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DIE RETTUNGSOPER ALS MODELLVORLAGE FÜR DEN FIDELIO

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Nicht nur politisch, nicht nur gesellschaftlich, menschlich oder ideologisch stellte die Französische Revolution eine historische Zäsur dar, auch kulturell, in einer sehr großen Bandbreite, war sie von entscheidender Bedeutung. Wie alle Themen, die die Menschheit bewegten, setzte auch in diesem Fall eine umfassende literarische, musikalische und dramatische Aufarbeitung der geschichtlichen Situation und Geschehnisse ein. Von unterschiedlichen Seiten wurde das Ereignete beleuchtet, einzelne Topoi bildeten sich bald heraus. Gerechtigkeit – Ungerechtigkeit, Hoffnung – Verzweiflung, Terror – Befreiung, zahllose Gegensatzpaare spannten sich um das Jahr 1789 und die folgenden, die Revolution wurde zum zentralen Ereignismoment, über das allerlei Geschichten, privater oder öffentlicher Natur, wie Folien gelegt wurden. Dabei wurde auch ein Genre aufgegriffen und tendenziell neu ausgerichtet, dessen Wurzeln deutlich weiter zurückreichen: die Rettungsoper. Das Element der Rettung eines Unschuldigen hatte sich zuvor als eigenständiger Erzählstrang herausgebildet, wurde im Zuge der Revolution teils mit politischen, sozialen

Aspekten angereichert, behielt aber auch – und besonders – in den Zeiten der Gewalt das Motiv der finalen Erlösung. »Die Tradition des lieto fine und des meraviglioso (des Wunderbaren) war in der Oper fest verwurzelt, und zwar aus Gründen, an denen der Einspruch literarisch inspirierter Opernreformer immer wieder scheiterte«, schrieb der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus im Zusammenhang mit dem Spannungsverhältnis Revolutionscontra Rettungsoper.

Als ein bekanntes Beispiel einer vorrevolutionären Rettungsoper, die in der Vorgeschichte von Beethovens Fidelio Bedeutung erlangt hat, wird gerne Pierre-Alexandre Monsignys Le Déserteur (Libretto: Michel-Jean Sedaine) angeführt, uraufgeführt im Jahr 1769 in Paris. Diese Oper, die auf einer wahren, wenn auch für Theaterzwecke veränderten, Geschichte basiert, erzählt vom Soldaten Alexis, der von einer Herzogin einer Liebesprobe unterzogen wird und im Zuge dieser seine Verlobte bei einer fingierten Hochzeit als vermeintliche Braut erblickt. Wutentbrannt sucht er das Weite, passiert die flämische Grenze und wird als Deserteur gefasst und zum Tode verurteilt. Seiner mutigen Braut Louise gelingt es, das Herz des Königs zu erweichen – Alexis wird begnadigt. Derselbe Librettist – Michel-Jean Sedaine – verfasste einige Jahre später ein weiteres, thematisch in seinem Kern verwandtes Werk, das freilich einen gänzlich anderen Handlungskern aufweist: Richard Cœur de Lion, Musik: André-Ernest-Modeste Grétry, 1784 in Paris uraufgeführt, zeichnet die Gefangenschaft und Befreiung Richard Löwenherz’ nach. Dieser singt unter anderem im zweiten Akt eine Gefangenschafts-Arie und tröstet sich durch die Erinnerung an seine Braut Marguerite, bis er schließlich durch den Spielmann Blondel – und Marguerite – gerettet wird. Das Werk endet versöhnlich in zweierlei Liebesglück: einerseits jenem von Löwenherz und andererseits von jenem des ihn inhaftierenden Gouverneurs (der Florestan heißt). Auch hier der Kerker-Topos, das Rettungs-/Befreiungs-Element, die ungerechte Gefangennahme, die an der Befreiung mitwirkende Geliebte und ein jubelndes Freiheits-Schlusstableau.

Ein Komponist, der gleich mehrere Werke dieser Gattung verfasste, war Luigi Cherubini, der unter anderem mit seiner Oper Elisa ou Le Voyage aux glaciers du Mont St. Bernard (Elisa oder Die Reise auf den Sankt Bernhard, Uraufführung in Paris 1794) eine besondere Variation des Errettungsbedürfnisses entwarf. Der junge Maler Florindo sucht nach vermeintlichem Liebesunglück sein Ende in den stürmischen Unwettern eines Gebirges und muss aus einer Lawine gerettet werden; hier ist es kein verworfener Despot, der für das Unglück sorgt, sondern die Urkraft der Natur; die Rettung unterliegt himmlischer Macht in Vertretung des Priors eines Hospizes. Wiederzuerkennen ist jedenfalls die sich auf die Suche machende liebende Frau, die nach einem dramatischen Finale ihren Geliebten gerettet in die Arme schließen darf. Zuvor schon, 1791, hatte Cherubini die dreiaktige Oper Lodoïska herausgebracht, in der die Fürstentochter Lodoïska vom tyrannischen

Baron Dourlinski gefangen gehalten wird, nachdem sie seinen Werbungsversuchen widerstanden hat. Auch ihr Geliebter Graf Floreski wird bei seinem Rettungsversuch gefangengesetzt; erst ein Angriff befreundeter Tataren rettet das Liebespaar und macht ihrerseits den Baron zum Gefangenen. Cherubini entwarf ein wirkungsvolles Schlussbild, in dem über dem brennenden Schloss das Liebespaar seine Rettung erlebt: die unmittelbare Nähe zur Revolution zeichnete sich in der kriegerischen Zerstörung des Palastes sowie der Inhaftierung eines Adeligen ab und gaben dem Geschehen einen eminent politischen Beigeschmack.

Ein Werk dieses Genres, das in einem direkten Zusammenhang mit Beethovens Fidelio steht, ist Luigi Cherubinis Der Wasserträger, zu dem JeanNicolas Bouilly den Text schrieb. In dieser Oper gibt es zunächst eine politische Komponente, da die verfolgte Person ein Parlamentspräsident namens Armand ist, der durch Kardinal Mazarin gefügig gemacht werden soll; darüber hinaus war dem Publikum der Uraufführung (im Jahr 1800) klar, dass das Autorenpaar mit der Handlung auf die Revolutionsnachwehen anspielte, also das Werk in einen zeitaktuellen Kontext stellte. Auch ist das Element der Verkleidung in dieser Oper ein zentrales, da sich das auf der Flucht befindliche adelige Paar auf diese Weise unkenntlich zu machen versucht. Jedenfalls handelt Der Wasserträger von der Flucht des Grafen Armand und seiner Gattin Constance, die von der Familie des Wasserträgers Mikéli tatkräftig unterstützt wird. Als zuletzt die Häscher Mazarins das Paar verhaften, trifft im letzten Moment ein Errettungsbefehl durch die Königin ein. Bouilly legte Wert auf die humanistische Aussage der Oper, er wollte seinem Publikum eine Lektion der Menschlichkeit geben; wichtiger noch: Die sozialen Grenzen sind in diesem Werk in beide Richtungen aufgehoben. Einerseits wird der adelige Protagonist menschlich und für die Armen sorgend gezeichnet, andererseits durchbricht er auf der Flucht die gesellschaftlichen Schranken »nach unten« und verkleidet sich als Wasserträger. Diese wiederum retten Personen des höheren Standes – die Frage nach adelig oder nicht-adelig stellt sich also im sozialen Handeln der Figuren nicht. Dass die Tochter des Wasserträgers Marcelina heißt, sei nur als Detail genannt, wie auch der Hinweis, dass Georg Friedrich Treitschke, der bekanntlich am Fidelio-Text mitwirkte, eine deutsche Übersetzung des Wasserträgers vornahm.

Der erwähnte Librettist, Jean-Nicolas Bouilly, wurde 1763 in Joué-lèsTours geboren, studierte Rechtswissenschaften, widmete sich in gleichen Maßen auch der Literatur. Gerüchten zufolge hatte er von Marie-Antoinette für das Libretto zu der Grétry-Oper Pierre le Grand als Anerkennung eine Tabatiere erhalten – und diese nach Ausbruch der Revolution »als Opfergabe« den neuen politischen Kräften dargebracht. Jedenfalls wirkte er später als »öffentlicher Ankläger« und erlebte in dieser Funktion, wie er berichtete, jene berührende Geschichte, die als Kern zur Opergeschichte werden sollte: Ein Unschuldiger leidet verschollen in einem Gefängnis und erwartet seinen

Tod. Seine Gemahlin macht sich, als Mann verkleidet, auf die Suche, wird Hilfskraft eines Kerkermeisters und rettet schließlich den Geliebten. Und da Bouilly eben nicht nur Jurist, sondern auch Literat war, lag es nahe, aus dieser Geschichte einen Opernstoff zu machen. 1798 kam im Pariser Théâtre Feydeau die Oper unter dem Titel Léonore ou L’Amour conjugal zur Uraufführung, Komponist war Pierre Gaveaux (1760-1825), der besonders auch als Verfasser des Anti-Jacobiner-Liedes Le réveil du peuple bekannt geworden war.

Dieser Leonoren-Stoff wurde bald populär: Ferdinando Paër vertonte das ins Italienische übertragene Libretto und brachte seine Opernfassung (Leonora ossia L’Amor conjugale) in Dresden zur Uraufführung; ein Jahr später folgte Simon Mayr in Padua ebenfalls mit L’amor coniugale. Dazwischen entstand die Fidelio-Fassung von Beethoven, die ebenfalls auf das, diesmal ins Deutsche übersetzte, Libretto von Jean-Nicolas Bouilly fußt: und dieses Werk sorgt für die Bekanntheit des sonst in Vergessenheit geratenen Genres der Rettungsoper.

Robert Quitta

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