Magazin Kritiken
Theater Freiburg
Schreie der Körper „Medea“ von Simon Stone nach Euripides – Regie Kamilé Gudmonaité, Bühne und Kostüme Barbora Šulniute
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it hellrotem Lippenstift kritzelt die Ärztin und Wissenschaftlerin ihren Namen an kalte Laborwände: „ANNA“ ist da in großen Lettern zu lesen. Weil ihr Mann Karriere machen wollte, hat sie auf ihr eigenes Fortkommen verzichtet. Zwei Jungs hat Anna großgezogen. Ihr Mann hat sie dann für eine Jüngere verlassen, die ihm größeren Nutzen verspricht. Was solche Ablehnung mit einem Menschen macht, zeigt die junge litauische Regisseurin Kamilė Gudmonaitė in ihrer packenden Inszenierung am Theater Freiburg. Statt eines trockenen Psychodramas macht sie aus Simon Stones moderner Überschreibung von Euripides‘ „Medea“ einen Thriller. Eiskalt ist die Atmosphäre, die die dreißigjährige Regisseurin aus Litauen auf der Freiburger Schauspielbühne kreiert. Die Bühne von Barbora Šulniute ist ein offener Raum, der auf das gläserne Labor zuläuft. Da hat Anna geforscht, hier blickte sie einem glanzvollen Werdegang als Pharmaforscherin entgegen. Laura Palacios lässt diese Sehnsucht nach mehr im Leben in ihrer starken Studie immer wieder spüren. Bis sie sich in ihren Assistenten Lucas verliebte. Der Schauspieler Lukas T. Sperber verkörpert einen angenehmen Mann. Er hat sein Leben fest im Griff. Dass er sich in die Tochter seines Chefs, die junge Clara, verliebte, sieht er ganz pragmatisch. Dass er seine Frau damit in die Psychiatrie gebracht hat, passt nicht in dieses Weltbild.
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Benny Claessens ist Phaedra oberkörperfrei im gleichnamigen Stück
Schauspiel Köln
Phaedra als Proletenposse „Phaedra“ von Thomas Jonigk frei nach Seneca und Racine (UA) – Regie, Video und Bühne Ersan Mondtag, Künstlerischer Mitarbeiter Alexander Naumann, Musikalische Einrichtung und Komposition Beni Brachtel, Kostüme Teresa Vergho
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ine Puppenhauswelt. Eine Straße, drei Häuschen, bunte Farben. So sah das Vorstadt-Amerika in den Serien aus den fünfziger Jahren aus. Ein Polizeiauto fährt langsam heran. Der Polizist auf dem Fahrersitz bewegt es mit seinen eigenen Füßen vorwärts. Wie Fred Feuerstein und Barney Geröllheimer. Dennoch kommt Rauch aus dem Auspuff. Das ist allerdings der beste Gag des Abends. Thomas Jonigk hat die oft bedichtete und verfilmte mythische Tragödie überschrieben. Warum er das tat, bleibt rätselhaft. Ein Grund, warum die Geschichte neu erzählt werden muss, drängt sich nicht gerade auf. Jongiks Grundthese: Alle Beteiligten wissen, was passieren wird, und können ihrem Schicksal nicht entgehen. Das ist weder neu noch originell, zumal Jonigk nicht von einer Selbstermächtigung der Figuren erzählt, sondern seine Idee vor allem dazu nutzt, dass Phaedra und die anderen mit dem blöden Theaterbetrieb abrechnen, der sie immer wieder dazu zwingt, diese aus ihrer Sicht schwachsinnige Geschichte zu spielen. Benny Claessens spielt Phaedra. Seine Spezialität besteht darin, zwischen den Sphären zu tanzen, aus der Ironie ins Gefühl zu kippen, anzudeuten, auszuweichen, als One-ManDiskurstheater zu schillern. Das gelingt diesmal nur sehr selten. Meistens spielt er in einem Brüste-Bauch-Suit mit quasi freiem Oberkörper und gibt völlig ungebremst eine frustrierte und vereinsamte Vorstadtfrau, die sich in Exzesse stürzt. Mit Freundin Peggy – im Orginnal die Amme Oinone – schnieft Phaedra Kokain von einem Küchenblech, säuft und suhlt sich in Fäkalsprache. Als Feldherr Theseus (Benjamin Höppner) doch zurückkehrt und einen Geliebten aus dem Vietnamkrieg mitbringt, eskaliert die Kleinstadtsauerei. Phaedra wird zur Massenmörderin im Stil eines amerikanischen Trash-Slashers, und hier hat Benny Claessens ein paar spannende Momente. Da spiegelt sich in seinem Gesicht eine Ahnung vom Entsetzen über die eigenen Taten. Es ist ein dicker Panzer, den sich diese Phaedra zugelegt hat, um gegen die fiesen Männer zu bestehen. Und um diese machodominierte Theaterwelt zu ertragen, die sie immer als fiese Frau darstellt, die ihre Triebe nicht unter Kontrolle hat und deshalb alle in den Tod stürzt. Da kann sie auch mit Lust metzeln und blutberauscht gegen ihr Schicksal anschreien. Nach fast zweieinhalb Stunden deutet sich eine Tragödie an. Wenn man nach der Theaterfolter davor noch Lust hat, sich auf solche Gedanken einzulassen. // Stefan Keim
Theater der Zeit 1 / 2023
Fotos Freiburg Amelie Amei Kahn-Ackermann, Hamburg Rocket&Wink, Köln Birgit Hupfeld, Zittau Pawel Sosnowski
Holger Kunkel, Mani Müller, Gian Mutschlechner, Laura Friedmann und Laura Palacios in „Medea“
Der Mythos von Medea fasziniert und verstört Menschen, seit ihn Euripides 431 v. Chr. dramatisiert hat. Stone holt die Ehefrau, die zur Furie wird, ganz nah an die Lebensrealität des Publikums heran. Den antiken Stoff hat er 2014 für die Toneelgroep in Amsterdam überschrieben. Seine Fassung basiert auf dem Fall der US-amerikanischen Ärztin Deborah Green, die nach der Scheidung ihr Haus in Brand steckte und ihre drei Kinder tötete. Ein Monster ist diese Figur nicht, eher ein Opfer. War die Titelheldin Medea bei Euripides noch eine Furie, so ist sie bei Simon Stone eine Frau und Mutter, die am 21. Jahrhundert scheitert – getrieben, frustriert und ohne Liebe. Die Sprach- und Hilflosigkeit der Akteure setzt Gudmonaitė grandios in Szene. Statt auf Sprache setzt die Regisseurin auf die Schreie der Körper. Mit Videos kontrastiert Gudmonaitė die Beziehungen zwischen den Menschen immer wieder scharf. Ihr multimediales Konzept trifft ins Schwarze. // Elisabeth Maier