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Zeit für grundsätzliche Selbstkritik Die Revision weißer Wissensproduktion in den Theaterwissenschaften angesichts des kolonialen Erbes Von Theresa Schütz
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Die Publikation „Theaterwissenschaft postkolonial/dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme“, herausgegeben von den beiden Theaterwissenschafterinnen Azadeh Sharifi und Lisa Skwirblies, ist eine, auf die viele Kolleg:innen unseres Fachs lange gewartet haben. Endlich benennt ein Band all die Versäumnisse, Lücken und auch machtvollen Ungleichgewichte, die es in der Theaterwissenschaft wie auch in weiten Teilen der deutschen Theaterlandschaft zu dezidiert postund dekolonialen Perspektiven gibt. Dafür versammeln die beiden Herausgeberinnen Stimmen aus der Wissenschaft, aus der künstlerischen Praxis (wie z.B. Joana Tischkau oder Olivia Hyunsin Kim), der kuratorischen Arbeit (z.B. Joy Kristin Kalu oder Elisa Liepsch) ebenso wie aus den Feldern Kulturpolitik und Aktivismus (z.B. Julius Heinicke oder Bühnenwatch). So ist eine reichhaltige, kluge und wissen(schaft)spolitisch wichtige Intervention entstanden, die Pflichtlektüre nicht nur für alle Studierenden, sondern auch für alle Lehrenden und leitenden Theaterschaffenden sein sollte. Mit ihrem den Beiträgen vorangestelltem „Plädoyer für eine epistemologisch gerechtere Theaterwissenschaft“ benennen Sharifi und Skwirblies, die beide selbst lange zu postkolonialen oder kolonialgeschichtlichen Gegenständen geforscht und gearbeitet haben, drei Kernbereiche, die transformiert werden müssten: Es bedürfe einer strukturellen Diversifizierung des Forschungs- und Lehrpersonals, einer Kanonkritik und -erweiterung sowie einer Revision der im Fach etablierten Begriffe und Methoden, deren Geschichte dominant die einer eurozentristischen, weißen Wissensproduktion ist (ohne sich dieser selbst bewusst zu sein). Sie fordern deshalb ein breiteres Interesse an der Befragung des eigenen „koloniale[n] Erbe[s] unserer Epistemologien“ (S. 29). Während in der Anglistik, in den Regionalwissenschaften oder der Literaturwissenschaft bereits in den achtziger Jahren postkoloniale Theorie breit rezipiert wurde und damit Gegenstände und Methoden prägte, gab es in der deutschen Theaterwissenschaft bis Mitte der neunziger Jahre nur zwei Monografien mit postkolonialem Schwerpunkt: eine von Joachim Fiebach zu Theater auf dem afrikanischen Kontinent und eine von Christopher Balme zum englischsprachigen Raum. Balme und Fiebach sind – eine für die Genealogie des Diskursfeldes wichtige Geste – auch mit eigenen Positionsbestimmungen im Band
vertreten. Ein zentrales Problem identifizieren Sharifi und Skwirblies in der Marginalisierung aktivistischer Positionen im Feld akademischer Wissensproduktion, die zum Beispiel dazu führte, dass wichtige Stimmen wie Grada Kilomba oder Peggy Piesche in der Formierung postmigrantischer Diskurse, die ihrerseits als wichtige „Impulsgeber für die Sichtbarmachung von bereits existierenden dekolonialen Diskursen und Wissensformierungen“ (S. 40) verstanden werden können, unterrepräsentiert blieben. Mehr als schlüssig deshalb, dass sie Akteur:innen von Bühnenwatch, der Initiative für Solidarität am Theater, sowie der Initiative Schwarzer Menschen gleichberechtigt zu Wort kommen lassen. Auch die Theaterwissenschaftlerinnen Anika Marschall und Ann-Christine Simke, die nach ihrem Studium in Deutschland mehrere Jahre in Glasgow gearbeitet haben, plädieren für Räume progressiven Lernens und progressiver Wissensproduktion, womit ebenfalls eine aktivistische Haltung von Wissenschaftler:innen eingefordert wird, die auf ihre (Mit-)Verantwortung hinsichtlich einer Transformation von Machtstrukturen an der weißen Institution Universität zielt. Mit Unzulänglichkeiten insbesondere einer phänomenologisch geschulten Aufführungsanalyse, die von der eigenen (unmarkierten) subjektiven Erfahrung ausgeht, um vermeintlich „objektives“ Wissen über eine Inszenierung zu erzeugen, ist im Band auch die mehrfach vorgebrachte Kritik an theaterjournalistischen Texten verknüpft. Simone Dede Ayivi macht hier einen wichtigen Punkt, wenn sie konstatiert, dass Theaterkritik zu häufig einem imaginierten weißen Publikum verpflichtet bleibe. Was sich zum Beispiel darin äußert, dass verwendete Kostüme falsch dechiffriert werden. Aber nicht nur, dass die Theaterkritik ihre Hausaufgaben zu Schwarzem Wissen, zu diskriminierungsfreier Sprache (gerade auch im sogenannten inklusiven Theater) oder auch zum Stellenwert der eigenen Positionalität beim Schreiben machen muss, sie ist auch, was class und race angeht, immer noch ein homogenes, weißes Feld, das ebenso wie die Theaterwissenschaft der angemessenen Repräsentation der Vielfalt der deutschen Gegenwartsrealität hinterherläuft. T
Azadeh Sharifi / Lisa Skwirblies (Hg.) Theaterwissenschaft postkolonial/dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme. transcript Verlag, Bielefeld 2022, 298 S., € 37
Theater der Zeit 1 / 2023