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Rezepte gegen Personalmangel

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Techniker. Die Porr AG hat 550 offene Stellen.

REZEPTE GEGEN

PERSONALMANGEL

Wenn sich Spitzenpolitiker, Diplomaten, die wichtigsten Kunden, Aufsichtsräte und Vorstandsmitglieder an einem Ort versammeln, kann das für ein Unternehmen nur ein historisch wichtiger Tag sein. Der 17. Juni 2022 war so ein Tag für die FACC AG, den oberösterreichischen Luftfahrtzulieferer, als er sein neuestes Werk eröffnete. Der Ort des Geschehens war die Stadt Jakovlje in Kroatien. Der österreichische Markt sei gesättigt, es gebe keine Arbeitskräfte für das Werk. Deshalb wird vermehrt im Ausland investiert. Aktuell sucht das Unternehmen 200 Arbeitskräfte. Dieses Beispiel ist ein Sinnbild für viele österreichische Unternehmen, die in Österreich ob des Arbeitskräftemangels vielleicht bereits am Ende ihres Wachstums angelangt sind.

Der Arbeitsmarkt wird für die heimischen Unternehmen zur Wachstumsbremse, sie finden keine Mitarbeiter. Wie kann dieses Problem gelöst werden? Der Börsianer hat Personalchefs nach Rezepten aus der Praxis gefragt und eine Umfrage unter ATX-Konzernen gestartet.

Viele Jobs, wenig Arbeitslose

In einer exklusiv vom Börsianer erhobenen Umfrage stellte sich heraus, dass die 38 im ATX-Prime-Index an der Wiener Börse gelisteten Konzerne aktuell fast 8.600 Arbeitskräfte suchen. Die Strabag SE sucht mit 3.500 Ausschreibungen die meisten Mitarbeiter. Darauf folgt die AT&S AG mit 669 Ausschreibungen sowie die Österreichische Post AG, die 650 Kollegen sucht. „Wir haben aktuell die niedrigsten Arbeitslosenzahlen seit 2012 und einen Allzeitbeschäf-

© PORR

tigungsrekord. Gleichzeitig sind alleine beim AMS mehr als 138.000 offene Stellen österreichweit gemeldet. Das bedeutet, wir können mit dem aktuellen Angebot an Arbeitskräften die Nachfrage nicht vollständig decken“, bewertet Arbeitsminister Martin Kocher gegenüber dem Börsianer den aktuellen Markt.

Die Personalchefin der Porr AG, Martina Auer-Klass, hat eine Erklärung parat: „Aufgrund der demografischen Entwicklung gibt es immer weniger arbeitsfähige Personen. Dieses Problem lässt sich – bei dem aktuellen Bedarf an Arbeitskräften – schlichtweg mathematisch nicht lösen.“ Sie müsse bereits Fachkräfte aus Indien nach Rumänien holen, weil sich in den zentraleuropäischen Ländern keine Leute finden lassen. Aktuell sind bei der Porr AG mehr als 400 Stellen ausgeschrieben. Ihr Kollege von der Österreichischen Post AG, HR-Chef Franz Nigl, hat die aktuelle Situation nicht erwartet: „Früher gab es einen so großen Arbeitsmarkt, wir konnten uns aus der Übermenge an Bewerbern die besten aussuchen. Seit Corona finden wir uns in einem Bewerbermarkt wieder, die Lage hat sich gedreht.“

FRANZ NIGL

„Wir finden uns heute in einem Bewerbermarkt wieder.“ „Es handelt sich um ein demografisches Problem. “

MARTINA AUER-KLASS

Innovative Lösungen sind gefragt

Die Lösung sei, die Fachkräfte in den eigenen Reihen auszubilden und diese durch eine angenehme Unternehmenskultur zu binden, wirft der Personalchef der Erste Group Bank AG, Adriano Bruno, ein. „Wenn es zum Beispiel pro Jahr 200 für uns von der Studienrichtung relevante TU-Absolventen gibt, würden wir sie alle mit offenen Armen empfangen, da wir sie in der IT brauchen. Das Problem ist, dass wir nicht das einzige Unternehmen sind, das sich bei den Absolventen bewirbt, jeder braucht sie“, sagt Bruno. Der IT-Bereich ist inklusive Data-Science bei den Banken ein großes Thema. Immer mehr Daten werden angesammelt, die ausgewertet und aus denen Schlüsse gezogen werden müssen. Im Gegensatz dazu setzt die Österreichische Post AG auf Randgruppen, die sonst keine allzu große Beachtung am Arbeitsmarkt finden. „Wir eröffnen Gehörlosen, Menschen über 50, Asylwerbern und ausgeschiedenen Soldaten Karrierechancen bei uns“, erklärt Nigl. Jeder, der arbeiten will, soll eine Chance haben. Auch Employer-Branding gewinnt eine immer größere Bedeutung, um sich am kompetitiven Bewerbermarkt behaupten zu können. Die Porr AG investierte in einen neuen Arbeitgeberauftritt und arbeitete eine Kampagne aus. Auf der bei Jugendlichen beliebten Social-Media-Plattform Tiktok werden die Tätigkeiten während einer Lehre bei der Porr AG von echten Mitarbeitern gezeigt.

Neue Rahmenbedingungen

Teresa Waidmann, Expertin für Arbeitsrecht bei Schönherr Rechtsanwälte, sieht bislang oftmals tabuisierte Vorschläge im Kommen: „Von der Vier-Tage-Woche bis zum unbegrenzten Urlaub für Mitarbeiter liegen viele Ideen auf dem Tisch. Besonders junge und aufstrebende Start-ups trauen sich, diese aufzugreifen.“

Angesprochen auf die Wünsche an die Politik (Seite 84), kommen die Personalchefs aus dem Redefluss fast nicht mehr heraus. „Wir brauchen vereinfachte grenzübergreifende Möglichkeiten für Arbeitsverträge. Wie können wir Kollegen aus Ungarn oder Tschechien bei uns unkompliziert beschäftigen? Durchlässige Arbeitsformen bezüglich Sozialleistungen und Steuerausgleich auf europäischer Ebene wären die Lösungen, damit keine politischen Grenzen gesetzt werden“, so Bruno von der Erste Group Bank AG, die in sechs Ländern in Osteuropa Niederlassungen hat. Auch innerhalb Österreichs brauche es umfassende Programme für Requalifizierungen und eine Aufwertung der Lehre, so AuerKlass von der Porr AG: „Viele Eltern wol-

#JOBS

OFFENE STELLEN IN ÖSTERREICH IM ATX-PRIME

Unternehmen

Strabag SE AT & S AG Österreichische Post AG

Porr AG

Voestalpine AG

Palfinger AG

Vienna Insurance Group AG

Pierer Moblity AG

Erste Group Bank AG

FACC AG

Offene Stellen

3.500

669

650

550

400

300

300

250

200

200

QUELLE: „BÖRSIANER“

„Es braucht durchlässige Arbeitsformen auf europäischer Ebene.“

ADRIANO BRUNO

len, dass ihre Kinder studieren. Die Lehre muss als gleichwertig der akademischen Ausbildung angesehen werden.“

Imagepolitur

Nigl möchte generell das Image einer Fachkraft aufwerten. Es gebe immer wieder Mitarbeiter, die die Laufbahn als Experte beenden, um in eine Managementfunktion zu kommen, weil Letztere höhere gesellschaftliche Anerkennung genießt. „Für mich gibt es nichts Schlimmeres, als wenn aus einer qualifizierten Fachkraft eine ungeeignete Führungskraft wird“, so der Personalchef. Arbeitsminister Kocher sieht Handlungsbedarf an vier wesentlichen Punkten: Die Qualifizierung und Vermittlung von Arbeitssuchenden, die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittstaaten, die Erhöhung der Teilzeitbeschäftigungsquote sowie die Attraktivierung der Lehre. Es zeigt sich, dass die Unternehmen an einem Wendepunkt stehen. Während sich früher der Bewerber beim Unternehmen bewerben musste, muss sich heute das Unternehmen beim Bewerber bewerben. Dafür bedarf es innovativer Ideen der Konzerne, damit sich diese das Image eines attraktiven Arbeitgebers aufbauen können.

Auf der anderen Seite braucht es strukturelle Reformen innerhalb des Arbeitsmarktes, um der demografischen Entwicklung entgegenzuwirken und bestimmte Berufsfelder zu attraktiveren. Ob der vielschichtigen, umfassenden Maßnahmen benötigt es einen nationalen Schulterschluss aller Beteiligten: Unternehmen, Politik und Gesellschaft. Damit es auch eines Tages wieder genug Arbeitskräfte gibt, um in Österreich neue Werke zu eröffnen.

Suchprofil. Bei der Österreichischen Post fehlen 650 Mitarbeiter, die Suche gestaltet sich schwierig.

„Arbeitnehmer wünschen sich immer mehr Flexibilität im Berufsalltag.“

TERESA WAIDMANN

% MEINE RENDITE

Unternehmen müssen sich innovative Ideen überlegen, um sich im Wettbewerb um Mitarbeiter behaupten zu können. Die Bandbreite reicht von neuen Formen des Recruitings über neue Arten des Employer-Brandings bis zu neuen Regelungen im Arbeitsalltag. Der Bewerber hat eine überlegene Verhandlungsposition und wird sich für das aus seiner Sicht attraktivste Unternehmen entscheiden. n

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