Jürg Frey Die Illusion RomanLebenskontrolliertendes Charlotte
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Impressum
Alle Personen, Institutionen und Ereignisse, auch die Örtlichkeiten, sind er funden und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, realen Institutionen und Orten zufällig.
Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige AlleUnstimmigkeiten.Rechtevorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Ab drucks und der elektronischen Wiedergabe.
© 2022 Weber Verlag AG, 3645 Thun/Gwatt Texte: Jürg Frey Titelbild: H. Craig Hanna, Charlotte, (EA1, Impréssion Argentique) Weber Verlag AG Gestaltung Cover: Sonja Berger Satz: Shana Hirschi Lektorat: David Heinen Korrektorat: Heinz Zürcher, Steffisburg
Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt. ISBN www.weberverlag.ch978-3-03818-419-5
neutral Drucksache
Inhaltverzeichnis Die Styx ................................................................................................ 8 Tote Dichter ........................................................................................ 14 Zur Quelle? ......................................................................................... 22 Rue Bonaparte .................................................................................... 36 Die Suche............................................................................................ 40 Gesund werden, rasch! ....................................................................... 56 Haldengut ........................................................................................... 86 Normalität ........................................................................................ 128 Anne ................................................................................................. 136 Dr. Hauser ........................................................................................ 151 Dank Autorenporträt..................................................................................................178..................................................................................179
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Die Styx J onas Nordmann war kein guter Schwimmer. Er war seit Tagen zu Fuss mit Ella unterwegs. Ein kleiner Ruck sack gefüllt mit Ersatzwäsche, Seife und Zahnbürste, Re genschutz, Schlafsack, Streichhölzern, Logbuch, Proviant und Ellas Fressnapf und Leine. Am Schluss packte er noch den Kompass ein, obwohl er noch nicht wusste, wieso. Von ihrem Wohnort aus liefen Ella und er auf der rechten Seeuferseite des Zürichsees Richtung Süden. Sie hatten kein bestimmtes Ziel, sondern viel Zeit, und legten jeden Tag etwa zwanzig Kilometer zurück. In jüngeren Jahren mutete sich Jonas längere Tagesetappen zu, bis an die Grenzen der kör perlichen Leistungsfähigkeit. Jetzt gab es Tage, an denen ihm die Glieder und Muskeln schon nach knapp zehn Kilometern zu schmerzen begannen und der Genuss am Weiterwandern verschwand. Mit Ella suchte er dann jeweils nach einem geeigneten Nachtlager und fand es im Schober eines Bauern hofs, mitten im Wald in einer Senke, in Nähe eines Baches oder an einer verlassenen, erkalteten Feuerstelle. Am nächs ten Morgen stellte er mit Kompass und Karte die ungefähre Marschrichtung wieder ein. Das Handy benutzte er selten. Nicht nur das ziellose Wandern faszinierte Jonas, sondern auch, wie wenig Geld für die menschlichen Bedürfnisse notwendig war. Mit jedem zusätzlichen Tag entfernten sie sich etwas weiter von Gesellschaft und Zivilisation, und er wun derte sich über den Stellenwert, den Materielles in seinem Le ben hatte. Es war alles bereits da. Am Abend übertrug er die Erlebnisse ins Logbuch. Obwohl körperlich müde, waren sein Geist und seine Sinne hellwach und nahmen Dinge wahr, die
Von Chur wanderten sie weiter nach Trin, wo sie etwas Proviant kauften und auf dem Weg zur Ruinaulta-Hängebrücke einen Bauern fragten, ob sie am Waldrand in der Nähe seines Hofes ihr Nachtlager aufschlagen dürften. Sie durf ten. Der Abend war milde, der Himmel wolkenlos, und der Sonnenuntergang malte stufenlos unwirkliche Farben, die Jonas zuvor noch nie gesehen hatte. Er hatte sich zuvor am Brunnen auf dem Hof gewaschen, etwas getrunken und seine Wasserflasche aufgefüllt, damit er Ellas Trockenfutter aufweichen konnte. Ellas Verpflegung war zum Ritual geworden, sie wusste genau, was folgen würde. So wich sie Jonas wäh rend der Zubereitung ihres Fressens nicht von der Seite und verfolgte jede seiner Bewegungen mit höchster Konzentration. Jonas stellte den gefüllten Napf vor Ella hin, schaute ihr streng in die Augen, hob den Zeigefinger und sagte: «Warten … warten … warten!» Ella rang mit sich, verlagerte das Gewicht von der linken zur rechten und wieder zur linken Vorderpfote und begann
Er liess wilde Brombeeren auf seiner Zunge zergehen und ersetzte das multiple Fotografieren eines Gegenstandes mit seinem Handy durch Skizzen in seinem Logbuch. Er setzte sich hin und begann zu zeichnen, was er sah. Zum Spass wanderte er eine Strecke so lange rückwärts, bis es Ella zu bunt wurde und sie erst mit Bellen aufhörte, als er sich wieder in Marschrichtung drehte. Die Tage wurden voll, nichts wie derholte sich, und Jonas sog ein, bis ihm schwindlig wurde.
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ihm sonst fremd waren. Er ging den Geräuschen des Waldes nach, schaute im Schlafsack auf dem Rücken liegend in den Sternenhimmel und wartete geduldig auf eine Sternschnuppe oder das Positionslicht eines Flugzeuges, in sich froh, nicht darin sitzen zu müssen und durch die Zeitzonen zu fliegen.
10 ganz langsam zu wimmern. Nochmals hob Jonas den Zeige finger an. Ellas Blick fixierte Jonas, reglos verharrte sie nun in ihrer Position, denn jeden Moment musste das erlösende Wort fallen. Jonas schaute Ella tief in die Augen, öffnete lang sam den Mund, holte etwas Luft und sagte dann ganz schnell: «E Guete!» 1 Am Schauspiel, das sich danach abspielte, konnte sich Jonas nicht sattsehen. Ellas Kopf schnellte nach unten, die Schnauze tauchte in das Futter ein, und das Schmatzen be gann. Alles musste rein, und zwar so schnell wie möglich. Für Ella gab es nur noch diesen Moment: das Fressen des Futters. Die Welt mochte untergehen, die ihre hörte an den Rändern ihres Fressnapfes auf. Nachdem Ella alles aufge fressen hatte, leckte sie unzählige Male über die Innenseite des Napfes, bis auch der letzte Geschmack verwässert sein musste. Nach dieser Höchstleistung stellte sie sich wieder auf die Vorderpfoten und blickte zu Jonas, der damit begonnen hatte, das mächtige belegte Brot auszupacken, das er in Trin gekauft«Unterstehhatte. dich, auch nur daran zu denken, dass du da von etwas kriegst.» Er wusste, dass sie ihn am Schluss doch erweichen würde. Jonas verfütterte die letzte Brotrinde mit etwas Schinken an Ella, wusch den leergeleckten Napf aus und füllte Wasser nach, damit Ella trinken konnte. Mit dem letzten Tageslicht trug Jonas die Erlebnisse des Tages ins Logbuch ein. «Morgen wird es regnen», hatte ihm der Bauer gesagt, «die Nacht aber sollte trocken bleiben.» Er rief Anne an und berichtete ihr in kurzen Sätzen vom Tagesgeschehen: «Es gibt noch so viel mehr, was ich dir berichten könnte.»
1 Guten Appetit
11 «Erzähle!», drängte ihn Anne. «Ich schreibe es auf. Du kannst es dann später nachlesen, wenn du möchtest. Ich spreche nur wenig, und das Schweigen bringt mich aus der Übung. Du fehlst mir, aber sonst ist alles da, und Ella weicht mir nicht von der Seite. Du kennst sie ja.»
Nach ein paar Minuten verabschiedeten sie sich. Jonas stieg in den Schlafsack und zog den Reissverschluss bis unters Kinn. Ella legte sich an seine Seite. Im Licht der portablen Gaslampe beobachte Jonas, wie sie zufrieden schmatzte, ihre Augenlider schwerer wurden und sie kurz darauf mit einem tiefen Atemzug einschlief. Sie war eine noch junge Hündin. Nachdem Luna gestorben war, war es für Jonas un möglich, sofort wieder einen Hund aufzunehmen. Jonas und Anne warteten lange, bis es für sie wieder stimmte. Vor vier Jahren war es dann so weit. In einem nahe gelegenen Hundeheim wurde eine junge, blonde Labradorhündin abgegeben, die jemand ausgesetzt hatte. Es passte sofort. Jonas und Anne hatten nicht den Anspruch, dass Ella Luna ersetzen musste. Das wäre unmöglich gewesen. Ella war lebendiger und voller Energie, währenddem Luna sich dem Rhythmus der Familie jederzeit problemlos anpassen konnte. Am nächsten Morgen, nachdem sie ihr Nachtlager geräumt hatten, begann es heftig zu regnen. Sie suchten erst Schutz unter dem Dach des Hofes und schauten zu, wie sich unter den Abflussrohren schnell Pfützen bildeten. Auch nach einer Stunde hörte der Regen nicht auf. Jonas zog die Kapuze seines Regenschutzes über den Kopf und rief Ella zu: «Los gehts!» Ellas Fell sog sich rasch mit Wasser voll. Obwohl Jonas’ Wetterschutz regendicht war, hoffte er auf besseres Wetter im Laufe des Tages. Bevor sie nach einer halben Stunde
12 die Ruinaulta-Brücke überquerten, steckte sich Jonas einen Fünfliber2 in die Hosentasche, eine Gewohnheit, die er als Knabe von seinem Grossvater übernommen hatte: «Bevor du eine Brücke überquerst, halte immer etwas Geld bereit. Es kann sein, dass du in der Not einen Fährmann für die Überfahrt bezahlen musst.» Erst später erfuhr Jonas von seiner Mutter, dass sich sein Grossvater, ein Bauer, in seiner spärlichen freien Zeit in der griechischen Mythologie verlor. Etwas, was wenige wussten, weil er es niemandem sagte. Ein Bauer hatte sich um die Bewirtschaftung seines Hofes zu kümmern. Zeit haben für anderes hätte ihn in den Augen anderer suspekt gemacht. Als Jonas und Ella sich in der Mitte der Ruinaulta-Brücke befanden, scherte die Hündin plötzlich aus. Sie musste etwas gerochen haben und schlüpfte unter den Drähten hindurch auf die abfallenden Seitenträger. Ella verlor die Bodenhaftung, rutschte über die Kante und fiel in den Vorderrhein. Jonas sah, wie sie nach dem Untertauchen wieder auftauchte und sogleich anfing, laut bellend mit ihren Vorderpfoten zu paddeln. Sie ruft mich, dachte Jonas. Nach vielen Tagen des ruhigen Abwägens und Sich-Zeit-Lassens setzte der Reflex ein, etwas tun zu müssen, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Rasch zog er seinen Rucksack aus, zwängte sich so zwischen den Drähten hindurch, dass er sich die Unterarme aufschürfte. Kurz bevor er sprang, sah er, wie Ella gegen das Ufer trieb, und erst jetzt realisierte er, dass er auf der Brücke hätte zurücklaufen können, um am Ufer des Flusses auf Ella zu warten. Er versuchte noch, der Schwerkraft seines sich vorbeugenden Körpers entgegenzuwirken, aber er hatte den Punkt, an dem es kein Zurück mehr 2 Fünffrankenstück
13 gab, bereits überschritten. Jonas fiel von der Brücke, im Flug kämpfte er um die Balance und schlug hart auf dem Wasser auf. Er sank wie ein schwerer Stein, bevor er mit kräfteraubenden Bewegungen das Absinken auf den Grund stoppen konnte, um zurück an die Wasseroberfläche zu schwimmen. Als er auftauchte, zog ihn die Strömung zu Ella, aber die sich vollsaugende Kleidung und die Schuhe kosteten viel Kraft. Ella war nur noch wenige Meter vom Ufer entfernt, und als sie Jonas im Wasser sah, machte sie kehrt, um zu ihm zu schwimmen. Er rief Ella mit abwehrender Hand noch zu, dass sie wieder umkehren sollte, was sie zu seiner Überraschung auch tat. Jonas versuchte noch, seine Wanderschuhe loszuwerden und seine Jacke auszuziehen, aber er hatte keine Kraft mehr. Ella rettete sich ans Ufer. Guter Hund, dachte Jonas, bevor er kraftlos unter die Wasseroberfläche sank. Ella begann wieder laut zu bellen und suchte verzweifelt den Vor derrhein nach Jonas ab.
14 Tote Dichter N ur Ella kehrte zu Anne zurück. Obwohl Jonas unerwartet starb, machte sich seine Familie den Vorwurf, sich nicht besser darauf vorbereitet zu haben. Sie glaubten, dass sich einem die Dinge nach dem Ableben eines geliebten Menschen von selbst aufdrängten: letztwillige Verfügungen, Abmeldungen, Anmeldung zur Beisetzung, Lebenslauf schreiben, Leidzirkulare, Todesanzeigen, Auswahl des Be stattungsinstituts, Kremation, Beisetzung, Abdankungsfeier, Trost spenden, Trost empfangen, Danksagungen. Jonas aber hatte geglaubt, seiner Familie einen Gefallen zu tun, wenn es nach seinem letzten Schritt möglichst wenig zu tun gäbe. Er war sich bewusst gewesen, dass der Tod jederzeit eintreten konnte, und hatte verfügt, in einem Gemeinschaftsgrab seines Wohnortes beigesetzt zu werden, ohne Todesanzeigen und Trauerfeier. Alle amtlichen Dinge hatte er vorbereitet, und auf den Umschlägen an die verschiedenen Adressaten waren bereits Briefmarken aufgeklebt, A-Post. Anne und ihre gemeinsamen Töchter Julia und Paula mussten nur noch das Datum einsetzen, die Briefe in den Umschlag stecken und einwerfen. Für seine Freunde hatte er Karten vorbereitet, mit einem Foto auf der Vorderseite, das einen erinnerungswürdigen Moment festhielt. Diese akribische Vorbereitung nährte in Anne den Verdacht, dass Jonas diesen Unfall unbewusst hatte kommen sehen. Das Testament offenbarte keine Überraschun gen. Das Erbe wurde unter den drei Hinterbliebenen aufgeteilt. Für sie gab es so nicht mehr viel zu tun, und sie wussten nicht, ob sie sich über diese Bevormundung hätten ärgern sollen. Aber wie ärgert man sich über jemanden, den man eben verloren hat?
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In einem Fall kam Jonas’ vorgeschriebene Karte wieder zurück. Sie war an Jules Werner adressiert, und als die Erben erfuhren sie, dass er einen Tag vor Jonas ver storben war. Werner hätte der Familie in der Verwertung der antiquarischen Büchersammlung behilflich sein sollen. Und nun war er ebenfalls tot, und ein Nachfahre von Werner liess ausrichten, dass sein Geschäft geschlossen werde.
Als junger Familienvater hatte Jonas nach Bezug des Hau ses in einem Vorort von Zürich im Untergeschoss eine Bücherwand eingerichtet. Über die Jahre füllte sich diese Wand mit Geschichten, bis sie überquoll. Viele Bücher waren Erstausgaben und führten Widmungen der Schriftsteller auf den ersten Seiten. Sie waren in den wenigsten Fällen an Jonas gerichtet, weil viele der Schriftsteller bereits tot waren, als Jonas begann, sich für ihre Geschichten zu interessieren. Der Gnadenhof der toten Dichter, wie Jonas diese Wand nannte, sollte alles überdauern und auch denen eine Bleibe bieten, für die sich niemand mehr interessierte. «Vergessen zu werden ist schlimmer, als tot zu sein», sagte Jonas zu Paula, als diese sich wunderte, wieso ihr Vater für gebrauchte Bücher Geld ausgab. An einem Buch könne man sich festhalten, und die handschriftliche Widmung sei das Bewahren eines Momentes, in dem sich Schriftsteller und Leser getroffen hätten, so Jonas zu seiner Tochter. Dazu könne man sich seine eigenen ausdenken. Jonas nahm eines der Bücher aus dem Regal, schlug es auf und fuhr mit seinen Fingerkuppen über die Prägung, die die Schrift des Schriftstellers auf einer der ersten Seiten hinterlassen hatte. Paula schüttelte den Kopf, und so griff Jonas nach einem anderen Buch. Auf der Titelseite stand auf vier Zeilen je ein Wort: für Walter von Margrit. Walters Name war rot und dick unregelmässig um-
Geschichten
nachfassten,
16 kreist. Margrit musste ihn mit ihren leicht geöffneten und rot geschminkten
«Aber genau darum geht es doch», sagte Jonas und nahm das Buch wieder zurück. Paula zuckte mit den Schultern, drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Backe und sagte: «Tschüss.»Aufeinem
der unteren Tablare des Gnadenhofs reihten sich Jonas’ Tagebücher in unterschiedlichen Formaten. Seit Anne sich erinnern konnte, führte Jonas immer, wenn er das Haus verliess, ein Notizbuch mit sich. Zuerst waren es
Paula nahm dem Vater das Buch aus der Hand und schaute sich die Seite mit der Widmung nochmals an. In der rechten oberen Ecke hatte jemand mit einem Bleistift den antiquari schen Wert von Fr. 10.– hingeschrieben. Das Buch war wohl nicht gerade ein Renner, dachte Paula, blätterte weiter und triumphierte:«Dahaben wir es!» Vor dem ersten Kapitel stand ein Ge dicht von Walter. «Gib beide Namen in die Suchmaschine ein und sieh nach, ob du etwas über ihr Privatleben erfährst. Dann musst du dir keine Geschichten mehr ausdenken.»
«Wie und wo hatten sich die beiden kennengelernt? War es eine kurze Episode, oder hatte mit dem Buch etwas begon nen, was heute noch anhält?»
«Glaube nicht, dass die noch zusammen sind.»
«Kann sein, aber vielleicht landete es aus Versehen im Bü cherbrocki, oder Walter ist inzwischen gestorben.»
«Weil«Wieso?»dann Walter das Buch behalten hätte.»
«Was glaubst du, was mit dieser Beziehung geschehen ist?», fragte Jonas Paula. «Keine Ahnung, wieso?»
Lippen geküsst haben. Paula fand das schräg.
Bargeld als Hinterlassenschaft ist einfacher als Regale voller Bücher mit unklarem Wert. Die Familie entschied, Jonas’ Bibliothek mitsamt seinen Tagebüchern in Julias Stadt wohnung an der Froschaugasse zwischenzulagern, bis man entschieden hatte, was damit zu tun sei.
Nach Jonas’ Tod ging jeder auf seine Art mit dessen Nichtmehr-da-Sein um. Anne kümmerte sich weiterhin liebevoll um Ella und hatte ein dichtes Netz an Freundinnen und Freunden, war aber auch gerne allein. Sie übte sich darin, an anderes zu denken und nach vorne zu schauen. Alles andere würde sich ergeben. Paula wurde durch ihren Beruf und ihre Familie absorbiert und wollte davon überzeugt sein, dass ihr Vater, obwohl zu früh, so gestorben war, wie er sich das gewünscht hatte. Anstelle des Spitals in der Natur, im Vollbesitz seiner Sinne und Kräfte, von einem Moment auf den anderen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Jonas Gefallen
17 die kleinen schwarzen Moleskines, die in jede Jackentasche passen. Dann wurden sie grösser, dicker und farbiger. Er konnte sich irgendwo hinsetzen, beobachten und schreiben; und er lud auch seine Töchter ein, darin zu zeichnen oder Dinge festzuhalten, die sie interessierten. Die Tagebücher wurden zu einem Sammelsurium an Geschichten, Illustrationen, Zeitungsausschnitten, Fotos, Kinotickets, vertrockneten Schmetterlingen und Visitenkarten von Restaurants. Dann wurden Julia und Paula älter und wechselten auf multifunkti onale Handgeräte. Sie hatten keine Wahl, ihre Schonfrist war vorbei, und Jonas schrieb, zeichnete und collagierte allein weiter. Für wen er das machte, begann er erst zu begreifen, als er bereits in der Kurve war. Er schrieb auch noch, als es ihn aus der Kurve hinaus in den Strassengraben trug und er im dichten Nebel den Weg zurück auf die Strasse suchte.
erschütterte,
18 daran gefunden hätte, im Alter auf andere angewiesen sein zu müssen. Das blieb ihm erspart, und das Bild, das Paula von ihrem Vater in Erinnerung behalten würde, würde nie das eines Greises sein. Julia, Projektleiterin eines Architek turbüros in Zürich, ging anders mit dem Tod ihres Vaters um. Sie stürzte sich in ihre Arbeit. Sie war dankbar dafür, dass sie aufgrund eines Auftrags fast ohne Unterbruch arbeiten konnte. Nach über drei Monaten pausenlosen Arbeitens schlug ihr Herz an einem Sonntagabend in alle Richtungen und verlor den Rhythmus. Es raste, setzte aus oder schlug so hart, dass sie meinte, das Rauschen der Blutwellen zu hören. Es war nicht nur die Sorge um ihr Lebenszentrum, die sie sondern die Erinnerung an ihren Vater und an die Phase, als er die Familie das erste Mal verlassen hatte; sie war damals dreizehn Jahre alt, Paula zwei Jahre jünger. Was hatte das alles zu bedeuten? Vaters letzte Nachricht an sie oder beginnende Herzinsuffizienz? In der darauffolgenden Woche, inmitten einer Besprechung mit einem Geschäftskollegen, wurde es Julia übel. Sie entschuldigte sich, hastete aus dem Besprechungszimmer und erbrach sich auf der Toilette. Sie fühlte sich elend und bat den Kollegen um Verschiebung der Sitzung. Sie rief ihren Hausarzt an und fuhr mit dem Taxi in seine Praxis. Er schrieb sie drei Wochen krank. Julia fand eine Stellvertretung, informierte die Kunden und sagte alle weiteren Termine ab. Ihren Lebenspartner Philipp, der un ter der Woche in Genf arbeitete, bat sie um Zeit. Sie würde wieder anrufen. Auch Anne und Paula wussten Bescheid. Julia kaufte mit letzter Kraft Lebensmittel und tauchte in ihrer Wohnung unter. Sie stellte alles ab, was sie mit der Aussen welt verband, und als sie sich ins Bett legte, begann es heftig zu regnen. Kurze Zeit später läuteten zur Freitagsvesper die
Eine Woche lang schlief Julia fast ununterbrochen. Der Körper holte sich die Erholung, die er brauchte. Sie stand nur auf, um zur Toilette zu taumeln, aus dem Wasserhahn zu trinken und etwas Brot und Trockenfrüchte zu essen. Das Zeitgefühl kam ihr abhanden. Nach zwei, drei Tagen öffnete sie einen der Fensterläden im Schlafzimmer, es war draussen so dunkel wie drinnen und regnete immer noch. Sie legte sich ins Bett und schlief sofort wieder ein.
Glocken der Predigerkirche. Julias Herz übernahm den regelmässigen Rhythmus der Glockenschläge, und eine bleierne Schwere drückte sie immer tiefer in die Matratze. Das kurz bevorstehende Wegdämmern schaffte ihr Gewissheit, nichts mehr denken zu müssen und die Ereignisse aus ihrem Teenageralter, die sie seit dem letzten Sonntag einholten, loslassen zu können.
Nach einer Woche begannen sich ihre Glieder von allein zu strecken, der Kopf war leer, und das Herz schlug stetig und verlässlich. Langsam stand Julia auf, zog ihren Bade mantel an und öffnete alle Läden und Fenster. Hinter dem Zürichberg begann es zu dämmern. Julia trat auf den Balkon und sog mit einem tiefen Atemzug die kühle, frische Morgenluft ein. Nach den Regentagen kündigte sich ein strahlen der Tag an. Zurück im Wohnzimmer, strich sie mit der Hand über die Rücken von Vaters Tagebüchern, die neben den toten Dichtern auf einem eigens dafür gekauften Büchergestell im Wohnzimmer ruhten. In Jonas’ Brief an Jules Werner, der wieder zurückgeschickt wurde, wurden die Tagebücher nicht erwähnt. Was sollte damit geschehen? Wenn Jonas wollte, dass sie vernichtet werden sollen, hätte er jemanden damit beauftragt. Die Neugier packte sie. Von ihrer Auszeit blieben Julia noch zwei Wochen, und sie wusste jetzt, was sie in dieser Zeit tun würde. Aber erst hatte sie Hunger und Durst.
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In der Küche liess sie Penne in Wasser aufkochen, raffelte und vermischte Karotten und Äpfel zu einem Salat, beträufelte ihn mit Zitronensaft und gab etwas Salz, Essig, Olivenöl und Walnüsse dazu. Endlich essen! Nach dem Salat war sie bereits satt. Ihr Magen lief auf Sparflamme, und sie stellte die Penne in den Kühlschrank. Dann rief sie Philipp an. Es gehe ihr besser, sie brauche aber die nächsten zwei Wochen für sich. Er war enttäuscht, sie verstand ihn, aber das hier war jetzt wichtig für sie. Ihrer Mutter und Paula schrieb sie eine Textnachricht. Die unzähligen Nachrichten, die in den letzten Tagen in ihrer Inbox astronomische Ausmasse angenommen hatten, liess sie unbeachtet. Ihre Stellvertreterin würde sich darum kümmern. Nach einer warm-kalten Dusche zog sie sich an, füllte einen Krug mit heissem Wasser und gab Ingwer, Zitrone und Honig dazu. Danach räumte sie die Tagebücher aus dem Bücherregal und stellte sie dem Datum nach vor sich auf den Schreibtisch. Sie schenkte sich eine grosse Tasse Tee ein und begann, im ersten Tagebuch zu blättern, das ihr Vater im Jahr 1990 begonnen hatte. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Paula wurde in diesem Jahr geboren. Sie blätterte weitere Tagebücher durch und musste über die Ge schichten, Zeichnungen, Rate- und Denkspiele schmunzeln, die sich Paula und sie ausgedacht hatten und die zwischen den Reiseberichten und Tagebucheinträgen ihres Vaters standen. Schon bald aber stellte sie fest, dass sich die Texte ver änderten. Zunehmend führte sein Weg einem Abgrund zu, auf den er scheinbar mit offenen Augen zusteuerte, und aus unerklärlichen Gründen war er zum Bremsen nicht mehr fähig. Julia konnte sich nicht daran erinnern, dass sich ihr Vater in dieser Phase verändert hatte. Er war so wie immer, und der Fall aus dem Alltag kam ohne Ansage.
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Was hatte dazu geführt, und was war damals im Leben ihres Vaters geschehen? Waren er und mit ihm unzählige andere Menschen auch Teil eines Systems, in dem es darum ging, Normalität vorzutäuschen, auch wenn man sich immer mehr von der gewünschten Lebensgestaltung distanzierte? Weil man gar nicht mehr wusste, wie diese aussehen sollte, und man sich willfährig von aussen leiten liess, sich einredend, es selbst so zu wollen. Julia übertrug die entscheidenden Einträge auf ihr Notebook. Sie ordnete sie nach Datum und fügte jedem Teil einen Titel zu.
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Was hat sich eigentlich in den letzten Jahren alles abgespielt?
Als ich vor fünf Jahren als Nachwuchskraft in die Firma ein trat, hatte ich mir zum Ziel gesetzt, es noch vor meinem Vierzigsten so weit nach oben zu schaffen wie möglich. Schon bald wurde ich Mitglied des Talent-Pools. Nicht so sehr, weil ich besser war als andere, sondern über einen scheinbar un begrenzten Leistungswillen verfügte. Mein Chef heisst Lamprecht und ist Teil der alten Garde, die den Nachwuchs in homöopathischen Dosen fördert. Ein Spiel, das vor allem Lamprecht meisterlich beherrscht: der warme Händedruck, das demonstrative Wohlwollen und die schlüssigen Erklärungen, dass der richtige Zeitpunkt zum nächsten Karriereschritt gerade jetzt noch nicht gekommen ist, aber wenig fehlt. Lamprecht schreibt und unterschreibt mit Füllfederhalter, und für uns Hoffnungsvolle zeichnet er gerne mit Stiften auf dem Flipchart virtuos ein paar stämmige Eichen in Braun mit wachsendem Jungholz in Grün dazwischen. Die Schösslinge, so Lamprecht, sollen im Schutze der ausgewachsenen Stäm me wachsen können, Jahresring um Jahresring. Was sie aber nicht können, weil ihnen die «Stämmigen» vor der Sonne stehen. Während die Hoffnung des Jungholzes am Leben erhalten wird, füllt sich die alte Garde die Taschen so reichlich, dass sie nicht mehr laufen kann, um das Futter zu suchen. 20. Februar 1990 Die ganze Industrie hat einen unheimlichen Lauf. Wir sind Figuren in einer entkoppelten Welt. Zu meiner und Annes
22 Zur Quelle? 13. Februar 1990
23 Überraschung wurde in meinem ersten Jahr bei der Firma ein Sommerbatzen ausbezahlt. Der Chef der alten Garde wandte sich vor den Ferien schriftlich an die Belegschaft. Der Geschäftsgang sei erfreulich, und jeder Mitarbeitende, un geachtet dessen Rang und Alter, erhalte zusätzlich tausend Franken. Er wünschte schöne Ferien. Ich war darüber be geistert, wie sehr sich Anne freute, woraufhin wir am Abend im Restaurant Frohsinn, gleich um die Ecke, feierten. Ein Jahr später schrieb der Chef wieder. Es laufe noch besser als letztes Jahr, und der Sommerbatzen erhöhe sich dadurch auf zweitausend Franken. Ich glaube, ich telefonierte danach mit Anne. Wir freuten uns, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir am Abend wieder ins «Frohsinn» gingen. Als es im dritten Jahr auf die Sommerferien zuging, rätselten wir bereits, wie hoch der Sommerbatzen dieses Jahr ausfalle. An einem An lass, zu dem alle Mitarbeitenden eingeladen waren, hielt der Chef eine Ansprache. Er hielt uns lange hin, bis er endlich sagte, dass es im gleichen Rhythmus weitergehe und nun zusätzlich ein halber Monatslohn ausbezahlt werde. Ich sagte es Anne beiläufig am nächsten Morgen im Badezimmer, als ich mich rasierte. Wir freuten uns, sprachen aber nicht darüber, was damit geschehen sollte. Wir begannen, uns daran zu gewöhnen. Im vierten Jahr war es ein ganzer Monatslohn und im fünften Jahr, ich war mittlerweile zweimal befördert worden und die Firma dafür bekannt, eine riskante, aber er folgreiche Strategie zu verfolgen, erhielt ich ein Mehrfaches meines Monatslohnes. In der Nacht, die auf diesen Geldre gen folgte, träumte ich vom Märchen «Der Fischer und seine Frau». Die beiden können sich vom Butt, dem der Fischer das Leben rettete, indem er ihn wieder ans Meer zurückgab, immer mehr wünschen und werden unersättlich in ihrer Mass-
Der Sommerbatzen hiess immer noch Sommerbatzen, und ich fragte mich, ob uns diese Münze nicht irgendeinmal sauer aufstossen würde und ich wirklich verdiente, was mir bezahlt wurde? Und nahm es doch. 13. März 1991
losigkeit, bis sie am Schluss wieder in derselben armseligen Hütte leben: «Mantje, Mantje, Timpe Te, Buttje, Buttje inne See.»
Die Blase ist geplatzt. Die Krise fegte wie ein Orkan über die Industrie und über all diejenigen, die sich mit Haut und Haaren auf die Spekulationen eingelassen hatten. Die Firma hatte es so hart getroffen, dass der Senior und Eigentümer den Notstand ausrief. Ich bin Teil einer Mannschaft, die der Markt hochgespült hatte. Jetzt stehen wir ohne Badehose da. Die Hälfte der alten Garde musste inzwischen abdanken. Lamprecht konnte sich gerade noch retten. Die Verluste sind massiv, und Entlassungen sind die Folge. Es wird abgeschrie ben und Kosten gesenkt. Der Reputationsverlust ist immens und die Schadenfreude der Konkurrenten gross. 17. April 1993 Auch die andere Hälfte der alten Garde, und mit ihr Lamprecht, muss gehen. Heute wird er an einem Apéro verabschiedet, zu dem alle seine Mitarbeitenden eingeladen sind. Schindler, der neue Gesamtleiter der Firma, würdigt am Apéro Lamprechts Verdienste in salbungsvoll einstudierter Rhetorik und über gibt ihm vor versammelter Belegschaft Kochschürze, Kochbuch und Kochkellen, da er jetzt mehr Zeit für Familie und Küche habe, als ob diese darauf gewartet hätten. Am Ende der Würdigung enthüllt Schindler auf dem Gabentisch ein paar Flaschen teuren Wein und eine Kiste Zigarren, d ie unter
24
25. April 1993 Ich habe mein Ziel erreicht und werde Lamprechts Nachfolger.
aufgerichtete
Dann macht Lamprecht die Runde und sagt auch denen, die es nicht hören wollen, dass er sich schon immer habe weiter entwickeln wollen und dass wir, die Zurückgebliebenen, noch lange an den Fehlleistungen der letzten Jahre zu beissen hätten. Fehlleistungen, die er wohlverstanden mitverschuldet hat. Niemand sagt zu dieser Maskerade ein Wort. Auch ich nicht. Ich spiele das falsche Spiel mit, weil ich die Chance witterte, mein Ziel zu erreichen. Wer mich füttert, hat viele Rechte. Ich bin ein aufzugswilliger Tanzbär geworden.
spezialisiert.
An seinem letzten Arbeitstag muss er so lan ge gewartet haben, bis niemand mehr im Büro war, um sie
25 einem weissen Tischtuch auf ihren Einsatz gewartet hatten. Danach reicht er Lamprecht die Hand. Applaus, obwohl alle An wesenden wissen, dass sich die beiden nicht ausstehen können.
Vor seinem Abgang lässt er es noch einmal richtig krachen. Gemäss Quittung hat er das «Kunstwerk» in der Galerie um die Ecke gekauft, die sich auf ausgefallene Tierskulpturen
aufzustellen.
So begrüsste uns Mitarbeitenden heute Morgen beim Personaleingang eine überdimensionierte, mannshoch Kobraskulptur in Bronze. Sie zeigt das Tier im Moment der Bedrohung, mit gespreiztem Nackenschild, weit geöffnetem, die Giftzähne freilegendem Mund und nach vorne gebeugten Rückenwirbeln, bereit zum tödlichen Biss. «So zerstreuen sich denn meine Schafe, weil kein Hirte da war. Ezechiel, Kap. 34:5», steht in dicken Lettern auf einem gerahmten Blatt neben der Kobra. Ich bitte den Hausdienst, die Kobra zu verpacken und ins Depot zu verschieben. Die letz ten sichtbaren Spuren Lamprechts sind verschwunden.
26 27. Juni 1994 Seit über einem Jahr habe ich Gelegenheit, es besser zu machen als mein Vorgänger. Ich bin eines der jüngsten Mitglieder der Bereichsleitung.
Immer wieder heisst es Kosten sparen. Wirklich? Obwohl mein Lohn weit unter dem von Lamprecht liegt und es keine Sommerbatzen mehr gibt, sind die Unterschiede in der Belegschaft immer noch sehr hoch. Vor einem Jahr war ich fest davon überzeugt, das System ändern zu können. In der Zwischenzeit bin ich mir nicht mehr so sicher. 1. Juli 1994 Am Anfang waren meine Motivation und Überzeugung, die Firma, mein Team und mich durch einen anderen Führungs stil z um Erfolg zu bringen, grenzenlos. Ich blühte auf, über nahm meine neue Rolle mit grossem Enthusiasmus, arbeitete fast pausenlos, übernahm drei Marktgebiete, war fast jeden Monat auf einem Transatlantikflug, betreute Kunden und setzte die neue Marketingstrategie fest. Aber ich wollte nicht nur im Beruf erfolgreich sein, sondern auch ein fürsorglicher Vater, ein guter Ehemann, ein leidenschaftlicher Liebhaber, ein Sportler und guter Freund. Und nun: grosse Ernüchterung! Zum Kampf mit den Konkurrenten im Markt kommt das Feilschen um interne Ressourcen und das Schmieden von Allianzen. Die neue Bereichsleitung, zu der ich auch gehöre, ist eher ein bunt zusammengewürfelter Haufen als ein Team. Die Eigeninteressen haben Priorität, und ich beginne, an meiner Funktion zu zweifeln. Bin ich nicht bereits seit Langem Teil dieses Systems, und fängt es an, mich kaputtzumachen?
Julia konnte sich erinnern, dass ihr Vater viel auf Auslandsreisen gewesen war. Er war viele Wochentage im Jahr nicht
27 zu Hause, und obwohl die beiden Töchter mit ihrer Mutter viel über ihn sprachen und er auf diese Art präsent war: Er war selten Bestandteil ihres Alltages. Jonas versuchte zwar, alles Geschäftliche um die wichtigen Daten wie Geburtstage, Familienfeste, Einschulungen, Elternabende, sportliche Wett kämpfe oder Theatervorführungen herum zu organisieren und vor allem immer an den Wochenenden für seine Familie da zu sein. Aber es gab auch Abstimmungsprobleme, und Jonas machte sich Vorwürfe, wenn er seiner Familie nicht ge recht werden konnte. Julia realisierte, dass Anne ihm für so vieles den Rücken freigehalten hatte. Julia wusste von ihren Eltern, dass sie vor der Hochzeit miteinander übereingekom men waren, dass vor allem Jonas für den Erwerb zuständig sein würde; doch es war ihrer Mutter nicht leichtgefallen, ihre beruflichen Ambitionen zurückzustecken. Und Jonas, aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, meinte, seiner Frau aus gutem Hause etwas bieten zu müssen. Dafür zu sorgen, dass das Leben für seine Familie reiche Früchte tragen würde. Mit «reichen Früchten» meinte er neben all der Liebe für seine Familie materielle Absicherung und Grosszügigkeit, etwas, was er selbst nie gekannt hatte. Innerhalb einer Generation hatte sich für die Geschlechter viel verändert. Für Julia wäre nie infrage gekommen, aus familiären Gründen ihre beruflichen Ambitionen zurückzu stecken, und sie war froh, in Philipp einen Seelenverwandten gefunden zu haben. 8. Juli 1994 Auch wenn mir meine Stellung Einfluss verschafft, habe ich mich unterzuordnen. Der Lohn ist auch Preis für die se unangenehme Sandwich-Position, die ich mir aber auch
28 selbst ausgesucht habe. Es geht also nicht darum, ein un ternehmerischer und motivationsstarker Chef zu sein, son dern sich möglichst lange in der Position zu halten: Verhindern, dass mir Konkurrenten meinen Job wegnehmen. Mich nach oben orientieren und nach unten treten. Nach oben heisst Ziegler, er hat den Vorsitz unserer Bereichslei tung. Er stiess von einem anderen Unternehmen zur Firma. Zu Beginn verstanden wir uns gut. Als eine seiner ersten Amtshandlungen rekrutierte er neue Mitarbeiter, die er von seiner früheren Tätigkeit her kannte, und half mir damit, mein Team auszubauen. Das dachte ich zumindest zuerst und merkte später, dass er mich damit auch überwachte. Gestern Abend waren Anne und ich bei ihm zu Hause eingeladen. Wir wurden von seiner Frau und den Kindern empfangen. Das Abendessen verlief gemütlich, ich wurde aber das Gefühl nicht los, dass uns seine Frau beobachtete. Beim Nachtisch sagte Ziegler zu seiner Frau: «Wir haben es gut miteinander, nicht wahr, mein Schatz?», worauf er demonstrativ ihre Hand tätschelte und ihr zunickte. Seine Frau nickte zurück. Anne und ich wussten nicht, was wir dazu sagen sollten. «Wer möchte gerne einen Kaffee oder Tee?», rettete Zieglers Frau die Situation. «Gerne einen Kaffee», sagten wir beide fast gleichzeitig und erleichtert. 25. August 1994 Eben zurück von einer Geschäftsreise. Seit Monaten wer den strategische Alternativen geprüft. Es geht darum, neue Marktgebiete zu analysieren. Dafür wurde ein Team zusammengestellt, das diese bereisen sollte, um sich ein Bild davon
Alle Kosten wurden der Geschäftskarte belastet. Ob das im Sinne des Eigentümers der Firma ist? Am Ende des zweiten Reisetages gingen wir aus. Nach dem Nachtessen landeten wir in einer Bar und wurden von einer Gruppe Frauen empfangen. Ich dachte, es sei ein Spiel, ein Spass, eine Spur Leichtigkeit in der Geschäftswelt. Wir setzten uns auf drehbare Hocker an der Bar. Eine der Frauen drehte sich zu Ziegler und setzte sich auf seinen Schoss. Ihre Kolleginnen taten es ihr nach, und so sass plötzlich eine Frau mit tief ausgeschnittenem, kurzem Cocktailkleid auf mir und wollte einen Drink. Ich zahlte und dachte an Anne und meine Töchter. Als der Kollege neben mir seiner Gespielin Geld zuschob und mit ihr zu knutschen begann, wandte ich mich ab und hoffte, dass das Ganze rasch vorbeigehen würde.
Nach einer Stunde verliessen wir das Lokal. Meine Kol legen sprachen von einem anderen Club, in dem die Post ab gehe. Sie riefen ein Taxi, ich blieb stehen. Ziegler kam zu mir und fragte, was los sei. «Ich bin müde und gehe ins Hotel zurück.»
«Das kannst du nicht machen. Wir sind ein Team.» Ziegler sah mich lange an. «Ja, wir sind ein Team, das zusammen arbeitet und das
29 zu machen. Ziegler, drei der neuen Mitarbeiter und ich. Die Reise dauerte acht Tage. Wir besuchten die drei wichtigsten Handels- und Wirtschaftszentren des Landes und am Wo chenende ein luxuriöses Ferienresort. Es sei ein Schnäpp chen, sagte Ziegler, da ein paar Monate zuvor ein Tsunami über diesen Teil hinweggefegt war, Tausenden das Leben gekostet sowie den Strand verkürzt hatte und nun Touristen davon abhielt, in die Region zu reisen. Ist des einen Tragik des anderen Glück?
Die Geschäftsreise der strategischen Alternativen eröffnete nicht nur Chancen für neue Marktgebiete, sie offenbarte auch, wer zur Crew gehörte, die diese zu erschliessen hatte. Weder wusste ich damals, was sich in dieser Nacht im zweiten Club abspielte, noch dass mich die anderen durch mein Verhalten eben aus ihrer Allianz ausgestossen hatten. Wenn ich hier nicht mitmachte, würden sie mir auch im Geschäft nicht vertrauenGesellschaftlichkönnen. wird der Schein der funktionierenden, harmonischen Ehe und Familie hochgehalten. Man lässt ins private Reich bitten, in dem die Ehefrau die perfekte Gastgeberin spielt und die Kinder reizend performen, um dann im Ausland über Prostituierte herzufallen. Die Aussenwelt wird zum Schutzmantel des inneren Chaos. Sie trennt das Denken vom Fühlen, und in diesem Chaos wird Sex zum Ventil, zum Beweis der Manneskraft, und dient dazu, sich der eigenen Existenz zu versichern. Unmittelbar nach dem Vollzug steht endlich einmal die Zeit still. Man fühlt sich ganz und un sterblich. Eine sedative Droge mit schlafanstossender Wirkung, die nach enthaltsamen Tagen wieder zugeführt werden muss. Akzeptiert die Lebenspartnerin des Machtmenschen diese Lebensform, oder ist sie sich selbst so fremd geworden, wie es ihr Mann schon lange ist?
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Privatleben nicht mit dem Geschäftsleben vermischt.» «Du solltest mit uns kommen», wiederholte Ziegler. Die anderen waren bereits in das wartende Taxi eingestiegen und schauten zu uns hoch. Sie verstanden nicht, um was es ging. Ich rief ein anderes Taxi und ging ins Hotel zurück. 23. November 1994
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17. April 1995 Anne und ich werden nicht mehr von Ziegler eingeladen. Für wichtige Geschäftsentscheidungen entzieht er mir immer mehr die Unterstützung. Ich muss seine Erwartung an Loya lität untergraben haben. Immer noch versuche ich, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, versinke aber in der heillosen Politik der Firma. Erfolg wird kalt, wenn die Arbeit nicht mehr wärmt. Wie lange halte ich das noch aus? 31. Januar 1996
Der Honigtopf gibt mir den Rest. Zum Jahresanfang wird an der ersten Bereichsleitungssitzung der Bonus für das letzte Jahr ausgeschüttet. Jeder Geschäftszweig erhält einen bestimmten Betrag zur Verteilung. Zuerst bedient sich die oberste Leitung, dann die Bereichsleitung und somit auch ich. Danach geht es in der Hierarchie nach nach unten, bis nichts mehr übrig bleibt. Die Differenz zwischen mir und meinen Mitarbeitenden ist so gross, dass sie meinen propagierten Teamansatz «Einer für alle, alle für einen» ad absurdum führt. Ich habe mich meilenweit von mir entfernt. 4. April 1996 Ich sollte im Rahmen einer Umstrukturierung eines meiner Marktgebiete abtreten und nehme es als Anlass, zu kündigen. Zur grossen Enttäuschung des Eigentümers der Firma, der mich lange gefördert hat. Es fehlt mir an Mut, zu erklären, wieso ich das tue. Das letzte Gespräch mit ihm ist frostig. Er hat mich bereits abgeschrieben. Obwohl ich den Entscheid mit Anne abgesprochen habe, macht ihr die Ungewissheit da rüber, was auf uns zukommen wird, Angst.
32 28. April 1996
An meinem letzten Arbeitstag vor ein paar Tagen waren Anne und ich von meinem Nachfolger und dessen Frau in ein teures Restaurant in Zürich eingeladen. Als wir vor dem reservierten Tisch standen, nahm er seiner Frau den Mantel ab, hielt ihr den Stuhl hin, bevor sie sich setzte, übergab den Mantel einem Kellner und winkte einem Gast an einem anderen Tisch kurz zu, bevor er sich setzte. Anne trug eine kurze Jacke, die sie anbehielt. Ihr war kalt. Wir sahen die Speise karte durch und bestellten. Mein Nachfolger suchte den Wein aus. Er eröffnete die Runde, indem er sagte, dass er es sehr bedaure, dass ich die Firma verlasse. Meinen Job habe er nur vorübergehend übernommen, «ad interim», worauf ihn sei ne Frau bewundernd von der Seite ansah. Es sei sehr schwer, mich zu ersetzen. Er sprach in den höchsten Tönen von mir. Ich sei in vielem ein Vorbild für ihn, und er habe die Zusammenarbeit mit mir sehr geschätzt. Es wiederholte sich, was sich bei Lamprechts Verabschiedung vor über drei Jahren zugetragen hatte: in Worthülsen verpackte Lügen, verklausuliert, ein austauschbares Arbeitszeugnis: «Zur vollsten Zu friedenheit.»
Endlich verlangte mein Nachfolger die Rechnung. Ich warf einen Blick darauf, als er die Brieftasche hervorholte. Es war teuer, und der Wein, von dem auch noch eine zweite Fla sche bestellt wurde, die wir dann aber halb voll stehen liessen, kostete ein Vermögen. Er zahlte mit der Geschäftskarte und fügte ein grosszügiges Trinkgeld hinzu. Wir erhoben uns.
Die Frau meines Nachfolgers überragte Anne körperlich in vielem und sprach viel von ihren Kindern. Ab und zu kam es zu einem Spässchen. Anne und ich lächelten höflich. Es war alles, was wir tun konnten, da wir mit dieser Situation heillos überfordert waren.