Ideen aufblühen konnten und progressive Gesellschaftsentwürfe ihren Ursprung nahmen.
Für die queere Community können Clubräume außerdem eine Art Zufluchtsort darstellen. Einige DJ-Kollektive in Wien konzentrieren sich deshalb darauf, Konzepte zu entwickeln, um sicheres Feiern für LGBTQIA*-Personen zu ermöglichen. So zum Beispiel das TechnoKollektiv Ärger, zu dem unter anderem Jakob aka DJ Afro Ninja, Susanne aka DJ Schande und Esti aka Esti.d gehören.
Durch Awareness-Teams und Gespräche mit allen Besucher*innen vor Betreten des Clubs sollen Partys zu einem Safe Space für queere Menschen werden. Genauer gesagt zu einem Safer Space, denn das Kollektiv ist sich bewusst, dass es keine vollkommen sicheren Räume geben und immer etwas passieren kann. Ziel sei es daher nicht eine strikte Selektion
der Besucher*innen vorzunehmen, sondern vielmehr auf gewisse Problematiken aufmerksam zu machen und so ein Umfeld zu schaffen, in dem Solidarität, respektvoller Umgang und Achtsamkeit herrschen. Jakob: »Es geht auch nicht darum, dass unser Team die ganze Party reglementiert, sondern eigentlich sollte jede teilhabende Person zu diesem Safer Space beitragen. Unser Team ist eine Anlaufstelle, wenn etwas Konkretes oder Schwierigeres passiert.«
Was beim Kollektiv Ärger Safer Space heißt, nennen Gi und Filipa Soft Space. Als DJ-Kollek-
Ausstellungen täglich: 11–21Uhr
dertprozentig entspannen. Es ist immer ein grundsätzlicher Alarm angeschaltet«, sagt Susanne vom Kollektiv Ärger.
Ständige Alarmbereitschaft, immer auf der Hut zu sein vor potenziell gefährlichen Situationen, ist enorm kräftezehrend. Vor diesem Hintergrund wird Entspannung zum Luxus und damit zum Privileg. »Rest is resistance«, bringt Filipa vom Kollektiv Acht Brüste dieses Konzept auf den Punkt. »Es braucht Orte, an denen man sich von dieser Angst entkoppeln kann. Das ermöglichen queere
Programm und Information angewandtefestival.at
Das Kollektiv Ärger
Erst durch die Anwesenheit von queeren Menschen in allen Teilen des gesellschaftlichen Lebens können Vorurteile und Mythen abgebaut werden. Gi vom Kollektiv Acht Brüste: »Sichtbarkeit ist so verdammt wichtig! Je mehr man gesehen wird, desto eher wird es normalisiert. Und es ist normal, deshalb muss es normalisiert werden.«
Damit breite Repräsentation möglich wird, braucht es aber zuerst Safe Spaces, in denen erste Gehversuche mit Sichtbarkeit stattfinden können. »Es stellt sich immer die Frage, was wir wie sichtbar machen wollen. Es gibt zu viele Strukturen, wegen denen queere Menschen es sich nicht leisten können, sichtbar zu sein. Deswegen sind wir sehr selektiv, was wir nach außen sichtbar machen und was nicht. Aber es ist natürlich wichtig, dass die Leute sehen: Okay, queer people exist!«, betont Esti vom Kollektiv Ärger.
»Wenn man sich mehr nach außen traut, statt versteckt im Club zu bleiben, ist man mehr exposed und dann entwickelt sich manchmal ein Kampf um Öffentlichkeit«, beschreibt Peter Pünktlich die Diskrepanz von Sicherheitsbedürfnis und Repräsentation.
Sichtbarkeit von queeren Lebensrealitäten ist auch notwendig, um Identifikationsprozesse zu erleichtern. Coming-out ist oft deshalb so schwierig, weil es kaum Vorbilder gibt. Aufklärung über Genderidentität und sexuelle Orientierung ist in Schullehrplänen leider nach wie vor Mangelware, weshalb Bewusstsein über die Vielfalt des Begriffs Queerness immer noch vor allem in der Community selbst vorhanden ist. Wer noch nie von Bisexualität oder nichtbinärer Geschlechtsidentität gehört hat, wird sich schwertun, diese an sich selbst zu erkennen.
In puncto Sichtbarkeit spielt die Pride als größtes LQBTQIA*-Event des Jahres eine wichtige Rolle: »Ich habe das für mein 15-jähriges Ich gemacht«, sagt Peter Pünktlich über die erste Pride Parade in seiner Heimatstadt St. Pölten, an deren Organisation er vor zwei Jahren mitgewirkt hat. »In St. Pölten hat es nie Vorbilder gegeben. Und zu sehen, wie lauter 13- und 14-jährige junge queere Kids auf die Pride Parade kommen, ihnen zu zeigen, dass wir an diesem einen Tag gemeinsam mit Stolz auf die Straße gehen und dass, wenn wer deppert ist, alle gemeinsam dagegenstehen, war sehr fulfilling. I cried a lot that day!«
Subversive Selbstakzeptanz
In queeren Safe Spaces geht es darum, sich frei von jeglichen gesellschaftlichen Zwängen ganz so zeigen zu können, wie man ist, und auch die vermeintlich fehlerhaften Seiten an sich selbst zu akzeptieren. In gewisser Weise stellt diese radikale Selbstakzeptanz bereits eine Subversion der Gesellschaft dar. Denn in unserer kapitalistisch-produktivitätsorientierten Welt ist kaum Platz, um über Gefühle nachzudenken, besonders nicht über schlechte, die womöglich auch noch unser Ego infrage stellen.
»Wir hassen es, falsch zu liegen, wir hassen es, Fehler zu machen. Ich glaube, Menschen schämen sich wahnsinnig dafür, nicht perfekt zu sein«, erläutert Gi. Doch wer internalisierte Phobien ablegen möchte, muss diese zunächst an sich selbst erkennen. Das bedeutet Selbstkritik, sich selbst eingestehen können, eben nicht perfekt zu sein. Ein schwieriger Prozess, den die queere Community von straighten Allys einfordert: »Der erste Schritt ist, den eigenen Platz in der Gesellschaft zu verstehen, wie die Struktur dich geleitet hat. Erst dann kannst du beginnen zu verstehen, wie andere Personen von der Struktur verletzt wurden«, erklärt Filipa die Rolle von Nicht-Betroffenen.
Die queere Community fordert aktive Allys. Sich mit queeren Menschen zu solidarisieren, nicht nur zuzuschauen, wenn man queerphobe Übergriffe mitbekommt, sondern aktiv einzuschreiten. »Wir stellen uns da hin und kämpfen um Awareness und zeigen uns, aber die Diskurse passieren ja nicht nur auf der Straße, sondern in den Freund*innenkreisen, in den Familien. Deswegen braucht man Allys, die unsere Kämpfe weitertragen und den Diskurs führen«, sagt Peter Pünktlich.
Zwischen Sichtbarkeit und Raumnahme entsteht politischer Kampf. Denn sich für etwas zu feiern, das die Gesellschaft immer noch als von der Norm abweichend, als andersartig begreift, ist in sich bereits ein politischer Akt. Genau jene Aspekte an sich zu feiern, die gesellschaftliche Normen einem absprechen, heißt, für sich selbst einzustehen, und das zeugt von Stolz. Remember: The first Pride was a riot! Helena Peter
COME AS
Das Kollektiv Ärger organisiert regelmäßig Veranstaltungen in wechselnden Club-Locations in Wien. Infos gibt’s durch Hörensagen oder auf Instagram unter @kollektiv.aerger. Wer die Hüften gern zu brasilianischem Funk schwingt, wird beim Kollektiv Acht Brüste fündig: @ achtbruste. DJ Peter Pünktlich (@peter.puenktlich) spielt seine Hyperpop-Sets auf diversen Partys. Zuverlässig anzutreffen ist er auf der zweiwöchentlich stattfindenden Eventreihe Rhinoplasty im Club U. Die diesjährige Wiener Regenbogenparade findet am 17. Juni statt. Natürlich am Ring.
27. Festival
14.–30.7.2023
Ivo Papasov & His Wedding Band | Corina Sîrghi și Taraful Jean Americanu Hannah James, Lylit & Désirée Saarela | A Filetta, Abdullah Miniawy & Peter Corser
Atine | Bia Ferreira | Zur Wachauerin extended plays Hank Williams
Nils Landgren & Johan Norberg | u.v.a.
COME AS YOU AS YOU ARE
»Schauspielerei ist die Kunst des Ehrlich-Seins« Thea Ehre im Interview zu »Bis ans Ende der Nacht«
Thea Ehre würde sich eine Welt wünschen, in der es keine Rolle mehr spielt, ob jemand trans ist oder nicht.
Die österreichische Schauspielerin Thea Ehre wurde im Februar als erste trans Frau bei der Berlinale für ihre schauspielerische Leistung ausgezeichnet. Warum das eine besondere Ehrung ist, und wie sie als trans Frau ihren Platz im Business gefunden hat, darüber spricht sie im Interview. ———— »Ich habe nicht damit gerechnet, ich muss mich noch fassen.« Mit diesen Worten empfang die österreichische Schauspielerin Thea Ehre Mitte Februar bei der Berlinale in Berlin den Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle. Dann dankte sie ihren Eltern, die ihr immer den Raum gegeben hätten, »die Person zu sein, die ich sein möchte«, sowie Regisseur Christoph Hochhäusler.
Für die gebürtige Welserin ist diese Auszeichnung gleich in zweifacher Hinsicht eine besondere Ehrung: Zum einen war »Bis ans Ende der Nacht« ihre erste große Kinorolle. Zum anderen ist Ehre trans und unterstreicht
mit ihrem Gewinn auch die inklusive Botschaft, die dieser nunmehr gender-unspezifische Silberner Bär für LGBTQIA*-Personen vermitteln möchte. Als trans Frau Leni, die – frisch aus dem Gefängnis entlassen – dafür eingespannt wird, Kontakt zu einem Drogenhändler aufzunehmen, ist Ehre demnächst auch in Österreich in den Kinos zu sehen.
Du hast bei der Preisverleihung in Berlin gesagt, die Rolle der Leni war eine große Ehre für dich. Wieso das?
thea ehre : Weil es die erste Kinorolle war, die ich jemals spielen durfte. Ich wollte das einfach so gut wie möglich machen und habe mich dann auch irgendwie in die Rolle verliebt. Die ist so schön erzählt, es war seitens Regie und Drehbuch so viel Interesse da, diesen sensiblen Stoff so gut wie möglich zu erzählen – also das Schicksal einer Person und nicht irgendwelche Stereotype. Es war
mir und Timocin Ziegler, der die Hauptfigur Robert spielt, auch wichtig, dass wir nicht versuchen, etwas vorzulügen. Wir sind beide davon überzeugt, dass Schauspielerei die Kunst des Ehrlich-Seins ist, wenn man den Stoff versteht.
Du hast in deiner Rede auch deinen Eltern gedankt. Welche Rolle haben die in deinem Selbstfindungsprozess gespielt?
Die haben eine riesengroße Rolle gespielt. Ich bin da sehr privilegiert. Es ist leider selten für queere Menschen, dass man zu Hause Support bekommt. Ich hatte das Glück, dass meine Eltern immer interessiert daran waren, dass ich glücklich bin. Ich habe schon im Kindesalter zu meiner Mama gesagt: »Du, ich glaube, ich werde irgendwann als Mädchen leben.« Und sie hat gesagt: »Ja, passt. Wenn du bereit bist, dann sind wir auch bereit.« Es war nie so, dass ich da auf Unverständnis ge-
stoßen wäre. Das ist etwas, was ich auf jeden Fall allen queeren Menschen wünsche. Daher war es gut, dass ich ihnen gedankt habe.
Du hast den Preis trans Frauen gewidmet, die in prekären und toxischen Verhältnissen leben. Was kann man tun, um zu helfen?
Das Allerwichtigste ist, einfach zuzuhören. Wenn man Menschen zuhört, schafft man Raum, um sich entwickeln zu können. Der Film zeigt eine Frau, die eben nicht so viel Glück hatte, die sich in einer missbräuchlichen Beziehung befindet, aus der sie auch selbst nicht wirklich rauskommt. Wer sich in einer toxischen Beziehung befindet, glaubt oft, dass sich die Person vielleicht doch noch zum Guten ändert. Wenn ich meine Rede noch einmal halten könnte, würde ich den Preis allen Frauen widmen – egal ob trans oder nicht trans. Der Film zeigt, dass man sich aus einer toxischen Beziehung befreien kann. Das ist unglaublich wichtig.
Das Faszinierende an deiner Figur ist auch, dass Leni sich sehr sicher ist, wer sie ist, im Gegensatz zu Robert. Meistens wird Trans-Sein in Filmen als diese einzige definierende Charaktereigenschaft gezeigt.
Das war das Schöne daran. Man kennt mittlerweile viele Filme und Serien, wo trans oder generell queere Geschichten erzählt werden. Aber das war das erste Mal für mich, dass es um eine Beziehung zwischen einem schwulen Mann und einer trans Frau geht. Meist ist es ein heterosexueller Mann, der sich in eine trans Frau verliebt und irgendwie damit nicht umgehen kann. Aber auch für Robert ist es schwierig mit seiner internalisierten Homophobie und Transphobie.
Du bist trans und spielst eine trans Frau. Ist diese konstante Bewusstmachung deiner Identität in unserer Gesellschaft noch notwendig? Oder möchtest du irgendwann auch davon wegkommen?
Ich will einfach interessante Menschen spielen. Ob die jetzt trans oder cis sind, das ist mir persönlich egal. Ich verstehe auch, dass Rollenbesetzung sich immer daran orientiert, wie jemand aussieht und wirkt. Aber es wäre doch schön in einer Welt zu leben, wo Geschlecht und Sexualität so fluide sind, dass es kein Thema ist, ob eine Frau trans ist oder nicht. Bei der Story im Film ist es natürlich ein wichtiger Punkt, dass Leni trans ist. Aber genauso könn-
te man Geschichten erzählen, in denen es kein Thema mehr ist. Und dann finde ich, sollte man Rollenpolitik auch öffnen. Wer spielt die Rolle am besten? Zu wem passt die Rolle am besten?
Du hast 2021 auch bei #actout teilgenommen, wo du mit Kolleg*innen auf die prekäre Situation von Künstler*innen hinweisen wolltest, wenn sich diese outen. Es gibt aber auch diejenigen, die sagen, dass das Coming-out symbolisch noch ein viel zu aufgeladener Moment ist.
etwas zu sagen, weil es sonst sein könnte, dass sie nicht mehr besetzt werden. Dann werden sie nicht mehr der neue »Tatort«Kommissar, weil es plötzlich nicht mehr passt. Deshalb war es so toll, dass die Aktion in so einer Wucht gekommen ist. Seitdem hat sich auch wirklich viel in der Filmwelt getan.
Du bist aktuell auf Amazon Prime in »Luden« und auf Canal+ in »Sexplanation« zu sehen.
Ich finde, dass ein Coming-out immer etwas Intimes ist. Man kann fragen: Ist es überhaupt noch notwendig? Bei mir war es notwendig, weil ich nicht mehr wollte, dass mich Menschen mit männlichen Pronomen ansprechen und mit einem Namen, den ich nicht mehr verwende. #actout war wichtig. Viele Schauspieler*innen haben einfach Angst,
»Luden« war mein erstes großes Set. Da war ich auch sehr aufgeregt. Da geht es um die Reeperbahn in den 80ern. Meine Rolle war eine trans Frau, und da haben wir von Amazon Prime auch viele Vorgaben bekommen, wie wir das erzählen können. »Sexplanation« ist ebefalls ein extrem schönes Projekt geworden. Es geht um Aufklärung. Es gibt den fiktiven Strang einer WG, wo die Akteur*innen ganz frisch zum WG-Casting kommen. Dabei entsteht ein Austausch – wie man zusammenlebt, wie man sich neu kennenlernt. Es geht um Beziehungen, um Liebe und um Sexualität, aber auch um sexuelle Identität und Geschlecht. Gleichzeitig gibt es immer einen Expert*innenstrang. Ich spiele beispielsweise eine trans Frau, und da gibt es dann Steffi Stankovic, eine Trans-Aktivistin aus Wien, die über ihre Erfahrungen spricht.
Susanne Gottlieb»Bis ans Ende der Nacht« startet am 7. Juli in den österreichischen Kinos. »Sexplanation« ist bei Canal+ zu sehen, »Luden – Könige der Reeperbahn« bei Amazon Prime.
»Der Film zeigt, dass man sich aus einer toxischen Beziehung befreien kann. Das ist unglaublich wichtig.«
— Thea Ehre
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Musik und Citizenship Wie Europavox die europäische Bühne öffnet
Beim EU-geförderten Projekt Europavox dreht sich alles darum, ein Netzwerk aus europäischen Bühnen und Musiker*innen zu etablieren. Bei sieben Festivals in sieben unterschiedlichen Ländern können up-and-coming Bands erste Schritte außerhalb ihrer lokalen Szene wagen. Wir haben uns angeschaut, was die Ziele und Potenziale dieses Projekts sind. ———— Control Club, Bukarest, Anfang April. Die Anlage wird gerade von der irischen Shoegaze-Band Just Mustard an ihre technischen Grenzen gebracht. Ein Meer an Verzerrungen, dazwischen die Stimme der Sängerin, mal elegant auf den Wellen surfend, mal ums Überleben kämpfend. Die Boxen dürften sich freuen, dass sich der erste Abend des zweitägigen Festivals seinem Ende zuneigt. Am nächsten Tag wird es entspannter zugehen, weniger (Post-)Rock, mehr Mix aus Elektronik, Techno, Jazz, Soul und Klassik. Es ist eine breite Mischung, die an diesen zwei Tagen über diese Bühne zieht – an musikalischen Stilen wie an Ländern. Rumänien, eh klar, aber sonst: Irland eben, Frankreich, Schweden, Dänemark, Griechenland und Finnland. Dieses Gemenge ist nicht nur gewollt, es ist sort of the point. Das Europavox Festival gastiert nämlich in Bukarest.
Multimediales Gesamtkonzept
Europavox ist ein Netzwerk aus sieben Partner*innen in ganz Europa: in Bukarest, Vilnius, Zagreb, Bologna, Brüssel, ClermontFerrand und Wien. Hannes Cistota organisiert jährlich das Europavox Festival im WUK, dessen musikalische Leiter er auch ist. »Die Idee von Europavox ist, dass wir unbekanntere
europäische Bands hin und her durch Europa schicken. Dadurch können sie für ein neues Publikum spielen – unter professionellen Produktionsbedingungen«, erklärt Hannes. Um in die Auswahl für ein Europavox Festival zu kommen, muss ein Act Teil des EuropavoxRosters werden. Pro Monat werden ca. zehn Acts von den Partner*innen gemeinschaftlich dafür auserkoren. Auf der Website von Europavox kann dann öffentlich abgestimmt werden, welcher Act davon »Band of the Month« wird – mit zusätzlicher Publicity und Auftrittsangeboten. All das soll dafür sorgen, dass Europavox auch abseits der Festivals präsent bleibt. Es ist Teil eines medialen Gesamtkonzeptes wie Ana Martinez, Head of Communication für Europavox, erläutert: »Unsere medialen Auftritte erlauben es Leuten, neue Bands zu entdecken – also gehen sie zu den Festivals, um diese Bands dann live zu sehen. Andererseits stoßen dann Leute, die live vor Ort sind, auf unsere Medien.«
Ursprünglich war Europavox ein einzelnes Festival in Clermont-Ferrand. François Missonnier gründete dieses 2006 und ist bis heute einer der Projektleads: »Mein erstes Ziel war, die europäische Musikproduktion in all ihrer Diversität sichtbar zu machen und zu fördern. Das zweite Ziel war Citizenship: Wie können wir der europäischen Jugend klarmachen, was das Herz, die Seele Euro -
Über Europavox soll das Publikum nicht nur junge europäische Bands kennenlernen, sondern auch Europa selbst.
pas ist? Für mich ist die wahre Seele Europas das Teilen eines gemeinsamen Abenteuers, gemeinsamer Werte. Um das zu transportieren, ist das beste Vehikel nicht Wirtschaft. Es ist Kultur, und vor allem Musik. Musik ist die von der Jugend am meisten geteilte künstlerische Praxis, Freizeitbeschäftigung und Leidenschaft. Wenn wir europäische Bands herumreisen und neues Publikum treffen lassen, während sie weiter in ihren eigenen Sprachen sprechen – das macht Europa für mich konkret. Seit dem ersten Tag folgt alles, was wir tun, diesen beiden Prinzipien: Musik und Citizenship.«
EU-geförderte Festivals
Die Europäische Kommission dürfte das Potenzial dieser Verbindung auch sehen, hat sie Europavox doch schon zum zweiten Mal über den Projekttopf »Kreatives Europa« gefördert. Je zwei Millionen Euro gab es für jeweils vier Jahre. Die aktuelle Förderung läuft noch bis 2024, Zukunft immer ungewiss. »Ich glaube es braucht Institutionen, um eklektische, experimentelle Musik vor ein Publikum zu bringen«, so Mischa Blanos der nicht nur in seiner Heimatstadt Bukarest, sondern auch bereits bei einigen anderen Europavox Festivals spielen konnte – unter anderem in Wien.
dar. »Bei jeder Show ohne Förderung überlegt man, ob sich das ausgeht oder nicht. Oder ob man mit den Künstler*innen nochmal verhandeln muss.«
Sprung auf europäische Bühnen
Wer letzten Endes vom Netzwerk am meisten profitieren dürfte, sind die individuellen Künstler*innen. Junge oder zumindest neue Bands, die in ihren lokalen Szenen schon Bekanntheit erlangt haben, aber selbst gerade noch nicht den Sprung auf transnationale Tourneen schaffen würden. »Speziell Österreich ist sehr limitiert, was das Touren betrifft. Es gibt eine Handvoll Venues von Vorarlberg bis Österreich, wo man klubmäßig touren kann. Eine Band kann ja nicht jedes Quartal, die gleichen Klubs abgrasen. Insofern muss sie da irgendwann raus«, meint Hannes. Auch Mischa sieht das ähnlich: »Ich glaube, du musst als Artist international denken. Du kannst nicht ständig dieselben Sachen im selben Land spielen. In Rumänien haben wir vielleicht fünf Städte, in denen man meine Art von Musik spielen kann. Also muss man in ganz Europa touren – oder sogar in den USA. Man muss dort unterwegs sein, um als Künstler*in zu wachsen.«
Diesen Fokus auf individuelle Künstler*innen bestätigt auch Europavox-Gründer François: »Wir sind sehr an den lokalen Musikszenen interessiert – sofern es sie gibt. Alle unsere Partner*innen haben ihre eigenen Visionen für die Musikindustrie, ihre eigenen Perspektiven. Aber wenn wir mit Künstler*innen darüber reden, sie für ein Festival zu buchen, oder wenn wir mit der Presse ein Interview haben, dann sind wir auf die individuellen Artists fokussiert. Und auf ihre Umgebung. Sind sie bereit, das Spiel mitzuspielen? Sind sie bereit für den Export?«
Seine Musik bewegt sich irgendwo zwischen experimenteller Elektronik und Klassik, viele Loops und Samples, darüber expressive Klaviersolos. Eklektisch trifft es. Was live durchaus ankommt, dürfte auf den ersten Blick nicht leicht an Booking-Agenturen zu verkaufen sein. Gerade im unbekannten Ausland. Förderungen sind da hilfreich, nicht nur um Acts wie Mischa Blanos für das Europavox-Netzwerk zu entdecken und zu promoten, sondern auch um sie schlussendlich einzuladen. Denn Förderungen erleichtern es Venues, mehr Risiken bei der Programmgestaltung einzugehen. Nicht so abhängig von dem zu sein, was ohnehin schon bekannt ist und sicher Publikum zieht. »Der finanzielle Druck ist ein anderer«, legt Hannes vom WUK
Was Europavox potenziell leisten kann, ist jungen Bands neue Bühnen, neues Publikum, neue Märkte zu eröffnen. Das ist kein »nur«, keine geringe Leistung –gerade für die Bands. Wer den Sprung von vereinzelten lokalen Gigs zu internationalen Touren schaffen möchte, steht vor einer Vielzahl von Hürden. Europavox arbeitet tatkräftig daran, diese Hürden zu nivellieren und Bands, die den Willen und das Potenzial, aber (noch) nicht die Möglichkeiten haben, über diese Schwelle zu hieven. Bernhard Frena
Das nächste Europavox Festival in Wien findet am 17. und 18. November im – sofern die aktuell laufenden Bauarbeiten mitspielen – WUK statt. Weitere Infos finden sich zeitgerecht auf den Websites von WUK sowie Europavox.
Offenlegung: Unser Besuch beim Festival in Bukarest erfolgte auf Einladung von Europavox.
»Um die wahre Seele Europas zu transportieren, ist das beste Vehikel nicht Wirtschaft. Es ist Kultur, und vor allem Musik.«
— François Missonnier, Gründer EuropavoxAndrei Mușat
Was macht KI mit unserer Musik?
Spätestens seit der Song »Heart on My Sleeve« mit KI-generierten Stimmen von Drake und The Weeknd für Aufsehen sorgte, zeigt sich, dass die Konsequenzen von generativer KI für die Musikszene kein Problem der Zukunft mehr sind. Wo es noch vor wenigen Jahren um spielerische Kunstexperimente wie das Fortschreiben unvollendeter Symphonien ging, sind die Einsatzgebiete und die damit einhergehenden Problemfelder heutzutage vielfältig. Was sind die rechtlichen Probleme, die sich bei generativer KI auftun? Wer wird zukünftig welche Musik wie schreiben? Was ist die Rolle von Kreativität, von Virtuosität? Haben menschliche Musiker*innen noch einen Platz, wenn die KI spontan Musik für jede Mood und jeden Vibe generieren kann?
Riotweiler
Vocalist Drug Searching Dogs
Wenn ich jemandem einen Ratschlag für den Einstieg in die Musikindustrie geben soll, dann wäre es der, die aktuellen Tools zu erlernen und zu nutzen. Denn wenn du sie beherrschst, bist du der Zeit voraus und es wird viel einfacher sein, sich abzuheben. Oder: Lass es einfach sein. Denn die Musikindustrie ist wie eine Hundezone, sie hat große Barrieren um sich herum, und wenn man einmal drin landet, ist es schwer, allein wieder herauszukommen. Knurr!
The future is dog music ———— Wuff. Ich sehe nicht die sogenannte künstliche Intelligenz als die größte Bedrohung für Kreativität oder Originalität in der Musik, sondern die Branche, die Musikindustrie selbst. Sie ist durch ihre Profitorientierung überreguliert, steif und langweilig geworden. Außerdem wird die sogenannte künstliche Intelligenz nicht der Grund für den Niedergang der Musikindustrie sein, sondern vielmehr die ungleiche Verteilung von Macht – wie auf sämtliche Lebensbereiche anwendbar. Das ganze Modell der Musikindustrie basiert darauf, dass ein paar Leute entscheiden, was populär ist. Je besser die sogenannte künstliche Intelligenz nun wird, desto geringer wird die Relevanz dieser Leute für den Rest der Gesellschaft. Ist es das, was sie fürchten? Haben sie Angst, dass sogar Tiere die Songs schreiben können, die sie uns jetzt vorsetzen? Ist es nicht komisch, wie die Industrie eine »Uns gehört alles«-Haltung gegenüber etwas eingenommen hat, das ihr eigentlich nie zustand?
Was wäre überhaupt das Problem daran, seinen Job an die sogenannte künstliche Intelligenz zu verlieren, wenn man seinen Lebensunterhalt nicht »verdienen« müsste, sondern Menschen sich auf eine Art organisieren würden, die allen ein gutes Leben ohne Leinen garantierte? Selbst wenn ein KI-System in der Lage ist, seine menschlichen Schöpfer zu ersetzen, ist das auf lange Sicht vielleicht keine schlechte Sache für die Menschheit. KI-Systeme sind gut darin, Muster vorherzusagen und Prozesse zu optimieren, und das könnte für unsere Art zu wirtschaften besser sein als ein paar Tausend hoch bezahlte Angestellte. (Vorausgesetzt wir können Menschen von der Macht fernhalten und länger Urlaub machen.) The future is dog music. Underground für immer!
Übrigens, dieser Text wurde ebenfalls von einer KI generiert und übersetzt – oder?
Riotweiler ist Vocalist des Wiener Noise-Trios Drug Searching Dogs. Die Lyrics der Band entstehen durch Füttern von textgenerierender Software, deren Ergebnisse anschließend editiert und arrangiert werden.
Ohne Menschen keine Originalität ———— Beim Thema KI muss ich oft an die Satiresendung »Max Giesinger und die deutsche Industriemusik« von Jan Böhmermann denken. Der Satiriker seziert zunächst die Fließbandfertigung von Songs nach Schema F und lässt dann Schimpansen einen Songtext schreiben – aus Tweets von Influencer*innen, Werbeslogans, Textzeilen aktueller Popsongs und Kalendersprüchen. Dazu wird eingängige Musik komponiert. Der Song »Menschen Leben Tanzen Welt« klingt nach deutschem Pop mit leichten Irritationen, aber wenn man nicht so genau hinhört, fällt das nicht weiter auf.
Das entspricht den aktuellen Ergebnissen komponierender KI: Sie kann Musik »im Stil von«, »in dieser und jener Stimmung« und Ähnliches hervorbringen. Überraschung geht anders: einen Wow-Moment habe ich bei KIgenerierter Musik noch nicht erlebt. Aber die Produktion von Musik, die nicht weiter stört, weil man sie einordnen kann, Musik nach gängigen Mustern, erleben wir schon lange. Möglicherweise freuen sich also einige Musikfirmen mit dem Geschäftsmodell »Mainstream«, dass sie für weite Teile ihrer Musikproduktion keine oder nur noch wenige Menschen brauchen. KI wird ohnehin schon seit geraumer Zeit als Kompositions- und Produktionshilfe eingesetzt.
Kritisch wird es allerdings dann, wenn die künstlich generierten Inhalte der KI bestehenden Musikwerken zu sehr ähneln. Dies wäre eine Verletzung des Urheberrechts. Umgekehrt ist es schon seit einigen Jahren möglich, mit Hilfe von KI Musik – z. B. für Videos – zu generieren, die einzigartig und urheberrechtlich unbedenklich ist.
Die KI kann also zwar etwas Einzigartiges schaffen, aber sie ist immer nur so kreativ, originell und innovativ, wie die Person, die sie benutzt.
Musiker*innen und Bands hingegen sind mehr als Musik auf Tonträgern oder im Video. Sie sind Menschen und Künstler*innen und waren als solche immer schon Projektionsflächen für Sehnsüchte, Haltungen, Identitäten. Natürlich können auch Kunstfiguren von KI erfunden werden. Live-Konzerte echter Menschen werden sie jedoch nicht ersetzen. Avatar-Konzerte verstorbener Rockstars werden uns aber vermutlich in Zukunft nicht erspart bleiben. Möglicherweise mit neuen, KI-komponierten Songs.
Sabine Reiter leitet das österreichische Musikinformationszentrum Mica – Music Austria. Sie ist Vorstandsmitglied der IG Freie Theater und der Vertrauensstelle Vera sowie Mitglied im Stiftungsbeirat des Arnold Schönberg Center.
KI-Produktionen neben anderen Genres ———— KI ist nicht die erste technische Innovation, die für einen enormen internationalen Hype sorgt. Viele, vor allem Musikschaffende, sind mehr als skeptisch, ob KI für sie Segen oder Fluch bedeuten kann. Entscheidend wird aber auf lange Sicht der mögliche negative Einfluss auf die Wertschöpfung im Musikbusiness werden.
Kann es für Hersteller von KI-Software möglich werden, über Wahrnehmungsverträge mit Verwertungsgesellschaften Tantiemen für mit KI produzierten Hits zu kassieren? Das geltende Urheberrecht sollte das verhindern, zumindest in Österreich. Von großer Bedeutung werden jedenfalls die angekündigten Regelungen der Europäischen Kommission für die kommerzielle Anwendung von KI und Chat GPT sein. Es ist zu hoffen, dass der Einfluss der unzähligen Lobbyist*innen der marktbeherrschenden Internetriesen in Brüssel die einschränkende Wirkung solcher Regelungen nicht zu sehr beeinflussen wird.
Es drängt sich außerdem die Frage auf, ob die Millionen von Daten, derer sich die KI bedient, von urheberrechtlicher Relevanz sind. Eine Erfassung würde sicherlich eine kaum bewältigbare Herausforderung bedeuten.
Aus künstlerischer Sicht bin ich zumindest sicher, dass Emotionen beim Komponieren, Texten und Singen einerseits und bei den Musikfans andererseits nicht völlig durch KI-Musikproduktionen ersetzt werden können. Ähnlich wie Technomusik, die ja synthetisch produziert wird und besonders in den 90er-Jahren einen großen internationalen Stellenwert hatte, wird es in Zukunft zwar KI-Produktionen geben, aber nur neben allen anderen musikalischen Genres.
Allemal formieren sich bereits Größen der Popmusik mit der Ankündigung, vehement alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um eine Entmenschlichung der Musik durch Entwicklungen im KI-Bereich zu verhindern. Dieser Intention kann ich zu 100 % zustimmen.
Peter Vieweger ist Präsident der Verwertungsgesellschaft AKM – Autoren, Komponisten und Musikverleger. Er ist Komponist, Produzent, ehemaliger Falco-Gitarrist und Bandleader.
The-Gap-Leser*innenführung: »Yoshitomo Nara.
All My Little Words«
Mit seinen ikonischen »big-headed girls« sorgt Yoshitomo Nara seit den 1990er-Jahren international für Aufsehen. Ob mit grimmigem Blick oder mit dem Messer in der Hand – die an die Ästhetik von Comics und Cartoons erinnernden Mädchendarstellungen sind in ihrer vermeintlichen Lieblichkeit durchdrungen von der Punk-Attitüde Naras. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf dem zeichnerischen Schaffen des japanischen Künstlers, in dem sich Einflüsse von Sub- und Popkultur sowie gesellschaftspolitische Anliegen widerspiegeln.
Die Ausstellung »Yoshitomo Nara. All My Little Words« ist bis 1. November in der Albertina Modern zu sehen. Die The-GapLeser*innenführung findet am 20. Juni um 17 Uhr statt. Wir verlosen 25 Tickets unter www.thegap.at/gewinnen.
Gewinnen thegap.at/gewinnen
1 »Gläsern und Glänzen«
Monatlich können neue Autor*innen jeden Alters und Erfahrungslevels bei der Wiener Literaturreihe »Gläserne Texte« niederschwellig und vor kleinem Publikum Texte vorlesen und anschließend mit diesem besprechen. In der vorliegenden Anthologie versammeln Laura Untner und Julius Handl Texte von 20 Autor*innen aus dem Umfeld der Veranstaltung. Wir verloren drei Exemplare.
2 »Cocaine Bear«
Die »wahre« (unter Anführungszeichen und kursiv) Geschichte eines Bären, der aus Versehen eine enorme Menge Kokain vertilgt und daraufhin eine drogeninduzierte Mördertour durch den US-Bundesstaat G eorgia startet. Wenn das nicht als Sehempfehlung reicht, können wir euch auch nicht mehr helfen. Ab 29. Juni im Handel erhältlich. Wir verlosen zwei DVDs und zwei Blu-Rays.
3 »Infinity Pool«
Als beim Urlaub in einem Luxusresort ein Einheimischer durch einen Unfall stirbt, sieht sich der Autor James mit der Todesstrafe konfrontiert. Sein Ausweg: sich klonen und seinen Doppelgänger hinrichten lassen. Das Slash Festival empfahl den Film mit den Worten »waschechtes Transgressionskino« sowie »eine Zumutung«. Ab 13. Juli im Handel erhältlich. Wir verlosen zwei DVDs und zwei Blu-Rays.
4 »Inland
Empire«
Wer uns erklären kann, worum genau es in »Inland Empire« geht, heißt vermutlich David Lynch. Selbiger jagt nämlich Laura Dern im neu restaurierten Klassiker durch einen wahnhaften Fiebertraum von einem Film, der jede Realitätsgrenze einzureißen scheint. Gibt es einen Film, der noch lynchiger ist? Ab 22. Juni im Handel erhältlich. Wir verlosen drei Blu-Rays.
5 »Swan Song«
Udo Kier ist vor allem bekannt durch seine unzähligen Nebenrollen, in denen er Figuren zwischen schräg und noch schräger spielt. Auch die maßgeschneiderte Hauptrolle in »Swan Song« reiht sich hier ein: Als ehemaliger Friseur bricht er aus einem Altersheim aus, um seine glorreichsten Tage noch mal aufleben zu lassen. Campy, bittersweet and tons of fun. Wir verlosen drei DVDs.
Rezensionen Musik
Zack Zack Zack
Ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal schreiben würde, aber: Es gibt einen Grund dafür, sich bei HeinzChristian Strache zu bedanken. Oder zwei, um genau zu sein, schließlich führte seine vom Alkohol gelockerte Zunge ja indirekt auch zum Ende jener vermeintlichen politischen Lichtgestalt, die sich schon bald auch vor Gericht als ungenierter Blender herausstellen könnte – sofern sich die Vorwürfe rund um Falschaussage, Inseratenkorruption und Co bestätigen. Aber zurück zum Thema: Hätte sich HC damals auf Ibiza nicht zu seinen allseits bekannten großspurigen und demokratiepolitisch mehr als fragwürdigen Aussagen hinreißen lassen, würde es Zack Zack Zack in dieser Form vielleicht gar nicht geben. Yigit Bakkalbasi und Cemgil Demirtas haben Straches »b’soffene G’schicht’« nämlich bei ihrem allerersten Auftritt gesampelt und daraus schließlich auch ihren Bandnamen abgeleitet. Das war vor vier Jahren. Und seitdem ist – nicht nur in der Politik – einiges passiert.
Zum Beispiel haben die beiden aus Izmir stammenden Wiener relativ bald darauf ihren ganz speziellen Sound gefunden: indem sie in der Türkei traditionelle Saiteninstrumente wie Saz und Cümbüş in ihren düsteren Synth-Wave/Postpunk integrierten. Ihre Musik verstehen sie dabei als eine Art Brücke zwischen den Kulturen, verrieten sie uns rund um das Erscheinen ihres Debütalbums. Mit »Album 2« bestätigen Zack Zack Zack diese Herangehensweise nun. Es ist wie sein Vorgänger überwiegend dark, wavig, synthesizerlastig und immer wieder von orientalischen Einflüssen durchzogen. Ziemlich super ist es auch. Manchmal wird auf Türkisch gesungen, manchmal auf Deutsch, manchmal gar nicht. Manchmal schneiden die Gitarren im Halbdunkel durch den Nebel, manchmal versucht uns ein cheesy Saxofon zu verführen. Und mit der Kamantsche, einer »Stachelgeige«, dürfen wir wieder ein neues Instrument kennenlernen. Ja, auch für diese Horizonterweiterung – selbst wenn’s schwerfällt: danke, HC!
(VÖ: 26. Mai) Manuel Fronhofer
Rezensionen Musik
Gala Fur
Re:set — Wurlitzer Records
Florian Paul Ebner ist multi: Komponist, Pianist, Produzent, Klavierpädagoge, Chorleiter und vieles mehr. Nun legt er als Gala Fur mit seinem zweiten Album »Re:set« den melancholischen Soundtrack einer kollektiven Erfahrung vor, wie wir sie bis vor Kurzem nicht kannten. Das Album erzählt aus persönlicher Perspektive des Musikers von zwischenmenschlichen Erfahrungen während der Pandemie: ein gesellschaftlicher Ausnahmezustand, facettenreich und über weite Strecken instrumental auf dieser bemerkenswerten Neuerscheinung festgehalten. »Re:set« ist Ambient, Pop- und Filmmusik, angereichert mit elektronischen Sounds. Als musikalische Allegorie der Einsamkeit während der Lockdowns bilden – und das könnte passender nicht sein – Field-Recordings verlassener öffentlicher Räume die Basis für Beats und Loops. Mit dem Album nimmt uns der Protagonist auf eine Reise mit, auf eine sonische Suche nach sich selbst und nach anderen in Zeiten der Ungewissheit. Es ist ein Versuch der emotionalen Wiederentdeckung des Menschseins.
Subtil, melodramatisch, zart und tanzbar. »Re:set« ist wunderbar umtriebig: ein Klavier, ein Orchester aus Synthesizern, positronische Stimmen, elektronische Streicher und Micro-Beats sind die Bausteine, mit denen Gala Fur auf weiten Teilen des Albums Klanggebilde arrangiert, die sich, wenn sie sich ineinanderfügen, im Sphärischen auflösen. Wie bei »Tetris«, nur eben mit Tönen. Rundherum schwirren derweil unheimliche Geräusche, Klänge und Gizmos, die sich zu einer Art pandemischem Rauschen vereinen.
»Re:set« ist aber auch etwas überambitioniert. Ein vollbepacktes Album, das geradezu überzugehen droht. Ein überladenes Vehikel, das nicht immer vorankommen will. Nicht jeder der 15 Tracks hätte draufgequetscht werden müssen. Manche hätten besser in die zahnärztliche Ordination für Angstpatient*innen gepasst. Trotzdem: Das Album bleibt ein assoziatives Sounderlebnis mit poetischem Anspruch, das zwar nicht immer den Versprechungen gerecht wird, aber sehr viele starke Momente hat, die den musikalischen Horizont erweitern.
(VÖ: 1. Juni) Tobias Natter
Half Darling
Half Darling — Konkord
Irgendwo zwischen Noise-Rock, Punk, Alternative Rock und Hip-Hop-Elementen pendeln sich Half Darling ein, sie kommen dabei aber definitiv niemals zur Ruhe. Auf ihrem Debütalbum jagt ein schneller Schlag den nächsten und erschafft dabei eine melodiöse und doch schön weird anmutende, verzerrte Welt. Mit hohem Energielevel steigt die Band in ihr erstes Album ein – und sie behält dieses bis zum bitteren Ende bei. Rhythmische Repetition, minimalistische Strukturen und musikalische Irritationen vereinen sich mit melodischen Hooks. Gemeinsam lassen sie eine Soundästhetik mit rasantem Tempo und aufregenden Spannungsverhältnissen entstehen. Die Instrumentalspuren kommen hierbei gut zur Geltung: Passend zum Stakkato-Sprechgesang liefern sich Gitarre, Bass, Synths und Schlagzeug einen musikalischen Schlagabtausch, der das Spotlight verdient hat. Begleitet wird er von Lisa Kortschaks teilweise verzerrter und manchmal abgehackt klingender Stimme, die sich in das bunte Durcheinander einfügt. Textlich wie auch musikalisch befinden sich die Tracks in einer leicht entgleisten Realität, die auf Wiederholung pocht und eine unterschwellige Provokation und Kritik der Normalität mit sich bringt.
08
»Half Darling« ist ein Album mit Biss geworden, ein gelungenes Debüt. Es lebt von repetitiv-rhythmischer Spannung, was vorerst eintönig wirken mag, aber in Wirklichkeit ein sehr stringentes und ansprechendes Sounderlebnis ergibt. Die Band lässt sich nicht leicht kategorisieren und geht in ihrer Verwischung von Genregrenzen vollkommen auf. Ihre breite Inspiration durch unterschiedliche musikalische Einflüsse schafft etwas Vertrautes und doch Verzogenes, dessen Ursprung man definitiv auf den Grund gehen möchte – und auch unbedingt sollte.
(VÖ: 9. Juni) Mira Schneidereit
Live: 7. Juni, Wien, Venster 99 — 9. Juni, Wels, Alter Schlachthof — 10. Juni, Bad Ischl, Kurdirektion — 16. Juni, Graz, Cafe Wolf — 17. Juni, Wolfsberg, Container 25
Wurlitzer Records, Rania MoslamFilmpremiere
Mermaids Don’t Cry
40�2 TICKETS ZU GEWINNEN
Wenn Supermarktkassiererin Annika (Stefanie Reinsperger) ihre Meerjungfrauenflosse trägt und im Hallenbad abtaucht, sind die Sorgen des Alltags ganz weit weg. Eine neue Flosse in Luxusausführung soll nun auch ihrem Leben den dringend ersehnten Schwung verleihen. Doch diese hat einen stolzen Preis – und ob auch alles so hinhaut, wie Annika sich das erträumt?
Mi., 28. Juni, 20 Uhr
Gartenbaukino
Parkring 12, 1010 Wien
Wir verlosen 40 � 2 Tickets für die Kinostartpremiere des Films, die in Anwesenheit von Regisseurin Franziska Pflaum, Stefanie Reinsperger, Julia Franz Richter, Karl Fischer u. v. a. stattfindet.
Die Gewinnspielteilnahme ist bis 25. Juni unter www.thegap.at / gewinnen möglich.
In Kooperation mit
Energiewende. Wettlauf mit der Zeit
Klimaerhitzung und Energiekrise machen einen Umstieg auf nachhaltige Energien dringlich wie nie zuvor. Ab 16. Juni 2023 zeigt eine neue Ausstellung im Technischen Museum Wien , wie uns die Energiewende gelingen kann, welche Innovationen dabei helfen und was wir alle im alltäglichen Handeln beitragen können.
Die Ausstellung »Energiewende. Wettlauf mit der Zeit« veranschaulicht die komplexen Dynamiken von Energiewende und Klimakrise und will Besucher*innen neue Perspektiven eröffnen, die sie ermächtigt, aktiv am Klimadiskurs teilzuhaben. Auf fünf Ebenen erhalten Interessierte Einblicke in die vielfältigen und miteinander verflochtenen Herausforderungen – ebenso wie in die vielfältigen und innovativen Lösungsansätze. Ein interaktiver Simulator erlaubt Besucher*innen, selbst an den Hebeln der Macht zu sitzen und als Motivationsschub werden »Good News aus der Zukunft« präsentiert. Wie schaut die Welt von morgen aus, wenn wir heute die Klimakrise als Chance für eine nachhaltige Zukunft nutzen?
Informationen und
Denkanstöße
Teilnahmebedingungen: Die Gewinnspielteilnahme kann ausschließlich unter der angegebenen Adresse erfolgen. Die Gewinner*innen werden bis 26. Juni 2023 per E-Mail verständigt. Eine Ablöse des Gewinns in bar ist nicht möglich. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Mitarbeiter*innen des Verlags sind nicht teilnahmeberechtigt.
Die Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie entstanden ist, gibt nicht nur Informationen, sondern auch Denkanstöße: Wieso brauchen wir eigentlich immer mehr Energie? Wie kann die Industrie effizient und sparsam produzieren? Wie können wir das eigene Konsumverhalten optimieren? Wieso gilt Atomkraft plötzlich als »grün« und wie müssen wir unsere Infrastruktur für einen Ausstieg aus fossilen Treibstoffen umgestalten?
Rezensionen Musik
Kommando Elefant
Sieben — Las Vegas Records
Eine kurze und auf keinen Fall wissenschaftlichen Standards genügende Google-Suche hat ergeben: Elefanten haben wirklich so ein gutes Gedächtnis, wie immer behauptet wird. Und ein gutes Gedächtnis braucht man auch, will man sich an alles erinnern, was die Wiener Gruppe Kommando Elefant schon in die Plattenregale der Republik gestellt hat. »Sieben« nennt sich der siebte Langspieler, der erste seit »Seltene Elemente« aus dem 20er-Jahr. Noch intensiver müssen sich graue Rüsseltiere beim Erinnern an das Debüt anstrengen, genau 15 Jahre ist es her, dass »Kaputt, aber glücklich« mit dem damaligen Hit »Wittgenstein« erschien. Auch der vermutlich bekannteste Song »Alaska« ist schon 13 Jahre alt. Das ist lustig, weil man sich ab einem gewissen Alter schon selbst referenzieren kann – wie in diesem Fall geschehen.
Allgemein sind das Älterwerden und gleichzeitig das So-jung-wienoch-nie-Sein so ein bisschen das Leitthema. Dieser inhaltliche Widerspruch lässt sich lustigerweise auf die musikalische Seite übertragen. So gibt es recht disco-housige Stampfer – gerne auch mit Vocoder –, nahe an Madchester und artverwandter Elektronik; also eine konsequente Weiterführung der letzten paar Alben. Ihren gemeinsamen Nenner und auch die besten Momente finden alle Stücke dennoch im recht charakteristischen Indie-Pop früherer Alben. So kommen selbst die vielen Space-Pop-Nummern (etwa im besten Song »Spaceship Euphorie«) früher oder später am weichen Boden der Gitarrenrealität an.
Klanglich ist das alles astrein – man merkt, dass Sänger Alf Peherstorfer, dessen Schlagerprojekt Alf recht überraschend gar nicht so schlecht angekommen ist – bitte youtuben! –, sich in den letzten Jahren hinter den Reglern verschanzt und zum Beispiel Oscar Haag und Co gemixt hat. Ob auch für Kommando Elefant der Amadeus Award in Reichweite ist, sei jetzt einmal dahingestellt, aber sollten sich die zahlreichen Elefanten der österreichischen »Musikwirtschaft« daran erinnern, ist vielleicht einmal einer für das Lebenswerk drinnen. Der zählt doppelt.
(VÖ: 16. Juni) Dominik Oswald
Live: 15. Juni, Wien, Flucc
Laundromat Chicks
Lightning Trails — Siluh Records
Die Laundromat Chicks sind zwar jünger, als ihr alle es je wart, sie sind aber trotzdem vor einem dieser ungeschriebenen Gesetze nicht gefeit: Nach dem Rausch ist der Kater unausweichlich. Und was für ein Rausch das war, deine Maturareise war dagegen vermutlich eine Kaffeefahrt zum Heizdeckenverkauf. Das famose Debütalbum »Trouble« aus dem Vorjahr war eine der größten Überraschungen des heimischen Musikjahres, weit über die Grenzen hinaus gelobt für Songwriting, Vibe, Image und Style. Wer auf der Suche nach dem ganz Coolen war, kam an dem Vierer rund um Tobias Hammermüller kaum vorbei.
07
Ich weiß, ihr fragt jetzt natürlich: Wie ist das gemeint mit der Katerstimmung? Das ist vermutlich anders, als ihr denkt. Denn im Unterschied zum ersten Album ist die Nummer zwei nicht nur – um das obligatorische Wortspiel mit dem Bandnamen zu bedienen – im Schleuderprogramm unterwegs. Schon eher im Bereich der Handwäsche: gemächlich, fast zurückhaltend, folkig. Wenn da jetzt einer »Twee!« schreit – mein Gott, es sei ihm ausnahmsweise erlaubt. Und weil die Leute auch immer Use-Cases brauchen: Das ist Musik, um zu zweit auf einem Balkonstuhl zu sitzen, während der Sonnenuntergang die Bienen aus der Limonade verscheucht. So entspannt wabern die teils grandiosen Gitarren mit kleinem Hall, während Hammermüller mit seiner Stimme endgültig zum österreichischen Morrissey wird, nur halt ohne den ganzen Scheiß.
Dass auf »Lightning Trails« die Beach Boys umgetextet werden (»Big Sur«), überrascht da ebenso wenig wie die erneut sehr schön formulierten Lyrics, die bei so Schwelgemucke umso wichtiger sind. Lieblingszeile: »There’s a hole in my heart / Where the pain comes in« (aus: »Never Return«). Es sind süße adoleszente Zeilen, die sich durch das leider sehr kurze Album – 19 Minuten! – wühlen und das gesamte Spektrum des menschlichen Fühlens so konzise und dabei in all seiner Pracht darstellen. Der Bogen zur Maturareise darf hier als geschlossen betrachtet werden. Die vermutlich nachhaltigste Nummer ist »Let’s Do This« über den tollen Moment, coole Menschen zu entdecken, und die zwangsläufige erste Frage: »Do you wanna be in my band?« Ja!
(VÖ: 16. Juni) Dominik Oswald
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Rezensionen Musik
Love & Order — Noise Appeal Records
Seit 2007 bereichern Lausch, das Trio um Frontmann Alexander Lausch, die heimische Musikszene mit intelligentem Nineties-, Post- und Progressive Rock. Das in einem Land, in dem die mediale Berichterstattung zur Pop- und Rockkultur oligarchisch strukturiert anmutet und die Radiosender sich entweder der unendlichen Wiederholung des Kommerzes verschrieben haben oder starken Tobak, wie ihn Lausch liefern, in die kuschelige Nische abschieben. Der Bandname klingt demnach fast nach einer Aufforderung: Gute Rockmusik droht im Fortissimo des Überangebots überhört zu werden. Zum Glück ist das neue Album »Love & Order« laut wie ein Gewitterdonner und darüber hinaus noch viel mehr.
Schrill, fast hysterisch melodiös kreischen die Gitarren. Im Keller sägt der Bass am Fundament des wuchtigen Klangkörpers. Am Schlagzeug sitzt ein Berserker. Der Gesang kriecht als Elegie in geschundene Seelen. Mit teils dunklen Klangfarben zeichnen Lausch ein bombastisches Gemälde durchwirkt von dystopischer Atmosphäre, in dem aber auch lauschige Verstecke der Zuversicht zu finden sind. Der Soundteppich ist dicht gewoben. Emotionale Amplituden in Moll, markante Hooks und hymnische Gefilde gilt es dort zu entdecken. Als Referenz verweisen Lausch unter anderem auf Muse und Biffy Clyro. Die Band ist aus der Tradition dieser beiden Trios erwachsen. Ausgeprägte Musikalität und versiertes Songwriting lassen zudem an Acts wie Amplifier oder And So I Watch You from Afar denken.
»Love & Order« gleicht nicht nur einem musikalischen Befreiungsschlag. Die Texte sind kritische Expeditionen in die Verfasstheit unserer Gesellschaft und Tauchgänge in die Untiefen unserer verletzlichen Seelen: Katharsis für die Ellenbogengesellschaft. »Love & Order« ist relevant für die österreichische Musikszene. Auch deshalb, weil Alternative-Rock-Bands wie Lausch hierzulande zu wenig mediale Aufmerksamkeit bekommen. (VÖ: 2. Juni) Tobias Natter
Live: 2. Juni, Wien, Rhiz
Mavi Phoenix
Biggest Asshole in the Room — LLT Records
»Please give it up for the biggest asshole in this room.« Mit diesem Satz steigt Mavi Phoenix in sein neues Album sowie den namensgebenden Titeltrack ein. Er betritt damit die Bühne und stellt sich auf charmante Weise vor. Denn auf »Biggest Asshole in the Room« rechnet der Künstler mit keinem Geringeren als sich selbst ab. So viel Therapie war ein Album noch selten. Wie einen Spiegel hält sich Mavi Phoenix dieses vor die Seele und sucht darin die (Selbst-)Reflexion. Themen wie der eigene Narzissmus und bereits begangene Fehler ziehen sich gleich einem roter Faden durch die zehn Tracks. Es ist eindeutig, dass der Musiker sich damit auch die eigene Last von der Seele geschrieben hat. Passend, dass er überdies zu seinen Wurzeln als Produzent zurückkehrt. »Biggest Asshole in the Room« ist geprägt von künstlerischer Freiheit und Kreativität – Mavi hat es beinahe komplett in Eigenregie komponiert. Dadurch erklärt sich auch die mutige Transparenz und brutale Ehrlichkeit, mit der er sich selbst begegnet.
08
Komplett konträr zum teilweise düsteren Inhalt geben sich die Melodien und die musikalische Stimmung eher leicht und unbeschwert. Die Beats, milde, teilweise experimentell und upbeat, verleihen dem Sound des Albums ein unbeschwertes Sommerflair, das eigentlich gar nicht mit der thematischen Schwere zusammenpasst. Auf »Biggest Asshole in the Room« geht es darum, einen Schritt zurück zu machen, sein eigenes Leben aus der Vogelperspektive zu betrachten und sich die eigenen Fehler einzugestehen. Es ist eine zündende Mischung aus interessanten Beats und schonungsloser Selbstreflexion. Von der künstlerischen Experimentierfreudigkeit, was die Beats betrifft, bis hin zur Aufarbeitung der eigenen toxischen Verhaltensmuster ist durchgehend spürbar, dass in jeder Zeile, in jeder Note dieses Albums Mavi Phoenix drinsteckt.
(VÖ: 19. Mai)
Live: 2. Juni, Klagenfurt, Burghof
MiraSchneidereit
Andreas Jakwerth, Angelo Kaiser, Tele FlûffNiche Compartments — Seayou Records
Ähnlich wie Noise die Grenze zwischen Musik und Geräusch auslotet, erforschen Tele Flûff mit ihrem Debütalbum »Niche Compartments« die Grenze zwischen Musik und Muzak. Das Album plätschert aufs Erste gemütlich vor sich hin. Track für Track, musikalische Phrase für musikalische Phrase. Angenehmer Hintergrund, aber alles scheinbar etwas edgeless. Die Aufmerksamkeit droht an der glatten Oberfläche abzugleiten, zu gefällig kommen die Tracks aus den Kopfhörern. Fahrstuhlmusik eben. Easy Listening, für den Hintergrund bestimmt. Nur nicht auffallen, nur nicht bemerkbar werden. Wäre da nicht dieser Groove. Alle Tracks des Albums grooven. Mehr als sie sollten, denn Fahrstuhlmusik soll ja nicht zur Party im Fahrstuhl einladen. Das Album zieht dich rein und irgendwo zwischen kitschigen Klischees, banalen Riffs und 08/15-Samples vergisst du dich schließlich. Und dann kommst du langsam drauf: So simpel ist das eigentlich gar nicht.
Was Tele Flûff auf »Niche Compartments« schaffen, ist, aus trivialen Bausteinen ein aufwendiges Klangmosaik zu bauen. Die Einzelteile werden dabei geschickt auseinandergenommen und wieder zusammengefügt, dekonstruierte Riffs, zersetzte Texte. Hier eine Verzerrung, da ein angeschrägtes Sample. Alles mit einer Leichtigkeit kombiniert, als wäre es einfach eine Jamsession im Keller von Freund*innen. Ein bisschen ist das wie eine akustische Täuschung. Aus der Entfernung, beim Drüberhören ein konformes eingeschliffenes Ganzes. Wenn du näher rangehst, nimmst du erst wahr, dass es aus unzähligen unzusammenhängenden Steinchen besteht. Als Forschungsprojekt also beide Daumen hoch, aber funktioniert das auch als Album? So zum Hören? Ein Daumen wieder runter. Das Duo schafft den Spagat fast zu gut. All der Groove hilft nicht, wenn es bewusste Aufmerksamkeit braucht, um nicht unter der Wahrnehmungsschwelle zu verschwinden. Dem Album im Ganzen fehlt es an Substanz. Die Summe der Teile ist diesmal mehr als das Ganze.
(VÖ: 23. Juni) Bernhard Frena
WIR SIND WIEN. FESTIVAL 23 Tage, 23 Bezirke
Das WIR SIND WIEN.FESTIVAL lädt wieder zu einer Kunstreise durch die Bezirke: 80 Veranstaltungen aus unterschiedlichen Genres bei freiem Eintritt.
Nicht nur das Programm des Festivals ist abwechslungsreich, auch die Veranstaltungsorte sind es: So bringen beispielsweise Oliver Hangls Bootskonzerte oder die ebenfalls von ihm kuratierten Baulückenkonzerte den Besucher*innen ein Wien abseits bekannter Kulturschauplätze näher. Zu sehen sind Acts wie Anna Mabo, Cid Rim oder Ankathie Koi. Darüber hinaus sind Künstler*innen, die für gesellschaftliches Engagement, Empowerment und Vermittlung eintreten, ein wesentlicher Teil des Festivalprogramms. So wird etwa am 15. Juni Conchita Wurst im Vogelweidpark den jungen queeren Künstler*innen Sakura, Farce und Anthea eine Bühne bieten und danach selbst auftreten. Beim beliebten Format
POP PICNIC wiederum lesen Autor*innen in Parks aus ihren jüngsten Werken. Diesmal u. a. Maria Muhar und Michael Ostrowski – jeweils mit musikalischem Rahmenprogramm.
Das WIR SIND WIEN.FESTIVAL findet von 1. bis 23. Juni statt. Am 1. Juni im 1. Bezirk, am 2. Juni im 2. Bezirk und so weiter. Sämtliche Details unter www.wirsindwien.com.
FEMALE NOISE
Mit My Ugly Clementine und Dives am 10. August 2023 um 20:15 Uhr in der Wachauarena Melk
An diesem Abend bringen die Bands My Ugly Clementine und Dives mit geballter Frauenpower die Wachauarena Melk zum Beben. Die Musikerinnen schaffen es, fröhlich-punkige Lockerheit mit Empowerment und Sichtbarmachung von Geschlechterklischees schwerelos zu kombinieren.
Infos & Karten
Karten sind unter www.sommerspielemelk.at sowie im Kartenbüro der Wachau Kultur Melk erhältlich.
Wachau Kultur Melk Gmbh, Jakob-Prandtauer-Straße 11, 3390 Melk Mo. bis Fr. 9 bis 15 Uhr, 02752 / 540 60, office@wachaukulturmelk.at
Merkst du es?
Du liest gerade, was hier steht. Ja, sogar das Kleingedruckte! Und damit bist du nicht allein. Werbung in The Gap erreicht ein interessiertes und sehr musikaffines Publikum. Und das Beste daran: Für Bands und Musiker*innen bieten wir besondere Konditionen. Absolut leistbar, auf all unseren Kanälen und nah dran an einer jungen, aktiven Zielgruppe. Melde dich, wir beraten dich gerne! sales@thegap.at
Termine Musik
ÖSTERREICHS CLUBSZENE IM RADIOKULTURHAUS
15.09.2023
DETAILS UND TICKETS: radiokulturhaus.ORF.at
Sisters Festival
»Von Frauen*, mit Frauen* – für alle!«, das schreibt sich das Sisters Festival auf die Fahnen. Der Unique Selling Point eines FLINTA*-Festivals liegt auf der Hand. Insbesondere in einer Festivallandschaft, die nach wie vor von männlichen Headlinern dominiert wird. Dagegen arbeitet das Sisters Netzwerk auch hinter den Kulissen. Doch selbst ungeachtet dessen kann sich das Line-up der Veranstaltung sehen lassen: Cocorosie (Foto), Amy Montgomery, Dives, Aygyul und Masha Dabelka. 7. Juli Wien, Arena
Popfest Wien
Ende Juli ist am und rund um den Karlsplatz wieder Festivalfeeling angesagt. Bis spät in die Nacht werden wieder sorgsam kuratierte Acts vor einmaliger Kulisse auftreten – teils unter freiem Himmel. Das Programm stellen dieses Jahr Anna Mabo und Dorian Concept zusammen. Erstere bringt neben ihrer Erfahrung als Liedermacherin auch theatrales Know-how als Regisseurin mit. Letzterer zählt zu den zentralen Figuren der österreichischen Elektronikszene. Das muss ja was werden! 27. bis 30. Juli Wien, Karlsplatz
Termine Musik
Laikka
Schon bei ihren bisherigen Releases und Auftritten haben Laikka ein Faible für ambitionierte, gesamtheitliche Konzepte bewiesen – von Musik über Mode bis Performance. Zum Release ihres zweiten Albums »Bleach« (großartig übrigens; besondere Empfehlung: »Leeches« feat. Anthea) veranstaltet das artsy Elektro-Pop-Duo eine 3D-Audio-Experience auf 38 Lautsprechern.
8. Juni Wien, West Space
Lido Sounds
Wenn’s einen Grund gibt, nach Linz zu pilgern, dann ist es das Lido Sounds. Zu sehen sind etwa Florence + the Machine (Foto), Alt-J, Interpol, Phoenix und die Viagra Boys. Aber auch in Sachen österreichische Acts wird’s heiß hergehen an der kühlen Donau: My Ugly Clementine, Avec, Wanda, Lou Asril, … Tipp von der Linzerin in der Redaktion: vor den Konzerten eine Runde mit der Grottenbahn fahren! 16. bis 18. Juni Linz, Urfahrmarkt
Tove Lo
Manchmal hat die (Musik-)Presse schon einen Schuss. Als »Sweden’s darkest pop export«, bezeichnet etwa das Rolling Stone Magazine Tove Lo. Das Out Magazine nennt sie gar »the saddest girl in Sweden«. Popmusik mit Tiefgang, die an Melancholie, aber auch Eingängigkeit nicht spart, würden wir dazu sagen. Jedenfalls stark empfehlenswert und nicht nur ein trauriges Mädchen aus Schweden. 21. Juni Wien, Arena
Cousines Like Shit
In der Reihe Impulstanz Social – Live and Local werden im Rahmenprogramm des Tanz- und Performancefestivals lokale Musiker*innen auf die Bühne gebeten. Wir freuen uns als The Gap dabei ein besonderes Doppelpack präsentieren zu dürfen: eingängigen Indie-Pop mit Avant-Trash-Attitüde von Cousines Like Shit (Foto) und Funky Disco beim DJ-Set von The Zees.
12. Juli Wien, Burgtheater Vestibül
Frequency
Auch wenn die Headliner sich scheinbar immer aus den gleichen drei Männerbands rekrutieren, hat das Frequency immer noch einen Stein bei uns im Brett. Zu viele Jahre sind wir zusammen auf Campingplätzen versifft, im Schlamm versunken oder haben vor lauter Planlosigkeit die einzige Band verpasst, wegen der wir eigentlich überhaupt gekommen sind. 17. bis 19. August
St. Pölten, Greenpark
Kevin Morby
Auf seinem siebten Album »This Is a Photograph« beschäftigt sich der Indie-Songwriter mit der Zerbrechlichkeit des Lebens – um daraus abzuleiten, wie wichtig Liebe und Familie sind. Vorgetragen in Morbys speziellem, an Bob Dylan geschultem Duktus, lässt uns das zuverlässig das Herz aufgehen. 23. Juni Wien, Theater Akzent
Paradies Garten
Bevölkerung Bruck an der Leitha: 8.186. Kapazität Paradies Garten Festival: 10.000. Da wird’s eng, wenn die elektronische Musikszene nun schon zum zweiten Mal im Schloss Prugg ein Stelldichein feiert. Übrigens auch mit einem lobenswerten Anteil an Österreicher*innen. 4. bis 6. August Bruck an der Leitha, Schloss Prugg
Fuzzstock
So ganz der Insidertipp wie noch vor ein paar Jahren ist das Festival mit dem Murmeltier, sorry »Murmale«, in den Kärntner Bergen mittlerweile nicht mehr. Familär wird es wohl trotzdem bleiben, nicht zuletzt wegen der gemütlichen Größe und des herzlichen Festivalteams. 25. bis 27. August Kärnten, Am Petzen
Bernhard Frena, Jana Wachtmann Marathon Artists, Franz Reiterer, Rea von der Liszt, Autumn De Wilde, Pretty Swede Records, Clara Maria Fickl, Thomas Ranner3
Termine Festivals
Die Sommerszene überspannt ein breites Spektrum von »Performance, Tanz, Theater, bildende Kunst bis Musik«. Wie geht sich dieser Spagat aus?
Dieser Spagat ist kleiner, als er auf den ersten Blick erscheint. Denn im Wesentlichen konzentrieren wir uns auf Produktionen aus dem darstellenden Kunstbereich, also Tanz, Performance, Theater. Allerdings ergeben sich aus Gesprächen mit Künstler*innen und dem Besuch von anderen Kulturevents immer wieder interessante andere Projekte, die wir dann gerne ins Programm aufnehmen. Dieser Freiraum, den wir uns selbst nehmen, spiegelt sich längst in vielen künstlerischen Produktionsformen wider. Die programmatische Offenheit und Durchlässigkeit der Sommerszene erleben wir selbst als sehr erfrischend und werden sie deshalb sicher beibehalten.
Welche Position nimmt die Sommerszene im Salzburger Kulturprogramm ein?
Der Kulturkalender in Salzburg ist zwar sehr dicht, allerdings gibt es eine große Lücke im darstellenden Bereich in Hinblick auf große Gastspiele. Für uns ist es wichtig, dass zumindest einmal im Jahr einige der maßgeblichsten Choreograf*innen oder auch Theatermacher*innen hier gastieren und das internationale Tor mit ihren herausragenden Stücken weit aufstoßen. Somit versteht sich die Sommerszene als Garant dafür, hochkarätige Bühnenkunst nach Salzburg zu bringen.
Was sind die Highlights des diesjährigen Festivals?
Olivier Dubois bringt mit »Come Out« zur Eröffnung ein hypnotisches Ballett für 21 Tänzer*innen zu einer legendären und sehr politischen Komposition von Steve Reich. Einen Extremtrip aus unablässig wirbelnden Drehbewegungen, Rockmusik, Gesang und Licht präsentiert die belgische Ausnahmekünstlerin Miet Warlop. Bruno Beltrão, gefeierter Choreograf aus Brasilien, gastiert mit seiner energiegeladenen Hip-Hop und zeitgenössische Elemente virtuos verbindenden Grupo de Rua zum ersten Mal in Salzburg. Und das Finale verspricht ein Mega-Event zu werden: Marinella Senatore inszeniert eine Parade mit mehreren hundert Teilnehmer*innen durch die Altstadt von Salzburg.
Sommerszene Salzburg 12. bis 24. Juni Salzburg, diverse Locations
Calle Libre
Das »Festival for Urban Aesthetics« sorgt auch diesen Sommer wieder dafür, dass Wien ein wenig bunter wird. Unter dem Titel »Diez – Years of Transformation« wird dabei heuer das zehnjährige Jubiläum des Calle Libre gefeiert – an zehn Tagen und zehn Wänden im 16. Bezirk. Artists aus der ganzen Welt werden hierfür nach Wien kommen, um sich in großformatigen Murals mit Veränderung und Wandel in Vergangenheit und Zukunft auseinanderzusetzen, sei es in sozialer, ökonomischer oder ökologischer Hinsicht. Mit dabei sind beispielsweise: Gleo sowie LeDania aus Kolumbien, das Duo Aphenoah aus Deutschland, Yessiow aus Indonesien, Luogo Comune aus Italien und Frau Isa aus Österreich. Raus mit den Spraydosen und Farbrollern! 27. Juli bis 5. August Wien, diverse Locations
Termine Festivals
Kino am Dach
Mit 20 Jahren am Buckel – bei der Gelegenheit: herzlichen Glückwunsch! – zählt das Kino am Dach zu den gut eingesessenen Sommerkinoangeboten Wiens. Den Reigen der Open-Air-Film-Screenings auf dem Dach der Hauptbücherei eröffnet heuer Sebastian Brauneis’ aberwitzige Low-Budget-Satire »Die Vermieterin«, die Ende März schon bei der Diagonale für Furore sorgte und sich irgendwo zwischen Wohnungsmarkt-Krimi und Mietrecht-Musical verorten lässt. Neben aktuellen Highlights und Festivalerfolgen gibt’s zum Jubiläum das Beste aus 20 Jahren Kino am Dach. 1. Juni bis 10. September Wien, Hauptbücherei
Kultursommer Wien
Schon bei seiner Premiere im ersten Corona-Sommer hat es sich das von der Stadt Wien finanzierte dezentrale Open-Air-Festival zum Ziel gesetzt, ein möglichst breites Publikum anzusprechen. So wird etwa auf ein umfangreiches Familienprogramm und niederschwellige Vermittlungsarbeit gesetzt. Bespielt werden öffentliche Parks und Plätze – und zwar von Künstler*innen aus den Bereichen Kabarett, Literatur, Musik, Performance, Tanz, Theater sowie zeitgenössischer Zirkus. Von A wie Aze bis Z wie Zack Zack Zack lassen sich da einige Highlights ausmachen. 30. Juni bis 13. August Wien, diverse Locations
In aufsteigender Reihenfolge bespielt das Wir sind Wien Festival jeden der 23 Wiener Gemeindebezirke an je einem Junitag mit Kunst und Kultur aus den unterschiedlichsten Genres. Besonders ans Herz gelegt sei die Reihe »Pop Picnic«, bei der Literatur (etwa von Maria Muhar, Peter Hein und Michael Ostrowski) auf Musik trifft – jeweils in einem anderen Park. Außerdem: Baulückenkonzerte, themenbezogene Stadterkundungen und vieles mehr.
1. bis 23. Juni Wien, diverse Locations
Fifteen Seconds
Inspiration, Wissenstransfer und Networking stehen auch heuer wieder bei »Europas führender Zukunftskonferenz« auf dem Programm. Tausende Teilnehmer*innen werden sich dafür Anfang Juni auf dem Areal der Messe Graz einfinden, um sich zu Themenbereichen wie Personal Growth, Diversity, New Work und Mobility auszutauschen. Unternehmen wie Google, Red Bull Gaming, Spotify, Tiktok und Unilever entsenden Speaker*innen. 15. und 16. Juni Graz, Messe
Klangfestival
Sound, Art, Surprise – so lauten die Eckpunkte, anhand derer sich das Klangfestival in Gallneukirchen verortet. Genregrenzen lässt man dabei gerne hinter sich: Ob Pop oder Experiment, das Musikprogramm bietet vielem Platz, etwa Puke Puddle, Malibu, Tony Renaissance oder Bo Ningen. Und unter dem Leitmotiv »In Delay« setzen sich diverse Künstler*innen vor Ort mit brennenden Fragen unserer Zeit auseinander. 30. Juni und 1. Juli Gallneukirchen, Altes Hallenbad
Feschmarkt
Alles, was fesch ist, erwartet die Besucher*innen auch heuer wieder zu Beginn des Sommers in Feldkirch, wenn dort, rund um das Pförtnerhaus, die Vorarlberg-Ausgabe des beliebten Marktfestivals Feschmarkt stattfindet. Wie gewohnt präsentieren sich Start-ups und Kleinproduzent*innen aus Bereichen wie Mode, Kosmetik, Möbel, Sport, Schmuck, Papeterie, Kunst, Kids und Delikatessen. 30. Juni bis 2. Juli Feldkirch, Pförtnerhaus
Dan & Lia Perjovschi: Fragments of Humanity
Mal ehrlich: Die meisten Postkarten erzählen nicht viel. Ein paar Floskeln, ein kleiner Witz, ein bestenfalls ironisches Bildmotiv. Worauf es ankommt, ist ja die Geste. Zwischen den Zeilen erzählt sich dann aber doch eine ganze
Menge: was als bildwürdiges Motiv gilt, welches Bild jemand abgeben möchte und –nicht zuletzt –ein Datum, ein Ort, eine Adresse. Die Postkarten von Dan Perjovschi an seine Frau Lia erzählen so einiges –direkt und indirekt. Als intime Einblicke, und als Kommentare auf die Welt, auf die der Künstler trifft. Lia Perjovschi dekonstruiert diese Welt mit Fragen nach den Ursachen ihrer Erscheinung und oftmals ihrer Schrecklichkeit. Feinfühlig, tiefsinnig, aphoristisch. In der Ausstellung verbinden sich Dans häufig humorvolle Zeichnungen mit Lias experimentellem Zugang, der von Performance über Zeichnung, Textilskulptur und Installation bis hin zu Malerei reicht. bis 15. Juli Innsbruck, Kunstverein
Termine Kunst
Thank You for the Comment
Malen bedeutet oft, ein Inneres an ein Äußeres heranzutragen. So ist bei der Malerei von Lorenz Kunath häufig noch ein Vorbild zu erkennen, mit oft fotografischem Charakter, aus dem deutlich eine Betrachterposition spricht. Mit den Verwischungen, Unschärfen und prismaartig angelegten Farbräumen dringt aber ein Inneres ins Bild. Genau genommen ist das nur eine Verdopplung des ohnehin subjektiven Charakters von Bildern. Eine Ausstellung zur Beeinflussung von Bildern durch Menschen und von Menschen durch Bilder. bis 30. Juni Wien, Das Packhaus
Foto Wien
Zum zehnten Mal findet heuer die Foto Wien statt. Unter dem Leitthema »Photography Lies« reflektiert die diesjährige Ausgabe die Wahrhaftigkeit fotografischer Bilder. Analog zur immer größer werdenden Präsenz und Wirkmächtigkeit von Fotos wächst auch das Misstrauen. Dabei werden die Bilder selbst und ihre Authentizität, aber auch ihre Aussagekraft infrage gestellt. Die Ausstellung »Crossing Lines« im Q21 nähert sich diesen Fragestellungen mit Fokus auf den Krieg in der Ukraine. bis 30. Juni Wien, diverse Locations
Colorless Green Freedoms Sleep …
… Furiously«. Beim Blick auf eine frische Wiese in einem niederländischen Park, fühlte die Mutter des Künstlers die Last des Krieges von sich abfallen. 28 Jahre später untersucht ihr Sohn Miloš Trakilović filmisch die Verbindung zwischen dem Grün, dem Gras und dem Gefühl von Freiheit. Heute können Green Screens Fiktionen real erscheinen lassen. In »Colorless Green Freedoms Sleep Furiously« wird die ursprüngliche Erfahrung mit einer Unwirklichkeit konterkariert, ohne die beiden gegeneinander auszuspielen. bis 12. August Graz, Kunstverein
Songs of Experience
Der Name Friedl Kubelka wird vielen von der gleichnamigen Fotoschule in Wien ein Begriff sein. Der Kunstraum Phileas präsentiert nun in Zusammenarbeit mit dem Museo d’Arte Contemporanea di Roma Fotoarbeiten der österreichischen Künstlerin im Dialog mit Werken von vier weiteren Künstler*innen: Seiichi Furuya, Talia Chetrit, Philipp Fleischmann und Sophie Thun. Ergänzt werden die psychologischen Porträts von Videoarbeiten, die von 1960 bis 2000 entstanden sind. 20. Juni bis 15. September Wien, Phileas
Avanti Dilettanti
Ursprünglich bezeichnete Dilettieren ein Handeln nur aus Liebe zur Sache. Scheitern ist dabei also gar nicht möglich. Mittlerweile sind Dilettieren und Scheitern aber geächtet. Entschuldigungen sind Ausdruck von Scheitern, doch ohne Überzeugung ausgesprochen, scheitert auch die Entschuldigung. Die Bitte um Verzeihung wird so zur leeren Floskel, zum rhetorischen Werkzeug. Eine Ausstellung zu falschen Geständnissen und zu Unrecht verpönten Begriffen, ernsthaft und humorvoll. bis 24. September Wien, MUSA Startgalerie
Eduardo Chillida: Gravitation
Bekannt ist der baskische Künstler Eduardo Chillida vor allem für seine massiven, unter größter Hitze verbogenen Skulpturen aus Stahl im öffentlichen Raum. Damit haben seine weniger bekannten Arbeiten auf und mit Papier zunächst nicht so viel gemein. Doch gerade in diesen von Monumentalität so weit entfernten Werken zeigt sich Chillidas Verständnis von Skulptur, der Kunst von Dichte und Leere, hell und dunkel, leicht und schwer. Diese erste institutionelle Einzelausstellung in Österreich legt darauf ihren Schwerpunkt. bis 24. September Krems, Kunsthalle
Termine Filme & Serien
3 Fragen an Franziska Pflaum Regisseurin
Im Mittelpunkt von »Mermaids Dont’t Cry« steht die Supermarktkassiererin Annika. Wie bist du auf deine Hauptfigur gekommen?
Über das Thema Mermaiding, also Meerjungfrauen-Schwimmen. Dabei hatte ich sofort einen schrägen Film mit Trash-Elementen vor Augen. Annika vereint die Pole von Sehnsucht und Banalität in diesem Hobby. Sie hat den Wunsch, abzutauchen und sich in ein zauberhaftes Wesen zu verwandeln, aber zunächst über den Weg des Konsums. Sie will sich eine LuxusMeerjungfrauenflosse kaufen, damit alles irgendwie besser wird. Erst später erkennt sie, dass sie das teure Teil gar nicht braucht und sich auch nicht in eine Meerjungfrau verwandeln muss, um sich frei zu fühlen. Sie muss bei sich selbst ankommen und lernen sich abzugrenzen. Der Film erzählt diesen Weg mit viel Humor. Warum war das Thema Mermaiding für dich interessant?
Das Thema ist bei Kindern gerade total angesagt. In jedem Sportgeschäft gibt es solche Flossen zu kaufen. Aber auch Erwachsene stehen auf Mermaiding. Auf Instagram findet man unzählige Fotos von Frauen und Männern mit Schwanzflosse. Viele davon haben nicht den Meerjungfrauenbody, der standardmäßig abgebildet wird. Das fand ich total schön und erfrischend. Es geht eben nicht darum, in das perfekte Bild hineinzupassen und es zu reproduzieren, es geht darum, ein Meerwesen zu sein – auf die eigene, einzigartige Weise. Das ist etwas sehr Schönes, dass ich auch in meinem Film zeigen wollte.
Welche Art Regisseurin willst du sein?
Ich wünsche mir, dass meine Filme zur gesellschaftlichen Solidarität beitragen und auch dazu, gewisse Nischen unserer Gesellschaft, sichtbar zu machen. Das soll auf eine Art geschehen, die einen nicht erschlägt, sondern auch Spaß macht. Ich denke, in jeder Tragödie gibt es auch Komik. Kämpfen, sich nicht unterkriegen lassen – das ist mein Zugang zum Leben. Sonst bin ich sicherlich jemand, der nicht besonders dogmatisch ist; ich bin unkorrekt und lote Grenzen aus. Ich glaube, dass es wichtig ist zu atmen und zu lachen. Man braucht Humor, um Hoffnung zu haben, und diesen Humor möchte ich gerne in meinen Filmen transportieren.
»Mermaids Don’t Cry« Start: 7. Juli
27 Storeys – Alterlaa Forever
Regie: Bianca Gleissinger »Wohnen wie die Reichen für alle«, so pries der Architekt Harry Glück sein Projekt Alterlaa einst an. 9.000 Personen leben hier auf einem Areal von 240.000 m². Neben den Wohnungen gibt es ein Einkaufszentrum, Ärzt*innen, Bildungsstätten sowie Sportflächen. Die optisch einprägsamen Bauten (die prägnanten weißen Balkone sind schon von Weitem zu sehen), gehören zum Stadtbild der Bundeshauptstadt genauso dazu wie Stephansdom, Schloss Schönbrunn oder Karlskirche – Wien von einer anderen Seite eben. Die Regisseurin Bianca Gleissinger verbrachte hier ihre Kindheit und spürt dieser nun in ihrer Doku nach. Dabei trifft sie auf verschiedene Protagonist*innen und fragt sich, wie eine Rückkehr hierher aussehen könnte. »Ich bin dann auf die Frage nach der Lebensrealität von Kindern, den Werten meiner Eltern und des Ortes umgeschwenkt«, erklärte sie gegenüber The Gap. Start: 2. Juni
Barbie
Regie: Greta Gerwig Der Film kommt bald in die Kinos, der Hype ist bereits da: Seit Monaten fiebern Fans dem Start von »Barbie« entgegen. Erste Bilder vom Set brachten kollektive Vorfreude: Schrille Outfits! Rollerblades! So viel Pink! Über den Cast – inklusive die Hauptdarsteller*innen Margot Robbie und Ryan Gosling – wurde schon viel diskutiert und auch der erste Trailer sowie Filmplakate mit dem Slogan »She’s everything, he’s just Ken« wurden schnell zu Memes. Ryan Gosling meinte in einem Interview, dass das Drehbuch – geschrieben von Greta Gerwig und Noah Baumbach – das beste gewesen sei, dass er je gelesen habe. Gerwig konnte mit ihren vorherigen Filmen »Lady Bird« und »Little Women« bereits ihr Talent für Regie zeigen. Nun dürfte sie mit »Barbie« einen weiteren Erfolg verbuchen. In diesem Sinne: This Barbie wants to go to the cinema! Start: 21. Juli
»Mermaids Don’t Cry«
Asteroid City
Regie: Wes Anderson ———— Wes Anderson ist zurück und hat skurrile Figuren, ein Ensemble an Stars und seinen idiosynkratischen Sinn für Ästhetik im Gepäck. In »Asteroid City« versammeln sich Menschen in einer fiktiven amerikanischen Wüstenstadt für einen Junior-Stargazer-Kongress. Seit »Durchgeknallt« von 1996 der erste Anderson-Film ohne Bill Murray, denn dieser konnte aufgrund einer Corona-Erkrankung nicht zum Dreh. Science-Fiction trifft auf Romantik. Start: 15. Juni
Wolf and Dog
Regie: Cláudia Varejão ———— Wenn sich am Höhepunkt dieses Films eine Pride Parade unter die katholische Prozession schummelt, zeigen sich die zwei sozialen Pole in »Wolf and Dog«. Im Zentrum stehen die queere Szene auf den Azoren und insbesondere Ana (Ana Cabral), die einerseits ihre Sexualität erkundet und andererseits erste Schritte als Erwachsene und aus der Enge des Insellebens wagt. Den Cast rekrutierte die Regisseurin aus der lokalen queeren Szene. Start: 15. Juni
Trenque Lauquen
Regie: Laura Citarella ———— Laura (Laura Paredes) ist eine Biologin, die während ihrer jüngsten Forschungsreise in den Westen Argentiniens verschwindet. Ihr Freund Rafael (Rafael Spregelburd) und ihr Kollege Ezequiel (Ezequiel Pierri) machen sich auf die Suche nach ihr. Verdacht wächst, Misstrauen nimmt überhand und die beiden Männer werden zu Rivalen. In ihrem dritten Spielfilm verbindet Laura Citarella Liebesfilm, Film noir und Mysterydrama. Start: 1. Juli
Alma & Oskar
Regie: Dieter Berner ———— Regisseur Dieter Berner bringt Alma Mahlers und Oskar Kokoschkas Beziehung auf die große Leinwand. Als Oskar (Valentin Postlmayr) sich im Frühjahr 1912 in Alma (Emily Cox) verliebt, ist ihr Mann gerade erst verstorben. Oskar ist impulsiv und besitzergreifend, die Beziehung wird schnell toxisch und für beide existenzbedrohend. Berner rückt in »Alma & Oskar« Alma in den Fokus: eine Frau, die mehr sein will als eine Muse. Start: 7. Juli
Rodeo
Regie: Lola Quivoron ———— Motorradfahren, das ist Julias (Julie Ledru) Leidenschaft. Die Außenseiterin mit Hang zu Technik und starken Meinungen beginnt an illegalen Treffen teilzunehmen, bei denen Motorradfahrer*innen Stunts wagen. Dort lernt sie Dom (Sébastien Schroeder) kennen, den Anführer einer Motorradclique. Bald führt sie für ihn Betrügereien und Botengänge durch – bis alles außer Kontrolle gerät. Start: 14. Juli
The Idol
Idee: Abel Tesfaye, Reza Fahim und Sam Levinson Im Vorfeld zog »The Idol« schon harsche Kritik ob der Verherrlichung toxischer Beziehungen auf sich: Lily-Rose Depp spielt die Sängerin Jocelyn, die nach einem Nervenzusammenbruch ihr Comeback plant und den Guru und Nachtclub-Besitzer Tedros (Abel »The Weeknd« Tesfaye) kennenlernt. Sam Levinson, bekannt durch »Euphoria«, wehrt sich gegen die Vorwürfe. Dem Erfolg der Serie wird es vermutlich nicht schaden. ab 5. Juni Sky
Barracuda Queens
Idee: Amanda Adolfsson Tagsüber Schülerinnen, nachts Diebinnen: In der schwedischen Krimiserie raubt eine Teenieclique Häuser aus, weil ihnen das Leben als privilegierte Rich Kids zu langweilig ist. Die nächtlichen Raubzüge sind also willkommene Abwechslung. Die Produzentinnen Frida Asp und Fatima Varhos waren zuvor für die ebenfalls empfehlenswerte Serie »Love & Anarchy« tätig. »Barracuda Queens« ist von Raubzügen im Stockholm der 1990er-Jahre inspiriert. ab 5. Juni Netflix
Christoph Prennerbewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber
Screen Lights Cage Against the Machine
Es ist immer erbaulich, mit Menschen, die einem etwas bedeuten, auf einer Wellenlänge zu sein. Noch erbaulicher ist es, wenn man mit exakt jenen bedeutsamen Personen auf einer Wellenlänge ist, die diese Wellen selbst schlagen. Vor allem dann, wenn man sich des Gleichklangs ganz unvermittelt gewahr wird. Als etwa Nicolas Cage unlängst in der »Late Show« mit Stephen Colbert zusammensaß und von diesem nach den persönlichen Top Five aus seinem Œuvre befragt wurde, zählte er tatsächlich fünf Filme auf, die auch das Herz des Schreibers dieser Zeilen besonders wild zum Schlagen bringen: »Pig«, »Mandy«, »Bringing Out the Dead«, Werner Herzogs »Bad Lieutenant« und »Joe«.
Keine Rede war da von Kassenschlagern aus seiner Nineties-Superstar-Ära mit »Face/Off«, »The Rock« oder »Con Air«, und auch keine von Kritikerhits wie »Adaptation«, »Arizona Junior« oder »Leaving Las Vegas« (HauptdarstellerOscar!). Wenig überraschend auch, dass all die in den 2010er-Jahren zur Tilgung hoher Steuerschuldenberge jährlich im halben Dutzend gedrehten, zuverlässig durchgeknallten Directto-Video-Titel mit närrischen Benamsungen wie »Vengeance: A Love Story« oder »Pay the Ghost«, keine Erwähnung fanden – und bezeichnenderweise auch nicht das Projekt, für das bei Colbert die Werbetrommel gerührt werden sollte: »Renfield«. Möglicherweise, weil zwischen den beiden Erscheinungen ein bedauerlicher Zusammenhang besteht? Doch dazu gleich mehr.
Zuvor sollten wir uns aber vielleicht überhaupt noch einmal vor Augen führen und in Erinnerung rufen, dass es auf dieser Erde tatsächlich keinen zweiten Schauspieler wie Nicolas Cage gibt. In einer Branche, die immer mehr auf Risikominimierung bedacht ist, setzt das widerwillige Nepo Baby Cage (dass er der Neffe von Francis Ford Coppola ist, sollte ihm nicht als Karrierekatalysator dienen) seit mehr als vier Dekaden alles auf eine Karte, koste es, was es wolle – oft genug auch ihn selbst. Weil es sein Berufsethos gar nicht anders zulässt.
Cage selbst nennt seine Herangehensweise an die Profession salopp »Nouveau Shamanic«: Um Figuren und ihre emotionalen Wahrheiten
möglichst authentisch wiedergeben zu können, strebt er beharrlich danach, eine Art schamanisches Bewusstsein zu entwickeln, um sich auf diese Weise gleichsam in einen »verrückten«, befreiten Zustand jenseits aller Fremd- und Selbstbeschränkungen versetzen zu können.
Mit dem Aperçu »The actor swims in the same waters that the psychotic drowns in« hat der 59-Jährige diesen Prozess kürzlich in einem Interview auch sehr, sehr Cage-esk auf den Punkt gebracht. Ein Prozess, dessen unkonventionelle, unberechenbare Früchte in mittlerweile über 100 Filmen im wahrsten Sinne des Wortes zu bewundern sind.
Da man während der erwähnten ausgedehnten Trash-Movie-Epoche allerdings oft den Eindruck gewinnen musste, es ginge nur noch darum, immer und immer wieder maximal heftige Gesten und theatralische Exzesse zu befeuern, um daraus viele, viele viral verwertbare Momente extrahieren zu können, geriet die angestrebte emotionale Wahrhaftigkeit zwischenzeitlich wahrnehmungstechnisch auch mal etwas in den Hintergrund. Umso erfreulicher ist es, dass Cage in jüngster Zeit nicht nur eine Kehrtwende hin zum ambitionierten Autor*innenkino vollzogen hat, sondern einige der aktuellen Ausflüge in diese Gefilde – wie eben die formidablen Indie-Experimente »Mandy« und »Pig« – sogar zu seinen eigenen Favoriten zählt.
Exzentrik ohne Lächerlichkeit
Womit wir wieder beim Anlass des »Late Show«-Auftritts wären, der Horrorkomödie »Renfield«, dem jüngsten Kapitel in Cages aktueller Karrierephase der wundersamen Wiedereingliederung in das Hollywood-Studiosystem. Diese wurde spätestens im letzten Jahr durch das postmoderne Gaudium »Massive Talent« eingeläutet, das eine überzeichnete Version seiner Persona nur für einige gehaltlose Kichereien nutzen wollte.
Ähnliches muss man nun jedoch auch für »Renfield« konstatieren – trotz der verheißungsvollen Vorzeichen: Wissend, dass Nic nicht nur ein Bewunderer von Bela Lugosis Kunst, sondern auch von F. W. Murnaus S/W-Meilenstein »Nos-
feratu« ist, scheint er geradezu prädestiniert für die Interpretation des Proto-Blutsaugers Dracula. Und wahrlich, Cage tobt sich mit durchweg gehaltvoller Exzentrik am Fürsten der Finsternis aus, ohne ihn dabei der Lächerlichkeit preiszugeben: eine Kombi, in der Tat so aufregend, wie man sie sich vorgestellt hat.
Blutleer trotz Cage-Magie
Doch leider ist Cages transsilvanischer Graf, wie der Filmtitel suggeriert, oft nur Zaungast in der banalen Geschichte seines entfremdeten Weggefährten Renfield (in mehrfacher Hinsicht blass: Nicholas Hoult), die zudem in einen zutiefst generischen Crime-Plot verwoben ist, der dem Werk schon früh jeglichen Horror und Humor, ja, aussaugt.
Man hat den Eindruck, hier zwei Filme zu sehen, die im Grunde wenig kompatibel sind: Den einen, in dem ein wahrer Ausnahmekönner mit enormer Hingabe eine ikonische Figur zum (ewigen) Leben erweckt. Und den, sorry, blutleeren anderen, der sich lediglich all dieser magischen Cage-Momente bedient, in der Hoffnung, dass die eigene Substanzlosigkeit und Inhaltsleere niemandem auffällt. Solcherart unterscheidet sich »Renfield« in gewisser Weise also auch nur durch sein höheres Budget von all den B- und CMovies, die bis vor Kurzem die sogenannte Cage Rage zynisch auszunutzen wussten.
Umso mehr wünscht man dem virtuosen Vielgesichtigen nach seiner nunmehrigen Rückkehr in die Studiomaschinerie auch dort Filme, die ihm auf Augenhöhe begegnen möchten. Filme, die nicht nur seinen (wiedererwachten) kommerziellen, sondern auch seinen künstlerischen Wert wirklich zu schätzen wissen und nicht bloß die schrägen, lauten, wilden Momente. Filme also, die Nic Cage ohne Zögern auf Bestenlisten setzen würde – und natürlich auch alle, die sich auf seiner Wellenlänge wähnen. prenner@thegap.at • @prennero
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Morbus Hysteria
Termine Bühne
All die schönen Dinge
»Sommerwind beim Radfahren, Nutella, Luftpol sterfolie zerplatzen« – der siebenjährige Linus führt nach dem Suizidversuch seiner Mutter eine Liste mit schönen Dingen, um sich von der Schönheit des Lebens zu überzeugen. Die Liste begleitet Li nus durch verschiedene Phasen und gibt ihm Mut. Das Stück, das lose auf »Every Brilliant Thing« von Duncan Macmillan und Jonny Donahoe basiert, handelt zwar im Kern von Depression, erzählt da bei aber von einem fragilen Gleichgewicht zwischen dem Verzweifeln am Leben und den wunderbaren Momenten. 1. bis 3. Juni Graz, Theater am Lend
Sibyl
Ein politisches Spannungsfeld: In einem Österreich, in dem abermals ein Rechtsruck droht, sehnen einige den alten Nationalstaat zurück, während andere sich lieber eine schnellere Internationalisierung und progressiven Fortschritt wünschen. Doch selbst in den eigenen Blasen scheinen sich die Menschen kaum zu verstehen – geschweige denn darüber hinaus. Das Stück »Morbus Hysteria« stellt die Frage nach einem harmonischen Miteinander jenseits aller Bubbles und danach, ob die sogenannte Political Correctness dem Zusammenleben oder nur dem eigenen Ego dient. In einem humorvollen Text-, Musik- und Bilderreigen zeigt das Aktionstheater Ensemble die Tragik und Komik eines hitzigen »War of Bubbles«. 30. Mai bis 4. Juni Wien, Werk X — 15. bis 18. Juni Bregenz, Theater Kosmos
Motora – This Day Is Not Promised
Als Performerin erforscht Marta Navaridas in »Motora« die Beziehung zwischen einem organischen Körper und einem nichtorganischen Volvo V60. Sie nimmt an einem poetischen Ritual des Fatalismus teil, das zwischen erotischer Verführung, Wunschdenken, pragmatischem Realismus und zärtlicher Anthropomorphisierung schwankt. Dabei reflektiert sie die Bedeutung von Maschinen – insbesondere von Autos – als Spiegel unserer Sehnsüchte und unserer Sicht auf uns selbst und die Welt. Autos symbolisieren das kapitalistische Versprechen und den potenziellen Albtraum, der damit einhergeht. Das Stück kombiniert stereotype Träume und Tropen rund ums Auto mit persönlichen Reflexionen über die Beziehung zum eigenen Fahrzeug. 16. und 17. Juni Graz, Halle für Kunst, Stadtpark-Wiese — 21. bis 23. Juni Wien, Brut
Animationsfilm, Tanz und Theater treffen in der Produktion des südafrikanischen Künstlers Wil liam Kentridge zusammen. Im Zuge der Wiener Fe stwochen gastiert die Genrecollage für drei Tage in Wien. Inhaltlich ist das Ganze inspiriert von der Figur der Sybille aus der griechischen My thologie, deren Weissagungen durcheinandergera ten. Im Stück jedoch nicht nur in der Reihenfolge, sondern auch mit anderen Mythologien und Sto rytelling-Traditionen. All das lässt die multimediale Kammeroper zu einer transkulturellen Meditation über die Unausweichlichkeit des Lebens werden. 19. bis 21. Juni Wien, Museumsquartier, Halle E
Linie Q
Wir befinden uns inmitten von Chaos und nihilis tischer Zerstörung. Sind wir noch zu retten oder ist es bereits zu spät? »Linie Q« ist eine immersive Performance und multimediale Installation, die von Escape-Rooms inspiriert ist. Das Stück befasst sich mit den Mechanismen zeitgenössischer Verschwö rungserzählungen und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen. Auf einer steilen und unaufhalt samen Talfahrt findet sich das Publikum in einem finsteren Tunnel scheinbarer Antworten wieder. Wo die Welt an Stabilität verliert, bieten einfache Erklärungen trügerischen Halt.
Wien, WUK im West
S_P_I_T_
Zum bereits vierten Mal findet das queere Perfor mancefestival in den TQW Studios statt. Es bietet eine Plattform, Stimmen und Perspektiven queerer Künstler*innen zu stärken und ihre Kulturpraktiken zu feiern. An den drei Abenden zielen die Veran staltungen darauf ab, die fragmentierte Darstellung queerer Identitäten zu hinterfragen, dominante kul turelle Repräsentationen zu untergraben und ge sellschaftliche Normen herauszufordern. So sollen neue Perspektiven eröffnet werden, queer-positive Denkräume zu erkunden und traditionelle Grenzen von Kunst und Unterhaltung zu durchbrechen. 22. bis 24. Juni Wien, Tanzquartier
Performances, Workshops & Research, Soçial
Service Notizen
Glossar
Gewidmet all denjenigen, die beim Lesen auf die eine oder andere Wissenslücke gestoßen sind.
Allosexualität bezeichnet Menschen, die sich sexuell zu anderen Menschen hingezogen fühlen, und ist somit das Gegenstück zu Asexualität. Alterisierung / Othering beschreibt Erfahrungen von marginalisierten Menschen, wenn diese aktiv aus der gesellschaftlichen Norm abgegrenzt oder ausgeschlossen werden, also wie »das Andere« behandelt werden. Care ist ein Begriff der im Zentrum vieler feministischer Diskurse steht und die Fürsorge bezeichnet, mit der wir anderen Menschen und unserer Umwelt im Allgemeinen begegnen sollten. Cis ist entgegen transphober Narrative kein Schimpfwort, sondern schlicht ein Synonym für »nicht-trans« – und im Übrigen eine Vorsilbe antiken Ursprungs und keine Neuerfindung. Dragkings performen überhöhte Formen von Männlichkeit – statt von Weiblichkeit, wie es Dragqueens tun. Hooks sind wiederkehrende musikalische Motive, an denen Hörer*innen wie an einem Angelhaken hängen bleiben. Der Refrain ist häufig ein Hook, aber auch Melodien, Samples, Rhythmen etc. können diesen Zweck erfüllen. LGBTQIA* hat als Akronym im Laufe der Geschichte verschiedene Längen und Bedeutungen durchgemacht. Aktuell steht es für Lesben, Schwule, bisexuelle, trans, queere, inter- und asexuelle Personen. Der Stern soll Platz für weitere Identitäten bieten, die nicht explizit genannt werden. Migrantisierte Menschen wird statt Migrant*innen verwendet, um darauf aufmerksam zu machen, dass Migration häufig unter äußeren Zwängen passiert und etwas ist, was den Betroffenen kontinuierlich angetan wird. Positronische Stimmen, wie sie in unserer Rezension des Gala-Fur-Albums vorkommen, sind zwar eine Neuschöpfung, aber positronische Hirne gab es schon bei Science-Fiction-Kultautor Isaac Asimov und wurden durch »Star Trek« populär. Sie verleihen Data seine menschenähnliche, jedoch immer noch artifiziell anmutende Intelligenz. Stakkato heißt es, wenn aufeinanderfolgende musikalische Elemente klar voneinander getrennt werden und abgehackt klingen. Zum Beispiel Text, aber auch Noten.
The Gap 038 Sommer 2001
Unser Sommer in Wiesen. Oder: Wie The Gap vom Fanzine zum Magazin für Popkultur wurde. ———— Es war nicht nur der Versuch, die »Festivalkultur dieses Landes zu beleben«, wie Thomas Weber damals im Editorial schrieb, sondern auch eine Art Testballon: Mit seiner 38. Ausgabe versuchte sich The Gap erstmals als fully grown Popkulturmagazin. 68 Seiten, komplett neuer Look (entwickelt von Niko Alm und Iris Kern), gratis und in einer Auflage von 40.000 Exemplaren. Verteilt wurden diese großteils von Hand und am Festivalgelände in Wiesen. Die Idee dahinter gilt auch heute noch: das geneigte Publikum dort abzuholen, wo es seinen Leidenschaften nachgeht. Mit Tricky am Cover und prominent platzierten Storys zu Radiohead, Placebo, Stereo MC’s, Weezer und »Planet der Affen« war der Blick damals noch stark auf das internationale popkulturelle Treiben gerichtet. Aber auch Waldeck, Fetish 69, Martin Amanshauser und Thomas Glavinic waren uns Texte wert. Frauenanteil? Man bringe den Mantel des Schweigens!
Posthof Linz
Unsere Zusammenarbeit mit dem Posthof reicht zurück bis in die frühen Nullerjahre. Einschlägig interessierte Linzer*innen wissen daher schon lange: Hier gibt es neben einem breit gefächerten Programm aus den Sparten Musik, Tanz, Theater, Kleinkunst und Literatur immer auch die aktuelle Ausgabe von The Gap. Und so ist das Veranstaltungszentrum im Hafenviertel – ein von der Stadt Linz im Jahr 1984 erworbener und anschließend adaptierter Bauernhof –nicht nur einer der wichtigsten Kulturorte des Landes, sondern auch verdienter Langzeitpartner unserer Vertriebsabteilung. Doppelter Dank dafür!
Café Comet / Fürth Wien
Wer hausgerösteten SpecialityCoffee zur The-Gap-Lektüre genießen will, findet beides in diesem Lokal in der Kirchengasse, ums Eck von der Burggasse. Ambiente: gemütlich-eingelebt statt hipster-schick.
Rechbauerkino Graz
Hinter der Oper und nahe dem Stadtpark liegt dieses charmante kleine Programmkino. Im Foyer noch schnell in den aktuellen Filmtipps von The Gap geschmökert, und dann heißt’s: gute Projektion!
Wo gibt’s The Gap?
Xavier Rudd
Haiyti
Danger Dan
Peaches
Symba
Gretel Hänlyn
Helge Schneider
Heaven Shall Burn
Kruder & Dorfmeister
The Black Angels
The Gardener & The Tree
Gentleman Sudan Archives
Poolbar ConSTELLAtion
Bilal
1000Mods
Lalalar
Frittenbude
Sharktank
Digitalism
Porridge Radio
Sex and the Lugner City
Are straight people okay?
Es ist nicht immer einfach, ein guter Ally zu sein. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Erst vor Kurzem begleitete ich meinen Bruder und seine Frau zu einer Veranstaltung, auf der sie ihre heterosexuelle Sichtbarkeit feierten: dem Abschiedskonzert von Fettes Brot im Gasometer. Anfangs schockierte mich die zur Schau gestellte Alltäglichkeit. Ein Meer von SoftshellJacken, dröhnendes Gemurmel über Babysitter und die letzte Folge »Breaking Bad«, viele dieser Schuhe mit einer einzelnen Kabine für jede Zehe. Doch ich war vorbereitet. Um nicht negativ aufzufallen, hatte ich mich schon zu Hause mit Axe-Bodyspray eingesprüht. Vor Ort zog ich mir eine Grillschürze über und redete sehr viel vom Hubraum meines Opel Astras, den ich nicht besitze, während ich mit ein paar Wine Moms mingelte. Nach den ersten Takten von »Jein« legte sich meine Scheu endgültig und ich stand kopfwippend an der Bar, als wäre es 1996 und ich mit einer Freundin zusammen, die sich in der Südsee bräunte. Sexuelle Orientierung ist eben ein Spektrum, dachte ich, als ich zu Hause einige an diesem Abend gewachsene Nasenhaare trimmte. Ein bisschen war ich sogar stolz auf meine Toleranz für Lebensentwürfe, die so extrem basic sind. Schließlich sind einige meiner besten Freunde heterosexuell.
Schwule Mädchen
Dieses Gefühl möchte ich mir im Juni bewahren. Denn ich kann nur erahnen, wie sich der Pride Month aus der Perspektive einer straighten Person anfühlt. Jeder Billa will plötzlich irgendwie schwul sein, auf allen Bims wedeln dir Regenbogenfähnchen entgegen, sogar deine Haushaltsversicherung feiert auf Instagram ihr Coming-out. Das weißt du, weil du so straight bist, dass du deiner Haushaltsversicherung auf Instagram folgst.
Es ist für Heteros mittlerweile ziemlich schwierig geworden, sich der queeren Folklore in europäischen Hauptstädten zu entziehen. Deshalb kommen auch immer mehr straighte Dudes zur Regenbogenparade. Wunderbar! Sie marschieren mit uns, um für Gleichheit zu kämpfen. Sie zeigen Flagge für sexuelle Selbstbestimmung. Sie lackieren sich die Fingernägel, um ein Zeichen zu setzen für … um ein extrem aussagekräftiges Zeichen zu setzen. Ihr Engagement für die LGBTQIA*-Community erschöpft sich auch nicht an diesem einen Tag. Das ganze Jahr über positionieren sie sich entschlossen gegenüber jeglicher Form von Diskriminierung. Ein Schelm, wer denkt, es ginge ihnen nur um die Gelegenheit, sich halbnackt am Ring zu besaufen und etwas Schickes aus dem Sexshop auszuführen.
Hetero-Tinder ist das schlechte Tinder
Man weiß es einfach nicht genau. Straighte Männer sind mir ein Buch mit sieben Siegeln. Dachte ich zuletzt, als ich einen Blick in die Dating-App einer Freundin werfen durfte, die das Pech hat, heterosexuell zu sein. Was man dort zu sehen bekommt, ist schlimm. Komische Hairstyles, weirde Angles, irgendwelche Stefans, die fließend Sarkasmus sprechen. Es gibt dieses bizarre Klischee von Dudes, die sich auf ihren Tinder-Fotos mit großen Fischen zeigen – und es stimmt. Außerdem die schiere Masse an Nachrichten, die offensichtlich gecopy-pasted wurden. Hetero-Tinder ist irgendwie das schlechte Tinder.
Auch in meine Matches verirrte sich vor Kurzem ein Heterosexueller, beziehungsweise: Heteroflexibler. Binnen weniger Nachrichten hatte er mir auseinandergesetzt, dass er keine Beziehung suche, weil er schon mit seiner Freundin zusammen sei, aber auch keine Freundschaft, weil
Freund*innen habe er genug. Dennoch schwebte ihm eine Art Regelmäßigkeit vor. Es solle eine Sexfreundschaft werden, aber eben eher low, was den Freundschaftsaspekt angeht. Ich finde, so macht Polygamie keinen Spaß. Ohne die zumindest fernliegende Möglichkeit für Freundschaftstattoos werde ich mit Leuten einfach nicht warm, wenn ihr versteht, was ich meine.
Katzenohren vom Libro
Vielleicht begegne ich ihm ja auf der Regenbogenparade. Ich freu’ mich schon. Einen Tag lang gehört der Ring wieder uns allen. Ich mag nämlich straighte Leute auf der Parade ganz gern. Kommt, liebe Dudes, klebt euch Kreuze aus Isolierband auf eure Brustwarzen und sammelt ein paar Gratiskondome! Rein in die Westbahn, Kegelverein aus St. Pölten! Setzt euch einfach ein paar Katzenohren vom Libro auf – und geht schon! Bettinas, packt eure Brüste aus! Wer den Vibe-Check besteht, ist herzlich willkommen.
In Wahrheit geht es auf Pride Marches ja nicht lediglich um die Freiheit der queeren Community, sondern um die Freiheit von allen Menschen. Vorausgesetzt natürlich, ihr seid euch eurer Privilegien bewusst, erkennt die queere Geschichte an und seid auch in den restlichen elf Monaten stramme Allys. Jene gehen übrigens alle in die Show eines schwulen lokalen Comedians. Sie soll sehr gut sein. Sagen zumindest mein Bruder und seine Frau.
joechl@thegap.at • @knosef4lyfe
Josef Jöchl ist Comedian. Sein Soloprogramm heißt »Die kleine Schwester von Nett«. Aktuelle Termine findest du auf www.knosef.at.
Annie Taylor (CH) Bex (AT) Bon Jour (AT) Flawless Issues (DE)
Güner Künier (DE) Meagre Martin (DE) MRFY (SI) Peter The
Human Boy (AT) Rauchen (DE) Reveal Party (DK) Salomea (DE)
Sander Sanchez (DK) Shybits (DE) Soft Loft (CH) UBLU (DK)
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Cousines like Shit (AT) Dolphin Love (DE) Elav (AT) Gents (DK)
Sam Quealy (AU) Lahra (AT) Oopus (EE) Nina Kohout (SK) Shelf
Lives (UK) Turfu (FR)
… and many more to come