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Trial and Error

TRIAL AND ERROR IM AUFSICHTSRAT

Aufsichtsräte befinden sich derzeit in einer Findungsphase, stehen aber vor einer komplexen Mammutaufgabe: Die vorgeschriebene Integration von Nachhaltigkeitszielen wird Geschäftsmodelle komplett auf den Kopf stellen. In den Gremien fehlen ESG-Experten, Vorstände müssen auf Kurs gebracht werden. Oft ist dann guter Rat teuer.

Geschummelt. Der Abgasskandal brachte den damaligen Vorstandschefs von VW und Audi, Martin Winterkorn und Rupert Stadler, 2021 Schadenersatzzahlungen von insgesamt fast 15 Millionen Euro wegen aktienrechtlicher Sorgfaltsverletzungen ein. Von der D&O-Versicherung bekam VW 270 Millionen Euro. Der Aufsichtsrat hatte geklagt.

„Wir sprechen aktuell von 200 KPIs, die in Zukunft berichtet werden müssen.“

FLORIAN HEILER

Als Friedlich Rödler 2004 in den Aufsichtsrat der börsennotierten Erste Group Bank AG eingetreten ist und vor neun Jahren den Vorsitz übernommen hat, stand Nachhaltigkeit, geschweige ESG kaum auf der Tagesordnung. „Es war bestenfalls ein Orchideenthema. Jetzt kommt Nachhaltigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven in jedem Ausschuss vor. Im Vergütungsausschuss diskutieren wir intensiv die Nachhaltigkeits-KPIs für jedes Vorstandsmitglied, im Risikoausschuss die Berücksichtigung von Umweltrisiken bei der Kreditvergabe und im Prüfungsausschuss die Prüfung des Nachhaltigkeitsberichtes“, zählt Friedrich Rödler auf. Er selbst habe sich intensiv einlesen müssen. Aus Erkenntniswerten sind plötzlich regulatorische Vorschriften geworden. „Nachhaltigkeit ist für mich bereits zu einem Allerweltsbegriff verkommen, ein Hybridwort, das jeder mit Inhalt füttert, für das es aber überhaupt noch keine klare rechtliche und allgemein gültigen Definition gibt. Nachhaltigkeit ist wie eine Anti-Aging-Creme, die müssen Sie jeden Tag auftragen, aber trotzdem sehen Sie erst spät eine Wirkung“, meint Unternehmensberater Rudolf X. Ruter, der als Experte in Nachhaltigkeit und Corporate Governance über die Grenzen Deutschland weit hinaus bekannt ist und bereits vor zwölf Jahren eine heute immer noch gültige kleine Fibel für Aufsichtsräte zum Thema Nachhaltigkeit verfasst hat. 150 Stellungnahmen habe es zum aktuellen Corporate-Governance-Kodex, der für die Aufsichtsräte zwingend ist, in Deutschland gegeben, weil uneinheitliche und verwirrende Begriffe für Nachhaltigkeit und ESG verwendet wurden.

Banken im Dilemma

Davon kann Friedrich Rödler ein Lied singen. Je mehr Seiten der zahlreichen Verordnungen (Seite 78) er studiert, desto schwieriger wird die Einordnung. Banken sind schließlich gefordert, die Frage zu beantworten, ob eine Finanzierung als nachhaltig eingestuft werden kann. Die Finanzierung des Baus eines Wasserkraftwerks dient zweifellos dem Klimaschutz, aber wenn der Lebensraum der Fische in den gestauten Gewässern dadurch gefährdet wird, dann schadet das gleichzeitig dem Nachhaltigkeitsziel der Biodiversität. „Als taxonomiekonform gilt eine Wirtschaftsaktivität dann, wenn sie einen wesentlichen Beitrag zu mindestens einem von insgesamt sechs in der Taxonomie-Verordnung definierten Nachhaltigkeitszielen leistet, ohne einem der anderen Ziele zuwiderzulaufen. Ob sich also Maßnahmen für Klimaschutz und etwa Biodiversität nicht konterkarieren oder womöglich im Widerspruch zu bankrechtlichen Vorgaben für die Kreditvergabe stehen, erfordert viel Erfahrung und einschlägige Kenntnisse. Nach der Taxonomie-Verordnung sind Green Bonds ‚gut‘, sie dürfen aber nicht für Greenwashing missbraucht werden oder dazu führen, dass Risikostandards nicht eingehalten werden“, beschreibt Rödler eines der vielen Dilemmata, mit denen sich der Aufsichtsrat einer Bank beschäftigen muss.

Mammutaufgabe

Auch bei Birgit Noggler, Aufsichtsrätin der Raiffeisen Bank International AG (RBI), ist ESG in den Ausschüssen allgegenwärtig. „ESG spielt auch bei neuen Genehmigungen eine Rolle: Da geht es schon um die Frage, ob man als Bank noch mit Firmen zusammenarbeiten darf, bei denen man weiß, dass diese mehrere Herausforderungen in puncto Nachhaltigkeit haben. Wie möchte man als Bank sein Portfolio gestalten, was schreibt der Regulator vor? Wir versuchen das bestmöglich umzusetzen“, erklärt Birgit Noggler, die vor kurzem bei einem ESGWorkshop für Aufsichtsräte in der RBI teilnahm. „Das heißt aber nicht, dass wir schon alle ESG-Experten sind, das würde ich für mich nicht in Anspruch nehmen. Ich habe mir überlegt, ob ich eine Ausbildung zur ESG-Expertin machen soll. Wir sind in einer Übergangsphase und wachsen mit der Herausforderung“, sagt die Managerin, die seit dem Jänner 2022 auch im Vorstand der B&C-Privatstiftung ist. Das alles klingt noch etwas verhalten

„Nachhaltigkeit von allen Aktivisten, die die Welt retten wollen, trennen.“

RUDOLF X. RUTER

„Unternehmen müssen ihr Geschäftsmodell komplett hinterfragen.“

SUSANNE KALSS

„Sind in der Übergangsphase und wachsen mit der Herausforderung.“

BIRGIT NOGGLER

und offenbart nicht, dass der Aufsichtsrat vor einer Mammutaufgabe steht. Es geht um völlig neue Ansätze bei der Versorgungssituation, Energieunabhängigkeit und Lieferkettenverantwortlichkeit sowie einen neuen Blick auf weltweit tätige Unternehmen, die in Billiglohnländern produzieren, wo europäische Standards der Corporate Governance negiert werden. „Die Unternehmen müssen ihr Geschäftsmodell komplett hinterfragen, ihr eigenes Know-how aufbauen und geeignete Personen in den Vorstand holen. Das darf man nicht den Wirtschaftsprüfern überlassen. Da gibt es extrem viel zu tun“, sagt Susanne Kalss, Vorständin des Instituts für Unternehmensrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie schlägt ein bis zwei ESG-Experten für den Aufsichtsrat vor, „die strategisch mitdenken und fordernde Gesprächspartner sind. Da darf man nicht nur die Aktionäre mitnehmen, sondern muss auch an die eigene Belegschaft denken.“ Der plötzliche Bedarf an ESG-Experten für den Aufsichtsrat wird die Gremien vor eine weitere Herausforderung stellen: „Im Moment werden flächendeckend in Deutschland Financial Experts und ESG-Experten gesucht, die alle spätestens im Herbst in die Aufsichtsräte berufen werden“, sagt Ruter, der als Partner von Ernst & Young vor mehr als einem Jahrzehnt bei der Deutschen Post AG die CO2-Kennziffer ins monatliche Reporting aufnahm. Das Projekt dauerte zwei Jahre, mehr als 130 externe und interne Leute arbeiteten mit.

In der Schweiz nimmt der Druck vonseiten der Aktionäre auf die Verwaltungsräte zu, wie eine Umfrage der Schweizer Corporate-Governance-Spezialisten Swipra aus dem Jahr 2021 ergab.

Mehr Transparenz im Verwaltungsrat

Befragt wurden alle Unternehmen des Swiss-Performance-Index sowie institutionelle Aktionäre aus der Schweiz und dem Ausland. Nur 33 Prozent der befragten Aktionäre waren der Meinung, dass Verwaltungsräte ausreichend Verantwortung in Nachhaltigkeitsfragen übernehmen. Außerdem würden ESG-relevante strategische Überlegungen zur Zusammensetzung des Verwaltungsrats, zur Kapitalallokation oder zur Vergütung nicht ausreichend klar vermittelt. 90 Prozent der Vermögensverwalter bezweifeln die strategische Relevanz der Nachhaltigkeitsberichte, 65 Prozent dieser Gruppe ärgern sich über unzureichende Details bei sozialen Themen, 61 Prozent der Pensionskassen fehlen relevante Informationen zu Umweltthemen.

Der Tipp der Experten: Der Verwaltungsrat muss nach innen und außen klar und transparent kommunizieren, wer die ESG-Integration im Unternehmen vorantreibt und wer in welchem Maße daran beteiligt ist. Der ehemalige UBS-Verwaltungsrat Axel Weber war sich früh bewusst, dass Investoren einen starken Hebel haben. „Sie werden Unternehmen immer mehr dazu drängen, nachhaltiger zu wirtschaften“, sagte er in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ vor drei Jahren.

Die weltweit im Vorjahr durchgeführte Studie „Changing the Climate in the Boardroom“ von Heidrick & Struggles legte den Schluss nahe, dass es eine klare Trennung zwischen dem Sagen und dem Tun der Aufsichtsratsmitglieder gibt. So votierten 75 Prozent der Befragten dafür, dass Maßnahmen gegen den Klimawandel für den strategischen Erfolg des Unternehmens immens wichtig sind, 43 Prozent hatten aber keine klaren CO2Ziele, und nur 16 Prozent hatten detaillierte Daten zum CO2-Fußabdruck der eigenen Lieferkette. Bei 49 Prozent der Befragten spielt der Klimawandel keine Rolle bei Investmententscheidungen. Die Studienautoren kamen unter anderem zu dem Schluss, dass Aufsichtsratsmitglieder offensichtlich mit der Komplexität der ESG-Verantwortung überfordert sind und dass Lücken im eigenen Wissen über die Auswirkungen des Klimawandels verhindern, die Mängel im eigenen Unternehmen wahrzunehmen.

ESG-Experten von innen

Die österreichische B&C-Privatstiftung, die substanzielle Beteiligungen an den börsennotierten Industrieunternehmen Lenzing AG, Amag Austria Metall AG und Semperit AG hält, hat seit Ende 2021 mit Florian Heiler eine Stabsstelle für ESG- und Sustainability-Management eingerichtet. Seine Aufgabe ist die Professionalisierung der Aufsichtsratsarbeit des Beteiligungsmanagements hinsichtlich ESG, also der Fokus auf Umwelt, Gesellschaft und Unternehmensführung. „Derzeit befasse ich mich vor allem damit, die konkreten Auswirkungen der neuen Regulatorien zu identifizieren und aufzubereiten. Die Dokumente zur EU-Taxonomie sind 12.000 Seiten schwer. Dazu kommen die Entwürfe für den europäischen Nachhaltigkeitsreporting-Standard der EFRAG, die im Jänner publiziert wurden. Wir sprechen aktuell von 200 KPIs, die in Zukunft berichtet werden müssen. Um das zu überblicken, muss man heute als Aufsichtsrat und Beteiligungsmanager fast ESG-Experte werden. Das kann nicht nur an externe Berater und Wirtschaftsprüfer ausgelagert werden, da braucht man valides

Wissen im Haus. Das bauen wir derzeit mit dem Beteiligungsmanagement und Aufsichtsräten auf“, erklärt Florian Heiler, der überzeugt ist, dass es die großen Fortschritte im Bereich ESG ohne gesetzliche Vorgaben und EU-Regulatorik nicht geben würde.

Bei aller Regulatorik und den verstärkten Anforderungen im Reporting und im Aufsichtsrat sollte man das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren, sagt Rudolf X. Ruter: „Für mich ist ESG keine außergewöhnliche Herausforderung für den Aufsichtsrat, man muss das Thema von allen Aktivisten, die die Welt retten wollen, trennen. Die Aufgabe des Unternehmens ist, im Sinne seiner langfristigen Unternehmensziele, ohne die Umwelt zu zerstören, Produkte und Dienstleistung zu erwirtschaften, die die Kunden gern kaufen. Als Unternehmen entnehme ich der Gesellschaft Mitarbeiter und Ressourcen, belaste vielleicht die Umwelt, und gleiche das aus, indem ich meiner gesellschaftlichen Verpflichtung nachkomme und Entsprechendes an die Gesellschaft zurückgebe.“ Ruter rät den Unternehmen dazu, dass sich die überwiegende Mehrheit der Mitglieder im Aufsichtsrat zu diesem Thema weiterqualifizieren muss, inklusive zwei oder drei ESG-Experten: „Außerdem muss der Aufsichtsrat dafür sorgen, dass der Vorstand ein Expertenteam zu diesem Thema hat.“

Mentalitätswandel

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Für Florian Heiler braucht es dafür vor allem auch einen Mentalitätswandel auf Vorstandsebene, denn ESG-Themen bringen auch wirtschaftliche Chancen mit sich. „Einen solchen erfolgreichen Mindset- und Strategie-Change hat man etwa in den letzten Jahren bei der Lenzing AG gesehen“, sagt Heiler. Bei der Semperit Holding AG gebe es indes noch Nachholbedarf. „Generell müssen sich Vorstände operativ in Zukunft stärker mit ESG auseinandersetzen, und im Aufsichtsrat gilt es, entsprechende Beratungs- und Kontrollexpertise aufzubauen. Das gemeinsame Ziel sollte es sein, Risikoeinschätzung, Strategie und Entscheidungsfindung besser miteinander in Einklang zu bringen – natürlich mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu stärken“, sagt Heiler. Denn die Versäumnisse hinsichtlich einer transparenten ESG-Ausrichtung werden sich laut Ruter auch bei der Suche nach Talenten niederschlagen. „Ich kann als Unternehmen heute Talente nur gewinnen, wenn ich eine stringente Nachhaltigkeitsstrategie habe und transparent und glaubhaft offenlege, wie ich diese Strategie umsetze“, warnt Ruter.

Prozent der in der Studie „Changing the Climate in the Boardroom“ von Heidrick & Struggles befragten Aufsichtsräte sind davon überzeugt, dass Maßnahmen gegen den Klimawandel für den strategischen Erfolg des Unternehmens wichtig sind, bei 49 Prozent spielt der Klimawandel aber bei Investment-Entscheidungen keine Rolle. Einen großen Hebel hat der Aufsichtsrat, der grundsätzlich nur ein beratendes Gremium ist, aber im Zuge des Green Deals, der EU-Taxonomie, des Pariser Klimaabkommens und sonstiger Offenlegungspflichten immer stärker in die Unternehmensstrategie eingebunden wird, bei der Besetzung des Vorstands. „Eine der wichtigsten Aufgaben des Aufsichtsrats ist es, den Vorstand auszuwählen, dem wir zutrauen, das Unternehmen mit diesen neuen Anforderungen zu führen. Weil wenn es nicht von oben kommt, wird es nicht passieren“, gibt Birgit Noggler zu bedenken.

% MEINE GRÜNE RENDITE

Die EU macht Druck auf Gremien. Aufsichtsräte müssen, fast aus dem Nichts zu ESG-Experten werden. Wichtig ist, dass Konzerne ihr Know-how selbst aufbauen. Den größten Hebel hat der Aufsichtsrat mit der Vorstandsbesetzung. n

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