Von den Bewohnern der "Russenkaserne"

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Zum Gedenken an die polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die von 1939 bis 1945 gegen ihren Willen ihrer Heimat entrissen und unter großen Opfern auf dem Stiftsgut Fischbeck arbeiten mussten.

Das Stift Fischbeck dankt Herrn Bernhard Gelderblom, Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Hameln e.V., für seine überaus engagierte und ehrenamtliche Arbeit der Recherche und Dokumentation Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderkreises Stift Fischbeck und der Klosterkammer Hannover


Bernhard Gelderblom

Von den Bewohnern der „Russenkaserne“ Die Beschäftigung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus Polen und der Sowjetunion im Stiftsgut Fischbeck in den Jahren 1939 bis 1945

Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2020


Inhaltsverzeichnis Einführung

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Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region um Hameln 1939-1945

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Die Veschleppung nach Deutschland 11 Die „Arbeitsbörse in Hameln” 14 Arbeiten in Industriebetrieben 15 Arbeiten in der Landwirtschaft 16 Die Schicksale der Kinder 18 Die Deutschen und „ihre” Zwangsarbeiter 19 Befreiung und Rückkehr in die Heimat 21 Begräbnisstätten 23 Auswirkungen auf das spätere Leben 23 Ausländische Arbeitskräfte auf dem Stiftsgut Fischbeck

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Die Quellenlage 25 Zum Stiftsgut Fischbeck 28 Vertragsarbeiter aus Italien 30 Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion 33 Polen – bis 1939 Vertragsarbeiter – nach 1939 Zwangsarbeiter 33 Sowjetbürger 37 Unterbringung und Verpflegung 41 Geburten und Taufen 42 Eine Flucht und eine Verhaftung 44 Nach dem Krieg

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Verzeichnis der auf dem Stiftsgut Fischbeck in der NS-Zeit beschäftigten

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ausländischen Vertrags- und Zwangsarbeiter

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Archive und Literatur

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Einführung

Einführung Thema dieser Broschüre sind die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion, die während des Zweiten Weltkrieges auf dem Stiftsgut Fischbeck arbeiten mussten. Vom NSRegime während des Krieges aus ihrer Heimat nach Deutschland verschleppt und mit Gewalt zum Arbeitseinsatz gezwungen, ersetzten sie die Arbeitskräfte, die nun als Soldaten gegen ihr eigenes Vaterland kämpften. Spät, allzu spät, wird hier versucht, ihre Geschichte zu erzählen. Dass auch die übrigen niedersächsischen Klöster und Stifte auf die aus dem Osten rekrutierten Arbeitskräfte zurückgegriffen haben, hat jüngst eine wissenschaftliche Untersuchung zur Klosterkammer in den Jahren 1931 bis 1955 in aller Breite dargelegt.1 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gehörten wie selbst­ verständlich zum Kriegsalltag des NS-Staates, besonders auf dem Lande. Wohl deswegen entwickelte sich das Bewusstsein für das große Unrecht, das diesen Menschen angetan wurde, nur in einem sehr geringen Ausmaß. Bis heute haben viele Menschen in Deutschland keine Vorstellungen vom Umfang und dem Charakter der Zwangsarbeit in der NS-Zeit. Für den ehemals zu Schaumburg gehörenden Teil des Landkreises Hameln-Pyrmont, also auch für Fischbeck, ist dies die erste Veröffentlichung zum Thema Zwangsarbeit. Wegen der sehr lückenhaften amtlichen Überlieferung liegen für Fischbeck nur unvollständige Personendaten vor. 75 Jahre nach Kriegsende ist es kaum noch möglich, unter den Bewohnern Fischbecks Zeitzeugen zu finden; und die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter Fischbecks zu befragen, ist so gut wie aussichtslos, weil sie zumeist nicht mehr am Leben sind. Um ein in Teilen anschauliches Bild der Zustände auf dem Stiftsgut Fischbeck während des Zweiten Weltkrieges zu bekommen, greift der Verfasser deswegen auf Schilderungen aus Orten des Kreises Hameln1

Vgl. Detlef Schmiechen-Ackermann, Dominik Dockter, Christian Hellwig, Carina Pniok und Christiane Schröder (Hrsg), Die Klosterkammer Hannover 1931-1955: eine Mittelbehörde zwischen wirtschaftlicher Rationalität und Politisierung, Göttingen 2018.

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Einführung Pyrmont zurück, die mit Fischbeck vergleichbar sind. Für den Altkreis Hameln-Pyrmont haben Mario Keller-Holte und der Verfasser unter dem Titel „Ausländische Zwangsarbeit 1939-1945 in Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont“ 2006 eine Darstellung vorgelegt. Sie basiert auf einem großen Bestand an Behördenakten und Aussagen deutscher Zeitzeugen. Hinzu kommt ein umfangreicher Briefwechsel, den der Verfasser 1998 bis 2003 mit 115 ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern führen konnte, die in Hameln-Pyrmont hatten arbeiten müssen.2 Die Briefe sind als Quelle deswegen so wertvoll, weil sie die Sichtweise der Betroffenen selbst enthalten. Der erste Teil der Broschüre enthält – veranschaulicht an Zeitzeugenberichten – eine Überblicksskizze zur Zwangsarbeit in NSDeutschland und in der Region um Hameln. Der zweite Teil thematisiert die Verhältnisse auf dem Stiftsgut selbst. Das erste Kapitel ist den Arbeitskräften aus Italien gewidmet, die 1938 nicht als Zwangsarbeiter, sondern freiwillig kamen und aus einer mit NS-Deutschland damals verbündeten Nation stammten. Sie fanden vergleichsweise gute Bedingungen vor. Wahrscheinlich Anfang 1942 rückten dann anstelle der Italiener Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion in die sogenannte „Russenkaserne“ ein, die damals ihren Namen erhielt. Das Leid, das die zumeist jugendlichen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Deutschland und auch auf dem Stiftsgut Fischbeck erfahren haben, ist nur schwer zu beschreiben. Jede und jeder Einzelne war in einer anderen Situation und hat diese anders erlebt. Es gab auf den großen Gütern vielfältige Erscheinungsformen und Akteure von Gewalt, von Seiten des Gutspächters, seines Verwalters, des Ortspolizisten, deutscher Knechte und Mägde, aber auch unter der „Ostarbeiterinnen“ und „Ostarbeitern“ selbst. Die Verhältnisse 2 Vgl. http://www.gelderblom-hameln.de/zwangsarbeit. Viele der ausländischen Zeitzeugen haben mehrere Seiten umfassende Briefe geschrieben und Dokumente wie Arbeitskarten, Fotos und Tagebücher beigelegt. Mehrere Briefeschreiberinnen und -schreiber erwähnten, wie schwer es ihnen wurde, sich aus dem Abstand von über 50 Jahren an den Aufenthalt in Deutschland zu erinnern. Für die allermeisten war es eine schlimme, als traumatisch erlebte Zeit, die bis heute nicht verarbeitet ist. Auf den Briefwechsel folgten Reisen des Verfassers nach Polen wie in die Ukraine. Im September 2005 besuchten ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen die Stadt Hameln und die Orte ihrer Zwangsarbeit, ein Jahr später kamen ehemalige Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine. Vgl. auch dazu http://www.gelderblom-hameln.de/ zwangsarbeit.

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Einführung änderten sich im Laufe des Krieges und konnten am Kriegsende lebensgefährlich sein. Es gab gewiss auch glückliche Momente, die diese Menschen im Miteinander und hoffentlich auch von Seiten einzelner Deutscher erfuhren. Das Leid der Deportierten geht über die in Deutschland verbrachte Zeit weit hinaus. Die Menschen kamen zurück in zerstörte Dörfer und Städte. Der unterbrochene Schulbesuch, die nicht abgeschlossene Ausbildung waren nicht nachzuholen. Die Zwangsarbeit in Deutschland hatte lebenslange negative Folgen. Zu danken habe ich Mario Keller-Holte, der mit seiner profunden Sachkenntnis auf dem schwierigen Gebiet der NS-Zwangsarbeit eine große Hilfe war, und Renate Oldermann, die ihr Wissen über das Stiftsgut bereitwillig zur Verfügung gestellt hat. Äbtissin Katrin Woitack hat die nicht selbstverständliche Anregung zur Abfassung dieser Broschüre gegeben und die Recherchen des Verfassers ermutigt und begleitet.

Bernhard Gelderblom Hameln, im November 2020

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Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region Hameln

Helena Wojcinska, deportiert aus Polen im Alter von 11 Jahren (Kreisarchiv Hameln-Pyrmont, im Folgenden abgekürzt KA HM-Pyr)

Kennzeichnung der Polen und der Ostarbeiter (Deutsches Historisches Museum Berlin)

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Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region um Hameln

Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region um Hameln 1939-1945 – Ein Überblick Um die deutsche Wirtschaft während des Zweiten Krieges im Laufen zu halten, war aus Sicht des NS-Regimes der Einsatz von Zwangsarbeit unverzichtbar.3 Er geschah in einem unvorstellbar großen Ausmaß. Insgesamt mussten 1940-1945 13,5 Millionen Ausländer – Zivilarbeiter und Kriegsgefangene – in Deutschland arbeiten, in Hameln-Pyrmont waren es etwa 10.000. Sie hatten die zum Kriegsdienst eingezogenen Deutschen zu ersetzen. Der Anteil ausländischer Arbeitskräfte war mit 46 Prozent besonders hoch in der damals noch wenig mechanisierten Landwirtschaft. In der Industrie war immerhin jeder vierte Arbeitsplatz durch einen Ausländer besetzt. Soweit die Arbeitskräfte aus Polen und der Sowjetunion stammten, mussten sie in einem ihnen feindlich gesinnten Land leben, wurden massiv diskriminiert und waren faktisch rechtlos. Waren sie in Industriebetrieben eingesetzt, mussten sie in umzäunten und bewachten Lagern leben und waren häufig Hunger und Kälte sowie katastrophalen hygienischen Zuständen ausgesetzt. Ihre Entlohnung war aufgrund hoher Steuern und Abgaben weit geringer als die anderer Arbeitskräfte und wurde mitunter gar nicht ausgezahlt. Zwangsarbeiter kamen aus allen von Deutschland besetzten Ländern, die mit Abstand größten Gruppen aus Polen und der Sowjetunion; hier lag der Frauenanteil deutlich über 50 Prozent. Überwiegend wurden junge Leute nach Deutschland verschleppt, darunter viele Jugendliche und auch Kinder.4 Für Polen und Sowjetbürger galt ein diskriminierendes Sonderrecht, das in einer Vielzahl von Erlassen seine Umsetzung fand. Sein deutlichster Ausdruck war die Kennzeichnungspflicht. 3

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Begriffe, Definitionen und Zahlen dieses Kapitels stammen aus dem Standardwerk von Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, Stuttgart und München 2001, sowie aus der regionalen Untersuchung von Bernhard Gelderblom und Mario Keller-Holte, Ausländische Zwangsarbeit 1939-1945 in Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont, Holzminden 2006. Der Altersdurchschnitt lag bei Polen und Sowjetbürgern bei 21 Jahren.

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Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region Hameln Der Kontakt zu Deutschen sollte auf ein Minimum beschränkt sein. Verboten waren das Verlassen des Arbeitsortes und die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne amtliche Genehmigung, nächtlicher Ausgang, Besuch deutscher Veranstaltungen kultureller, kirchlicher oder geselliger Art sowie von Gaststätten, Geschlechtsverkehr mit Deutschen (bei Todesstrafe) u. a. m. Die rechtliche Diskriminierung kam vor allem darin zum Ausdruck, dass sie nicht der Justiz, sondern der Polizei bzw. der Gestapo unterstanden und nicht in Gefängnisse, sondern in die grausamen „Arbeitserziehungslager“ eingewiesen wurden. Das Verbot, Gottesdienste zu besuchen, bedeutete für die vielen gläubigen Katholiken unter den Polen, Russen und Ukrainern eine besonders stark empfundene Diskriminierung. Während ausländische Arbeitskräfte aus dem Westen ohne weiteres eine Kirche betreten durften, waren Polen und „Ostarbeiter“ einer abgestuften Diskriminierung ausgesetzt. Die russisch- bzw. griechisch-orthodox geprägten Menschen aus der Sowjetunion durften grundsätzlich an keinem Gottesdienst teilnehmen. Für die römisch-katholischen Polen galt nach anfänglicher Freizügigkeit eine Regelung, die einzelne Sondergottesdienste in deutscher Sprache (!) erlaubte.5 Selbst in den Kirchen wurden mithin rassistische Schranken errichtet. Über eine etwaige „Betreuung“ der ausländischen Arbeitskräfte durch die evangelische Kirche liegen keine Nachrichten vor. Diese hat sich offenbar durch die seelische Not der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in keiner Weise angesprochen gefühlt. Wie haben sich die Bewohnerinnen des evangelischen Damenstifts Fischbeck verhalten? Verantwortlich für den Einsatz von Zwangsarbeitern war in erster Linie der NS-Staat. Eine Verantwortung trug aber ebenso der einzelne Unternehmer, Handwerker und Landwirt. Diese hatten zwar oft keinen Spielraum bei der Frage, ob sie ausländische Arbeitskräfte einstellten; sie hatten aber durchaus einen Spielraum bei ihrer Behandlung. Sie konnten sie gut, aber auch schlecht behandeln.

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Dieses Kapitel folgt eng der Darstellung in Gelderblom/Keller-Holte, S. 76-81.


Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region Hameln

Die Verschleppung nach Deutschland Zuständig für Anwerbung, Verpflichtung und Verteilung der Arbeitskräfte waren die Arbeitsämter. In Polen und der Sowjetunion hatten diese von Anfang an auf Zwangsrekrutierung gesetzt. Es gab die namentliche Aufforderung zum Arbeitseinsatz, vermittelt über die lokale Verwaltung, oder die Delegation an den örtlichen Bürgermeister, der eine festgelegte Anzahl von „Freiwilligen“ den deutschen Behörden ausliefern musste. Wenn diese Maßnahmen nicht zum Erfolg führten, kam es zu brutalen Razzien auf offener Straße. Polen hatte aus deutscher Sicht als eigenständiger Staat aufgehört zu existieren. NS-Deutschland annektierte große Teile des Landes. Zentral- und Südpolen war als „Generalgouvernement“ einem deutschen Gouverneur mit Sitz in Krakau unterstellt. Noch mehr als Polen galt die westliche Sowjetunion und besonders die Ukraine als Lebensraum für deutsche Siedler. Die Bevölkerung sollte ausgehungert und nach Osten vertrieben werden. Aus ideologischen Gründen war zunächst nicht daran gedacht worden, „russische Untermenschen“ zur Arbeit ins Reich zu holen. Sowjetische Kriegsgefangene überließ man zu Hunderttausenden dem Hungertod. Als Ende Oktober 1941 der deutsche Vormarsch im Osten stockte, fand ein Umdenken statt und man begann den Arbeitseinsatz von Menschen aus der Sowjetunion in Deutschland zu vorzubereiten. Seit dem Jahreswechsel 1941/42 begannen Massendeportationen nicht gekannten Ausmaßes. Für den Transport, der mehrere Tage dauerte, wurden geschlossene Güterwaggons („wie Vieh“) genutzt. Ein Kübel diente zur Verrichtung der Notdurft. Von den deutschen Bahnhöfen aus verteilte man die Menschen auf die Arbeitsstellen in der Industrie und Landwirtschaft. Jozef Butniak, geb. am 27. Juli 1926 in Polen „Während des Krieges nahm man mich am 28. Oktober 1942 im Alter von 15 Jahren aus der Stadt Radoszewice in Polen mit, morgens früh, ohne Eltern. Man sperrte uns in einer Kirche ein. Wir waren 40 Jungen und Mädchen. Mittags kamen zwei Lastwagen mit Gendarmen und man brachte uns auf die Bahnstation in Wielun. Wie Vieh steckte man uns in einen Güterzug.“ 11


Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region Hameln

Aufteilung Polens und der westlichen Sowjetunion Stand 6. Dezember 1941

Pass von Natalija Kurtwiliew aus der Sowjetunion Ausweis von Stanislawa Palak aus den ehemals polnischen „eingegliederten Ostgebieten“ (KA HM-Pyr)

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(KA HM-Pyr)


Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region Hameln Kazimierz Wyszkowski, geb. am 12. Februar 1924 in Polen „Am 11. September 1940 wurden wir zur Arbeit nach Deutschland eingeteilt. Meine Mutter lebte damals bereits nicht mehr. Mein Vater kam nach Braunschweig, meine Schwester kam nach Berlin in eine Fabrik. Jozef, mein Bruder, kam nach Hajen, Kreis Hameln, auf den Bauernhof der Schwester meiner Wirtin. Ich selbst kam am 15. September 1940 nach Wegensen zum Bauern M.“ Katerina Mudrezkaja, geb. am 13. Februar 1925 in der Ukraine Kazimierz Wyszkowski aus Polen „1942 wurde ich als Zwangsarbeiterin nach (KA HM-Pyr) Deutschland geschickt. Ich war damals 17 Jahre alt, hatte nur die Grundschule beendet und keinen Beruf. Außer mir mussten noch einige Leute gehen. Der Dorfratsvorsitzende hat selbst die jungen Leute ausgewählt, die nach Deutschland geschickt werden sollten. Mit einem Karren brachte man uns zur Polizei. Alle weinten. Viele waren so arm, dass die Mütter ihnen kein Essen mitgeben konnten. Die Nachbarn brachten uns Brot für die Fahrt. Ich war sehr aufgeregt und dachte, dass ich nie zurück kehren werde.“ Ljudmila Boryskina, geb. 1926 in der Ukraine „Eines frühen Morgens Ende April 1942 kam ein Polizist zu uns und sagte, dass wir uns schnell zur Abreise nach Deutschland fertig machen sollten. Ich fing zu weinen an, aber er packte mich und stieß mich mit Gewalt auf die Straße hinaus. Dort waren schon einige Leute versammelt. Man setzte uns in ein Fahrzeug und brachte uns unter Bewachung

Ljudmila Boryskina aus der Ukraine (KA HM-Pyr)

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Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region Hameln in das Gebietszentrum Schepetowka. Dort verfrachtete man uns in Güterwaggons, deren Fenster sogar mit Stacheldraht verschlossen waren. Die Waggons waren vollkommen überfüllt. Nicht alle fanden einen Sitzplatz. Um uns auszuruhen, setzten wir uns abwechselnd hin.“ Marija Sapliwaja, geb. im Jahre 1927 in der Ukraine „1942 beendete ich die 8. Klasse der Schule und am 24. November wurde ich nach Deutschland verschleppt. Ich war damals 15 Jahre alt und kleinwüchsig. Die Fahrt war sehr schwer. Bis dahin hatte ich sogar keinen Eisenbahnzug gesehen. Wir fuhren zwei Wochen und wurden in die Stadt Hameln gebracht. Unterwegs wurden wir zweimal durch die Gesundheitskommission geprüft.“ Marija Sapliwaja aus der Ukraine (KA HM-Pyr)

Die „Arbeitsbörse“ in Hameln Kriegswichtige Unternehmen bekamen größere Kontingente zugewiesen. Kleine Arbeitgeber suchten sich „ihre“ Arbeitskraft auf einer Art „Arbeitsbörse“ aus. Diese Situation ist von den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern als besonders erniedrigend erlebt worden. Ljudmila Boryskina, geb. 1926 in der Ukraine „Und so kamen wir in Hameln an. Man jagte uns aus den Waggons und scheuchte uns in einen großen Lagerraum. Dorthin kamen mehrere Herren und wählten diejenigen aus, die ihnen gefielen. Mich nahm der Bauer Wilhelm W. mit nach Afferde in sein Haus.“

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Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region Hameln Monika Kicman, geb. 1912 in Warschau, Polen „Die Bahnstation, an der wir ankamen, hieß Hameln. Wir wurden durch die Stadt in einer Kolonne geführt. Man spürte die hasserfüllten Blicke der Passanten und ab und zu hörte man: ‚Polnische Banditen‘. Als erstes wurden wir fotografiert und bekamen Nummern. Die nächste Etappe war das Arbeitsamt. Gleich auf der Straße suchten sich die Deutschen die Arbeitskräfte aus. Sie schauten sich unsere Hände darauf an, ob man arbeitsfähig war.“

Arbeiten in Industriebetrieben Wegen ihrer Herkunft, Sprache, Kultur und der häufig fehlenden Ausbildung galten Polen und „Ostarbeiter“ den Betrieben als minderwertig. Die Arbeitskräfte aus dem Osten wurden nur kurz angelernt. Sprachprobleme, Schwäche und Müdigkeit, bedingt durch schlechte Ernährung und Unterbringung, führten zu zahlreichen Arbeitsunfällen. Während für Deutsche der 8-Stundentag galt, mussten Polen und „Ostarbeiter“ in 12-Stunden-Schichten arbeiten. Arbeitsschutzbestimmungen hatten für sie keine Geltung. Polen hatten von April 1941 bis Kriegsende eine Urlaubssperre; „Ostarbeiter“ hatten keinen Anspruch auf Urlaub. Während in den Lagern der französischen Kriegsgefangenen Konzerte, Theater und Sport möglich waren, hausten die Menschen aus dem Osten in überfüllten Baracken, aber auch in Kellern und auf Dachböden. Die Enge ließ Privatheit nicht zu. Die Ernährung war nie ausreichend und insbesondere für die sowjetischen Lagerinsassen so schlecht, dass diese jahrelang dem Hunger ausgeliefert waren. Ebenso wenig wie Lebensmittelkarten erhielten sie Bezugsscheine für Kleidung. „Ostarbeiter“ fielen im Straßenbild durch zerlumpte Kleidung auf. Ein besonderes Problem stellte das Schuhwerk dar. Wer nicht barfuss lief, musste klobige und unbequeme Holzpantinen tragen. Die Geräusche, die sie verursachten, waren ihr Erkennungszeichen.

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Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region Hameln

Arbeiten in der Landwirtschaft Die Situation auf den Höfen war meistens – aber nicht immer – besser als in der Industrie. Hier gab es in der Regel eine halbwegs angemessene oder sogar gute Ernährung. Auch Kleidung und Unterkunft waren nicht so knapp. Das Kontrollsystem des Staates (Gendarm) und der Partei („Ortsbauernführer“) war weniger dicht als in den Städten. In der Realität zeigte die Behandlung auf dem Land eine große Bandbreite. Ein junger Pole konnte ein billiger Sklave sein, dem Ausgang und Lohn verweigert wurden; er konnte aber auch als Familienmitglied an einem Tisch mit der bäuerlichen Familie essen. Der Normalfall dürfte das tradierte Herr-Knecht-Verhältnis gewesen sein. Kinderarbeit Franciszek Kolary aus Polen, Landarbeiter in Grupenhagen gehörte zum Alltag. Schlimme zusammen mit einem deutschen Soldaten Zustände finden sich allerdings (Sammlung Gelderblom) nicht selten in den lagerähnlichen Massenunterkünften der großen Güter.6 Auf dem Lande galt ein nächtliches Ausgangsverbot. Ohne besondere schriftliche Erlaubnis durfte niemand die Ortschaft verlassen. Versuche, am freien Sonntag ohne Passierschein Verwandte, Freundinnen oder Freunde in einem anderen Dorf zu besuchen, führten immer wieder zu Tragödien. Der örtliche Gendarm und eine spezielle „Polenpolizei“ vollzogen an den jungen Leuten unnachsichtig die Prügelstrafe. Ljudmila Boryskina, geb. 1926 in der Ukraine „Ich kam auf einen Bauernhof in Afferde. Mir ging es sehr schlecht, da ich kein Wort Deutsch sprach. Ich arbeitete schwer. Ich melkte fünf Kühe, fütterte die Schweine, erledigte sämtli6

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Im Fall des Ritterguts Helpensen schritten NS-Behörden gegen die unhaltbaren Zustände ein; vgl. Gelderblom/Keller-Holte, S. 281-283.


Ausländische Zwangsarbeit in Deutschland und in der Region Hameln che Arbeiten im Haus und auf dem Feld. Nach und nach begann ich Deutsch zu verstehen und zu sprechen. Es gab noch einen Franzosen, der viel mehr Freizeit hatte. Zu dieser Zeit war ich 16 Jahre alt. Ich stand um vier Uhr früh auf und arbeitete bis acht Uhr abends. Ich hatte keinen einzigen Tag frei. Nur während der Ljudmila Boryskina aus Polen auf dem Hofe W. in Afferde Mahlzeiten konnte ich (Sammlung Gelderblom) mich ausruhen. An Kleidung hatte ich nur, was ich mitgebracht hatte, Rock und Jacke aus sehr hartem Stoff. Eine Schürze und Holzschuhe bekam ich von Frau W. Sonst hatte ich nichts anzuziehen. Der Winter war sehr kalt. Eine deutsche Frau schenkte mir eine ungefütterte Jacke und alte Schuhe. Diese Schuhe trug ich nach der Arbeit die ganzen drei Jahre hindurch. In Afferde gab es polnische und ukrainische Zwangsarbeiter, aber ich hatte kaum Zeit, sie zu besuchen.“ Kazimierz Wyszkowski, geb. 1924 in Polen „Ich kam am 15. September 1940 nach Wegensen zum Bauern M. Die erste Zeit habe ich viel geweint. Die Familie M. war sehr gut zu mir. Die hat mich sehr getröstet. Herr M. hat mich mit der Arbeit vertraut gemacht. Er hat nicht geschimpft, wenn ich etwas verkehrt gemacht habe. Frau M. und ihre Hilfe Helga bereiteten das Frühstück. Wir aßen zusammen am Tisch, obwohl es für uns Polen nicht erlaubt war, an einem Tisch mit den Herrschaften zu essen. Die schöne Zeit bei M.s werde ich bis zu meinem Tod nicht vergessen.“

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