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Wie kommt das Neue ins Theater?

Kathrin Tiedemann

Ein autofiktionales Gespräch

A – Zwei Studierende der Kultur- und Medienwissenschaft, Bachelor, 2. Semester B – Dramaturgin und künstlerische Leiterin des Produktionshauses für Freie Darstellende Künste, FFT Düsseldorf

A: Uns interessiert, wie Sie das Verhältnis von künstlerischer Innovation und Alter in den zeitgenössischen performativen Künsten beziehungsweise im Freien Theater beschreiben würden. B: Eine gute Frage. Sie ist gar nicht so leicht zu beantworten, weil es insgesamt noch relativ wenig Geschichtsschreibung auf diesem Gebiet gibt. Wir können also nicht einfach im Archiv nachschauen, welche Arbeiten es bereits gibt oder gegeben hat, und daran abgleichend bestimmen, was heute als »neu« im Freien Theater gelten könnte. Mir fällt in diesem Zusammenhang die Initiative Performing the Archive und ihre Studie mit gleichlautendem Titel ein, die 2018 erschienen ist und Vorschläge macht, wie die zurückliegenden rund fünfzig Jahre freier Theaterarbeit historisch aufzuarbeiten wären. Dabei steht die Frage nach einem Archiv des Freien Theaters in unmittelbarem Zusammenhang mit der wachsenden Anerkennung und Etablierung im Bereich der Freien Darstellenden Künste. Bemerkenswert finde ich, dass es Gruppen und Künstlerkollektive gibt, die seit zwanzig, dreißig Jahren zusammenarbeiten. Das ist neu und sicherlich darauf zurückzuführen, dass die öffentliche Förderung in diesem Bereich kontinuierlich ausgebaut wurde. Dadurch wurden Kontinuitäten in der künstlerischen Produktion und entsprechende Arbeitsbiografien erst möglich. Wer hätte vor dreißig Jahren gedacht, dass Altwerden im Freien Theater überhaupt eine Option sein würde? Niemand. Freie Gruppen galten entweder als Amateurtheater oder als künstlerischer Nachwuchs.

Sie sind bekannt dafür, dass Sie Gruppen lange begleiten. Gibt es ein Problem bei der Ablösung von bereits etablierten künstlerischen Positionen durch jüngere, innovative Ansätze und Praktiken? Da müssten wir eigentlich erst mal genauer definieren, was wir heute unter künstlerischer Innovation verstehen und ob das Bild, dass eine

Generation von einer nachfolgenden abzulösen wäre, überhaupt zutreffend ist. Dass sich künstlerische Bewegungen wie im zwanzigsten Jahrhundert als Avantgarde, als »Vorhut« einer in die Zukunft und auf kulturellen »Fortschritt« gerichteten Form der Kulturkritik verstehen, diese Vorstellung halte ich eher für einen problematischen Aspekt der Moderne, deren historische Verwerfungen es sich bewusst zu machen und aufzuarbeiten gilt. Ich denke, dass aktuell ganz andere Dynamiken und Konflikte von Bedeutung sind, entlang derer die Neuverteilung der Macht verhandelt wird, sei es in der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe, mit patriarchalen Strukturen oder heutigen Formen des Kapitalismus. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit des tiefgreifenden technologischen Wandels und in einer Zeit existenzieller ökologischer Krisen. Beides hat immense Auswirkungen auf die Formen des Zusammenlebens und des In-der-Welt-Seins. Die künstlerischen Kontexte, in denen wir uns bewegen, sind komplexer, vielstimmiger und diverser als vor zwanzig, dreißig Jahren. Die Haltungen, mit denen sich Künstler*innen im Feld der Darstellenden Künste bewegen, können sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wo und wie sie sich in den beschriebenen Konflikten positionieren, von wo aus sie sprechen, ob sie sich in lokalen oder transnationalen Zusammenhängen bewegen, forschend, lernend, aktivistisch, kämpferisch. Es geht nicht so sehr um einen Generationswechsel als um die Frage, wie sich die Theater, die hierzulande in einer bürgerlichen Kulturtradition stehen, öffnen. Produktionshäuser bieten interessante institutionelle Rahmenbedingungen für diese Öffnungsprozesse.

Wie erinnern Sie die Situation, als Sie Mitte der 1990er Jahre zusammen mit anderen Kolleg*innen angefangen haben, in Berlin die Arbeiten von jungen Theatermacher*innen für das Nachwuchsfestival reich & berühmt zu kuratieren? Ich hatte meine Magisterarbeit über Elfriede Jelinek geschrieben und war herumgereist, um mir Inszenierungen ihrer Stücke anzusehen. Die hatten jedoch nach meinem damaligen Theaterverständnis keine interessante Form im Umgang mit den Texten gefunden. Meine Begeisterung für Theater hatte stark nachgelassen. Aber dann habe ich 1993 die Wooster Group beim Festival Theater der Welt in München gesehen. Das war ein wichtiges Aha-Erlebnis, ein anderer Theaterentwurf, den ich bis dahin nicht kannte. Ansonsten spielte der Austausch mit Freunden, die Bildende Kunst studierten und sich eher für Film als für Theater interessierten, eine wichtige Rolle. Denen wollte ich bewei-

sen, dass Theater als zeitgenössische Kunst ernst zu nehmen ist. Wir begeisterten uns für Roy Cohn/Jack Smith von Ron Vawter und die frühen Arbeiten von Schlingensief an der Volksbühne. Und diese Freunde fanden es dann auch lustig, fünf Mark dafür zu bezahlen, um für ein paar Minuten mit einer Darstellerin von She She Pop im Schrank zu verschwinden. Ich habe damals als Journalistin über diese Performances geschrieben. Ich war hingerissen und wollte mit dem Schreiben eine Antwort auf das Erlebte geben. Es hatte sich noch kein Diskurs für diese neuen Praxen etabliert. Ein Begriff wie Hans-Thies Lehmanns »postdramatisches Theater« setzte sich erst im Laufe der Zeit durch. Daher spielte auf theoretischer Ebene vor allem die Auseinandersetzung mit der Performance Art der 1960er Jahre eine wichtige Rolle. Andy Warhols From A to B and back again war eine große Inspiration, seine Experimentalfilme Screen Tests, außerdem die Filme von Jack Smith, Guy Debords Gesellschaft des Spektakels, Diedrich Diederichsens Sex Beat und Freiheit macht arm. Es ging gar nicht so sehr ums Theater, sondern eher um die Suche nach einem Ausdruck für die Lebensrealitäten der 1990er Jahre und ums Selbermachen. Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, von Thomas Atzert herausgegeben, war ein weiteres wichtiges Buch zu der Zeit, mit Texten von Mauricio Lazzerato, Paolo Virno und Toni Negri. Liebe und Arbeit, also die Frage, wie die ökonomischen Umbrüche in die privaten Beziehungen hineinwirkten, war damals ein zentrales Thema. Es ging darum, den gesellschaftlichen Wandel zu begreifen, den Umbau des Sozialstaats zur post-fordistischen, neoliberalen, kapitalistischen Kontrollgesellschaft. Viele Performances setzten sich mit dem unternehmerischen Subjekt auseinander, mit der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Nicht zuletzt ging es um die Reflexion der Auswirkungen der Digitalisierung; es war die Zeit, als das Internet allmählich zum Massenmedium wurde.

Das beschreibt gewissermaßen den performative turn im Theater seit den 1990er Jahren, der zu neuen Darstellungsformen führte, die inzwischen künstlerisch etabliert sind. Stünde jetzt nicht ein erneuter Generationswechsel an? Insofern unterschiedliche Mediensozialisationen den Zugang zur Welt prägen, lässt sich tatsächlich ein Generationswechsel beobachten. In dem Zusammenhang fällt häufig das Stichwort Post-InternetArt. Damit lassen sich die künstlerischen Praxen der Digital Natives beschreiben, also derjenigen, die als Ureinwohner*innen in der Welt des Internets zuhause sind. Sie leben eine alle Lebensbereiche

durchdringende Kultur der Digitalität als Normalität, ohne dass das »Neue« des Digitalen thematisiert wird. – Aber auch hier geht es eher um eine Haltung und nicht so sehr um eine Frage des Alters. Diese Haltung kann die Routinen des Kunstbetriebs und des Theaters herausfordern.

Welche Konsequenzen hat diese Haltung für zeitgenössische künstlerische Praxen? Ich kann versuchen zu beschreiben, wie ich es wahrnehme. Mir fällt auf, dass aktuelle künstlerische Praxen unter, wenn man so will, post-internet-condition weniger auf Darstellung oder Narration zielen, als vielmehr den Gebrauch von Bildern, Codes, Styles und Formen zeigen, kommentieren, montieren, überschreiben und zur interaktiven Aneignung anbieten. So entwickeln Künstlerkollektive einer jüngeren Generation wie beispielsweise The Agency in immersiven Settings Modelle für imaginäre Formen des Zusammenlebens, die eine mögliche Zukunft entwerfen. Statt sich auf ein kollektives Gedächtnis zu beziehen, appellieren sie an eine kollektive Vorstellungskraft. Andere arbeiten wie das Gametheaterkollektiv machina eX an der Verflechtung von Videogames und Liveperformance oder wie das feministische Künstlerinnenkollektiv Henrike Iglesias, das sich auf die Dekonstruktion von Geschlechternormen spezialisiert hat. Auch der Begriff des Pre-Enactments, wie ihn Oliver Marchart mit Blick auf künstlerische Praxen geprägt hat, deren Widerständigkeit sich erst in einer zukünftigen politischen Situation erweist, zielt auf die Potenzialität von Geschichte. Szenische Praxen werden nicht zur Repräsentation einer Wirklichkeit benutzt, die von Zuschauer*innen betrachtet oder beobachtet wird, sondern zur Herstellung von Umgebungen, die dazu einladen, in ihnen Formen und Regeln zu erfinden, mit denen sie gemeinsam bewohnt und gestaltet werden können. Die Grenzen zwischen Produktion und Rezeption werden durchlässig. Es geht um Prozesse der Aushandlung, in denen die Beteiligten miteinander interagieren und so auch mitverantwortlich für den Verlauf und den Ausgang einer »Aufführung« werden. Bezeichnend ist vielleicht auch, dass sich die künstlerischen Teams anders transdisziplinär zusammensetzen als vor zwanzig Jahren: Bestimmte technische Fähigkeiten, etwa zur Entwicklung oder Anwendung von Software oder für Strategien des cultural hackings, spielen zunehmend eine Rolle, ebenso wie soziale und kulturelle Kompetenzen, die durch die transnationale, diverse oder auch altersgemischte Zusammensetzung von Ensembles, aber auch durch

Kooperationen zum Beispiel mit Naturwissenschaftler*innen erreicht werden.

Zum Schluss möchten wir Sie fragen, woran Sie gerade arbeiten beziehungsweise welche Arbeit Sie in der letzten Zeit besonders begeistert hat? Wir arbeiten gerade zusammen mit den Künstlerinnen Monika Gintersdorfer, Annick Choco und Montserrat Gardó Castillot, die in diesem Falle das Programm als Kuratorinnen mitverantworten, an einer Performance-Reihe mit dem Titel Politics of Invitation, mit der wir Formen der Gastgeberschaft und der Einladungspolitik befragen. Das ist auch eine spannende Möglichkeit, andere institutionelle Praxen zu erproben. Wenn Sie ein Beispiel möchten für etwas, was mich zuletzt richtig begeistert hat, dann fällt mir als erstes das Hörspiel von Laura Naumann Das hässliche Universum (Deutschlandfunk Kultur 2021) ein. Darin wird ein sehr treffendes Bild des digitalen Lifestyles zwischen Utopie und Dystopie entworfen, eine Art Ausstiegszenario aus dem Katastrophismus unserer Zeit.

Aber was passiert, wenn

die Jungen älter werden

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